Timm Seng

Nichts bleibt wie es ist.

Himmelstürmer Verlag, Kirchenweg 12, 20099 Hamburg,

Himmelstürmer is part of Production House GmbH

www.himmelstuermer.de

E-mail: info@himmelstuermer.de
Originalausgabe, Juni 2013

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages

Rechtschreibung nach Duden, 24. Auflage

Coverfoto: fotolia.de

Das Modell auf dem Coverfoto steht in keinen Zusammenhang mit dem Inhalt des Buches und der Inhalt des Buches sagt nichts über die sexuelle Orientierung des Modells aus.

Umschlaggestaltung: Olaf Welling, Grafik-Designer AGD, Hamburg. www.olafwelling.de

ISBN print 978-3-86361-284-9
ISBN epub
978-3-86361-285-6

ISBN pdf: 978-3-86361-286-3

Die Handlung und alle Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen wären rein zufällig.

Widmung

Für Amanda

für Walter

und für Ernst

Wie durch einen Tunnel …


Es kam wie durch einen Tunnel. Langsam aber stetig drangen die Geräusche von draußen, vom Gang, wo Leben und Trubel herrschten, in das einsam daliegende und karg eingerichtete Zimmer vor. Das Klappern und Rascheln, wenn jemand draußen auf dem Gang vorbeilief oder mit etwas herumhantierte, das leise Zischen der Luft, das jedes Tun dort draußen mit sich zog, oder das Rufen, Plappern und Schnattern … - was es auch immer sein mochte …, was da jemand, irgendjemand, von sich gab, während die da draußen … Ach, was brachte es auch, sich damit zu beschäftigen.

Waldemar Moser saß in seinem Zimmer und starrte vor sich hin. Alt und grau war er geworden, und wenn sich seine Stimmung trübte, spürte er regelrecht, wie seine Augenlider schwer wurden und seine Wangen in seinem Gesicht nach unten rutschten. Sein Blick glitt nach unten. Er trug ein grau-weißes Hemd, das er gar nicht kannte. Als er hierher kam, hatten sie ihm seine schönen alten Kleidungsstücke genommen und ihm neue gegeben. Alles Dinge, zu denen er überhaupt keinen Bezug hatte. Auf dem Hemd waren die üblichen Flecken vom Essen und Trinken. Dann sah Waldemar aus dem Fenster ins Freie. Es war düster, fast schon dunkel, zu dunkel schon für diese herbstliche Jahreszeit. Man meinte fast, es sei schon tiefer Winter. Wie da die Wolken in Windeseile von dannen zogen, wie der Wind unbarmherzig alles von den Bäumen fegte und riss, was gerade noch in voller Blüte gestanden hatte. Und wie das Laub sich auf dem Boden drehte, zirkulierte oder einfach nur in die nächste Ecke gefegt wurde. Grau und trüb – und so sollte es jetzt weitergehen? Hier drinnen war er geschützt, hier kam nichts an ihn heran, sollte es jedenfalls nicht. Aber Waldemar war

vom ersten Tag, seit dem er hierhergebracht wurde, hochsensibel. Kein Wunder: „Schau mal, Vater, so schön hast du es hier. Ein Zimmer für dich alleine!“ hatte sein Sohn doch glatt gesagt. Was dem einfällt! Und doch hatte er recht, kam es Waldemar schlagartig in den Sinn: Ganz alleine! „Ganz alleine“, murmelte er vor sich hin. So saß er nun da und sollte seinen Lebensabend verbringen.

Waldemar flüchtete sich in eine Vorstellung: Ein kleines Haus in der Natur, inmitten von Wiesen, Feldern und Wäldern, über einem der freie Himmel, vielleicht noch ein paar Haus- und Kleintiere, ein kleiner Garten mit Obst und Gemüse – alles was man braucht, um sich selbst versorgen und einfach leben zu können. Ganz kuschelig und gemütlich war es in seiner Vorstellung, ein Gefühl von Geborgenheit, Ruhe und Frieden erfasste Waldemar. Ja, um ein Mensch sein zu können, da braucht man vor allem eines – und Waldemar spürte, wie es ganz warm in ihm wurde und wie ihn eine ganz tief liegende, fast verborgene Sehnsucht erreichte. Man braucht …

„Du sollst die Vorlagen holen. Und bring die Schüssel mit“, rief eine energische Stimme draußen quer über den ganzen Gang und Waldemar wurde abrupt aus seinen Träumen gerissen.

„Ist ja gut, ist ja gut!“ rief er mit gequälter Stimme. Ob das jemand gehört hatte? Wohl kaum, denn diese Schreckschraube …

„Na, wie geht es uns denn?“, und schon schaute sie ihm über die Schulter. Und sie klebte und presste ihr Gesicht an seins und rieb noch ein bisschen nach. Will die kuscheln? Pfui, ich bin doch nicht ihr Kind. Aber sie rieb sich dennoch an seinen Haaren, an seiner Backe und Waldemar musste pusten und zupfen, um ihre langen Haare aus seinem Gesicht wieder weg zu bekommen.

„Wir setzen uns jetzt mal schön auf den Topf!“ sagte sie bestimmend. Da war keine Widerrede möglich.

„Aber heute morgen …“, setzte Waldemar an.

„Heute morgen war heute morgen und jetzt haben wir Mittag. So jetzt stehen wir mal auf und gehen hier rüber.“ Sie zog Waldemar hoch und zerrte an ihm, dass er sich bewegen möge. „Gerade hinstellen, hab ich gesagt! Halt dich an mir fest. Hier!“ Sie nahm seine Hand und drückt sie an ihre Schulter. „Hier hin!“ betonte sie nochmal und wurde schon wieder ungeduldig, wie gestern … oder letztes Jahr? Weiß Gott, wann es das letzte Mal war. Manchmal ist es gut, wenn man nicht mehr alles weiß. „Herr Gott nochmal, jetzt mach halt mal.“

„Aber Margot …“

„Ich bin aber nicht die Margot. Und du sollst jetzt auf Toilette gehen!“

„Aber die Toilette …?“

„Was?“ und sie hob ihre Stimme und fixierte ihn gereizt mit ihren Augen.

„Ja die … na … wie heißt es …?“

„So, los hier rüber, bleib stehen.“

Waldemar gehorchte, es hatte ja doch keinen Zweck. Da durchfuhr es ihn. „Nicht die Hose!“ rief er erschrocken.

„Doch, gerade die Hose. Die Hose muss runter!“ und sie grinste, derb und fast anzüglich.

Waldemar blieb hart und klammerte seine Hände an seinen Gürtel.

„Herr Moser! Zum letzten Mal!“

„Was fällt Ihnen ein“, empörte sich Waldemar, „Sie … Sie!“

„Was willst du!“ und sie sah ihn überlegen und herausfordernd an. „Pass mal auf, mach nicht wieder Ärger. Du musst aufs Klo und da gehst du jetzt hin!“

„Nein!“

„Doch, sofort!“

„Fassen Sie mich nicht an … wer sind Sie überhaupt?“ und Waldemar rief so laut er konnte: „Margot, Margot!“

„Mensch, die Margot ist längst tot und du setzt dich jetzt auf die verfluchte Toilette.“

„Margot ist tot?“ fragte Waldemar und sah sie verblüfft an. „Ja und wer sind Sie?“

„Mein Gott, ich bin die Schwester Hannelore.“

„Schwester Hannelore?“

„Ja, im Pflegeheim Augusta Brock. Und Sie gehen jetzt auf Toilette, Herr Moser!“

Toi-lette ... lette ... lette, das Wort echote in Waldemars Ohr, so laut und schrill sprach sie. Unerträglich! „Ja … aber, ich dachte …“ Und da war es schon passiert. Sie hatte seinen Gürtel gepackt, geöffnet und mit einem Mal war seine Hose unten an seinen Beinen auf dem Boden.

„Nein!“ schrie Waldemar.

„Ich halte das nicht mehr aus“, erwiderte Schwester Hannelore resigniert. „Dann mach doch in die Hose!“ schrie sie ihm ins Gesicht.

Waldemar zog seinen Kopf nach hinten. Sie riecht, sie riecht komisch aus dem Mund, diese … Da hatte sie sich schon umgedreht und hatte das Zimmer verlassen. Waldemar stand neben dem Toilettenstuhl und sah ihr nach. Er war mindestens so verdattert wie sie. Wie war das nochmal … verflixt. Wie kriege ich jetzt die Hose wieder hoch? „Jonas, …Jonas, komm mal!“

Jonas lief in seinem Zimmer auf und ab. Es war schon dämmrig draußen und der Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Und auch in seinem Kopf klopfte es stetig und monoton, so sehr arbeitete es in ihm. Ich mach da nicht mit. Das ist zu viel. Es geht so nicht weiter! Seine Gedanken setzten aus, um sogleich wieder aufzutauchen und ihn zu treiben. Wie ein Film lief alles, was geschehen war und worüber er sich den Kopf zerbrach, vor ihm ab. Immer der einzige zu sein, immer alleine zu sein, während die anderen mitten im Leben stehen, sich amüsieren, sich verabreden, ausgehen, flirten, sich küssen, sich lieben… Und ich? Wo bleibe ich dabei? Jonas seufzte auf und ließ sich auf den Drehstuhl vor dem Schreibtisch am Fenster plumpsen. Er griff nach einem irgendwo auf der Arbeitsplatte herumliegenden Stift und schraubte nervös an der Kappe herum. Der Schweiß brach in seinen Handflächen und zwischen seinen Finger aus. Jonas spürte, wie seine Hand an dem Stift schmierte. Es hatte keinen Sinn: Er warf den Stift weg, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls fallen. Der Stuhl drohte dabei zu kippen, fing ihn aber auf. Jonas stieß sich mit dem Fuß am Boden ab und der Stuhl begann sich zu drehen. Er rotierte immerfort, bis er schließlich scheinbar wahllos stehenblieb. Wie beim Roulette, dachte Jonas, und sah sich dem Spiegel, der an seiner Schranktür hing, gegenüber. Vorsichtig und zaghaft sah er auf und betrachtete sich. So saß er da: Heute, an seinem freien Tag, hatte er sich nicht sonderlich zurechtgemacht, mit einer ausgeleierten Jogginghose, einem zu weiten, schon halb ausgebleichten T-Shirt und barfuß – na ja, ich kann noch mehr aus mir machen, dachte sich Jonas und musste lächeln. Und dabei flackerte ein Licht in ihm auf und er betrachtete sich mit anderen Augen: Eigentlich bin ich doch ganz hübsch … Sagt man überhaupt hübsch bei einem Mann? Egal, mit seinen blonden wuscheligen und leicht gelockten Haaren, seinen blau schimmernden Augen und seinem sanften, etwas scheuen Blick hatte er ein gewisses Etwas und das bemerkte er auch hin und wieder an sich und der Reaktion anderer Menschen. Warum soll ich nicht auch jemandem gefallen? Jemand, der ist wie ich, nein nicht wie ich, aber der einfach zu mir passt. Und der mich liebt – und den ich natürlich mindestens genauso liebe! Nur fehlte ihm absolut das Selbstbewusstsein auch so aufzutreten, wie er es müsste, um einmal jemanden kennenzulernen. Oft kam er sich einfach nur gehemmt und fast etwas tollpatschig vor. Er wurde leicht verlegen, errötete und war jedes Mal regelrecht froh, wenn er aus solchen Situationen wieder flüchten konnte. Vielleicht bin ich noch nicht so weit? Aber wann denn dann, rumorte es ungeduldig in Jonas. Und dann auch noch diese Geschichte neulich mit Marc, seinem Kollegen im Pflegeheim, in dem er gerade ein Praktikum machte.

Jonas war mit Marc in einem Wohnbereich im Pflegeheim Augusta Brock während der Spätschicht unterwegs. Marc war schon ausgebildeter Pfleger. Jonas war im gleichen Alter und machte hier ein Praktikum im Sozialdienst in der Hoffnung, dadurch endlich einen festen Job zu bekommen. Aber sie verstanden sich gut. Um ehrlich zu sein, Jonas hatte von Anfang an ein Auge auf Marc geworfen. Marc war etwas kleiner als er, hatte braune kurze Haare und so schöne weiche Züge in seinem schmalen, fast etwas femininen Gesicht. Der kurze dunkle Bart, den er um die Mundpartie und bis zum Kinn hinunter wachsen ließ, war aber mindestens genauso attraktiv und stand ihm richtig gut. Und wenn Marc nicht auf der Arbeit war, trug er zwei kleine Brilliantenstecker im Ohr. Dass er etwas kleiner war als Jonas, störte ihn überhaupt nicht. Vorsichtig, ganz vorsichtig hatte er versucht, sich dem gutaussehenden Kollegen zu nähern, mit ihm zu sprechen, ihn ansehen zu können und seine coole, lässige Ausstrahlung auf sich wirken zu lassen. Es kostete ihn jedes Mal von neuem Überwindung, aber das schöne Gefühl, das er stets bekam, wenn er Marc nur ansah, machte alles wett. Wie in einem Zauberland konnte er in seinen braunen Augen lesen und dabei träumen: Wie es sich anfühlen mochte, neben Marc zu liegen, an seinem frisch gewaschenen Haar zu riechen, ihn zu küssen, oder von ihm erobert zu werden und ihn dabei zu fühlen. Jonas musste sich zusammenreißen, denn der Traum hatte ein jähes Ende gefunden. Marc war stets freundlich und zuvorkommend zu ihm. Bald waren sie regelmäßig in der Pause zusammen eine Zigarette rauchen gegangen und hatten ein bisschen hier- und darüber gequatscht. Kein Zweifel, auch Marc schien Jonas sympathisch zu finden, aber eher als Kumpel. Das hatte Jonas spätestens am letzten Samstag gemerkt und sich eingestehen müssen. Sie hatten noch ein Schwätzchen gehalten und auf der Terrasse eine geraucht. Jana, ebenfalls Pflegerin, und seit seiner Tätigkeit hier, seine gute, wenn nicht gar beste Freundin, war schon aufgebrochen. Sie hatte kurz mit ihnen Pause gemacht und danach noch zu tun. Marc hatte ihr schmachtend hinterhergesehen: „Wenn ich sie mir so anschaue“, hatte er geflüstert und Jonas dabei verschwörerisch angegrinst, „scharf ist sie ja schon, oder?“ Er wollte wohl an sein männliches Urteil appellieren. Aber Jonas hielt nur den Atem an und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss. Mit einem Mal begann sich alles zu drehen. Die ganze Terrasse wanderte um ihn herum, das Licht von drinnen vom Wohnbereich glitt an ihm ab und die Dunkelheit des angebrochenen Abends umfing ihn, dann war da die große Tanne neben der Terrasse und wieder die Hauswand. Jonas geriet ins Schwanken und musste die Augen schließen, ehe er das Gefühl bekam, das Gleichgewicht zu verlieren. Die Enttäuschung über Marcs offensichtlich anderes Interesse an Jana saß. Kaum merklich seufzte Jonas auf. Er musste sich wieder besinnen. Es kam nun mal vor, dass man es auf diese Weise erfahren musste, das das eigene Interesse nicht auf Gegenliebe stieß. Unangenehm war auch, dass er von einem anderen Mann, der nicht von ihm wusste, in ein solches Gespräch von Mann zu Mann hineingezogen werden sollte. Klar, Marc denkt sich nichts dabei, für ihn bin ich halt … Da redet man eben so daher und denkt sich nichts großartig dabei. Aber wenn er wüsste, dass ich …, würde er dann überhaupt noch so frei und ungezwungen auf mich zukommen? Hastig sah Jonas nach oben in die dunkle Nacht und wieder zur Mitte. Da stand Marc. Mein Gott, hoffentlich hatte er nichts gemerkt. Aber er hatte nicht, er war die ganze Zeit über völlig abgelenkt. Und er schien sich offenbar auch nicht darüber zu wundern, dass Jonas nicht in das Gespräch, ob Jana nun scharf war oder nicht, mit eingestiegen war. Schließlich bin ich mit ihr befreundet, es dürfte Marc klar sein, dass ich mich nicht dazu äußere, selbst wenn ich nicht … wäre.

Aber als Jonas nun so dasaß, überfielen ihn wieder die Zweifel. Marc und die gewünschte Zuneigung, die nun ausgeblieben war, hatten eine Lücke hinterlassen. Jonas musste sich daran gewöhnen, von seinem Arbeitskollegen loszulassen. Auf keinen Fall wollte er sich die Chance, die ihm das Praktikum im Pflegeheim vielleicht bot, wieder vermasseln. Und eine weitere Sorge war von jenem Ereignis geblieben: Was passiert, wenn Marc doch etwas gemerkt hat und wenn alle wissen, dass ich schw…? Herrje, dieses bescheuerte Wort, dieses Labeln und Abstempeln. Warum muss es überhaupt ein Wort dafür geben? Hetero ist doch auch kein Wort, dem diese Bedeutung gegeben wird. Und überhaupt dieser ganze Rummel: Schwulsein ist cool und in. Viele Leute haben heute kein Problem mehr damit, sagt man. Heute sollen ja alle viel toleranter und aufgeschlossener geworden sein, aber gilt das auch für mein Umfeld, hier auf dem Land? Und wenn ich an die Falschen gerate, an Leute, die hinter meinem Rücken über mich tratschen, mich vielleicht sogar als „Schwuchtel“ bezeichnen und Witze über mich machen? Die Realität sieht oft anders aus. Klar, alle sind tolerant, dachte Jonas mit aufkommendem Zynismus. Verdammt, ich will einfach normal sein! Aber er spürte auch, es half nichts: Er musste sich mit diesem Thema auseinandersetzen: Lange wusste Jonas ja selbst nicht, dass er „schwul“ war. Er hatte sich einfach immer so wahrgenommen, wie er sich selbst vorkam und damit war er sich genug. Aber irgendwann waren Fragen aufgetaucht, nach Liebe, Sexualität und Zärtlichkeit. Und heute musste er sich eingestehen, eigentlich war da schon immer etwas in ihm gewesen, was man eben landläufig als „schwul“ bezeichnet, sprich: Ich selbst bin auch damit gemeint! Ich gehöre zu denen! Ein ganz komisches Gefühl ist das, zu dieser Kategorie zu gehören. Aber abseits von der Kategorie war der Drang immer stärker geworden, mehr über sich und dieses „Schwulsein“ zu erfahren. Natürlich hatte Jonas das Internet durchstöbert, dort findet man ja alles. Und natürlich konnte er sich eine zeitlang damit ablenken, zunächst einmal alles herauszufinden über das Schwulsein, wo es herkommt, was es ausmacht, wie man lebt und liebt und vieles mehr noch. „Schwul leben“, sagte Jonas leise vor sich hin. Wie schräg und aufgedunsen sich das anhört und er spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seinen Armen bildete. Was für ein Quatsch, dachte er sich. Entweder ich lebe oder ich lebe nicht. Und dann noch diese Theorie, dass Homosexualität anerzogen ist. Klar, das kann man immer sagen. Aber irgendwie fühlte Jonas, dieses „Anerzogen“, hängt wie ein Damoklesschwert über der ganzen Sache. Man sucht immer seinen Ursprung und man will als Mensch einen reinen Ursprung haben, man will Vertrauen haben. Aber die Kirche, die Kirche sitzt dazwischen. Da liegt das Problem, begriff Jonas. Kirche und Glauben, das ist Vertrauen, genauso wie Liebe, ob ich nun einen Mann liebe oder eine Frau. Aber wie soll ich dann Vertrauen in meine Liebe haben, wenn Gott, oder die Kirche, … also wer auch immer sagt, dass das nicht richtig sei. Wenn ich denen vertraue, vertraue ich mir nicht. Und wenn ich mir vertraue …? Am Ende bin ich dort, wo ich angefangen habe. Ich muss endlich anfangen zu – leben.

Ob Jana es ahnt?, fragte sich Jonas. Immerhin haben sie sich nun schon näher kennengelernt. Egal, sie würde damit kein Problem haben, sie kennt schließlich selbst diesen Schwulen aus Frankfurt, wie heißt der noch gleich … Christian oder Christoph. Auch egal -Jonas hatte ihn nur einmal an Janas Geburtstag kennengelernt. Er hatte Jonas interessiert betrachtet und Jonas war hin- und hergerissen. Aber hier auf dem Land war das eben doch etwas anderes, als in der Stadt. Da hatte der leicht reden! Kommt hier raus zu uns und gibt sich völlig ungehemmt. Klar, der kann ja auch danach wieder wegfahren. Dieser Schwule, dachte Jonas etwas grimmig, und merkte fast gar nicht, dass er selbst … Er senkte den Kopf. „Dieser Schwule …“, Jonas machte eine kurze Pause „… schwul“, sagte er leise vor sich hin. Aber wieder stellten sich nun die Härchen auf seinen Armen aufrecht. „Normal“, sprach er vor sich hin. Dieses Wort einfach so zu sagen, hört sich auch doof an. Ich kann es nicht, es geht einfach nicht, brachen seine Gedanken ein. Ich muss endlich, aber ich schaffe es nicht. Und dabei sehne ich mich nach nichts mehr, als danach, einen Mann zu lieben!

Als Jonas aus seinen Gedanken erwachte, sah er sich erneut im Spiegel. Seine Augen waren ein wenig feucht geworden und er wischte sich hastig mit der Hand darüber. Er sah sich im Spiegel an und fühlte sich niedergeschlagen und leblos. Aber auf einmal huschte es wie ein Geistesblitz vor seinem inneren Auge vorbei. Es war so schnell, dass er gar nicht merkte, woher es kam und überhaupt - was es war. Aber da war Waldemar Moser in seinen Gedanken, der demente Mann, der neulich zu ihnen ins Altenheim gekommen war. Jonas mochte ihn sofort und er mochte Jonas. Waldemar Moser musste schon an die Neunzig sein, er war mittelgroß und hatte ein ebenmäßiges Gesicht, mit grader Nase, hoher Stirn und gütigen Augen, die auch eine gewisse Lebenslust versprühten, auch wenn diese bei Herrn Moser aufgrund seines Gesundheitszustands sicherlich nicht mehr sonderlich vorhanden war. Wie er mich beim ersten Mal angesehen hatte, dachte Jonas. Wie ein lieber Opa, den sich jeder Enkel, egal welchen Alters, nur wünscht. Aufmerksam und gutmütig, aufmunternd und interessiert. Schön, dachte Jonas, schön ist diese Anziehungskraft zwischen Großeltern und Enkeln, zwischen alten und jungen Menschen. Vielleicht lag er mit seinem jetzigen Versuch, irgendeinen einigermaßen passenden Beruf zu finden, im Altenheim doch nicht so falsch. Ob Herr Moser Enkelkinder hat, fragte sich Jonas. Ja, stimmt, er hat einen Sohn und auch Enkelkinder. Einmal war die Schwiegertochter mit der Enkelin da und sie hatte zu Schwester Gerlinde gesagt, dass ihr Sohn, also der Enkel, irgendwo studiere. Beide, Mutter und Enkelin, mochte Jonas auf Anhieb gar nicht. Sie machten einen eingebildeten und hochnäsigen Eindruck. Überhaupt konnte man Herrn Moser nicht beneiden um seine Angehörigen. Auch der Sohn war ein Wichtigtuer durch und durch, hatte mit seinem Handy laut auf dem Gang herumtelefoniert, so dass jeder mithören konnte, wie er einen Untergebenen maßregelte. Er war auch nur einmal dagewesen, beim Einzug seines Vaters. Es hieß, er sei Politiker, sogar ein bekannter, ein Staatssekretär bei der hessischen Landesregierung. Vielleicht würde er einmal Minister werden oder ähnlich hoch aufsteigen. Wenn die wüssten, was sie für einen lieben Opa haben, diese eingebildeten und arroganten … Aber während er noch seine Flüche zum Himmel schickte, wurde ihm warm ums Herz, denn seine gefühlte Nähe zu Waldemar Moser kehrte wieder zurück.

„Es wird schon“, sagte er sich und merkte, wie die Lebensenergie in ihn zurückkehrte. Er fühlte mit der Hand nach seinem Herz. Es empfing ihn mit einem aufmunternden Klopfen. Jonas schloss die Augen und träumte: Ein Körper näherte sich ihm von hinten, zwei starke Arme umfingen ihn und zogen ihn sanft zu sich. Er spürte den warmen Atem eines Mannes, wie er sanft an sein Ohr herankam, während sich das Gesicht hinter ihm langsam an seinem Hals entlang tastete, als wolle es jeden Punkt seiner Haut entdecken. Als die warmen Lippen sein Kinn erreicht hatten, ließ der Mann langsam eine Hand von Jonas‘ Hüfte zu seinem Hosenbund gleiten. Jonas hielt den Atem an, aber der Mann war so behutsam, dass er sich ihm ganz hingab …

Jonas stand auf, strich sich sorgfältig über den Kopf und atmete einmal tief durch. Es reichte für heute. Aber schön, wenn es so weitergehen würde, wenn das ein Anfang sein könnte ... Die Stimme seiner Mutter ertönte und drang wie durch einen Tunnel von draußen in sein Zimmer hinein und zu ihm vor: „Jonas! … Jonas!“ Und Jonas merkte, wie er vollends in das Hier und Jetzt zurückkehrte. Da saß er auf seinem Schreibtischstuhl. Er drehte sich und sah aus dem Fenster. Es war bereits dunkel draußen. Aber man konnte sehen, wie die Wolken an dem leuchtenden Mond eilig vorbeizogen. Kein Zweifel, es würde Winter werden. Und windig war es. Der Wind wirbelte das Laub, das von den Bäumen fiel, umher, er ließ es kreisen oder fegte es einfach davon. Hier drinnen bin ich, nur ich. Und die da draußen … Aber was bringt es, sich damit zu beschäftigen …

Der Russlandfeldzug war in vollem Gange. In einem langen Tross marschierten sie durch die schier unendliche Landschaft. Weit und breit immer das gleiche Bild. Felder und Wälder und Wälder und Felder, soweit das Auge reichte. Es brachte an einem solchen Ort gar nichts, in die Tiefe zu schauen. Es war eh immer dasselbe. Die Tiefe liegt vor uns, genauso wie die Weite vor uns liegt. Vom Gefühl her kann man diese Landschaft, genauso wie dieses riesige Land, einfach nicht einordnen. Jedenfalls nicht als Deutscher, dachte Waldemar Moser vor sich hin, während er durch den Schnee und gegen den rauer werdenden, heulenden und mitunter brüllenden Wind anstapfte, und müder und müder in seinen Kräften wurde, immer dem Vordermann nach …

Ihr Marsch dauerte nun schon mehrere Stunden. Es gab nicht genug Fahrzeuge, um die ganze Armee von Soldaten zu befördern. Schon am gestrigen Morgen, es war unter minus 30 Grad gewesen, hatten die Motoren sämtlicher Transportwagen und Panzer gestreikt. Und so musste oft ein großes Feuer zur Hilfe genommen werden, das auf dem freien Feld entfacht wurde, seine Flammen hoch in die Luft schlug und alle ringsherum wärmte – auch die schwachen Dieselmotoren, die nach einer Zeit dann wieder starteten. Danach war die Kompanie aufgebrochen, in Reihen und im Gleichschritt, und immer Richtung Stalingrad. Hier sollten sie den Kessel durchbrechen, um die eingeschlossenen Kameraden zu befreien, so wurde es ihnen gesagt.

Unterwegs, nach weiß Gott wie vielen Stunden und Kilometern, waren sie an einem kleinen Dorf vorbeigekommen. Es war mucksmäuschenstill. Niemand war zu sehen auf der Straße oder bei den kleinen Holzhäusern. Das Dorf wirkte schon von weitem wie leergefegt oder ausgestorben. Und doch, als sie näherkamen, sahen sie, wie aus vereinzelten Schornsteinen noch die letzten kleinen Schwaden quollen. Offenbar hatten die Menschen aus Angst vor dem anrückenden Feind schnell das Feuer gelöscht, in der Hoffnung, ihre Häuser würden für leerstehend gehalten. Mein Gott, dachte Waldemar Moser, wie mögen sich diese armen Teufel in ihren Hütten zusammenkauern, aus Angst, gleich würde ihnen von uns alles genommen. Und bei diesem Gedanken hatten sie nicht so unrecht, fand Waldemar. Er wusste, heute hatten sie es eilig, mussten schnell vorwärts ziehen, um die nächste Etappe zu erreichen, ihrem Ziel zur Verstärkung, der in Stalingrad eingekesselten Truppen möglichst schnell nahe zu kommen. Aber es war auch schon anders gewesen und Waldemar hatte gesehen, wie sich einer seiner Kameraden über eine junge Russin, sie war fast noch ein Kind, hergemacht hatte. Er hatte sie gepackt und ihr in wilder, fast barbarischer Gier, das Kleid zerrissen. Um ihn herum hatten weitere Soldaten gestanden, teils gepackt und mitgerissen von dem, was sich ihrem Anblick bot, teils schockiert und unangenehm berührt – aber nicht fähig, einzugreifen. Wie denn auch? So weit fort von zu Hause, Tag ein Tag aus an Hunger, unvorstellbarer und qualvoller Kälte und unter allen sonstigen Entbehrungen leidend. Sie waren doch selbst noch halbe Kinder und hatten doch hier nichts. Sie waren verloren in diesem riesigen Moloch, in dem einen gar nichts mehr berührte, wärmend umfing und umsorgte. Und nur für Stalingrad, alles nur für Stalingrad. Man musste quasi verrückt werden und durchdrehen. Wie dieser arme Irre, der sich an dem unschuldigen Mädchen vergriffen hatte, kam es Waldemar in den Sinn. Hier, in diesem Land, in diesem Winter herrschte der Teufel. Er schwang sein Zepter als sei er der König. Täuschend ähnlich! Nur das weite, unbarmherzige Land und seine Menschen konnten nichts dafür.

Mittlerweile waren sie fast vorbei an dem kleinen Dorf. Nichts hatte sich gerührt, es sah tatsächlich wie ausgestorben aus, wenn man denn nicht ahnte oder wusste, dass sich die Bewohner rechtzeitig versteckt hatten. Vorne am Rand des Dorfes war noch ein kleines Haus mit Garten. Der Schnee lag dick und schwer auf dem Dach und von dem überstehenden Vordach über der Tür hingen riesige Eiszapfen geradewegs herunter. Fast wie eine Krone, nur nach unten, statt nach oben, dachte Waldemar. Und das war irgendwie auch das Verkehrte an diesem unsäglichen und unsinnigen Feldzug. Waldemar wollte seinen Blick schon fast wieder abwenden, als er eine kurze ruckartige Bewegung hinter dem rechten der beiden Fenster wahrnahm. Er zögerte, wollte nicht …, aber dann schaute er doch hin. Hinter dem Fenster hielten sich Menschen auf. Man konnte im trüben Licht schwach ihre Silhouetten erkennen. Sie standen dicht hinter einander und sahen wie gebannt auf den weiterziehenden Feind. Aber da geschah es: Ein kleiner Junge kroch, wohl unbemerkt oder ungehindert, mit einem mal zum Fenster hoch und sah nach draußen auf die Straße. Er presste sein Gesicht an die halb beschlagene Scheibe und sah Waldemar direkt in die Augen. Er hatte schöne Augen, die Augen eines Kindes mit dem unbeschwerten Glanz und der sehnsüchtigen Harmonie, die nur von bedingungsloser Liebe und seliger Verbundenheit mit der Welt herrühren. Waldemar war hingerissen. Er starrte den Jungen an, heftete seinen Blick an den sanften und liebevollen des Jungen. Er konnte gar nicht anders, so sehr sprachen die Augen des Jungen von alledem, was ihm fehlte, hier in Russland, zu Hause in der Heimat und überhaupt. Der Junge sah ihn und lächelte. Und er winkte zu Waldemar hinüber. Waldemar war ergriffen und fühlte, wie ihm seine Glieder nicht mehr gehorchen wollten. Er hätte sich nicht mehr bewegen können – aber er riss seinen Kopf nach vorne, weg von dem Jungen. Ein blanker Schauer durchfuhr ihn im selben Moment und er drohte in sich zusammenzusacken. Wie ein Schlund öffnete es sich in ihm und – seine Kräfte verließen ihn. Waldemar wäre beinahe gestürzt. Er prallte unsanft gegen seinen Vordermann. Der drehte sich um und schrie laut auf: „He!“ Waldemar klammerte sich an seinen Rücken und versuchte sich auf dem rutschigen Untergrund an den Striemen des Rucksacks empor zu angeln. „Was ist denn hier los?“, brüllte der Leutnant zu Pferd, der auf die Szene aufmerksam geworden war. Waldemar stand wieder und sah schuldbewusst nach unten. „Schau gefälligst, wo du hinläufst, du blöder Trottel!“, bellte der Leutnant in seinem dumpfen Pfälzisch.

Waldemar Moser erwachte.

„Guten Morgen, Herr Moser“, ertönte die freundliche Stimme einer blonden Frau neben seinem Bett. Waldemar sah sich um.

„Wo bin ich?“ fragte er verwirrt.

„Sie sind in ihrem Zimmer und es ist schon halb acht. Zeit zum Aufstehen und Frühstücken!“ frohlockte sie.

„Ja, aber der kleine Junge … er hat doch eben noch gewunken.“

„Das müssen Sie wohl geträumt haben, Herr Moser“, sang die Stimme im gleichen Ton weiter. „Hier ist jedenfalls kein kleiner Junge. Kommen Sie erst einmal zu sich und dann ab in den Tag, heute ist schönes Wetter!“

Waldemar war immer noch verdattert, aber er fügte sich, ließ sich waschen, rasieren und ankleiden und saß schließlich am Frühstückstisch in seinem Wohnbereich.

„So“, ertönte die nun glockenhelle, fröhliche Stimme wieder neben ihm, „hier ist Ihr gekochtes Ei, so wie es Ihr Sohn verordnet hat.“

Dankbar lächelte Waldemar über die Schulter zu ihr: „Danke Margot, du bist so gut zu mir.“

„Oh“, meinte die freundliche Frau, „ich bin nicht die Margot. Ich bin die Schwester Ute. Aber macht nichts. Ich werde Ihnen schon mit der Zeit vertrauter, Herr Moser.“

„Danke, Schwester“, sagte Waldemar und war schon mit seinem Ei beschäftigt.

„Ach übrigens, Herr Moser“, rief Schwester Ute noch vom Nachbartisch her, „nachher kommt der Jonas. Ihr könnt doch mal wieder einen Spaziergang machen bei dem schönen Wetter!“

„Jonas“, sprach Waldemar Moser leise und fast bebend in sich hinein.

Es war wirklich schön heute. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel direkt auf sie herab. Im Park nebenan waren Kinder auf der Wiese und spielten fangen. Sie lachten dabei und quiekten vergnügt. Die Baumkronen über ihnen waren herbstlich bunt geschmückt und schöpften aus dem gesamten Farbspektrum – gelb, orange, ocker, braun, sogar ein ganz roter Baum lag vor ihnen am Wegrand. Das schon herabgefallene Laub raschelte unter Jonas‘ Schuhen, als er den Rollstuhl von Waldemar Moser über den Weg schob.

„Ist es nicht herrlich, Herr Moser?“

„Ja, das ist es, Jonas!“

„Als Sie in meinem Alter waren, haben Sie da schon hier in Hessen gelebt?“

„Wie alt bist du denn, Jonas?“, fragte Waldemar Moser verdutzt.

Jonas wurde bewusst, dass bei Herrn Moser ja eine beginnende Demenz diagnostiziert war. Ich muss mich auf ihn einstellen, darf nicht davon ausgehen, dass er die Welt so sieht wie ich.

„Ich bin 21, Herr Moser.“

„Mein Gott, 21 bist du schon, mein Junge. Ich dachte, du wärst erst 16, wie mein Sohn.“

„Aber Ihr Sohn ist doch …“ Jonas stockte, vielleicht sollte man es einfach so lassen. Was machte es für einen Unterschied, ob der Sohn nun 16 war oder 45 oder 53. Davon abgesehen wusste Jonas sowieso nicht das Alter des Sohnes.

„Zwischen 16 und 21 ist ja kein großer Unterschied“, meinte Jonas und lächelte.

„Das sagst du so“, und auch Waldemar Moser lächelte. Er war jetzt wacher und zugänglicher, Jonas spürte es. „Weißt du, Jonas, mein Sohn. Das ist so eine ganz eigene Sache. Er war immer schon anders. Margot und ich haben immer versucht, ihm alles zu geben, was er braucht, damit er es gut hat. Aber Rudolf wollte nie so sein wie wir. Er wollte immer schon zu den anderen gehören, du weißt schon …“ Waldemar schwieg und schien vor sich hin zu denken und seinen Gedanken nachzuhängen.

Auch Jonas überlegte, was er nun sagen sollte. Er hatte sofort verstanden, was der alte Mann gemeint hatte. Der Gegensatz zwischen Sohn und Vater war offensichtlich. Es war nicht nur das ganz andere soziale Lebensumfeld zwischen dem genügsamen und grundsoliden Vater und dem abgehobenen und aufgeblasenen Sohn. Rudolf Moser schien auch von seinem Typ her im Vergleich zu seinem Vater von einem ganz anderen Stern. Ihn umgab eine Aura des Unnahbaren und auch des ungezügelten Ehrgeizes, fand Jonas. Das war auch mehr oder weniger offensichtlich, der Sohn versuchte erst gar nicht damit hinter dem Berg zu halten. Sicherlich hat mein Vater auch Macken, dachte Jonas, aber ich bin froh, dass ich jemanden wie Rudolf Moser nicht zum Vater habe. Andererseits ist es interessant, dass ein Mensch wie Waldemar Moser, der die Gutmütigkeit und Gutherzigkeit in Person ist, solch einen Sohn hat. Man kann sich wohl – auch – seine Kinder nicht aussuchen, resümierte Jonas.

„Ich weiß, was Sie meinen, Herr Moser!“, sagte er und versuchte seine Gedanken in Worte zu fassen.

„Schau nur, das Eichhörnchen“, rief Waldemar freudig und deutete zum Stamm eines Baumes. Und tatsächlich, das kleine rote Tierchen mit seinem langen buschigen Schwanz war gerade dabei, den Stamm zu erklimmen und nebenbei seine Beute nicht fallenzulassen.

„Goldig, nicht wahr“, sagte Jonas und merkte, wie er mit seiner Stimme in den lieblichen, fast kindlichen Klang von Waldemar Moser einfiel.

„Wie wieselflink es ist, das kleine Geschöpf!“ sprach Waldemar fast wie ein Poet.

„Schön, dass Sie so viel Freude daran haben, Herr Moser“, stimmte Jonas mit ein und lächelte dem alten Mann zu. Aber augenblicklich merkte er, wie die Gesichtszüge von Herrn Moser in sich zusammenschrumpften und sich mit einem Hauch von dumpfer Traurigkeit vermischten.

„Ach Jonas“, meinte er, „es ist auch das Einzige, was mir noch bleibt.“ Und seine Stimme hatte nun fast etwas Klagendes und Flehendes, „du weißt ja, es fließt alles weg und ich kann es nicht halten.“