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OSCHLIES • DAS EUROPÄISCHE ALPHABET KYRILLIZA

WOLF OSCHLIES

Das europäische Alphabet Kyrilliza

1100 Jahre Abenteuer einer Schrift

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Dem Andenken eines guten Freundes und Kameraden: Friedel Esser 1937–2014

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Inhalt

Einführung (in historische und politische Nebelfelder)

Kyrilliza direkt

Zu den Anfängen slawischer Schriftkultur

Slawen-Lehrer und Missionare

Glagoliza, ältere »Schwester« der Kyrilliza

Die Schüler der Slawenapostel

Glagoliza und Kyrilliza im politischen Schachspiel

Südslawische Karriere der Kyrilliza

Glagolitische Reservate an der Adria

Der Bulgare Evtimij, frühneuzeitlicher Schriftreformer der Slawen

»Bosančiza« – Bosniens Kyrilliza

Zar Peter und die »bürgerliche Schrift«

Russland: Reformen oder Wechsel von Türschildern?

Russia turko-latina

Russischer Maikäfer mit Pünktchen

Polit-Clown Žirinovskij und das »abscheuliche Ы«

(Höfliche) Putin-Kyrilliza

Serbiens Kyrilliza: »Schreibe wie du sprichst!«

Bulgarien: Orthographie und nationaler Kulturbruch

Glagoliza und Kyrilliza bei Polit-Analphabeten

Rumänisch und Kyrillisch

»Moldovisch« und Kyrillisch

Exkurs: Wo Deutsche und Deutschland Vorbild sind

Makedonisch: Sechs kyrillische Alphabete in acht Monaten

Der »Abecedar« und griechisch-makedonische Korrespondenz

Ausblick: Kyrilliza auf absterbendem Ast?

Auswahlbibliographie

Einführung
(in historische und politische Nebelfelder)

In Südosteuropa finden sich hundertfach ältere Ikonen und neuere Statuen, die die Gebrüder Kyrill (Konstantin, 826–869) und Method (Michael, 815–885) aus Thessaloniki zeigen. Die beiden wurden am 30. September 1880 von Papst Leo XIII. heiliggesprochen und 1980 (zusammen mit Benedikt von Nursia) von Papst Johannes Paul II. zu Schutzpatronen Europas erhoben. Wobei sich Slawen besonders angesprochen fühlen, auch die Lausitzer Sorben in Deutschland, die noch 60.000 Angehörige zählen. Seit 1862 besteht bei ihnen eine »Towarstwo Cyrila a Metoda (TCM)«, also ein »Cyrill-und-Method-Verein«. Kyrill und Method werden oft als »Slawenapostel« apostrophiert, was aber nach dem polnischen Slawisten Brückner unkorrekt ist: Die Brüder aus Thessaloniki waren keine gott-gesandten Himmelsboten (wie es »Apostel« sind), haben keine Slawen bekehrt und getauft, wohl aber »christliche Slawen gelehrt«, müssen also »Lehrer« genannt werden. Das ist auch so geschehen, wiewohl der Ehrenname »Slawenapostel« weiter in Gebrauch ist (auch in vorliegender Darstellung).

Vor langen Jahren habe ich einmal in einer TV-Sendung gefordert, dass man auch die makedonischen Schüler von Kyrill und Method, Kliment (um 840–916) und Naum (um 830–910) zu europäischen Ehren erheben sollte. Wichtig ist, dass man Kyrill und Method als Begründer slawischer Schriftkultur kennt und weiß, dass ohne Kliment und Naum aus ihrem Werk nicht viel geworden wäre. Was Erstere begannen, haben Letztere vollendet. Kliment und Naum konnten etwas den Geschichtsnebel lichten, der Kyrill und Method versteckt – ungeachtet der rund 10.000 Studien, die bislang über sie verfasst wurden. 1862 stellte der russische (deutschstämmige) Ethnograph und Linguist Aleksandr T. Gil’ferding (1831–1872) einige erhellende Fragen, die bis heute kaum beantwortet sind: »Wann wurde das slawische Alphabet erfunden? Wurde die Kyrilliza von Kyrill erdacht? Welches Verhältnis haben die gegenwärtigen Slawen zu Kyrill und Method?«

Natürlich gibt es nicht wenige aktenkundige Belege zur Existenz der Slawenapostel, bis hin zu Briefen der Päpste Johann VIII. und Stephan V., aber wir kennen kein einziges schriftliches Zeugnis von Kyrill und Method, nicht den kleinsten Autographen aus ihrer Hand. Demgegenüber verfügen wir über mindestens 30 Lehren, Predigten, Hymnen etc., die Kliment namentlich zweifelsfrei zugeordnet werden können, und noch einmal so viele, bei welchen die Experten seit Jahrzehnten um Kliments Urheberschaft streiten. Wenn wir von Naum nichts Vergleichbares haben, dann hat das Gründe politischer Vertraulichkeit, auf die ich weiter unten eingehe.

Alle Ikonen, Statuen etc., die Kyrill und Method mit Schriftrollen in den Händen zeigen, irren zweifach. Zum einen, weil von ihnen (wie erwähnt) nichts Schriftliches überliefert ist, und zum anderen, weil »schreiben« damals vor allem »abschreiben« bedeutete: In den Klöstern gab es Bibliotheken, »Scriptorien«, »Musterbücher« und Vorlagen, die klösterlichen Statuten verpflichteten die Mönche zum Schreiben, wobei die Aufträge von kirchlichen oder weltlichen Autoritäten kamen. Waren Kyrill und Method, Vertraute und Gesandte des Kaisers von Byzanz, solche Schreibknechte? Schließlich ist da noch ein dritter Irrtum, der die Groteske streift: Kyrill und Method werden mit Schriftrollen in kyrillischer Schrift abgebildet, z. B. auf ihrem Denkmal im Innenhof der Skopjer »Universität Kyrill und Method«! Diese Schrift gab es noch gar nicht, denn zu Zeiten der Slawenapostel und von ihnen wurde glagolitisch geschrieben. Kyrillisch wurde erst später »erfunden«.

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Meine liebe Mutter hat zeitlebens (sie wurde nur 55 Jahre alt) ein »Familienbuch« geführt, in das sie alles eintrug, was ihr bedeutsam erschien, bis Anfang 1949 in »deutscher« oder »Sütterlin«-Schrift, danach in lateinischer Schrift. Ich erwähne das, um die geminderte Gewichtigkeit wechselnder Alphabete für ein und dieselbe Sprache zu dokumentieren. Natürlich macht es mir einige Mühe, die Eintragungen meiner Mutter in zwei Alphabeten zu lesen, aber selbstverständlich sind sie mir nach einer gewissen Eingewöhnung nicht mehr verschlossen. Glagolitisch und Kyrillisch sind gewiss noch viel weiter voneinander entfernt, aber nicht grundverschieden! Meine hier vorgelegte Studie gilt der Kyrilliza, aber dabei darf ich die Glagoliza nicht übergehen; ich kann es auch gar nicht, da beide Alphabete zuzeiten parallel gebraucht wurden, wie etwa an der »Ohrider Literaturschule« vom 9. bis 12. Jahrhundert zu erkennen ist. Ich mache mir nicht die (irrige) russische Ansicht aus den frühen 1950er Jahren zu eigen, dass es sich um zwei Benennungen für ein und dieselbe Schrift handle und »dass die von Konstantin-Kyrill geschaffene Glagolica früher, noch im 11. Jahrhundert, Kyrilliza genannt worden sei« (Lettenbauer).

Im Januar 2007 wütete mit ungezählten Sachschäden und Personenopfern ein grimmiges Sturmtief über Deutschland, das ein Ignorant (oder Zyniker) unter den Meteorologen mit dem Namen »Kyrill« benannte. Der Namensgeber kann kein Slawe oder Slawist gewesen sein, denn seit über 1.000 Jahren schreiben unsere Nachbarn und Partner in Europa in einer Schrift, die Kyrillisch oder Kyrilliza genannt wird. In der frühen Neuzeit nannte man sie auch »cyrulische Schrift«, eventuell abgeleitet von lateinisch »cirrus« (gekraust, gelockt, gefranst) und auf die verschnörkelten Formen des altslawischen Schrifttums bezogen. Dragoslav Andrić, der geistvolle Sammler und Analytiker serbischer Sondersprachen, behauptete 1975 in einem Wörterbuch, »ćirilica« sei in Serbien ein Synonym für »etwa ganz Simples« oder »für neukomponierte Volksmusik«. Wie das zusammenpasst, wissen die Götter. Bei uns Sterblichen besteht längst Einigkeit, dass Kyrillisch nach Kyrill benannt ist, wobei wir die näheren Umstände dieser Namensgebung nicht kennen, aber sie mit einiger Sicherheit dem Bulgaren-Zaren Simeon zuschreiben können – Details dazu später.

Die Kyrilliza ist die Fortsetzerin bzw. Nachfolgerin der Glagoliza (auf die gleich noch ausführlicher einzugehen ist), und beide Alphabete slawischer Sprachen sind in vielen Details mehr oder minder unaufgeklärt. Sie entstanden in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, also etwa anderthalb Jahrtausende nach dem lateinischen Alphabet. Unter welchen Umständen wurden sie gebildet? Wer hat ihnen ihre Namen gegeben? Generell ist die slawische Schrift ein »Retortenprodukt«, eine »Missionarsschrift«, erdacht zur Niederschrift religiöser Texte in Graphemen, die vollauf zu den Phonemen der slawischen Sprache passten.

Glagoliza und Kyrilliza sind an das griechische Alphabet angelehnt, besonders die Kyrilliza. Von ihren 43 Buchstaben wurden 24 von griechischen Unzialbuchstaben (Majuskeln) abgeleitet, mindestens vier von der Glagoliza übernommen, drei weitere durch Ligaturen gebildet (z. B. I + Є = Ѥ), die restlichen sind Neubildungen. Die ältere Form der Kyrilliza heißt »Ustav«, was »aufrecht stehende Einzelbuchstaben« besagt. Ab dem 14. Jahrhundert bildete sich in Südosteuropa die »Poluustav« (Halbustav), die kleiner und rundlicher war, dazu mit Akzentzeichen, Abbreviaturen etc. versehen, typisch für eine Schriftnorm, die die Basis staatlicher Administration, kirchlicher Lehre, militärischer Kommunikation, literarischer Produktion etc. war.

Seit Frühjahr 2013 steht auf den 5-Euro-Scheinen, seit Juni 2014 auch auf den Zehn-Euro-Scheinen, neben dem lateinischen »EURO« und dem griechischen »EYPW« der slawischkyrillische »EBPO« – gesprochen »Evro« –, womit ein Herzenswunsch der Bulgaren erfüllt wurde, den sie schon unmittelbar nach ihrem EU-Beitritt im Januar 2007 durch ihren damaligen Finanzminister Plamen Orešarski in Brüssel vortragen ließen: Europa ist kulturell erst dann komplett, wenn Kyrillisch EU-offizielle Schriftnorm wird! Ist es das? 2013 brachte die Slowakei eine Zwei-Euro-Münze mit den Abbildern von Kyrill und Method heraus – in lateinischer Beschriftung!

Wer schreibt Kyrillisch? Da sind zunächst die historischen Sprachen, die keine kommunikative Rolle mehr spielen: Altslawisch (Altkirchenslawisch, Altbulgarisch), Rumänisch, Bosnisch (Bosančica). Sodann die slawischen und nichtslawischen Sprachen von Staaten, die Mitglieder in den Vereinten Nationen sind – slawische Sprachen: Belorussisch, Bulgarisch, Makedonisch, Montenegrinisch, Russisch, Serbisch, Ukrainisch, schließlich nichtslawische Sprachen: Kasachisch, Kirgisisch, Mongolisch, Moldavisch, Tadschikisch. Diese Einteilung kann morgen schon obsolet sein, wenn z. B. überfällige Wiedervereinigungen ablaufen, etwa Moldova mit Rumänien (womit das Zwangskonstrukt »moldavische Sprache« in kyrillischer Schrift entfiele), wenn zentralasiatische Länder die Kyrilliza ablegen, weil diese sie zu sehr an Russifizierungs- oder Sowjetisierungsdruck erinnert, was auch immer.

Der serbische Linguist Zoran Milošević hat im August 2011 eine Aufstellung der »Kyrilliza als eurasische Schrift« entworfen, die vorwiegend in folgenden Ländern in Gebrauch ist: Abchasien (für abchasische Sprache), Belarus, Bosnien-Hercegovina (für serbische Sprache), Bulgarien, Kasachstan, Kirgisien, Makedonien, Mongolei, Montenegro, Russland, Serbien, Süd-Ossetien (für ossetische Sprache) Tadschikistan, Transnistrien (russisches Sezessionsgebiet im Osten der Moldova, wo »Moldavisch«, also Rumänisch, in kyrillischen Buchstaben geschrieben wird), Ukraine. Daneben hat Milošević Dutzende weiterer Sprache ermittelt, die Kyrilliza verwenden, beispielsweise »Zigeunerisch« (ciganski) in Serbien und Russland, dann diverse Kaukasus- und Ural-Sprachen, Sprachen, für die kyrillische und lateinische Schrift gemeinsam genutzt werden, sodann 20 Turksprachen, die 2002 zum Lateinisch wechselten. Der Istzustand der Alphabete (Buchstabenzahl in Klammern) ist wie folgt:

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1 Wie J in »Journalist«,

2 stimmh. S wie in »sagen«,

3 im Bulg. scht,

4 Härte-, Weichheitszeichen.

Hinter der Abkehr der zentralasiatischen Republiken vom kyrillischen Alphabet vermuten russische Kommentare »panturkische« Bestrebungen und einen »verstärkten Einfluss der Türkei«. Ob das zutrifft oder klassische russische Feindbildung ist, spielt keine Rolle. Die betreffenden Staaten haben schlechte Erfahrungen mit russischer Instrumentierung von Schrift und Sprache. In der Zwischenkriegszeit schrieben sie Persisch, dann ein türkisch modifiziertes lateinisches Alphabet, ab 1940 kyrillisch, von dem sie bei der ersten Gelegenheit wieder abrückten. Selbst die seit 1921 souveräne Mongolei musste 1940 das kyrillische Alphabet einführen.

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Trotz allem: Kyrillisch lebt! Wenn ich mir das Signet der XXII. Olympischen und Para-Olympischen Winterspiele im subtropischen (sic!) Soči am Schwarzen Meer anschaute, dann kam mir der freundliche Verdacht, dass da russische Graphiker aus der Jahreszahl 2014 so etwas wie ein para-kyrillisches Symbol machten. Die Russen möchten gern die Kyrilliza zur Staatsschrift erheben. Anfang Dezember 2002 Unterzeichnete Präsident Vladimir Putin die Gesetzesnovelle »Über die Sprachen der Völker der R(ussischen) F(öderation)«, die »die Kyrilliza zur graphischen Grundlage der Sprachen aller Republiken festlegt, die in den Bestand der Föderation eingetreten sind«. Das empfand die Republik Tatarstan an der Wolga (67.863 km2, 3,7 Mio. Einwohner) als »verfassungswidrige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten«.

In gleichlautender Formulierung protestierte der »Weltkongress der Tataren«, der Klage erhob, dass das neue Gesetz die Verfassung Russlands verletze, die doch »das Prinzip der Gleichberechtigung der Völker proklamierte und die freie Entwicklung von Sprachen und Kulturen der Völker in Russland garantierte«. Man wolle das russische Verfassungsgericht und die internationale Gemeinschaft anrufen, was aber alles für die Katz’ war. Putins Gesetzesnovelle wurde vom Parlament verabschiedet! Die Tataren waren bereits im vorrevolutionären Russland eine der höchstgebildeten Volksgruppen: Die Volkszählung von 1897 ergab, dass im Reichsdurchschnitt 27 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben konnten, bei den Tataren aber 87 Prozent!

Die Tataren müssen sich als Mitglieder der RF fügen, was anderen erspart bleibt. So hat etwa Nursultan Naserbajev, der Präsident Kasachstans, im Dezember 2012 angekündigt, dass sein Land ab 2015 die kyrillische Schrift komplett abschaffen wolle, was bis 2025 vollbracht sein soll. Warum dieser kulturelle Gewaltakt? Weil die kasachische Hauptstadt Astana 2017 Gastgeber der Expo ist und der Gebrauch der Kyrilliza auf ausländische Besucher nicht als Beleg kultureller Modernität wirkte.

Dabei ist Kasachstan noch zurückhaltend. Bereits in den 1990er Jahren schafften »Bruderrepubliken« wie Aserbaidschan, Turkmenien und Usbekistan das Kyrillisch ab, im engeren russischen Umkreis ging Tschetschenien zur lateinischen Schrift über. Unverkennbar war der Kampf gegen das kyrillische Alphabet ein getarnter Kampf gegen das sowjetische und/oder russische Imperium. Aber Vorsicht mit solchen Kämpfen, denn sie tragen häufig ein »Geschmäckle« von unfreiwilliger Komik! Oder ist es etwa nicht komisch, wenn Russen ernsthaft überlegen, »wie ein Denkmal für die russische Sprache auf dem Mond aussehen müsse«? Zur (leicht abwegigen) Begründung hieß es: »Man kann schließlich die Kyrilliza als das erste Alphabet der Welt ansehen, das von einem seiner Schreiber in den Kosmos getragen wurde.« Gemeint war der kleine Russe Jurij Gagarin, der am 12. April 1961 auf dem Raumschiff »Vostok« (russ. Osten) ins All vorstieß. »Diesen Namen, in Kyrilliza geschrieben, konnten die Engel sehen, als sie im Geleit des sowjetischen Sternenflugs flogen.« Am 21. Juli 1969 zogen die USA mit ihrer Mondlandung nach, »aber seltsam ist es schon, dass bis zur Gegenwart unseren Patrioten nicht in den Sinn kam, ein ewiges Zeichen slavisch-kirchlichen Schrifttums im Kosmos zu errichten«. Nach Gagarin ist längst ein Mondkrater benannt – einer auf der Rückseite des Mondes.

Serben, Bulgaren, Russen u. a. amüsieren sich darüber, dass schriftunkundige Ausländer vor einem Ladenschild РЕСТОРАН stutzen, weil sie nicht das kyrillisch-phonetische »Restaurant« erkennen. In Makedonien erzählt man gern die Schnurre von italienischen Kriegsgefangenen, die Ende 1944 durch das nordmakedonische Kumanovo gefahren wurden, den kyrillisch geschriebenen Stadtnamen KУМАНОВО so falsch auffassten, dass sie sich bereits irgendwo in China wähnten. Touristischer Hit bei deutschen Bulgarienbesuchern ist ein Café im Zentrum Sofias, geschrieben »Kaфe« in rechtsgeneigter Schreibschrift, wodurch das ф wie ein ck aussieht …

Kyrilliza direkt

Das kyrillische Alphabet, befand schon vor über 60 Jahren Wolfgang Steinitz (1905–1967), Deutschlands bester Didaktiker des Russischen, ist eine Sache, die selbst Kinder in kürzester Zeit bewältigen. Was zu beweisen war – von einem Dozenten, der uns Slawistik-Studenten um 1962 in die Phonetik des Russischen einführte. Im Hauptberuf war dieser begnadete Pädagoge Lehrer an einer Oberschule für Mädchen. Damals waren Oberschulen allein über Aufnahmeprüfungen nach der vierten Klasse zu entern, was alljährlich Massenchaos auslöste: Die Kinder hatten Angst, die Eltern waren nervös, die Lehrer gereizt – ein grauenhafter Zustand! Allerdings nicht bei unserem Phonetiker. Der stellte sich mit freundlichstem Lächeln vor die Kinder und erklärte, er habe eine »Geheimschrift« erfunden, die OMATEK heiße. Wobei er den Kindern nicht sagte, dass die Buchstaben O-M-A-T-E-K im kyrillischen wie lateinischen Alphabet identisch sind. Er malte Omatek an die Tafel, das russisch-kyrillische Alphabet, bei dem er nur die drei, vier schwierigsten Buchstaben ausließ, da diese im deutsch-lateinischen Alphabet keine Entsprechung haben, etwa Ж, das wie J in französisch »Journalist« zu sprechen ist. Mit den restlichen Buchstaben ließ er die Kinder herrlich spielen – »Schreibe mal deinen Namen in Omatek!« –, und ohne dass die es merkten, war die Aufnahmeprüfung vorbei, die Kommission hatte ihre Beobachtungen gemacht, die Eltern waren zufrieden und die Begutachtung der Kinder war absolut gerecht und zutreffend.

Als ich Jahrzehnte später selber Hochschullehrer für südslawische Sprachen war, erweiterte ich OMATEK zu JOMATEK, die ich bei schlendernden Spaziergängen durch Belgrad oder Skopje lesen und üben ließ. Das ging relativ einfach, obwohl es die eine umfassende Kyrilliza natürlich nicht gibt. In der serbischen Sommerschule in Novi Sad wurden einmal fünf Russen aus meiner Gruppe ausgesondert, da sie – anders als ich – nicht fähig waren, die Belgrader »Politika« (Политика) zu lesen. Und da meinten westliche Medien noch, dass Russen und Serben »dieselbe Schrift« hätten, eben das kyrillische Alphabet. Um die Irrigkeit dieser Behauptung zu demonstrieren, schrieb ich auf, wie verschieden der Staatsname »Jugoslawien« bei variierenden Kyrillisch-Usern geschrieben wurde – »ЮГОСЛАВИЯ« bei Russen und Bulgaren, die für die Laute »Ju« und »Ja« eigene Buchstaben besitzen, und »ЈУГОСЛАВИЈА« bei Serben und Makedonen. Und wenn das nicht wirkte, erzählte ich ein paar serbische und bulgarische Witze über Russen. Oder ich erwähnte die Trikotaufschrift sowjetischer Fußballteams СССР – kyrillisch für »Союз социалистических республик« (= Union der sozialistischen Sowjetrepubliken), die bei Russen endlose Witzeleien über Tse-Tse-Tse-Pe auslöste.

Die CCCP verschied am 26. Dezember 1991. Zwölf Jahre später schrieb, komponierte und sang Oleg Gazmanov ein Lied, das ihm den Titel »Nationalkünstler Russlands« eintrug, Moskau aber gewaltigen Ärger mit ex-sowjetischen Staaten schuf. 2003 wagt jemand zu singen: »Ukraine und Krim, Belarus und Moldova – das ist mein Land. Rurikiden und Romanovs, Lenin und Stalin – das ist mein Land.« Dann der mittlerweile bei Russen sprichwörtliche Refrain: »Я рождён в Советском Союзе, сделан я в CCCP« (Ich bin in der Sowjetunion geboren, ich bin gemacht (sic!) in der SSSR).

Viele Deutsche haben die Kyrilliza nach Kriegsende aus Wegweisern kennengelernt, im Ersten Weltkrieg in Ostpreußen, das ab August 1914 von zwei russischen Armeen angegriffen wurde, letztlich erfolglos, aber doch hinreichend, ostpreußische Städte wie Lyck mit altrussischer Kyrilliza in »Лыкь« umzuwidmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten sowjetische Truppen in Berlin Wegweiser an, die zeigten, wo es zum »Rejchstag« oder »Lejpciger plac« ging. Als sich die ersten und chaotischen Anfänge legten, tauchten in ostdeutschen Städten Geschäfte mit kyrillischen Ladenschildern »Международная книга« (Internationales Buch) auf, in denen man russische, englische, französische und deutsche Bücher erwerben und aus Moskau sowjetische Zeitungen und Zeitschriften abonnieren konnte.

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Hat dieser Nachkriegskontext eine unbewusste Abneigung gegen Kyrillisch begründet? Da lief mir vor einigen Jahren beim »Internationalen Seminar für makedonische Sprache, Literatur und Kultur«, das seit 1968 alljährlich im »balkanischen Jerusalem«, dem südmakedonischen Ohrid am gleichnamigen Bergsee stattfindet, eine Deutsche über den Weg, die von irgendeiner NGO nach Makedonien geschickt worden war. Sie stand vor dem ausladenden Büchertisch, den das Seminar für seine Teilnehmer bereitete, und kommentierte die Auslagen so: »Das ist ja alles in diesem schrecklichen Kyrillisch!« Sie war wohl aus jener grauen Vorzeit, da noch galt: »Slavica non leguntur« – Slawisches wird nicht gelesen, es lohnt sich einfach nicht, dieses zu lesen.

Kyrillisch und Lateinisch stammen ja nicht von verschiedenen Sternen. In einem Buch über die Lager für »Displaced Persons« aus der ersten Nachkriegszeit fand ich Bilder von russischen Aufschriften und Hinweisen, alle gedruckt mit verdrehten, auf den Kopf gestellten oder sonst wie veränderten lateinischen Buchstaben, die nun mehr oder minder kyrillisch aussahen. Überhaupt erfreuen sich manche kyrillischen Buchstaben einer gewissen Beliebtheit, weil sie in derselben Weise verdreht, verändert oder verstellt werden und sich darum als »Hingucker« zu Werbezwecken bewährt haben: Я (Ja statt R), Д (D), И (I statt N), H statt N etc. Auf einer Buchmesse entdeckte ich 2013 ein Werbeplakat »Яead Russian«, was mir sehr gefiel. Die graphischen Spielereien wie »КULTUЯА« zähle ich schon gar nicht mehr.

Im Osten ist es mitunter grotesk. Zum Jahresende 2009 kaufte ich in der thüringischen Wartburg-Stadt Eisenach ein Dutzend Ansichtskarten, die scheinbar alle kyrillische Texte enthielten, welche sich bei näherem Hinsehen jedoch als Deutsch im Russenhemd entpuppten: Beнн дy дac лезен каннст, бист ду кеин думмер Весси! Im Klartext: Wenn du das lesen kannst, bist du kein dummer Wessi! Und ähnlich so weiter, ich habe mich kringelig gelacht. Am Abend mimte ich an der Hotelbar den ahnungslosen Wessi und bat meine ostdeutschen Nebenhocker, mir den Text doch bitte vorzulesen. Alle waren im vorgerückteren Alter, mussten also zu DDR-Zeiten jahrelang Russisch gelernt haben, aber einen kyrillischen Text vorzulesen schaffte niemand. Es hat in der DDR Untersuchungen gegeben, denen zufolge ostdeutsche Schüler auch nach vier Jahren Russischunterricht nicht einmal das kyrillische Alphabet beherrschten, von anderen Bereichen der russischen Sprache ganz zu schweigen. Ende 2012 lernte ich in Berlin Klaus Höpcke kennen, von 1973 bis 1989 stellvertretender Kultusminister der DDR. Im Gespräch sagte ich ihm, dass ich die DDR-offizielle Einstellung zum Russischunterricht als staatlich verordnete Sabotage an einer Weltsprache empfunden hätte. Er schaute mich verblüfft an und meinte: »Wörtlich das habe ich Margot gesagt« – Margot Honecker, Bildungsministerin der DDR, im Volksmund als »Miss Bildung« verhöhnt.

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Mit Russen machten »Ossis« von jeher ihre Scherzchen, mitunter sogar gute. Bekanntlich war die DDR bis zum 31. August 1994 Tummelplatz der Besatzer der »Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland« (Группа советских войск в Германии, ГСВГ), wie sie ab dem 26. März 1954 hieß, nachdem sie am 9. Juni 1945 als »Gruppe sowjetischer Besatzungstruppen in Deutschland« (Группа советских оккупационных войск в Германии, ГСОВГ) aufgestellt worden war. Anfänglich zählte die »Gruppe« 2.900.000 Angehörige, in den 1980ern 500.000, von 1989 bis 1994, als sie »Westliche Heeresgruppe« (Западная групп войск, ЗФГ) hieß, 337.800. Die Soldaten der GSSG trugen auf ihren Achselklappen die Zeichen CA, kyrillisch für SA, Abkürzung für »Советская Армия« (Sowjetische Armee). Bei der Bevölkerung wurden diese Buchstaben mit den Jahren unterschiedlich dechiffriert: Anfänglich »Die Brennikmeijers« (nach der Firma C&A Brennikmeijer), dann »Cirkus Aljoscha« und am Ende »Camping Afghanistan«.

Ähnliche bittere Witze machten Tschechen und Slowaken über die rund 100.000 sowjetischen Besatzer – offiziell »Zentrale Heeresgruppe« (Центральная группа войск, ЦГБ) –, die von Oktober 1968 bis Juni 1991 zum »zeitweiligen Aufenthalt« in ihrem Land waren. Die Zentrale der Sowjets war das 250 km2 große »Militärgelände Ralsko« in Nordböhmen, wohl wegen territorialer Anbindung an Sowjettruppen in der DDR. Wie Ralsko heute aussieht, 23 Jahre nach dem Abzug der Russen, beschrieb am 13. November 2014 die Prager Tageszeitung »MF dnes«: Metertief vergiftete Böden, zerfallene Gebäude, Flugzeug- und Panzer-Hallen, ungesicherte Munitionsdepots, Tümpel, wo weggeworfene Pneus in Ölwasser liegen etc.

Auf Schritt und Tritt stößt man in Ralsko auf Blindgänger, vor denen tschechische Schilder wegen »Lebensgefahr« (Životu nebezpečné) warnen. Schilder in kyrillischer Beschriftung finden sich nur noch selten, meist inoffizielle, wo Soldaten ihr Heimweh nach Rostov am Don oder anderswo ausdrückten. Insgesamt ist Ralsko bleibendes Zeugnis dafür, dass sich die Sowjetarmee im Ausland wie in Feindesland fühlte und absolut rücksichtslos aufführte.

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Das galt noch mehr für die Ex-DDR, wie Anfang November 2014 zahlreiche TV-Dokumentationen zum 25. Jahrestag des Mauerfalls bezeugten. Ein Achtel des DDR-Territoriums war sowjetischer Besitz, wo 500.000 Besatzer 400 Stützpunkte unterhielten, darunter 35 Militärflughäfen für 1.500 Flugkörper. Der Luftraum über der DDR blieb noch bis 1994 sowjetisches Eigentum, obwohl keine Sowjetunion mehr bestand und aus den deutschen »neuen Bundesländern« die Sowjetbesatzer abgezogen waren, von Deutschland mit 20 Milliarden D-Mark für den Abzug »belohnt«. Zurück blieben devastierte Orte wie Altengrabow in Sachsen-Anhalt, Rosenkrug und weitere Besatzerstätten, die ökologisch derart belastet waren, dass keiner sie übernehmen wollte. Das ist in Moskau nicht zu vermitteln, wie die Parlamentszeitung »Gosudarstvennaja Duma« am 20. September 2007 vorrechnete: »Unsere Immobilien« in der DDR, 777 »Militär-Städtchen« mit 36.290 »Gebäuden und Anlagen«, repräsentierten einen Wert von »30 Milliarden westdeutschen Mark«, und dass diese Summe nicht gezahlt wurde, war der »Raub des Jahrhunderts« (ograbienie veka).

An einstige Sowjet-Präsenz erinnern neben klobigen Denkmälern, lieblosen Soldatenfriedhöfen etc. etwa kyrillische Schnitzereien an Bäumen, in Jahrzehnten angebracht (»Lilja 1954«, »Saša 1987«). In einer TV-Dokumentation erinnerte sich ein deutscher Offizier an Kommentare, die Sowjetbesatzer zur Aufgabe ihrer deutschen Beute abgaben: »Jetzt haben wir den Zweiten Weltkrieg endgültig verloren.« Und das wollen nicht wenige »Rotarmisten« einfach nicht zur Kenntnis nehmen. »Назад в ГСВГ« (Zurück in der GSSG, Kyrilliza in gotisch Fraktur) nennt sich ein ganzes Bündel Veteranen-Websites. Sie erinnern sich an die schönen DDR-Zeiten (»ein Stück unseres Lebens und unseres Glücks«), man feiert weiterhin am 9. Juni »Tag der GSSG«, nennt Hunderte ehemalige Standorte, Garnisonen, Flugplätze, Truppenübungsplätze, setzt sowjetische Land- und Seekarten ins Netz etc.

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Mich hat dieses Treiben zu einem sozusagen OMATEK-Wiedererkenn-Spiel angeregt. Spielen Sie mit, verehrte Leser, erkennen Sie hinter den kyrillischen Namen, um welche Stadt es sich handelt:

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Geschafft? Dann Glückwunsch zum »perfekten Kyrilliza-Leser«!

Zu den Anfängen slawischer Schriftkultur

Der tschechische Literaturhistoriker Václav Flajšhans (1866–1950) hat schon 1901 darauf verwiesen – in Übereinstimmung mit seinen gelehrten Landsleuten Josef Dobrovský, dem »Begründer der slavischen Philologie« (Ilievski) und Pavel Jozef Šafirik –, dass die Slawen ein Jahrtausend zuvor ethnisch und sprachlich weithin undifferenziert waren. Alle firmierten als »Serben«, was ein Synonym für »Slawen« war, nicht das Ethnonym eines bestimmten Volkes. Serben im engeren Sinne waren als »Racen, Rajcen, Morlaken, Bunjevcen« etc. bekannt, gerade bei Deutschen. Alle Slawen in Ost, West und auf dem Balkan, die »mehr oder minder kompakt ein Territorium von den Alpen bis zum Ural und von der Ägäis bis zur Ostsee besiedelten«, sprachen ein einheitliches Altslawisch, »gebildet auf der Grundlage der makedonischen slavischen Mundarten aus dem Gebiet von Thessaloniki« (Ilievski). Diese urslawische Koine ist in Ermanglung schriftlicher Zeugnisse kaum zu rekonstruieren, auch wenn ihre Fernwirkung bis ins 17. Jahrhundert fortbestand.

Die Slawen waren im späten 6. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts aus ihrer Urheimat nordöstlich der Karpaten auf den Balkan gekommen. Was sie in Marsch setzte, wissen wir nicht. Waren sie an Zahl zu wenige, somit überfordert von Ackerbau und Jagd und folglich auf der Flucht vor dem Hunger? Oder waren sie zu viele, die sich gegenseitig verdrängten? Die Tatsache, dass von ihnen 200 oder mehr Jahre kaum etwas zu hören war, spricht eher für ihre nicht überwältigende Zahl – die missionarischen Bemühungen von Byzanz um sie eher für das Gegenteil. Diese Slawen haben Byzanz, das bis ins mittlere 7. Jahrhundert in heftige Kämpfe gegen Perser verwickelt war, nicht belästigt. Die Slawen kamen, wie von Flajšhans vermerkt, als ethnolinguale Einheit, was sie vorteilhaft von den ethnisch und sprachlich zersplitterten Autochthonen und ihren römischen Eroberern unterschied. Diejenigen, die am weitesten nach Süden vordrangen, wurden von Byzanz’ Bürokratie nach der Region, wo sie Wohnsitz nahmen, »makedonische Slawen« genannt, womit eine selten gute Symbiose begann. Den Volksnamen Σκλαβηνoι prägten die Griechen, die Römer adaptierten ihn als Sclaveni, ganz zuletzt akzeptierten ihn die Slawen selber. Diese kamen in bewundernden Kontakt mit einer europäischen Hochkultur und deren Standards, von denen sie bislang nichts gehört oder gesehen hatten. Byzanz wiederum war durch Dauerkonflikte mit Persern, Vandalen, Goten, islamischen Arabern etc. ausgeblutet, konnte die »Blutauffrischung« durch Neuankömmlinge bestens gebrauchen und hat sie als Söldner in seine ausgedünnten Truppen eingereiht. Die von byzantinischen Historikern so oft erwähnten Kriege gegen die Slawen hat es anfänglich nicht gegeben, denn »Byzanz wusste sehr gut, dass die Slawen bei Weitem nicht so feindlich und unüberwindlich wie die fanatisierten islamischen Horden waren« (wie der bulgarische Historiker Petăr Mutavčiev zu Recht hervorhob). Aufschluss vermittelt der deutsche Slawist Max Vassmer (1886–1962) mit seinen Forschungen über griechisch-slawische Wechselseitigkeit: Es gibt vereinzelt Berichte aus dem 6. Jahrhundert und danach, die von »Slaweninvasionen« samt Verwüstungen des Landes und Gräueltaten gegen die Bevölkerung künden, aber die haben keinen realen Hintergrund: Entweder verwechselten die griechischen Autoren Slawen mit hunnischen Awaren, oder sie lasteten die Pestepidemie, die im mittleren 8. Jahrhundert Griechenland heimsuchte, den Slawen an, wo diese höchstens menschenleer gewordene Regionen bevölkerten. Real war allein die wachsende ethnische Vermischung auf dem Peloponnes, die Völkerunterschiede fast gänzlich verwischte.

Die Slawen waren friedlich und nützlich, sie brauchten nur etwas geistigen und geistlichen »Schliff«, um in den Augen von Byzanz vollwertig zu sein. Das sollte nicht übermäßig kompliziert sein, es genügte, »die bislang unkultivierte slawische Sprache in den Rang einer Literatursprache zu erheben, mehr noch: zur Sprache des religiösen Kultus«. Diese Aufgabe stellte sich seit Jahrhunderten, denn »eins ist sicher, dass wir bis heute keine Beweise haben für die Existenz irgendeines seriöseren slawischen Schrifttums vor Konstantin-Kyrill« (Štefanić). Brauchte man die überhaupt? Schließlich »sind die ältesten slawischen Texte, in Latein verfasst, mindestens einhundert Jahre jünger als die ersten Werke in Konstantins Schrift«. Mit ihnen konnte man leben, wenn auch mit gelegentlicher Mühe, denn diese Texte »benutzten diverse (Rechtschreibungs-)Kombinationen, welche die Quelle orthographischer Instabilität und Inkorrektheit sind«. Dieser Nachteil wurde durch das »Prestige des Lateins« mehr als aufgewogen, denn »Latein war das Symbol westlicher Schriftkultur« (Matejka).

Das unermesslich reiche Byzanz war eine »Regierungsgewalt ohne Nation« (Historiker George Finlay), dessen buntes Völkergemisch durch »politisch-militärische Macht und das große kulturelle Erbe« zusammengehalten wurde. Alle Untertanen von Byzanz verstanden sich nach wie vor als »Römer«, weswegen sie sich »Rhomäer« (Pωμαϊοι) nannten und Latein weiterhin die offizielle Sprache war. Faktische Gemeinsprache war längst Griechisch, ein »antikisierendes Griechisch«, so obsolet, als dürften »heutige Intellektuelle nur das Deutsch des Nibelungenliedes verwenden« (Byzantinist Andreas E. Müller). Zwar bildeten »Griechen« in der Bevölkerung nur noch eine Minderheit, aber ihre Sprache stand für Bildung und Handel und war darum angesehen. Im Alltag kamen sie sich mit den Slawen nicht »in die Quere«: Die seetüchtigen Griechen siedelten an Küsten, von wo aus sie Seefahrt und Handel betrieben. Davon profitierte vor allem Byzanz, das im späten 6. Jahrhundert praktisch alle Küstenstreifen des Mittelmeers erobert hatte, dazu noch Südosteuropa bis zur Donau, Anatolien, Nahost und Ägypten. Die »wasserscheuen« Slawen widmeten sich im Landesinneren Ackerbau und Viehzucht. Wenn etwas zu verhandeln oder zu protokollieren war, etwa Verträge mit Byzanz oder »bulgarische Staatsakten« im 8. Jahrhundert, bediente man sich des Griechischen und seiner Schrift, wofür es genügend Kundige gab. Das galt besonders für die Slawen vor der Haustür, die Makedonen, aber auch für Bulgaren und Serben. Sie alle waren muttersprachliche Analphabeten, empfanden das aber nicht als Mangel: »(…) anfänglich besaßen die heidnischen Slawen keine Schrift, sondern kommunizierten und weissagten mit Kerben und Strichen (čerti i rezki)« – schrieb um 900 ein geistvoller Autor, der sich als »Černorizec Hrabar« (tapferer Kuttenträger) tarnte, in seinem Traktat »Oписменьхъ« (Über die Buchstaben). Über ihn wird noch zu reden sein, und bevor man seine Feststellung als Abwertung slawischer Kulturwilligkeit ansieht, sollte man sich an eine relativierende Bemerkung des Slawisten Wilhelm Lettenbauer erinnern: »Die Erfindung von Alphabeten und die Benutzung griechischer Buchstaben oder Runenzeichen als einer Geheimschrift war damals ein beliebtes Spiel.« Das Alter dieses »Spiels« hat mein Hamburger Lehrer, der Slawist Dietrich Gerhardt, 1939 erwähnt: »Das Lateinische besaß in Byzanz eine eigene Tradition, und fremde Sprachen in griechischen Buchstaben gab es seit Aristophanes.«

Das lange beargwöhnte »Chanat« der Bulgaren wurde dank seiner Christianisierung um 864 zum europäisch anerkannten Reich, das laufend erstarkte und im 10. Jahrhundert zum regionalen Konkurrenten von Byzanz erwuchs. Die politische Stärkung und nationalkirchliche Festigung erhöhte natürlich den Bedarf nach einem nationalsprachlichen Schrifttum, obwohl auch ohne dieses Slawen in Byzanz viele Ämter und Würden erreichen konnten. Dafür war Method das beste Beispiel, Absolvent einer Militärschule, den der Kaiser 845 zum Statthalter eines »slawischen Fürstentums« in Südost-Makedonien ernannte (wobei es nie eine genaue geographische Bestimmung des »Fürstentums« gab) und ihn bis 855 auf diesem Posten beließ. Der hohe slawische Bevölkerungsanteil in Methods makedonischer Region bewog Byzanz zu einigen Privilegien und Konzessionen, deren erste die Bestallung des Slawen Method als regionales Oberhaupt gewesen sein dürfte. Das war erst der Anfang, an den Fortgang erinnerte sich um 873 ein anonymer Kleriker aus Salzburg: »(…) surpervenit quidam Sclavus ab Histriae et Dalmatiae partibus nomine Methodius, qui advenit sclavicas literas et sclavice celebravit divinum officium et vilescere fecit latinum.« Da hört man ein deutliches Zähneknirschen heraus: »Da tauchte aus Regionen in Istrien und Dalmatien ein gewisser Slawe mit Namen Method auf, der slawische Buchstaben erfand und den Gottesdienst slawisch feierte und das Latein verächtlich machte.«