Kristof, Agota Die dritte Lüge

PIPER

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Übersetzung aus dem Französischen von Erika Tophoven

ISBN 978-3-492-97242-0

August 2015

© 1991 Éditions du Seuil, Paris

Titel der französischen Originalausgabe: »Le troisième mensonge«

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 1993

Covergestaltung: Atelier Zero, München

Covermotiv: Finepic, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Erster Teil

Ich bin in der kleinen Stadt meiner Kindheit – im Gefängnis.

Es ist kein richtiges Gefängnis, es ist eine Zelle im Gebäude der Ortspolizei, einem Haus, das wie alle anderen Häuser der Stadt einstöckig ist.

Meine Zelle muß früher eine Waschküche gewesen sein, Tür und Fenster gehen auf den Hof hinaus. Innen vor dem Fenster hat man später Gitterstäbe angebracht, damit man nicht an die Scheibe herankommt und sie zerschlagen kann. Eine Waschgelegenheit mit Klosett ist durch einen Vorhang abgetrennt. An einer der Wände stehen, am Boden festgeschraubt, ein Tisch und vier Stühle, an der gegenüberliegenden Wand sind vier Betten befestigt, die man herunterklappen kann. Drei davon sind heruntergeklappt.

Ich bin allein in der Zelle. Es gibt nur wenige Verbrecher in dieser Stadt, und wenn es mal einen gibt, bringt man ihn gleich in die Kreisstadt, zwanzig Kilometer weiter.

Ich bin kein Verbrecher. Ich bin nur hier, weil meine Papiere nicht in Ordnung sind, mein Visum ist abgelaufen. Und ich habe auch Schulden gemacht.

Morgens bringt mir der Wärter das Frühstück, Milch, Kaffee, Brot. Ich trinke ein paar Schluck Kaffee, dann gehe ich zum Duschen. Mein Wärter verzehrt den Rest meines Frühstücks und säubert die Zelle. Die Tür bleibt offen, ich kann in den Hof gehen, wenn ich Lust dazu habe. Es ist ein Hof mit hohen Mauern ringsum, die mit Efeu und wildem Wein bewachsen sind. Hinter einer der Mauern, links von meiner Zelle, wenn man herauskommt, liegt ein Schulhof. Ich höre die Kinder in den Pausen lachen, spielen und schreien. Die Schule war schon da, als ich noch ein Kind war, ich erinnere mich daran, obwohl ich nie in diese Schule gegangen bin, aber das Gefängnis war damals woanders, daran erinnere ich mich auch, denn da war ich einmal drin.

Jeden Morgen und jeden Abend gehe ich eine Stunde im Hof herum. Das habe ich mir in meinen Kindertagen angewöhnt, als ich mit fünf Jahren wieder gehen lernen mußte.

Mein Wärter ärgert sich darüber, denn dann sage ich kein Wort und höre auch keine Fragen.

Mit den Augen starr auf die Erde blickend und den Händen hinterm Rücken, so mache ich meine Runden, dicht an den Mauern entlang. Der Boden ist gepflastert, aber zwischen den Steinen sprießt Gras.

Der Hof ist beinahe quadratisch. Fünfzehn Schritt lang, dreizehn breit. Angenommen, ich mache Schritte von einem Meter Länge, dann hätte der Hof eine Fläche von einhundertfünfundneunzig Quadratmetern. Aber meine Schritte sind bestimmt kürzer.

In der Mitte des Hofs steht ein runder Tisch mit zwei Gartenstühlen und an der hinteren Mauer eine Holzbank.

Wenn ich mich auf diese Bank setze, sehe ich den größten Teil des Himmels meiner Kindheit.

Schon am ersten Tag hat mich die Frau aus der Buchhandlung besucht und mir meine Sachen und auch eine Gemüsesuppe gebracht. Sie kommt weiterhin jeden Tag um die Mittagszeit mit ihrer Suppe. Ich sage ihr, daß ich hier genug zu essen kriege, der Wärter bringt mir zweimal täglich eine komplette Mahlzeit aus dem Restaurant gegenüber, aber sie kommt immer wieder mit ihrer Suppe. Ich esse höflichkeitshalber ein wenig davon, dann gebe ich den Topf an meinen Wärter weiter, und der ißt den Rest.

Ich entschuldige mich bei der Frau für die Unordnung, die ich in ihrer Wohnung hinterlassen habe.

Sie sagt zu mir:

– Was macht das schon? Meine Tochter und ich haben bereits alles aufgeräumt. Es waren vor allem viele Papiere. Die zerknüllten Blätter habe ich verbrannt und auch alle, die im Papierkorb waren. Die anderen habe ich auf dem Tisch liegen lassen, aber die Polizei war da und hat sie mitgenommen.

Ich schweige einen Moment, dann sage ich:

– Ich schulde Ihnen noch zwei Monatsmieten.

Sie lacht:

– Ich habe viel zuviel für die kleine Wohnung verlangt. Aber wenn Sie unbedingt wollen, können Sie das ja später bezahlen, wenn Sie wiederkommen. Nächstes Jahr vielleicht.

Ich sage:

– Ich glaube nicht, daß ich wiederkomme. Die Botschaft meines Landes wird es bezahlen.

Sie fragt mich, ob ich etwas brauche, ich sage:

– Ja, Papier und Bleistifte. Aber ich habe überhaupt kein Geld mehr.

Sie sagt:

– Ich hätte von selbst daran denken sollen.

Am nächsten Tag kommt sie mit ihrer Suppe, einem Paket kariertem Papier und Bleistiften.

Ich sage zu ihr:

– Danke. Die Botschaft wird es Ihnen zurückzahlen.

Sie sagt:

– Sie reden immer nur vom Bezahlen. Ich möchte, daß Sie von was anderem reden. Zum Beispiel, was schreiben Sie?

– Was ich schreibe ist ohne Belang.

Sie läßt nicht locker:

– Mich würde interessieren, ob Sie wahre Geschichten schreiben oder erfundene.

Ich antworte ihr, daß ich versuche, wahre Geschichten zu schreiben, aber ab einem bestimmten Moment wird die Geschichte unerträglich, eben weil sie wahr ist, und dann muß ich sie ändern. Ich sage ihr, daß ich versuche, meine eigene Geschichte zu erzählen, aber daß ich es nicht kann, ich habe nicht den Mut dazu, sie tut mir zu weh. Also mache ich alles schöner und beschreibe die Dinge nicht, wie sie sich zugetragen haben, sondern so, wie ich sie mir gewünscht hätte.

Sie sagt:

– Ja, es gibt Leben, die sind trauriger als das traurigste Buch.

Ich sage:

– Das stimmt. Kein Buch, auch wenn es noch so traurig ist, kann so traurig sein wie ein Leben.

Nach kurzem Schweigen fragt sie:

– Ihr Hinken, war das ein Unfall?

– Nein, eine Krankheit, als ich noch klein war.

Sie fügt hinzu:

– Man merkt es kaum.

Ich lache.

Ich habe wieder etwas zum Schreiben, aber ich habe nichts zu trinken und auch keine Zigaretten, außer den zwei oder drei, die mir mein Wärter nach den Mahlzeiten spendiert. Ich bitte um eine Unterredung mit dem Polizeioffizier, der mich unverzüglich empfängt. Sein Büro ist im oberen Stock. Ich gehe hinauf. Ich setze mich auf einen Stuhl ihm gegenüber. Er hat rotes Haar, ein Gesicht voller Sommersprossen. Auf dem Tisch, vor ihm, ist eine Schachpartie im Gange. Der Offizier blickt auf das Spiel, rückt einen Bauern vor, notiert den Zug in einem Heftchen, blickt mit seinen hellblauen Augen zu mir auf:

– Was wünschen Sie? Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Es wird noch ein paar Wochen dauern, vielleicht sogar einen Monat.

Ich sage:

– Ich habe es nicht eilig. Ich fühle mich sehr wohl hier. Mir fehlen nur ein paar Kleinigkeiten.

– Zum Beispiel?

– Wenn Sie zu meinen Haftkosten noch einen Liter Wein und zwei Päckchen Zigaretten pro Tag auf die Rechnung setzen könnten, so hätte die Botschaft bestimmt nichts dagegen.

Er sagt:

– Das nicht. Aber es wäre schlecht für Ihre Gesundheit.

Ich sage:

– Wissen Sie, was einem Alkoholiker passieren kann, dem man plötzlich allen Alkohol entzieht?

Er sagt:

– Nein. Und es ist mir auch scheißegal.

Ich sage:

– Ich kann Delirium tremens kriegen. Ich kann jeden Moment sterben.

– Was Sie nicht sagen!

Er blickt wieder aufs Spiel. Ich sage zu ihm:

– Der schwarze Springer.

Er starrt weiter aufs Spiel:

– Warum? Ich verstehe nicht.

Ich rücke den Springer vor. Er notiert es in seinem Heft.

Er überlegt lange. Er nimmt den Turm.

– Nein!

Er stellt den Turm wieder hin, sieht mich an:

– Sind Sie ein guter Spieler?

– Ich weiß nicht. Ich habe lange nicht gespielt. Auf jeden Fall spiele ich besser als Sie.

Er wird puterrot.

– Ich habe erst vor drei Monaten angefangen. Und ohne jemanden, der es mir beibringt. Könnten Sie mir ein paar Stunden geben?

Ich sage:

– Gerne. Aber Sie dürfen sich nicht ärgern, wenn ich gewinne.

Er sagt:

– Gewinnen ist mir nicht wichtig. Ich will lernen.

Ich stehe auf:

– Kommen Sie mit Ihrem Spiel, wann immer Sie wollen. Am liebsten morgens. Dann hat man noch einen klaren Kopf, das ist besser als am Nachmittag oder Abend.

Er sagt:

– Danke.

Er schaut wieder aufs Spiel, ich warte, ich huste.

– Und wie ist es mit dem Wein und den Zigaretten?

Er sagt:

– Kein Problem. Ich werde Anweisung geben. Sie kriegen Ihre Zigaretten und Ihren Wein.

Ich verlasse den Raum des Offiziers. Ich gehe die Treppe hinunter, ich bleibe im Hof. Ich setze mich auf die Bank. Es ist ein sehr milder Herbst in diesem Jahr. Die Sonne geht unter, der Himmel färbt sich orange, gelb, violett, rot und nimmt noch andere Farben an, für die es keine Worte gibt. Ich spiele fast jeden Tag etwa zwei Stunden mit dem Offizier Schach. Es sind lange Partien, der Offizier überlegt viel, schreibt alles auf, verliert immer.

Ich spiele auch Karten mit meinem Wärter, nachmittags, wenn die Frau aus der Buchhandlung ihr Strickzeug einpackt und rübergeht, um ihren Laden zu öffnen. Die Kartenspiele in diesem Land unterscheiden sich von allen anderen in der Welt. Obwohl sie einfach sind und viel Glück mitspielt, verliere ich jedesmal. Wir spielen um Geld, aber da ich keins habe, schreibt mein Wärter meine Schulden auf einer Schiefertafel an. Nach jeder Partie lacht er laut und wiederholt immer:

– Glück im Spiel! Glück im Spiel!

Er ist jung verheiratet, seine Frau kriegt in ein paar Monaten ein Kind. Er sagt oft:

– Wenn es ein Junge wird, und wenn Sie noch da sind, wisch ich alles aus.

Er spricht oft von seiner Frau, er sagt, wie schön sie ist, vor allem jetzt, da sie zugenommen hat und ihre Brüste und Hinterbacken fast doppelt so dick geworden sind. Er erzählt mir auch bis ins kleinste, wie sie sich kennengelernt haben, wie sie miteinander »gingen«, von ihren Spaziergängen als Liebespaar im Wald, von der Abwehr seiner Braut, seinem Sieg über sie und der raschen Hochzeit, mit der sie nicht mehr warten konnten, weil das Kind unterwegs war.

Aber noch genauer und genüßlicher erzählt er vom Abendessen am Tag zuvor. Wie seine Frau es zubereitet hat, mit was für Zutaten, in welcher Weise und in welcher Zeit, denn »je länger es schmort, desto besser schmeckt es«.

Der Offizier redet nicht, erzählt nichts. Das einzige, was er mir anvertraut hat, ist, daß er unsere Schachpartien nach seinen Notizen allein noch einmal nachspielt, einmal nachmittags in seinem Büro, ein zweites Mal am Abend bei sich zu Hause. Ich habe ihn gefragt, ob er verheiratet ist. Er hat mit den Schultern gezuckt und geantwortet:

– Verheiratet? Ich?

Die Frau aus der Buchhandlung erzählt auch nichts. Sie sagt, daß sie nichts zu erzählen hat, sie hat zwei Kinder großgezogen und ist seit sechs Jahren Witwe, das ist alles. Wenn sie mich nach meinem Leben in dem anderen Land fragt, antworte ich ihr, daß ich noch weniger davon zu erzählen habe als sie, weil ich kein einziges Kind aufgezogen und nie eine Frau gehabt habe.

Eines Tages sagt sie zu mir:

– Wir sind ungefähr gleich alt. Ich widerspreche:

– Das glaube ich kaum. Sie sehen viel jünger aus als ich.

Sie errötet:

– Ach was. Ich bin nicht auf Komplimente aus. Ich wollte nur sagen, wenn Sie Ihre Kindheit in dieser Stadt verbracht haben, dann müssen wir in dieselbe Schule gegangen sein.

Ich sage:

– Ja, nur war ich nie in der Schule.

– Das ist nicht möglich. Schule war damals schon Pflicht.

– Nicht für mich. Ich war schwachsinnig zu der Zeit. Sie sagt:

– Man kann kein ernstes Wort mit Ihnen reden. Sie machen immer nur Witze.

Ich habe eine schwere Krankheit. Heute ist es genau ein Jahr her, daß ich es weiß.

Begonnen hat es in dem anderen Land, in meiner Wahlheimat, eines Morgens Anfang November. Um fünf Uhr.

Draußen ist es noch dunkel. Ich kriege kaum Luft. Ein heftiger Schmerz blockiert mein Atmen. Er geht von der Brust aus und greift über auf die Rippen, den Rücken, die Schultern, die Arme, die Kehle, den Nacken, den Kiefer. Als ob eine riesige Pranke meinen ganzen Oberkörper zermalmen wollte.

Den Arm ausstrecken, langsam, die Nachttischlampe anknipsen.

Sich vorsichtig im Bett aufrichten. Warten. Aufstehen. Bis zum Schreibtisch gehen, bis zum Telefon. Sich wieder auf einen Stuhl setzen. Den Krankenwagen rufen. Nein! Keinen Krankenwagen. Warten.

In die Küche gehen, Kaffee machen. Nichts übereilen. Nicht tief einatmen. Langsam atmen, vorsichtig, ruhig.

Nach dem Kaffee duschen, rasieren, Zähne putzen. Wieder ins Schlafzimmer gehen, sich anziehen. Warten bis acht Uhr und nicht den Krankenwagen anrufen, sondern ein Taxi und den Hausarzt.

Er empfängt mich unverzüglich. Er hört mich an, röntgt meine Lungen, untersucht mein Herz, mißt meinen Blutdruck.

– Sie können sich wieder anziehen.

Wir sitzen uns jetzt in seinem Büro gegenüber.

– Rauchen Sie immer noch? Wie viele? Trinken Sie immer noch? Wie viel?

Ich antworte, ohne zu lügen. Ich habe ihn nie belogen, glaube ich. Ich weiß, daß es ihm schnurzegal ist, ob ich gesund oder krank bin.

Er schreibt etwas in meine Akte, er sieht mich an:

– Sie tun alles, um sich kaputtzumachen. Das ist Ihre Sache. Das geht nur Sie etwas an. Vor zehn Jahren habe ich Ihnen schon ausdrücklich verboten, zu rauchen und zu trinken. Sie tun es nach wie vor. Aber wenn Sie noch ein paar Jahre leben wollen, müssen Sie sofort aufhören.

Ich frage ihn:

– Was habe ich?

– Angina pectoris wahrscheinlich. Das war vorherzusehen. Aber ich bin kein Herzspezialist.

Er reicht mir ein Blatt:

– Ich schreibe Ihnen eine Empfehlung für einen bekannten Kardiologen. Gehen Sie damit in sein Krankenhaus, und lassen Sie sich gründlich untersuchen. Je eher, desto besser. Bis dahin nehmen Sie diese Medikamente, falls Sie Schmerzen bekommen.

Er gibt mir ein Rezept. Ich frage ihn:

– Wird man mich operieren?

Er sagt:

– Wenn noch Zeit dazu ist.

– Andernfalls?

– Sie können jeden Moment einen Infarkt bekommen. Ich gehe in die nächste Apotheke, ich bekomme zwei Schachteln mit Medikamenten. In einer sind die üblichen Beruhigungsmittel; auf der anderen lese ich: »Trinitrin, angezeigt bei Angina pectoris, Zusammensetzung: Nitroglycerin. «

Ich gehe nach Hause, ich nehme aus jeder Schachtel eine Tablette, ich lege mich aufs Bett. Die Schmerzen verschwinden rasch, ich schlafe ein.

Ich gehe durch die Straßen der Stadt meiner Kindheit. Es ist eine tote Stadt, die Fenster und Türen der Häuser sind geschlossen, alles ist still.

Ich komme an eine breite alte Straße mit Holzhäusern und verfallenen Scheunen auf beiden Seiten. Der Erdboden ist staubig, und ich finde es angenehm, mit nackten Füßen durch den Staub zu laufen.

Es herrscht jedoch eine merkwürdige Spannung.

Ich drehe mich um und sehe einen Puma am anderen Ende der Straße. Ein prachtvolles Tier, goldbeige, dessen seidiges Fell in der glühenden Sonne glänzt.

Plötzlich steht alles in Flammen. Die Häuser, die Scheunen brennen lichterloh, und ich muß weiter durch die brennende Straße gehen, denn auch der Puma setzt sich jetzt in Bewegung und folgt mir mit majestätischer Langsamkeit in gewissem Abstand.

Wohin flüchten? Es gibt keinen Ausweg. Verbrennen oder gefressen werden.

Vielleicht am Ende der Straße?

Diese Straße muß doch irgendwo enden, alle Straßen enden irgendwo, münden auf einen Platz, in eine andere Straße, in Felder, ins freie Land, nur nicht, wenn es Sackgassen sind, und eine Sackgasse muß es wohl sein, jawohl.

Ich spüre das Keuchen des Pumas hinter mir, ganz nahe. Ich wage nicht, mich umzuschauen, ich kann nicht weitergehen, meine Füße sind wie angewurzelt. Ich warte angstvoll, daß der Puma mir endlich auf den Rücken springt, daß er mir die Schultern aufreißt bis zu den Oberschenkeln herab, daß er mir den Kopf zerfetzt, das Gesicht.

Aber er läuft an mir vorbei, er setzt seinen Weg ungerührt fort und legt sich schließlich zu Füßen eines Kindes nieder, das am Ende der Straße steht, ein Kind, das vorher nicht da war, jetzt aber da ist, und es streichelt den Puma, der zu seinen Füßen liegt.

Das Kind sagt zu mir:

– Der tut nichts, er gehört mir. Man braucht keine Angst vor ihm haben. Er frißt keine Menschen, er frißt kein Fleisch, er frißt nur die Seelen.

Die Flammen sind erloschen, nichts glüht mehr, die Straße ist nur noch weiche, erkaltete Asche.

Ich frage das Kind:

– Du bist doch mein Bruder, nicht wahr? Du hast auf mich gewartet?

Das Kind schüttelt den Kopf.

– Nein, ich habe keinen Bruder, ich warte auf niemanden. Ich bin der Hüter der ewigen Jugend. Derjenige, der seinen Bruder erwartet, sitzt auf einer Bank am großen Platz. Er ist sehr alt. Vielleicht wartet er ja auf dich.

Ich finde meinen Bruder auf einer Bank am großen Platz.

Als er mich sieht, steht er auf:

– Du kommst spät, wir müssen uns beeilen.

Wir gehen zum Friedhof hinauf, wir setzen uns ins gelbe Gras. Ringsum ist alles verkommen, die Kreuze, die Bäume, die Büsche, die Blumen. Mein Bruder stochert mit seinem Stock in der Erde herum, weiße Würmer kommen hervorgekrochen.

Mein Bruder sagt:

– Nicht alles ist tot. So was da ist lebendig.

Es wimmelt von Würmern. Bei ihrem Anblick wird mir übel. Ich sage:

– Sobald man nachdenkt, kann man das Leben nicht lieben.

Mein Bruder hebt mit seinem Stock mein Kinn in die Höhe:

– Denk lieber nicht nach. Schau! Hast du schon mal einen so schönen Himmel gesehen?

Ich blicke auf. Die Sonne geht über der Stadt unter. Ich antworte:

– Nein, niemals. Nirgendwo sonst.

Wir gehen nebeneinander bis zum Schloß, wir bleiben im Hof am Fuße der Festungsmauern stehen.

Mein Bruder klettert auf die Mauer und beginnt, oben angekommen, nach einer Musik zu tanzen, die aus dem Untergeschoß zu kommen scheint. Er tanzt, wirft die Arme in die Luft, empor zu den Sternen, zum aufgehenden Mond, einem Vollmond. Seine magere Silhouette in dem langen schwarzen Mantel tanzt auf den Festungsmauern voran, ich laufe unten hinter ihm her und rufe:

– Nein! Tu das nicht! Halt! Komm runter! Du wirst gleich fallen!

Er bleibt über mir stehen:

– Weißt du nicht mehr? Wir sind oft über die Dächer spaziert, wir hatten nie Angst abzustürzen.

– Wir waren jung, wir wurden nicht schwindelig. Komm runter!

Er lacht:

– Keine Angst, ich werde nicht fallen, ich kann fliegen. Ich schwebe jede Nacht über die Stadt dahin.

Er hebt die Arme, er springt, er stürzt auf das Pflaster des Hofs, genau vor meine Füße. Ich beuge mich über ihn, ich nehme seinen kahlen Kopf, sein faltiges Gesicht in meine Hände, ich weine.

Das Gesicht löst sich auf, die Augen verschwinden, und ich halte nur noch einen fremden zerbröckelnden Schädel in den Händen, der mir wie feiner Sand zwischen den Fingern zerrinnt.

Ich wache mit Tränen in den Augen auf. Mein Zimmer liegt im Halbdunkel, ich habe den größten Teil des Tages verschlafen. Ich wechsle mein schweißnasses Hemd, ich wasche mir das Gesicht. Beim Blick in den Spiegel frage ich mich, wann ich zum letzten Mal geweint habe. Ich kann mich nicht erinnern.

Ich zünde mir eine Zigarette an, ich setze mich ans Fenster, ich sehe, wie die Nacht über die Stadt hereinsinkt. Unter meinem Fenster ein leerer Garten mit seinem bereits kahlen Baum. Weiter weg leuchten immer mehr Häuser, immer mehr Fenster auf. Hinter den Fenstern das Leben von Menschen. Das ruhige, normale, friedliche Leben von Ehepaaren, Kindern, Familien. Ich höre Autos in der Ferne. Ich frage mich, warum die Leute sogar nachts unterwegs sind. Wohin fahren sie? Warum? Bald wird der Tod alles auslöschen.

Ich habe Angst vor ihm.

Ich habe Angst vor dem Sterben, aber ich gehe nicht ins Krankenhaus.