Über Kat Kaufmann

Foto: Alexey Kiselev

Kat Kaufmann, geboren 1981 in St. Petersburg, lebt als Schriftstellerin, Komponistin und Fotografin in Berlin.

Gewidmet euch, die ich so sehr.

Ohne die ich so gar nicht.

Alle Personen in diesem Buch

haben sich selbst frei erfunden

oder wurden von Mutter, Vatter, Schulkameraden,

Arschlöchern und Wichsern

zu dem gemacht,

was sie sind.

 

Und der Jude ist nicht reich.

Und der Russe ist nicht kalt.

Und Berlin ist nicht Berlin.

1 (Feierabend)

»Russisches Gedeck. Bitte.«

»Was soll das sein, bitte?«

Wie schafft er das nur, so freundlich zu fragen. Als hätte er nicht die Schnauze längst voll, als wäre ich nicht sein letzter Gast hier mitten in der Nacht.

»Ach so, ja. Das ist Wodka und ein Kaffee.«

Er trägt eine bordeauxfarbene Schürze, schwarzes Arbeitshemd, schwarze Arbeitskrawatte. Er sieht ganz freundlich aus und sauber, lächelt mich an. Und ich sehe aus wie Scheiße. Ich starre wieder in die Karte. Er wird Mitleid haben. Brauch ich nicht, sein Mitleid. Aber eine Decke wär gut. Kalt ist es, ich bin durchnässt wie ein Straßenköter. Um sich zu finden, muss man sich verlieren, hat der alte Obdachlose vorhin gesagt und seine Regenschutz-Plastiktüte über mich gelegt. Einfach drübergelegt über mich. Gestern hat er noch nach Geld gefragt, heute erkannte er mich schon nicht wieder und teilte seine aufgeschnittene Plastiktüte mit mir.

Ich will mein Innerstes herausnehmen können und waschen.

Ich könnte nach Hause gehen, aber ich gehe nicht. Nach Hause – eine winzige Wohnung, ein Quadrat Miet-Intimität. Was ist da schon? Ein Fernseher, ein Bett, ein Tisch, ein Klavier. Sechzig Bücher vielleicht. Und manchmal du. Und ich. Ein Hund und ein Wolf, die sich Arm in Arm unter dem Tisch besaufen. Ich wünschte, du wärst jetzt hier, würdest dich wegtrinken mit mir. Aber du kannst nicht. Kannst so oft nicht.

Die S-Bahn zieht auf der Brücke von links nach rechts, verschwindet aus dem Sichtfeld in das Dunkel. Im zerfetzten Durchbruch der Markise des Brel steht bac, von Tabac. Es leuchtet in der Dunkelheit, alles leuchtet. Gelb, blau, rot. Und ich bin taub, sehe mich von außen, sehe, wie ich sehe, dass ich ganz taub bin. Sie ist bei dir. Ich falle zurück. Dahin, wo die Erinnerung die Fakten verdreht. Vielleicht sind meine Wahrheiten allesamt zu Lügen geworden. Vielleicht waren sie nie wahr. Vielleicht bin ich ja gar nicht da. Und dich, mein Wolf, gibt es auch nicht.

Ich starre auf den Boden, zwei Steine fehlen im Pflaster, daneben meine Tasche.

Ich höre sie es sagen: ›Nimm deine Tasche da weg, um Himmels willen.‹ Diese alte dicke Russin, die Wilmersdorfer Sozialbau-Kaffeesatzleserin. In meinen Gedanken schreit sie vor Entrüstung. ›Alles, was dir verwehrt bleibt, Mädchen – Geld, Erfolg, Liebesglück – kriegste alles nich! Weil nämlich du, du dummes Mädchen, deine Tasche immer so auf den Boden stellst!‹, sagte sie, während sie meine Jacke an ihre Garderobe hängte, dahin, wo wohl schon so einige Jacken meiner Landsleute hingehangen worden sind. Mit Fragen kommen sie, ob denn die Tochter endlich einen reichen Mann finden wird oder ob dieser komische Ausschlag, der langsam in Gicht übergeht, auch ohne Arztbesuch ausheilt, und man nur noch ein bisschen länger warten sollte und jeweils ein Tütchen mit Heilkraut unter allen Sitzmöbeln verstauen. So Kram.

Und ich hänge meine Tasche über die Stuhllehne.

Zu einer alten dicken Russin, aus dem Kaffeesatz lesen lassen – tolle Idee. Als gäbe es nichts Sinnvolleres zu tun auf der Welt. Hätte ja mal Dinge erledigen können heute, vor denen man reelle Ängste haben darf. Steuererklärung vielleicht.

Ich hätte wissen müssen, mit welch Weisheiten bepackt ich ihren Wilmersdorfer Sozialwohnungs-Spritualistik-Tempel wieder verlasse. Erst klagte sie über Kopfschmerzen, dann über ihren Sohn, den Tunichtgut, der im Gefängnis sitzt. Gleich anschließend fragte sie, ob ich ihn nicht kennenlernen wolle, er sei ein guter jüdischer Junge, und ich – ›Iiiiizy Lächwihn‹, sagte sie, ›so heißt du doch, Mädchen?‹ – sei ja wohl auch eine von ›den Unseren‹. Heiratsmaterial sozusagen.

Dann schimpfte sie über ihre Kosmetikerin. ›Der Teufel soll sie holen!‹, sagte sie, ›Seit zwanzig Jahren! Seit zwan-zig Jah-ren kommt die her!!!‹, sagte sie. Während die Kosmetikerin nämlich, die Unglücksselige, wie immer einhändig mit der Verwandtschaft in Odessa telefonierte, habe sie ihr, begleitet von dem lauten Aufschrei ›Ist-nicht-dein-Ernst-doch-nicht-mit-dem-Gurowitsch-dem-Hurenbock!‹, bei der Pediküre mit dem scharfen Hornhautschaber einen tiefen Krater in den Fuß geschnitten. Und sie könne ja eh schon kaum laufen, jetzt aber erst recht nicht mehr. Und nun, oy wej, oy wej, komme sie da selber nicht ran, um die Salbe draufzutun. Weil die Arthrose quält nämlich auch noch das letzte bisschen Leben aus ihr raus.

Einsamkeitsbekenntnisse. Natürlich fragt man da, ob denn Hilfe gebraucht wird, ob man denn ihr, der riesigen, alten, unter einer dicken Fettschicht sicher von der Realität isolierten Dame, die man da in all ihrem ihr widerfahrenen Unglück zum ersten Mal sieht, den Fuß eincremen und verbinden soll. Komische Sekunden waren das, als sie sich Zeit ließ für ihre Antwort und ich mich schon auf dem Boden zu ihren geschwollenen Füßen hocken sah. War ich hier, um einen Rucksack mit ihren Problemen abzuholen?

›Nein!‹, entgegnete sie dann endlich. ›Setz dich jetzt hin, Mädchen, und hör zu!‹, sagte sie. ›Siehst du den Bären? Hier? Guck in die Tasse jetzt!‹

Ich sah den Bären nicht, nickte aber dennoch. Sie war trotz all ihrer beklagten Gebrechen ziemlich einschüchternd. Obwohl, doch, ich sah den Bären. Er saß haarig und dick direkt vor mir und las aus meiner Tasse.

›Und hier! Siehst du? Die Sterne und ein riiiesiger Mond! Das heißt Glück! Groooßes Glück in der Liebe!‹

›Das sind Sterne?‹ Für mich sah das aus wie Fliegenschiss, einfach ein paar Krümel Kaffee, die am Tassenrand klebten, und der Mond war ein traurig heruntergeflossener Tropfen, der entstanden war an der Stelle, wo ich meinen Mund an der Tasse angesetzt hatte. Das ist kein Liebesglück, Madame Zukunftsvision, das ist verschmierter Dreck.

›Niemals Uhren verschenken! Oder Schuhe! Oder Messer fallen lassen! … Und auch nicht in den Haaren rumspielen! Ihr Mädchen spielt euch doch immer so in den Haaren rum‹, und der Bär demonstrierte mir ein kokettes ›Hihihi‹ mit verstellter Stimme, zwirbelte dabei eine seiner grauen Strähnen zwischen den Fingern und fuchtelte sich damit an der Wange herum. Dann fiel das verschämte Lächeln in einem Sekundenbruchteil wieder aus des Bären Gesicht.

›So‹, sagte sie, ›okay‹, und reichte mir meine Jacke. ›Bringt alles Unglück!‹, sagte sie. So zum Abschied.

›Super, vielen Dank‹, sagte ich und nahm meine Jacke aus ihrer riesigen Hand, ›werde ich alles beachten, ich bin immer fasziniert von Menschen wie Ihnen, mit so feinen, besonderen Begabungen‹, sagte ich.

Sie wollte ja nicht einmal Geld. ›Gib, was du geben magst. Und wenn es nichts ist, ist auch gut …‹

Gute Strategie. Die Welt um einen herum spricht dieses Doitsch, das man nicht versteht, und Madame lässt sie, all die gleichsprachigen, nach Trost suchenden Seelen, einfach bei sich antreten. Braucht nicht einmal den schmerzenden Fuß vor die Tür setzen. Ein bisschen plaudern, während der Mokka auf dem Herd kocht, dies das …

»Ihr Kaffee.«

Der Kellner steht stramm neben meinem Tisch und wartet auf eine Geste, um die Tasse abstellen zu dürfen.

»Danke schön.«

»Ich habe Ihnen eine Decke mitgebracht. Ist aber auch kalt geworden … Und der Wodka ist hier. Der geht aufs Haus. Ganz blass sind sie … Ich hab auch Feierabend jetzt. Darf ich mich setzen?«

Außer uns ist niemand zu sehen. Alle schon zu Hause oder in den Amüsierbuden oder sonst wo. Aber hier nicht. Hier ist die Straße leer, und der regennasse Boden spiegelt die Laternen. Er hält die Lehne des Stuhls bereits in der Hand. Hat er klug gespielt. Erst machen, dann fragen.

»Ja, natürlich. Setzen Sie sich. Sie haben sich auch einen …?«

Er stellt die Wodkagläser auf den Tisch. In den Kaffee hat er sogar ein Herzchen reingemalt, in den Schaum. Jung ist er, nicht deutsch, dunkelhaarig. Türke vielleicht. Iraner vielleicht.

»Auf die Nacht!«, sagt er.

»Ja. Auf die Nacht.« Er trinkt seinen Wodka, ich meinen. Was er denkt, weiß ich nicht. Ich denke an einen schönen Tod für Babuschka Ella.

»Was machen Sie denn draußen so spät? Ist ja kein Mensch mehr auf den Straßen hier«, sagt der Iranertürke.

»Ich bin eingeschlafen.«

»Eingeschlafen?! Wo?«

»Dort. Auf der Bank.«

»Warum?!«, er sieht mich verwundert an. Große Augen. Schöne Augen.

»Weil ich müde war. Und die Luft so gut.«

»Ausgeruht sieht anders aus«, sagt er.

»Mache ich normalerweise nicht«, sage ich. »Also Parkbänke. Ist neu.«

Er lächelt.

»Und warum heute? Was ist denn passiert?!«

Seine hübschen Augen sind weit geöffnet, und er wartet darauf, dass ich ihm gleich eine abgefahrene Gute-Nacht-Geschichte erzähle. Aber ich habe keine Lust.

»Das Übliche«, sage ich, trinke aus und nehme meine Tasche von der Stuhllehne.

»Bist du auch Gastro?«, fragt er.

Ich bin still.

»Ha …«, sagt er enttäuscht.

»Wie spät ist das?«, sage ich enttäuscht.

Er sieht auf seine Uhr. »Fünf«, sagt er.

»Verstehe. Was bin ich schuldig?«

»Nichts. Ich sagte doch, ich mach, Parkbankmädchen.«

»Ich muss. Guten Feierabend. Danke«, und der Stuhl krächzt, als ich ihn wieder in Position schiebe.

»Pass auf dich auf. Is nich immer so ungefährlich, weeßte?«

Er hat du gesagt. Seit er weiß, dass ich auf einer Parkbank eingeschlafen bin, sagt er du. Jetzt glaubt er, wir wären Verbündete – in gebückter Position dienender, einsam in der Nacht wachender Minderwert der Gesellschaft. Wenn ich das nächste Mal herkomme, wird er mich begrüßen, als wären wir alte Freunde.

»Weiß ich«, sage ich, und schaue noch einmal zu meiner Bank. Sehe mich dort liegen, und wie die Menschen an mir vorbeigelaufen sein müssen, während ich wie ausgestellt da lag, bewegungslos. Und jetzt gehe ich doch nach Hause. Wo soll ich auch sonst hin. Was ist das Problem?! Das verschissene Scheißproblem, Izy, dummes Mädchen?! Dahin, wo es warm ist, will ich. An das andere Ende der Stadt. Und dass du mich festhältst und sagst ›Malýsch, mein Kleiner …‹

Die Wärme meines Bettes versucht tröstend zu sein. Und schafft es nicht.

Fünfundzwanzig Monate ist es her: Izy Lewin! Timur Hertz aus Berlin möchte mit dir befreundet sein.

Einen Trickfilm hattest du mitgeschickt, über diesen Hund, der seinen Kumpel, den Wolf, mitnimmt zu seinen Menschen ins Dorf und sich dort mit ihm, beide versteckt unter dem Tisch, vollfrisst und besäuft. Und der dürre Wolf, der zum ersten Mal, zum allerersten Mal in seinem einsamen Wolfsleben einen echten Freund gefunden hat, stimmt vor lauter Beseeltheit glücklich und aus vollster Herzenstiefe ein in den Chor der singenden Bauern. Und dann fliegen sie auf, die beiden Freunde, und unter Geschrei und dem Klappern der Mistgabeln verjagt man sie in den dunklen Wald.

›Singen ist der Aufschrei der Seele‹, sagt Großmutter immer.

Du kannst nicht. Kannst fast nie.

Mein Rücken liegt wie ein Brett auf der Matratze. Ich erschrecke mich selbst, indem ich mir vorstelle, mich nicht mehr bewegen zu können, nicht die Arme, nicht die Beine.

An der Decke ist eine kleine Fliege. Sie bewegt sich auch nicht. Ich warte. Mach den Anfang, Fliege. Wie unspektakulär der eine Tag in den nächsten geglitten ist. Die Fliege reißt sich los. Ich tue es ihr gleich. Nur dass ich nicht fliegen kann, sondern mich lediglich im Bett aufsetzen, auf die Beine stellen, zum Schreibtisch gehen. Schade.

Der Laptop öffnet sein Maul. Das Netzwerk fragt: Wie geht es dir, Izy?

Izy Lewin ist leider verstorben, tippe ich in das dafür vorgesehene Feld.

Wer von meinen 570 Freunden sich darauf wohl meldet? Vielleicht Gefällt mir klickt?

Das Mailpostfach ist mit 3783 Mails im Eingang restlos überfrachtet, ich lösche sechzig Nachrichten, die mir eine Penisverlängerung offerieren. Wenn sie weiterhin so beharrlich meinen Briefkasten vollmüllen, werde ich meinen Penis wirklich verlängern. Damit wieder mehr Platz ist im Posteingang. Woher kennen die meinen Namen?

Was sind das für Typen, die diese Phishing-Programme schreiben? Und welche meiner Internetsuchen hat ihnen suggeriert, dass ich im Besitz eines Penis bin? Warum entscheiden die sich nicht, sich zusammenzuschließen und was wirklich Großes zu machen, was von Bedeutung? Ist zu anstrengend. Sie sitzen vermutlich in Kellern auf gestapelten leeren Kartons ihrer Pizzen, spielen an ihren Konsolen, erstellen, seit sie vierzehn sind, Videos mit Anleitungen zum Cracken von Programmen, haben schlechte Haut und Sozialphobien. Sie sind bestimmt ganz in der Nähe. Vielleicht in der Wohnung nebenan. Und kommen nie raus.

Stattdessen könnte man doch jetzt so schön die Internetrevolution starten, vor der alle immer Angst hatten, als das ganze Ding anfing. Macht aber keiner. Nur für ein wenig Empörung reicht’s, und dafür, lustige Videos viral über alle Portale zu schieben. Kätzchen, lachende Babys. Ein System versucht immer, das Equilibrium zu erreichen. Alles Andersartige wird es mit allergrößter Macht versuchen abzustoßen.

Ich poste keine Kätzchen.

Es will mich abstoßen, und ich bleibe. Habe ich mich jetzt schon eingereiht? Strample ich noch? Und je heftiger ich mich winde, desto mehr saugt mich das Equilibrium ein.

Hinter dem Fenster ist der Himmel ganz grau, mit rosa und gelben Streifen durchzogen. Ein Einhorn steckt mit dem Kopf in der dritten Wolke von links. Jetzt verzieht es sich horizontal, der Rumpf wird immer länger, jetzt ist es auch nur ein grauer Streifen.

New Mail: Wir müssen reden, Izy! Mittwoch, vor der Probe in der Kantine? 14.30. Salut. Marc.

Himmelarsch!

Habe ich Himmelarsch gedacht?! Kurwa!

Wir müssen reden, Marc?! Ist doch schon. Steht doch alles im Vertrag. Bring ihn einfach endlich mal mit, und gut ist.

Marcs wirre Theaterkonstrukte in ebenso wirre Töne umsetzen. Es bürstet mich ständig gegen den Strich, allein bei dem Gedanken, mich wieder an den Schreibtisch zu setzen.

›Ich kann jetzt nicht, Mama, später, Mama, alles gut, Mama, stell bitte keine blöden Fragen, Mama …‹ Marc ist schuld. Marc, der will, dass die Tänzer sich in Kunstblut wälzen und ekstatisch irgendwas von »Vereinigung« schreien. Marc, der mich immer irre anglotzt und sich mit ziemlicher Sicherheit vom Weihnachtsmann wünscht, ich würde seinen Schwanz in den Mund nehmen.

Während sich die Zahnbürste über meinen Zähnen hin- und herschiebt und ich im Spiegel bis in die Tiefen meines Rachens sehen kann, stelle ich mir vor, wie sein Gehirn platzt, wenn er sich vorstellt, dass …

Reden wir halt, Marc, du kranker Idiot. Aber heute ist erst Montag. Heute kannst du mich.

Zehn dreißig.

Seit einer halben Stunde ist Soundcheck. Die Erinnerungsfunktion im Telefon hat glorreich versagt. Taxi: 30,– €. Reduziert die ohnehin lächerliche Gage von 150,– € auf noch lächerlichere 120,– €. Adlon, von wegen. Noten, Notizbuch, Geld, Zigaretten, Mantel, Telefon, Schlüssel. Die Tür knallt hinter mir ins Schloss.

2 (Jazz)

Wir spielen Someday my prince will come, 20-jähriges Bestehen der Firma ExproDyn. Handeln mit irgendwelchen Rohstoffen, irgendwas. Bestimmt nichts Gutes. Saugen wie alle an der längst entzündeten Brust von Mutter Natur. Jazzbrunch nennen die so was, und feiern ihre eigene Existenz.

Kleine Bühne, der Saal voll von essenden Frauen in schlecht sitzenden Kostümen und Männern, die sich bedeutend fühlen.

›Spielt nicht zu laut‹, hatte der Chef von ExproFuckingDyn gesagt. Und wir spielen so leise, dass wir uns selbst kaum hören. Hinterste Ecke eines großen Tagungsraumes. In weiße Hussen gekleidete und mit akkurat identischen Blumengestecken bestückte Tischformationen. Tolle Ecke. Die hätten für uns auch so eine Husse beschaffen sollen. Wären wir nicht nur leise, sondern auch unsichtbar gewesen.

Letzter Akkord. »Wir machen eine kleine Pause und sind gleich wieder für Sie da. Danke schön«, sage ich ins Mikrofon. Stille.

Nur das Klacken und Klirren von Löffeln auf Porzellan füllt den Raum, alle sehr vertieft in ihrem Vorhaben, das kostenlose Büfett leer zu essen, als gäbe es kein Morgen.

Und dann kommt der obligatorische redebedürftige Gast, und man hat Glück, wenn es nur einer ist pro Abend. Immer wollen die mit den Künstlern reden. ›Künstler‹, sagen die, und man kann die Anführungsstriche deutlich hören. Und Reden ist gar nicht Reden, sondern ein sich immer wiederholender Fragenkatalog.

Eins: ›Macht ihr das hauptberuflich?‹

Zwei: ›Kann man davon leben?‹

Drei: ›Ach, das kann man studieren?!‹

Nee, sage ich, hab gelogen. Kann man gar nicht studieren. Habe ich mir nur ausgedacht. Das kann praktisch jeder, sage ich, komm! Probier’s doch auch mal, sage ich.

Aber nein, nichts sage ich. Ich halte meinen Mund, weil ich heute zu seinen Ehren gekauft wurde.

Dann stellt der sein Bier auf mein Klavier und sagt: »Wirklich nicht schlecht, was ihr da so macht … Ich wollte mal fragen, ob ihr auch was Flotteres spielen könnt, was Schönes, was Rockiges vielleicht.«

Nimm dein Bier und setz dich sofort wieder hin! Ganz schnell, hätt ich sagen sollen. Ich geh nur kurz die Noten für Highway to Hell holen. Passt doch zu eurer Feier hier.

Stattdessen krampfe ich mir ein eisern steifes Lächeln zurecht.

»Verzeihen Sie«, sage ich, »aber was Sie hier sehen, werter Herr, nennt sich Jazz-Trio. Die Bezeichnung erklärt den Umfang der Leistung zu einhundert Prozent.«

Ich gehe. Und er steht immer noch da. Überlegt wahrscheinlich, mit wem er als Nächstes Kontakt zu knüpfen versucht – mit seinem unangenehm riechenden Atem und den riesigen Schweißflecken unter den Ärmeln seines dünnen Hemdes, das Aussicht auf das lasch sitzende Feinripp bietet. Vielleicht kriegt er ja heute Elke, Heidrun, Simone rum. Die Stimmung ist ja recht ausgelassen.

Als ich in sicherer Entfernung bin, schaue ich ihn mir doch noch mal genauer an. Du sollst jene kennen, die du nie verstehen wirst. Hat das Bier wieder in der Hand, steht da am Schlagzeug, klopft mit dem Finger phlegmatisch auf dem Becken herum und schaut es dabei gedankenverloren an.

Ich spiele meistens eh nur für mich, hört sowieso keiner zu. Und das noch zwei Runden.

1959 war das noch anders alles. Da brachte ein junger Pianist namens Bill, einzig weißer unter all den schwarzen Typen, die the shit waren und solche wie ihn Weißbrot nannten, ein Album heraus, welches er einfach mal Everybody Digs Bill Evans nannte. Und er war zwar bestimmt ganz schön high, als ihm das einfiel, aber er hatte recht: Alle haben ihn geliebt. Alle haben Jazz geliebt, wussten ein gutes Solo zu erkennen, riefen ›Oh yeah!‹ und dergleichen. Als wir 60 Jahre zu spät unser Musikstudium begannen, war Jazz längst tot, da hätte uns klar sein müssen, wo wir enden. Als lebendige Oldie-CD nämlich. Oder so für uns, in Clubs, in die keiner geht und wo einen keiner bezahlt. Wahrscheinlich dachten wir aber, ihn doch noch wiederbeleben zu können, den Verstorbenen. So wie man Geister herbeiruft in Hexenzirkeln – nicht wirklich aussichtsreich, und doch wäre es ja durch den unerschütterlichen Glauben der Verschworenen vielleicht möglich gewesen, dass das Unmögliche passiert. Romantische Idioten, wir.

Also Klackern, Geschirr, Gläser …

Und sie fallen mir einer nach dem anderen ein, die Songnamen, die wir uns damals für die sich bis zum Erbrechen wiederholenden Songs auf solchen glorreichen Jazz-Frühstücksveranstaltungen ausgedacht haben: Night and Day = White and Gay, What are you doing the rest of your life = What are you doing with the breast of my wife. You and the night and the music – music wurde zu using. Bei There will never be another you das you zu jew. Lange her. Mindestens 1000 Mal habe ich jeden dieser Songs bereits gespielt. Abgewichst sagt man dazu. Ich bin offiziell abgewichst.

»Vielen Dank, fuck you very much, auf Wiedersehen.«

Ende.

Und dann packen wir zusammen, und der Chef von ExproDyn klopft persönlich an der Garderobentür und quetscht sich in den Raum.

»Ich hoffe, ich erwische Sie nicht beim Umziehen, hahaha …«

Ich hätte ohne Unterhose dastehen können, er wäre geblieben.

»Wollte mich noch mal ordentlich verabschieden«, sagt der, »sind alle sehr zufrieden gewesen. Hahaha. Ja, schön. Und machen Sie nur weiter so! Viel Erfolg. Ich freue mich, dass wir Sie hier hatten, wie sagt man doch: Man muss junges Talent schnell ausnutzen, man weiß ja nie, wie lang se leben, hahahaha …«

Was wollte er gleich?! Ach ja, sich ordentlich verabschieden. Ist gelungen.

»Danke vielmals«, sage ich.

Ich schiebe mir die Kopfhörer, so tief es geht, in die Ohren. Ich hoffe, Coltrane schreit mein Gehirn wieder frei – von der Wahrsagerin, der Parkbank, diesem ruhmreichen Gig. Im besten Fall, vielleicht wenigstens vorübergehend, auch von dir. Und bei jedem von Coltranes Tönen frage ich mich, ob es nicht auch ohne Heroin gegangen wäre? Bei ihm, bei Miles, bei Chet, bei Bill. Lieber kürzer leben als ohne? Ich würde es gern versuchen. Versuchen, ob sich da was befreien lässt, was vielleicht so herumliegt, unerreichbar ist hinter den Barrikaden blockierenden Denkens und dieser beschissenen Versagensangst. Ihre Tochter ist ein Wunderkind! Und was, wenn nicht? Was, wenn da gar nichts herumliegt? Was, wenn man nur feststellt, dass es gar nicht das Heroin war, das all die zeitlosen Alben der Musikgeschichte schrieb, nicht das Heroin, das Miles, Chet, John und Bill so filigran spielen ließ, nicht das Heroin, das ihnen die großen Einfälle ins Ohr flüsterte, sondern schlicht und einfach deren göttliches Genie. Und nur weil sie es nicht verkraftet haben, so verschissen genial zu sein, mussten sie sich vorzeitig abtöten. Und man selbst? Nur gewöhnlich begabt, im stabilen Mittelfeld. Den Mittelmäßigen wird meist ein langes Leben zuteil. Dann steht es unwiderruflich fest: Langweilig und ohne jeden Mehrwert war man anmaßend, sich zum Kreis der Auserwählten gesellen zu wollen.

Und deshalb, vielleicht einfach nur, um dieser Tatsache auszuweichen, wird es wohl nichts mit dem Heroin und mir.

Dann laufen Coltrane und ich noch eine Weile umher.

Unter den Linden, Bänke links und rechts, akkurat gezüchtete Bäume, Kies auf dem Weg. Um uns herum Stau. All diese herumwuselnden mittelmäßigen Menschen, in Autos, popeln in Nasen, in Ohren, in Zähnen, ziehen Lippenstift nach, fluchen. Und am Wasser im Tiergarten sitzen Araber im Kreis. Haben sogar eine Shisha mitgebracht. Hübsche knutschende Jugendliche, neben ihnen auf das Fortsetzen der Fahrt ins Grüne wartende Fahrräder. Jogger laufen an mir vorbei, und ich frage mich, welchem Beruf sie wohl nachgehen, dass sie Zeit haben, der eigenen Fitness, dem Erhalt ihrer Frische ein paar Stunden eines Montagnachmittags zu widmen.

Die Tage sind lang, die Vögel singen in den kurzen Nächten, und alle Bäume kleiden sich neu ein.

Berlin kann sehr schön sein.

Im Erblühen ist alles schön.

Während ich am Straßenrand stehe und warte, zähle ich sieben verliebte Paare, drei entliebte und massenweise hoffende, einsame Satelliten jeden Alters an mir vorbeiziehen. Was, wenn ich einfach verschwinden würde. Und alle bleiben. Ein Scheißtag ist das wieder. Wieder ohne dich. Weil ohne dich.

Lens Saab schiebt sich quer in die schmale Parklücke direkt vor meinen Füßen. Er greift über den Beifahrersitz, öffnet mir die Tür und sieht mich lächelnd aus seinem frisch geduschten Wagen an.

»Hereinspaziert, hereinspaziert im Saabonator.«

Ich steige ein und versinke im Velours.

»Hier is’n Schlüpper in deim Saabonator«, sage ich, und ziehe den kleinen Spitzenslip unter meinem Fuß hervor, »das nich so.«

»Ach komm, Byp, hier bin ich ich, hier darf ich ich!«, sagt Len und tritt aufs Gas, kurbelt das Lenkrad lässig nach links. Hübsch sieht er heute aus. Wenn auch unrasiert. Ganz strubbelig. Ungeschnittenes Haar. Im Profil sieht man noch den Nasenbruch von dem Idioten damals. Einfach so. Ohne Ankündigung. Direkt durch sein heruntergekurbeltes Autofenster hindurch. Wollte nur nach dem Weg fragen, mein Len.

»So schön, dich zu sehen … Unerwartet. So mag ich es am liebsten«, sage ich und schnalle mich an.

»Ja, mein Babypsilon. Kann keine Geigen mehr sehen für heute. Und – von wegen unerwartet! Habe deine Meldung vernommen. Du provozierst doch wieder. Izy Lewin ist leider verstorben … Was schreibst du denn so was? Was soll denn das, du Dramatikerin. Ich habe dir ein Gedicht geschrieben dazu!«

»Willst du vorlesen?!«

»Ne. Du musst lesen. Ich fahre. Warte mal!« Er kramt in seinem Handschuhfach, das vollgestopft ist mit seinen Gedichten, das Papier raschelt, er zieht ein Blatt hervor.

Er wird mich jetzt aufmuntern wollen mit einer Schöpfung seines Geistes. Schon zehn Jahre lang – dafür sorgen, dass ich wieder guter Dinge bin, und dann verschwinden, für Monate untertauchen, in sich gehen und spielen mit dem reichhaltigen Irrsinn, den Gott über seinem Kopf ausgekippt hat. Naiv ist er, und frei wie ein Kind. So wie ich es nicht mehr kann. Nicht mehr kann, weil Jens, Sven oder wer auch immer sein blödes Bier auf mein Klavier stellt. Blutend, warm und ungeschützt legt man denen sein Herz zu Füßen. Und der stellt sein Bier drauf.

»Okay, Len, ich lese. Soll das Morphing in heißen hier? Hörst du zu?«

»Jaja. Ganz Ohr.«

»Morphing in –

In seine Rolle wächst man hinein,

man muss es nur sehr wollen!

Es locken Leckerbissen stets –

wir tun, was wir sollen.

Die Männer wedeln mit dem Schwanz,

die Frauen mit dem Arsche

und je nach Rangordnung bekommt

ein jeder, was er nicht verdient …«

»Und? Wie findste?«

»Eine nette Zusammenfassung der Dynamik menschlichen Seins auf Erden. Dem ist nichts hinzuzufügen.«

»Schön, dass du lachst. Greif mal hinter meinen Sitz.«

Hinter uns hupt es wiederholt, Lenny hupt rhythmisch zurück.

»Magst du was singen?«, frage ich und nehme das kleine weiße tragbare Casio.

»Musst du vorsichtig sein. Habe die Kontakte gestern gelötet. Aber mach an«, sagt er.

Als hätte er sie eigens gezeugt und geboren, seine Instrumente – so sehr liebt und beschützt er sie.

»Ohne deine Lebenserhaltungsmaßnahmen wären sie alle längst tot«, sage ich. »Deine Barockgeigen und deine Elektrofreunde.«

Ich schiebe den On/Off-Knopf nach rechts, ein kleines rotes Lämpchen blinkt auf. Ich drücke ›Beat‹, und aus dem alten Disco-Keyboard erklingt ein Bossa nova.

Das Casio, Lens Gesang, meine hier und da grob danebenliegende Begleitung – schön.

»Dein ist mein ganzes Herz … wo du nicht bist … kann ich nicht bin«, singt er.

»Wo fahren wir hin?«, singe ich.

»Wannsee«, sagt er.

Ich spiele weiter.

Wie oft ich schon mit der S-Bahn daran vorbeigefahren bin, an dem See, der einer eigenen Haltestelle und eines ihm gewidmeten Liedes würdig ist.

Ich gehe nie an den See. Ich mag keine Menschen, die beinahe aufeinanderliegen und das als Entspannung ansehen. Ich mag keine breitbeinig Nackten in meinem Nacken. Will auch nicht, dass Fremde zu meinen Füßen zwischen meine Beine sehen können. Aber ist ja noch keine Badesaison.

Autobahn, graue Autobahn, Rauschen der Autos, hohe grüne Bäume, Brücken, Schilder, drehe das Fenster runter, die Luft zieht mit Druck am Fenster vorbei, ich halte meine Hand raus, und sie bewegt sich wie von selbst in den Wellen des Luftstroms, zerschneidet ihn, ich schließe die Augen. Das Casio auf meinem Schoß spielt ganz allein den Bossa nova weiter. Pf-ts-pfpf-ts …

Und ich denke an Babuschka Ella. Immer öfter. Ich verabschiede mich. Ich muss mich verabschieden.

›Wir können dir auch Russin in den Pass eintragen! Macht das Leben leichter‹, haben sie zu ihr gesagt.

›Nein‹, sagte Ella. Will sie nicht. Kann sie nicht. Wegen der Familie. Dabei waren alle tot. Von einer Sekunde auf die andere. Bombenangriff. ›Ich bin, wer ich bin‹, sagte sie, und war kaum achtzehn.

Und sie schrieben Jüdin rein. Und hätten sie es nicht getan, wäre ich heute nicht hier, hätte es keinen Schein gegeben, der besagt, wer Ella ist, und all ihre Nachfahren.

Ich denke mir euch alle weg. Keine Eltern, keine Tanten, keine Großmütter und Großväter. Niemand. Reduziere das Verbliebene auf solche gleicher Herkunft. Reduziere auch die auf Null und ersetze sie mit Fremden.

Was bleibt? Man selbst minus alles, was man kennt, geliebt hat, minus alles. Man kennt niemanden, und niemand kennt dich. Und du siehst an dir herunter, und alles, was du hast, ist das blutverschmierte Sommerkleid. Das Blut deiner jetzt im Graben wie Abfall verschwundenen Eltern trägst du an dir.

Wirst du denen, die dir fremd sind, erzählen von dem, was nicht mehr ist? Im Vergangenen leben, obwohl ein neuer Anfang sich dir zu Füßen schmeißt und ›Nimm mich, nimm mich‹ schreit? Was willst du denn? Was brauchst du denn? Fang doch neu an! Mach doch einfach. Kannst doch die, denen nicht gefällt, wer du bist, woher du kommst, dann immer noch ficken! Trojanisches Pferd! Seit 19:45 wird zurückgefickt.

Aber kann man das überhaupt? Nicht erzählen, wo man herkommt?

Warum definiert dich deine Herkunft so sehr, dass du – obgleich da niemand mehr ist – nicht loslassen kannst? Vielleicht ja genau deshalb. Weil da niemand mehr ist. Nur du selbst. Und alles schreibt sich in dich rein. Dieser verdammte Sud, aus dem wir alle steigen, die Vielzahl der Ereignisse, der unüberschaubare Äther des Vergangenen, der Spuren hinterlassen hat, unbemerkt, Spuren, von denen man sich nicht reinigen kann, ihrer nicht entledigen, weil sie vergraben sind und trotzdem ständig durch die glatte Oberfläche dringen – als Geist, als Fluch, als verklungenes Lied. Nichts Greifbares. Alle Liebkosungen, alle Schläge, Strafen, alle Worte. Aus was ist Ich denn gemacht? Aus der Liebe der Mutter, der Stärke der Gene, dem Schicksal und Leid der Urahnen? Und ohne sie? Was darf das Ich denn so sein? Was bleibt für das Ich? Was ist das Ich befugt zu tun, ohne sich zu Mutter und Vater zu bekennen? Kann es das losgelöste Ich geben, ohne deren Existenz damit infrage zu stellen, als Unrat zu behandeln, als ungültig zu erklären? Wann will das Ich erklären, wer es zeugte und wer wiederum deren Eltern waren, wann will das Ich es lieber verschweigen?

Und wann will ich erzählen, wieso einer wie mein Vater eine wie meine Mutter von der heiteren Fortuna geschenkt bekam und es ihm scheißegal war, welche Herkunft und religiöse Zugehörigkeit dieses geile Gerät hatte? Eine Schickse, spotteten die dummen Krähen im Asylbewerberwohnheim und stritten sich, wer jüdischer ist und warum die Schickse hier ist und warum die auch Geld bekommt, Geld, das ihnen zusteht. Meine Mutter anmachen, diese Subjekte. Bin ich halt ein Bastard. Mischling. Was soll’s. Verdammt widerstandsfähige Hunde sind das. Ich bin unsterblich. Teilt euch doch das Geld. Ich hab die fruchtbare Saat und Sonne der Ukraine, die unendliche heiße Kälte Russlands, den Nachlass des hebräischen Wüstenvolks – alles drin in mir, alles immer dabei.

Frag mich ruhig, für wessen Seite ich mich entscheiden würde, und ich sage es dir: Ich trete mein Erbe einfach nicht an. How about that?!

Aber warum will ich dich dann so sehr, Timur Hertz, du Schmock? Warum dann nur dich? Zugehörigkeitsbedürfnis steht anscheinend höher als Selbsterhaltungstrieb. Wer hätte das gedacht.

Len sieht zufrieden aus, ihm gefällt der Bossa-Groove, seine Finger klopfen auf dem Lenkrad rum.

»Und bei dir so?«, frage ich.

»Ich probier grad was Neues. Mentale Gedankenkontrolle!«

»Aha. Sehr interessant. Bei dir selbst oder bei anderen?«, lache ich.

»Bei mir selbst geht das gar nicht!«, sagt er empört, »bei anderen natürlich!«

»Und? Erfolge?«

»Bisher nicht …«, Len pausiert. »Habe ich dir schon von Pfötchen erzählt?«

»Nein, was ist das denn?«

»Nicht was! Wer! Ein Mädchen. Dass ich dir davon noch gar nicht erzählt hab … Haben uns im Club kennengelernt, und ich bin mit zu ihr. Waren schon sehr betrunken beide. Ist ihre Unterhose übrigens. Am nächsten Morgen stand sie auf, wollte Kaffee machen. Ich komme in die Küche, sie stellt mir die Tasse hin, und ich sehe, dass ihr eine Hand fehlt …«

»Wow! Pfötchen. Du Sack. Welche Hand?«

»Die rechte.«

»Und das war dir in der Nacht nicht aufgefallen?!«

»Nein, irgendwie nicht«, sagt er, und es verwundert ihn selbst, während er so drüber nachdenkt.

»Nicht schlecht. Das muss sie gut zu kompensieren gewusst haben …«

Das Auto wird langsamer, kommt zum Stehen.

»Wir sind da, Babypsilon!«

Len parkt ordentlich. Im Schatten. Wir gehen eine Straße runter, ich sehe den See – friedlich und grün bewachsen, Baumstämme liegen am Wasser, Schiffe, Kutter, kleiner Hafen. Ich kann seine Ufer rechts und links nicht ausmachen. Auf der Wasseroberfläche sind winzige Bewegungen zu sehen, als würde sie zittern.

»Hier, du kannst auf meiner Jacke sitzen.« Len zieht seine Windjacke aus und legt sie auf den sandigen, grasbewachsenen Boden, setzt sich daneben.

Ich sehe auf das Wasser, nehme ein Stöckchen, drehe es in den Fingern. War mal ein Teil eines Baumes, ist abgefallen, wahrscheinlicher noch abgebrochen worden, ist tot. Kann auch nicht autark sein. Armes Ästchen.

»Häschen. Was ist los, warum so trauriglich?«

»Ich weiß es nicht, Lenson, ich glaube, ich verschwinde.«

»Ach so, das … denke ich auch oft über mich. Ist eben Teil des Prozesses, verschwinden, wieder auftauchen, neu, anders …«

»Ja, das kann schon sein. Aber anders fühlt sich anders an. Es geht bergab. Bald fängt das große Sterben an, und geht so lange, bis nur noch ich übrig bin. Und ich habe keine Ahnung, wie ich die Familie fortführen soll, wenn ich ohne sie gar nicht lebensfähig bin. Wie das Ästchen hier. Es macht überhaupt keinen Sinn alles bis jetzt. So viel Mühe, Liebe, Geld, Risiken, falsche Pässe – alles nur, damit es mich gibt. Und ich weiß nicht, was tun damit, lebe so vor mich hin. Als ob man eine Riesenshow vorbereitet hätte, alle herbeigerufen, sie sollen unbedingt kommen, auch Freunde mitbringen, es sich ansehen, das wird Wunder was Tolles, dann Pauken, Trompeten, der Vorhang geht auf, und dahinter – sitzt jemand auf einem Stuhl und guckt dumm. Und das ist alles. Das bin ich.«

»Hm«, sagt er, sieht auf das Wasser, schweigt.

»Du lachst ja gar nicht.«

»Man kann auf verschiedene Arten lachen.«

»Du meinst auch so ganz leise, in sich drin …? Dass es keiner mitbekommt?«

»Ja, zum Beispiel. Geht auch im Keller, da bekommt’s auch keiner mit … Aber das können nur wir«, sagt er.

»Wie nur ihr? Wie meinst du, ihr Deutschen?«

»Ja«, sagt er. »Ihr, ihr schafft’s nicht bis in den Keller.«

»Lustig.«

Keller. Mir war nach In-den-Keller-Gehen, als die Behörde feierlich meinen Ausweis zerschnitt, um mir die deutsche Staatsbürgerschaft zu schenken. Allerdings nicht, um zu lachen. Nichts ist übrig von früher. Das Land, das ich besser kenne als jedes andere, ist jetzt Deutschland. Deutschland. Deutschland. Über. Alles. Plattitüden, gutes Benehmen und Ordnung. Aber mein alter Spielplatz ist hier nicht.

Wenn Len auf seinen alten Spielplatz will, braucht er nur nach Kreuzberg zu fahren. Will er seine Sandkastenfreunde wiedersehen, wohnen die meisten von ihnen noch da, wo er sie das letzte Mal nach der Schule zum Spielen abgeholt hat. Oder zumindest nicht weit davon weg. Meine sind in Amerika, in Italien, in, in, in. Nur nicht da, wo ich bin.

Timur Hertz und Izy Lewin aus Berlin – eine ganze Flasche Wodka haben wir geleert und einander erzählt, davon erzählt, wie es uns hierher verschlug.

Meiner Mutter untersuchte man sämtliche Körperöffnungen, zerschnitt mein einziges Kuscheltier. Hätte ja sein können, dass wir, die für ein Stück Seife in kilometerlangen Schlangen anstanden wie die übrigen 90 Prozent der Bevölkerung auch, wertvolle Güter aus dem blühenden Land der wertvollen Güter zu schmuggeln versuchten, so ein tolles Stück Seife zum Beispiel. Und nach Ankunft im Schlaraffenland Germania aß ich direkt ein Kilo Bananen und eine ganze Familienpackung Toblerone. Und dann Asylbewerberheim. Ich im Osten, Timur im Westen. Im Osten waren wir und die anderen Barackeninsassen wahrscheinlich die ersten Ausländer, die die Dorfbewohner je zu sehen bekamen. Erst Wende, dann Russen. Auch noch jüdische. Dann ein Sexshop im Dorf. War auch für die nicht einfach bestimmt.

Als der Sexshop eröffnete, gingen alle hin, das ganze Dorf. Zogen sich feierlich an und gingen los.

Gab ja sonst auch nichts dort. Weder Kino noch Schwimmbad noch Fußballfeld. Und da weder die Russen noch die Ossis wussten, was das genau sein sollte, dieser Shop, und vor dem Shop Luftballons und hübsche bunte Päckchen mit unbekanntem Inhalt verteilt wurden, in denen, wie sich herausstellte, Kondome waren, was ebenfalls niemand geahnt hatte, nahmen alle ihre Kinder mit, und es wurde ein sehr schönes interkulturelles Familienfest.

»Aber denkst du nicht, dass das alles schon irgendwie seinen Platz einnimmt, wenn du dich nur auf das konzentrierst, was du tust? Klavierspielen? Dass das deine Mission ist?«, fragt Len nach längerer Auszeit.

»Vielleicht ist das so. Ich weiß es auch nicht. Ich träume immer wirres Zeug. Immer verfolgt mich jemand oder etwas, und ich wache davon auf.«

»Ja, das kenne ich.«

Wir sehen in die Ferne, auf die andere Seite des Ufers.

Und wo bist du gerade, Timur Hertz? Allein? Nicht allein? Wieder Überraschungsbesuch von Astrid? Leckst du Astrids Muschi im gleißenden Licht der durch dein Fenster hereinbrechenden Sonne? Und denkst an meine? Oder auch nicht?

»Und bei dir und deinen Männern? Was ist da so los? Gibt es Kandidaten?«, fragt Len.

Deinen Männern – er setzt einfach voraus, dass es unmöglich einer sein kann. Warum kann es nicht einer sein?!

»Ist schon ’ne ganz schöne Aufgabe, da mitzuhalten«, sagt er, als er merkt, dass von mir wohl nichts kommt. »Du kannst ja auch alles … und die Welt gesehen haben müsste er, irgendetwas Besonderes, Göttliches, Schönes können, damit es dir nicht langweilig wird nach einer Woche, und so weiter und so weiter. Und einen Riesenpenis muss er haben.«

»Was? Das stimmt doch gar nicht.«

Das stimmt wirklich gar nicht.

»Doch!«, sagt er, »aber mehr so für ihn, damit es keine Minderwertigkeitsproblematik gibt. Dein geistiger Schwanz ist größer als mein eigentlicher. Brauchst du gar nicht lachen. Ist so.«

Ein alter Mann bindet sein kleines Schiffchen vom Steg. Er steigt drauf, sucht irgendwas, macht irgendwas. Ein schönes Leben, so ganz allein mit dem Wasser, dem Boot. Er ist sicher sehr glücklich gerade.

»Doch«, sag ich, »gibt einen Kandidaten. Aber der is’n Schmock.«

»Verstehe. Was ist das denn für ein fürchterlicher Klingelton?«

»Entschuldige, das ist Fili. Der Ton ist Penderecki. Ich geh mal ran …«

»Klar, Byp.«

»Fili?«

»Izy! Das war nur so, oder?! Du lebst, ja? Also wegen leider verstorben et cetera …«