Kristof, Agota Die Analphabetin

PIPER

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Übersetzung aus dem Französischen von Andrea Spingler

 

ISBN 978-3-492-97241-3

August 2015

© Éditions Zoé, Genf 2004 Titel der französischen Originalausgabe: »L'Analphabète«

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007

Deutschsprachige Erstausgabe:

© Ammann Verlag & Co, Zürich 2005

Covergestaltung: Atelier Zero, München

Covermotiv: Finepic, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Anfänge

Ich lese. Das ist wie eine Krankheit. Ich lese alles, was mir in die Hände, vor die Augen kommt: Zeitungen, Schulbücher, Plakate, auf der Straße gefundene Zettel, Kochrezepte, Kinderbücher. Alles, was gedruckt ist.

Ich bin vier Jahre alt. Der Krieg hat gerade angefangen.

Wir wohnen zu jener Zeit in einem kleinen Dorf, das keinen Bahnhof und weder Elektrizität noch fließendes Wasser, noch Telefon hat.

Mein Vater ist der einzige Lehrer des Dorfes. Er unterrichtet alle Jahrgangsstufen, von der ersten bis zur sechsten. Im selben Raum. Die Schule ist von unserem Haus nur durch den Pausenhof getrennt, und ihre Fenster gehen auf den Gemüsegarten meiner Mutter. Wenn ich zum letzten Fenster des großen Raums hinaufklettere, sehe ich die ganze Klasse, mit meinem Vater, der vorn steht und an die Tafel schreibt.

Der Klassenraum meines Vaters riecht nach Kreide, Tinte, Papier, Ruhe, Schweigen, Schnee, selbst im Sommer.

Die große Küche meiner Mutter riecht nach geschlachtetem Tier, gekochtem Fleisch, Milch, Marmelade, Brot, nasser Wäsche, Babypipi, Betriebsamkeit, Lärm, Sommerhitze, selbst im Winter.

Wenn das Wetter uns hindert, draußen zu spielen, wenn das Baby lauter schreit als sonst, wenn mein Bruder und ich zu viel Lärm und Unfug in der Küche machen, schickt unsere Mutter uns zur »Bestrafung« zu unserem Vater.

Wir gehen hinaus. Mein Bruder bleibt vor dem Schuppen stehen, in dem das Brennholz gelagert wird:

»Ich bleibe lieber hier. Ich hacke Holz.«

»Ja. Mutter wird sich freuen.«

Ich durchquere den Hof, betrete den großen Klassenraum, bleibe an der Tür stehen, blicke zu Boden.

Mein Vater sagt:

»Komm näher.«

Ich komme näher. Ich flüstere ihm ins Ohr:

»Mutter ... Strafe ...«

»Sonst nichts?«

Er fragt »sonst nichts ?«, weil es manchmal einen Zettel von meiner Mutter gibt, den ich wortlos übergeben muß, oder ich soll ein Wort sagen: »Arzt«, »dringend«, manchmal auch nur eine Zahl: 38 oder 40. Es geht immer um das Baby, das dauernd Kinderkrankheiten hat.

Ich sage zu meinem Vater:

»Nein. Sonst nichts.«

Er gibt mir ein Buch mit Bildern:

»Setz dich.«

Ich gehe ans Ende des Raums, dorthin, wo es hinter den Größten immer noch freie Plätze gibt.

So ziehe ich mir sehr jung, ohne es zu merken und ganz zufällig, die unheilbare Krankheit des Lesens zu.

Wenn wir die Eltern meiner Mutter besuchen, die in einem nahe gelegenen Dorf wohnen, in einem Haus mit Licht und Wasser, nimmt mich mein Großvater an der Hand, und wir machen zusammen einen Rundgang durch die Nachbarschaft.

Großvater holt eine Zeitung aus der großen Tasche seines Gehrocks und sagt zu den Nachbarn:

»Seht her! Hört zu!«

Und zu mir:

»Lies.«

Und ich lese. Fließend, fehlerlos, so schnell, wie man es verlangt.

Abgesehen von diesem großväterlichen Stolz, wird mir meine Lesekrankheit eher Vorwürfe und Verachtung einbringen:

»Sie tut nichts. Sie liest die ganze Zeit.«

»Sie kann sonst nichts.«

»Das ist die bequemste Beschäftigung, die es gibt.«

»Das ist Faulheit.«

Und vor allem: »Sie liest, anstatt ...«

Anstatt was?

»Es gibt so viel Nützlicheres, nicht wahr?«

Noch jetzt, wenn das Haus sich morgens leert und alle meine Nachbarn zur Arbeit gehen, habe ich fast ein schlechtes Gewissen, daß ich mich an den Küchentisch setze, um stundenlang Zeitung zu lesen, anstatt ... zu putzen oder das Geschirr von gestern abend zu spülen, einzukaufen, die Wäsche zu waschen und zu bügeln, Marmelade zu kochen oder Kuchen zu backen...

Und vor allem, vor allem! Anstatt zu schreiben.

Vom Reden zum Schreiben

Von klein auf erzähle ich gern Geschichten. Geschichten, die ich selbst erfunden habe.