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Dramatis Personae

Menschen

Daghan, genannt Dag Herzog von Ansun
Aryanwen Königin von Tirgaslan
Alured Vertrauter Dags
Anghas Ca’Dur Clansherr, Lord von Tarnag
Catriona Ca’Dur seine Tochter
Ferghas Ca’Dur sein Bruder
Yorus Ca’Gor Clansherr, Lord des Südens
Gall Ca’Dal Clansherr, Lord des Waldclans
Niall Ca’Bra Clansherr, Lord des Purpurclans
Conor Ca’Bra sein Neffe
Dermot von Camory Ritter des Reiches
Braktas Fälscher aus Smerada
Zeno Hauptmann der Stadtwache von Smerada
Suvat Ramil ein junger Mann mit einem dunklen Geheimnis

Zwerge

Bertin Zwergenhammer König der freien Zwerge
Waldrada seine Gemahlin
Dado sein Berater und Freund
Fredegar Helmknecht Statthalter von Tirgaslan
Argulf Kommandant der Garnison von Tirgaslan
Runward Eisenherz ein Waffenschmied
Gonthar Zwergenkrieger
Bovo Zwergenkrieger
Crodegang Oberpriester des Schattenkults

Orks

Rammar ein Krieger
Balbok sein Bruder
Klogionn König der Orks

Alchemisten und Zauberkundige

Dwethan ein alter Druide
Seumas Druide und Zeremonienmeister
Lyrx ein Wechselbalg
Nagaya eine Nathaira
Syolan Chronist von Shakara

sowie

Urkaid Mock-Loor der Dunkle König

Prolog

Er hatte das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen, dessen tiefe Schwärze ihn verschlang.

Tatsächlich vermochte der Zauberer nicht zu sagen, an welchem Ort oder auch nur in welcher Zeit er sich befand. Zu unvorstellbar war, was geschehen war, selbst für ein Wesen wie ihn, das jahrhundertealt war und vieles gesehen und erlebt, das der Finsternis wiederholt die Stirn geboten hatte.

Dies hier war beispiellos.

Im Augenblick höchster Bedrängnis, als sich in den tiefsten Gewölben der Zwergenfestung Gorta Ruun der Schlund der Unterwelt geöffnet hatte und Tausende von Schattenkriegern auszuspucken drohte, hatte er sich selbst geopfert. Einen anderen Ausweg hatte es nicht gegeben, die Invasion zu verhindern.

Die Legion der Schatten!

Lange hatten die Sterblichen gerätselt, hatten herauszufinden versucht, was es mit jenen Kreaturen auf sich hatte, die so unvermittelt in Erdwelt aufgetaucht waren – die Wahrheit jedoch hatte die ärgsten Befürchtungen noch weit übertroffen. Was die Schattenkrieger antrieb, war die Rachsucht uralter Geister, die sich zu ihren Lebzeiten als sterbliche Kreaturen dem Bösen verschrieben hatten und in blutigen Schlachten gefallen waren; was sie auf frevlerische Weise ins Hier und Jetzt zurückkehren ließ, war neue Lebensenergie, die ihnen zugeführt wurde, indem man sie Unschuldigen raubte, gefangenen Menschen und Zwergen, die daraufhin zu Zerrbildern ihrer selbst wurden, zu leeren Hüllen.

Zu Hunderten waren sie in jenen dunklen Schlund in den Tiefen des Stollens Zor getrieben worden, in dem die Geister der Schattenkrieger lauerten, seit Jahrtausenden in der Dunkelheit gefangen und nach neuen Untaten dürstend. Durch das Wirken dunkler Magie war das Tor zu jener Unterwelt weit aufgestoßen worden, und es war nur noch eine Frage von Augenblicken gewesen, bis die ruhelosen Schemen durch die geraubte Lebensenergie zu neuer Kraft gelangen und wieder stoffliche Form gewinnen würden.

Ein Opfer war notwendig geworden, eine andere Möglichkeit hatte es nicht gegeben.

Mit dem Kristallsplitter in den Händen, der seine ermattenden magischen Fähigkeiten um ein Vielfaches verstärkte, hatte sich der Zauberer in den Schlund gestürzt, den Schattenkriegern entgegen. Die Eruption von positiver Energie, von urtümlicher Schaffenskraft, die jedem Elfenkristall und selbst noch dem kleinsten Splitter innewohnte, hatte die Schatten vertrieben und zurückgedrängt in jene finsteren Tiefen, aus denen sie gekommen waren. Und was noch wichtiger war: Sie hatte das Tor verschlossen, das zwischen der Unterwelt und der Dimension der Sterblichen geöffnet worden war, jene frevlerische, den Gesetzen der Natur spottende Verbindung, die es niemals hätte geben dürfen.

Was dann geschehen war, daran hatte der Zauberer keine Erinnerung.

Das letzte Bild vor seinen Augen war der grelle Lichtblitz gewesen, der die Dunkelheit ringsum verzehrte und das Tor zur Unterwelt einstürzen ließ. Dann waren ihm die Sinne geschwunden, und er hatte die Augen geschlossen in der festen Überzeugung, dass dies das Ende seines für menschliche Begriffe unendlich langen Lebens sein würde.

So vieles hatte er miterlebt.

Den Aufstieg des Elfenreichs, den Glanz der Zwergenherrschaft, die Orks auf dem Höhepunkt ihrer Macht; er war dabei gewesen, als das vereinte Heer von Elfen und Zwergen den Unholden am Schwarzpass Einhalt geboten hatte; er hatte Könige kommen und gehen sehen, Reiche aufsteigen und fallen. Er hatte im Zweiten Krieg gekämpft, hatte mit ansehen müssen, wie Menschen und Orks sich miteinander verbündeten, war Zeuge der Schlacht gegen den Dunkelfen geworden; den Zauberorden von Shakara hatte er ebenso überlebt wie das Elfenreich, hatte von fern gewacht und beobachtet, während die Herrschaft über Erdwelt auf die Menschen übergegangen war und die Krone schließlich auf dem Haupt des Abenteurers Corwyn landete; er hatte den Tod ungezählter Freunde und Weggefährten betrauert, ebenso wie den farwyla, den Weggang der Elfen aus der Welt der Menschen.

Ganz allein war er zurückgeblieben. Es war sein Exil, seine Strafe und Chance zugleich – und all diese Zeit, all diese durchlebten und durchwachten Jahrhunderte schienen in diesem letzten Augenblick ihren Sinn und ihre Erfüllung zu finden.

Keine andere Kreatur auf Erden, kein Zwerg, kein Mensch und noch nicht einmal das uralte Schlangenwesen, auf das sie an den Hängen des Schwarzgebirges gestoßen waren, hätte bewerkstelligen können, was ein einziger Weiser, ein ehemaliges Mitglied des Ordens von Shakara, in Verbindung mit einem Elfenkristall vermochte. Die ganze Zeit über war ihm klar gewesen, dass er dieses Opfer würde bringen müssen, diesen letzten Einsatz für die Sterblichen. Und er hatte es gerne getan, hatte die Schuld beglichen, die er einst auf sich genommen hatte.

Doch wie sich zeigte, war es noch nicht vorbei.

Statt im Elysium zu erwachen oder an einem anderen der sieben Orte, an die die unsterbliche Seele zu wandern pflegte, hatte er sich im freien Fall wiedergefunden, schien unentwegt zu stürzen, keinem Ort zugehörig, verloren in der Unendlichkeit zwischen den Welten.

Nur eines konnte er mit Bestimmtheit sagen: Wo auch immer er war und wann auch immer – er war noch am Leben.

Und der alte Zauberer, den die Menschen unter dem Namen Dwethan gekannt hatten, war nicht sicher, ob dies eine Wendung zum Guten war.

1

Mit einem scharfen Atemzug schreckte Daghan aus dem Schlaf.

Wieder einmal hatte der junge Herzog von Ansun einen Albtraum gehabt, und wieder einmal hatte er von Dwethan gehandelt, dem alten Druiden, dem nicht nur er persönlich, sondern alle freien Völker Erdwelts so unendlich viel zu verdanken hatten.

Dag richtete sich auf seiner Schlafstatt auf und wischte sich über die schweißnasse Stirn. Vier Monde waren seit jenen Ereignissen vergangen, aber es war nicht die Hitze des späten Sommers, die Dag den Schweiß aus den Poren trieb und ihn Nacht für Nacht diese Albträume haben ließ. Es war die Last der Verantwortung, das Wissen um das, was geschehen war. Um ruhiger zu werden, atmete er tief ein und aus, roch den fauligen Odem des Waldes und den Geruch der Pferde im nahen Pferch. Ab und an konnte er eines der Tiere schnauben hören, und hier und dort eine leise Stimme.

Dag beruhigte sich. Seine Gedanken jedoch blieben bei Dwethan, dem alten Fuchs, der das denkbar größte Opfer gebracht hatte – sein eigenes Leben.

Mit Wehmut dachte Dag an die Tage zurück, in denen er sich in einem dunklen Loch verkrochen und ein Dasein als Einsiedler gefristet hatte, um nur ja niemals wieder mit der Welt zu verkehren, die ihm so Böses angetan und ihm das Augenlicht geraubt hatte. Es war Dwethan gewesen, der eines Tages vor dem Eingang der Höhle gestanden und ihn ins Leben zurückgeholt hatte1. Und kein anderer als der alte Druide war es auch, der ihm neuen Mut und ein Lebensziel gegeben hatte. Dwethan hatte ihm beigebracht, dass sich der Wert eines Menschen nicht nach seinem Augenlicht bemaß; er hatte ihn gelehrt, auf andere Weise zu sehen und ihm klargemacht, dass die Welt ihn dennoch brauchte und er eine Bestimmung erfüllen würde. Und obwohl sich Dag dieser Erkenntnis lange Zeit verschlossen hatte, hatte er inzwischen erkannt, dass Dwethans Worte die Wahrheit waren.

Manches Rätsel hatte der Druide Dag in den vergangenen beiden Jahren enthüllt. Sein größtes Geheimnis jedoch hatte er fast bis zuletzt verborgen, sie alle mittels eines Blendzaubers getäuscht. Denn Dwethan war in Wirklichkeit kein Mensch gewesen, sondern der letzte Vertreter des Elfengeschlechts in Erdwelt.

Im sogenannten farwyla, dem großen Abschied, hatten sich die Elfen vor rund fünfhundert Jahren aus Erdwelt zurückgezogen, um nach neuer spiritueller Kraft und einer Heimat für ihr Volk zu suchen. Wohin sie gegangen waren, wusste niemand, doch seit jener Zeit war kein Elf mehr in Erdwelt gesehen worden. Dwethan jedoch war geblieben, dem Entschluss seiner eigenen Leute zum Trotz, um in all den Jahrhunderten unbemerkt über die Sterblichen zu wachen. Nur sein Name war ein versteckter Hinweis gewesen. Denn in der alten Elfensprache hatte das Wort dwethan jene bezeichnet, die vom Schicksal mit einer besonderen, magisch zu nennenden Fähigkeit bedacht worden waren – die Zauberer.

Für Dag stand fest, dass Dwethan solch ein Zauberer – oder Weiser, wie sie in alter Zeit geheißen hatten – gewesen war. Nur so ließen sich seine besonderen Kräfte erklären, nur so sein ungeheures Wissen um die Rätsel der Vergangenheit. Dag hatte so unglaublich viel von ihm gelernt und dennoch stets das Gefühl gehabt, nur an der Oberfläche seines Wissens zu kratzen – und vielleicht war das auch besser so. Während ihn früher eine schier unstillbare Neugier erfüllt hatte, war Daghan inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, dass es besser war, manche Dinge nicht zu wissen.

Wissen bedeutete Last, bedeutete Verantwortung … und von beidem hatte Dag mehr als genug.

Seit dem Tag, da sich Dwethan in den dunklen Eingeweiden der Festung Gorta Ruun selbst geopfert hatte, wurde Dag fast jede Nacht von diesen Träumen verfolgt, in denen er den alten Zauberer vor sich sah, kopfüber in einen bodenlosen Abgrund stürzend. Waren es wirklich nur Albträume?

Es war nicht das erste Mal, dass Dag derlei Visionen hatte. Seit er sein Augenlicht verloren hatte, hatte er mehrmals Dinge gesehen, die an anderen Orten und zu anderen Zeiten stattfanden, ohne dass er irgendwelchen Einfluss darauf hatte, was er vor seinem inneren Auge sah. Dwethan war überzeugt davon gewesen, dass es sich dabei um eine spezielle Gabe handle, die das Schicksal Dag zugedacht habe – ihm selbst kam es eher wie ein Fluch vor, zumal er in letzter Zeit auch noch andere, noch schlimmere Visionen hatte.

Erschreckende Bilder drängten sich ihm auf, Eindrücke von einer Zukunft, die sie alle erwarten mochte, von einer Welt, die zerstört war und in Trümmern lag, in der die Angst und das Chaos regierten und in der Kreaturen aus dem Reich der Schatten die letzten Sterblichen versklavten.

Dafür zu sorgen, dass diese Bilder niemals Wirklichkeit wurden, war Daghans oberstes Ziel.

In einem jähen Entschluss schwang er sich von dem aus Strohballen errichteten Lager, das in dem geräumigen, zweckmäßig eingerichteten Zelt für ihn bereitet worden war. Den meisten Kämpfern, die in seinem Heer dienten, stand sehr viel weniger Bequemlichkeit zu Gebote, viele mussten ihr Haupt auf den nackten Boden betten. Und doch hätte Dag gerne mit ihnen getauscht, hätte er dafür nur eine Nacht lang Ruhe gefunden, Schlaf, der frei war von quälenden Bildern.

Es war eine schwüle, mondlose Nacht. Obwohl er keine Kleidung trug, hatte Dag Schweiß auf der Haut. Er griff nach seinem Umhang, legte ihn sich um die Schultern und hüllte sich darin ein. Dann trat er unter dem Vordach des Zeltes hindurch nach draußen, vorbei an den beiden Wächtern, deren alarmierte, wachsame Präsenzen er fühlen konnte.

An einen der Pfosten des Baldachins gelehnt blieb er stehen, sog die feuchte Luft in seine Lungen und lauschte den Geräuschen der Nacht.

Verhaltenes Schnarchen war hier und dort zu hören, das durch die Zeltwände der Unterführer drang, das Scharren von Hufen und gelegentlich ein Schnauben. Ein metallischer Klang ließ vermuten, dass irgendwer seine Waffe schärfte – vermutlich jemand, der ebenso wenig Schlaf fand wie Dag. Und ab und an waren leise Stimmen zu hören. Dag konnte die Worte nicht verstehen – sprachen die Krieger über die gefährliche Lage, in der sie sich alle befanden? Über die Schlachten, die ihnen bevorstanden? Oder unterhielten sie sich einfach nur über ihr Zuhause, über ihre Heimat und ihre Familien, die sie womöglich niemals wiedersehen würden?

Der Gedanke ließ Dag schwermütig werden. Er hatte niemals ein großer Heerführer sein, niemals über Leben und Tod so vieler entscheiden wollen. Aber so, wie sich die Dinge entwickelt hatten, konnte er nicht anders. Das Schicksal hatte ihm keine Wahl gelassen, und nun musste er sehen, dass er der ihm übertragenen Verantwortung gerecht wurde – auch wenn er sehr viel lieber an einem ganz anderen Ort gewesen wäre, und am liebsten auch zu einer anderen Zeit.

Er erinnerte sich noch gut daran, als er das erste Mal hier gewesen und die gewaltigen Mauern von Tirgaslan erblickt hatte. Niemals hätte er geglaubt, dass er eines Tages als Eroberer zurückkehren würde … zumindest als jemand, der sein Heer gegen die Mauern der alten Königsstadt schickte. Über Sieg oder Niederlage würden andere Dinge entscheiden.

Es lag nicht mehr in seiner Hand …

»Aye, findest du auch keinen Schlaf?«

Es war die Stimme von Ferghas, seinem treuen Gefährten, den er zum stellvertretenden Befehlshaber des Heeres ernannt hatte. Anders als Dag stammte Ferghas nicht aus Ansun, sondern gehörte den Clansleuten der Hügellande an, bei denen Dag einst Hilfe gesucht hatte. Mehrfach waren sie dem Tod um Haaresbreite entronnen, hatten viel zusammen durchgemacht – zu viel, um einander noch etwas vorzuspielen.

»Die Geister der Vergangenheit«, gab Dag leise zu, während er weiter so tat, als blickte er hinaus in die Nacht, auf die Zelte des Heerlagers, die sich überall zwischen den Bäumen duckten, auf die Wagen und Pferde – und auf die trutzigen Mauern von Tirgaslan, die sich jenseits davon in den wolkenverhangenen Nachthimmel reckten.

»Mir fehlt der alte Mann ebenfalls«, gab Ferghas unumwunden zu, der offenbar am anderen Stützpfosten des Vorzeltes lehnte. Seinen geräuschvollen, gleichmäßigen Atemzügen nach rauchte er Pfeife. »Irgendwie schien der alte Fuchs immer zu wissen, was zu tun war.«

»Wir wissen es auch«, versicherte Dag. »Nur nicht, ob es uns auch gelingen wird.«

»Aye«, bestätigte Ferghas mit leise grollendem Lachen, »wenn du dich geirrt hast, Herzogsohn, wird die Niederlage so vollkommen sein, dass wir nicht einmal Gelegenheit haben werden, sie zu bedauern.«

»Ich weiß, guter Ferghas. Ich weiß.«

Nachdem sie den Zwergen dabei geholfen hatten, deren alte Feste Gorta Ruun zurückzuerobern und den Einfall der Schattenlegion in die Welt der Sterblichen zu verhindern2, hatte sich das neu formierte »Heer der Fünftausend« gen Süden gewandt. Neben den Zwergen, die von der Schreckensherrschaft Lord Ansgars und seiner Alchemisten befreit worden waren, setzte sich dieses Heer vor allem aus Menschen zusammen, Angehörigen der Hochland-Clans, die nach Jahren des inneren Zwists und kleinlicher Fehden endlich ihren Streit begraben hatten und nun Seite an Seite kämpften. Und da waren die Nathiri, eine Gruppe von Assassinen, die ihrer Anführerin, der schlangenhaften Nagaya, treu ergeben waren. Obschon vergleichsweise gering an Zahl, waren sie sowohl als Kundschafter als auch als Speerspitze eines jeden Angriffs ein unverzichtbarer Teil von Daghans Heer.

Gorta Ruun zu verlassen und sich gegen Tirgaslan zu wenden, war eine logische Entscheidung gewesen. Der Dunkle König, der im fernen Tirgas Winmar Hof hielt, bediente sich dunkler Kräfte, um die Seelen in grauer Vorzeit gefallener Krieger in die Welt der Sterblichen zurückkehren zu lassen. Den Anfang hatten die Schattendrachen gemacht, grausige, fliegende Kreaturen, die zu Beginn nicht mehr als bloße Schemen gewesen waren. Doch je länger sie in Erdwelt weilten und je mehr die Macht ihres dunklen Gebieters wuchs, desto wirklicher waren sie geworden. Auch einige Schattenkrieger hatten bereits die Grenze der Unterwelt passiert und verbreiteten in Erdwelt Angst und Schrecken, die große Invasion jedoch hatte durch Dwethans selbstloses Opfer verhindert werden können. Allerdings gab sich Dag keinen Illusionen darüber hin, dass der Dunkle König erneut versuchen würde, sein Heer der Finsternis zu entfesseln.

Ziel des Widerstands musste es daher sein, die Zeit bis zum Eintreffen der Schattenlegion möglichst zu nutzen und in den letzten Monden und Jahren verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Tirgaslan, die einstige Königsstadt, die sich von der Küste im Süden bis tief nach Trowna erstreckte, befand sich in der Hand des Feindes, seit der Marionettenkönig Lavan sich gegen den der Finsternis verfallenen Zwergenherrscher Winmar gewandt hatte und diesen in einer gewaltigen Seeschlacht zu vernichten suchte. Die Schlacht war verloren gegangen, weil Winmar die Schattendrachen zu Hilfe rief – seither herrschte ein Statthalter des Königs über die Stadt, und Zwergenkrieger und Orksöldner hielten sie besetzt. Was aus Winmar dem Steinernen geworden war, darüber konnte Dag nur spekulieren – die einen behaupteten, der Dunkle König hätte ihn ermordet und selbst den Thron der Äxte bestiegen, andere meinten, dass Winmar selbst jener Dunkle Herrscher sei, der von seiner fernen Feste aus Erdwelt mit Krieg und Zerstörung überzog.

Dag befürchtete, dass die Wahrheit noch schlimmer und der Dunkle König das war, was aus der Verschmelzung Winmars mit dem uralten Bösen hervorgegangen war, das seit jeher in den Tiefen Erdwelts lauerte – so jedenfalls hatte Dwethan es ihm einst erklärt. Winmar mochte gefährlich gewesen sein, skrupellos in seiner Gier nach Macht und Geltung. Doch niemals hätte er die Kraft oder die Kenntnis besessen, die nötig waren, um die Legion der Schatten aus den Untiefen der Zeit in die Gegenwart zu rufen.

Doch mit dem Gegner hatte sich auch das Ziel des Krieges geändert. Beim Kampf gegen Winmar war es um die Freiheit Erdwelts gegangen, um das Recht der Völker, über sich selbst zu bestimmen. Inzwischen war es ein Kampf um das nackte Überleben geworden …

»Noch zwei Stunden bis zum Morgengrauen«, meinte Ferghas.

Dag nickte.

Zwei Stunden.

Dann begann der Angriff …

»In meiner Truhe«, sagte er leise, »befindet sich ein Schriftstück. Falls ich diesen Tag nicht überlebe, soll es der Königin übergeben werden.«

»Aye«, sagte Ferghas nur. Sie alle hatten Vorbereitungen getroffen, die freien Zwerge unter dem Kommando ihres neuen Königs Bertin Zwergenhammer ebenso wie die Menschen.

Letzte Liebesbezeugungen.

Letzte Gedanken.

Letzte Grüße.

Dags Worte galten seiner geliebten Aryanwen, der rechtmäßigen Königin von Tirgaslan, und ihrer gemeinsamen Tochter Alannah. Beide waren in Gorta Ruun geblieben, zusammen mit den Frauen, Kindern und Alten – und mit zwei Orks, die sich bereit erklärt hatten, das Leben der kleinen Alannah mit dem ihren zu schützen.

Normalerweise hätte Dag auf das Versprechen zweier Unholde einen feuchten Kehricht gegeben, in diesem Fall jedoch verhielt es sich anders. Denn Balbok und Rammar hatten Alannah zwei Jahre lang beschützt und sie an Eltern statt aufgezogen. Zwar merkte man das dem Kind zum Leidwesen seiner Mutter noch immer deutlich an, die Hauptsache jedoch war, dass es überlebt hatte, allen Nachstellungen zum Trotz. Denn der Dunkle König trachtete dem Kind nach dem Leben, das die Blutlinien beider Herrscherhäuser der Menschen in sich vereinte und zudem Elfenblut in seinen Adern hatte. Dwethan hatte stets behauptet, dass dieses Kind die letzte Hoffnung für Erdwelt sei, also waren Alannah und ihre Mutter in Gorta Ruun geblieben. Zwar gab es in diesen Tagen keinen Ort in ganz Erdwelt, der tatsächlich sicher gewesen wäre, doch versprach die Abgeschiedenheit der Zwergenfeste sehr viel größeren Schutz als ein Feldlager vor feindlichen Mauern.

Noch knapp zwei Stunden bis zum Hornsignal.

Zwei Stunden …

Wenn Dag sich konzentrierte, konnte er von jenseits des Heerlagers das Hämmern der Schmiedehämmer hören und das Klopfen der Zimmerleute. Fredegar Helmknecht, der von Winmar eingesetzte Statthalter von Tirgaslan und Oberkommandierende der Garnison, hatte Anweisung gegeben, die Stadtmauern mit allen Mitteln zu sichern und die Verteidigungsanlagen zu verstärken – und ganz sicher hatte er bei seinem dunklen Herrscher auch Verstärkung angefordert.

Es würde also schnell gehen müssen.

Wenn Dag und die Seinen nicht innerhalb kürzester Zeit die feindliche Verteidigung durchbrachen, würde ihr Schicksal besiegelt sein, denn einen langwierigen Kampf vor Tirgaslans Mauern würden sie nicht durchstehen. Und wenn das Heer der Fünftausend vor den Mauern der Königsstadt vernichtet wurde, dann starben mit ihm auch alle Hoffnungen, denn dann gab es nichts mehr, das zwischen den Legionen der Dunkelheit und den letzten freien Kreaturen Erdwelts stand. Dann, dachte Dag bitter, würden auch ihre beiden Orkleibwächter Alannah nicht mehr vor dem Zugriff des Bösen bewahren können …

Der neue Tag, der fern im Osten heraufdämmerte, würde die Entscheidung bringen.

2

Statthalter?«

Fredegar Helmknecht stand auf dem steinernen Balkon des ehrwürdigen Palasts von Tirgaslan und starrte hinaus in die allmählich verblassende Nacht. Der Gedanke, dass just an dieser Stelle schon gekrönte Häupter gestanden und über die Dächer und Türme ihrer Stadt geblickt hatten, hatte etwas Erhebendes … Zuerst die Könige der Elfen, unnahbar in ihrer Unsterblichkeit; später dann die Herrscher der Menschen, die die Stadt erweitert und vergrößert hatten, bis sie sich schließlich vom Meer bis tief in den Wald von Trowna erstreckte, ein gewaltiges steinernes Band. Darüber zu herrschen, war ohne Frage ein Privileg – eines, das er sich nicht nehmen lassen würde. Am allerwenigsten von ein paar hergelaufenen Aufständischen, die jenseits der Ostmauer ihr Lager aufgeschlagen hatten …

»Statthalter«, erklang es noch einmal.

Ein unwirsches Pfeifen ausstoßend, fuhr Fredegar herum. Argulf stand vor ihm, der Kommandant der Garnison. Wie immer verriet seine verkniffene, fast zur Gänze hinter einem ergrauten Bart verborgene Miene nicht, was in seinem schimmernd behelmten Kopf vor sich ging.

»Berichtet, Oberst«, verlangte Fredegar.

»Die Späher sind soeben zurückgekehrt, Statthalter. Sie glauben, dass die Aufständischen im Morgengrauen angreifen werden. Alle Zeichen sprechen dafür.«

»Ach ja?« Fredegar schnaubte in seinen Bart, der weit über das samtene Gewand hing und bis zu dem breiten, goldverzierten Gürtel reichte. »Sollen sie doch. Diese Rebellen werden vor meinen Mauern ein grausames Ende finden. Ihr kindischer Angriff wird schon bald zurückgeschlagen sein, und sie werden in ihrem eigenen Blut ertrinken.«

Argulfs Züge verrieten noch immer keine Regung, und es kam auch kein Wort der Zustimmung.

»Zweifelt Ihr etwa daran, Oberst?«, begehrte Fredegar auf. »Haben wir nicht alle denkbaren Vorbereitungen getroffen, um diesen feigen und ungerechtfertigten Angriff zurückzuschlagen?«

»Das haben wir.«

»Haben wir nicht die Bollwerke verstärkt? Die wehrfähigen Männer zu den Waffen gerufen? Und sind unsere Waffenkammern nicht bis zum Bersten mit Pulver und Munition gefüllt?«

»Auch das ist wahr«, kam Argulf nicht umhin einzuräumen, »und dennoch …«

»Was?«

»Ich weiß nicht, Statthalter.« Der altgediente Offizier wich Fredegars forschendem Blick aus und starrte stattdessen zu Boden. »Die Sache will mir nicht gefallen«, rückte er heraus. »Ich habe oft gegen Menschen gekämpft, seit Anbeginn des Krieges, auch in der Schlacht um Ansun … und wenn ich eines gelernt habe, dann dass man niemals den Fehler begehen darf, sie zu unterschätzen. Zumal, wenn Zwerge an ihrer Seite kämpfen, Söhne des Berges, genau wie wir.«

Fredegar lachte heiser auf. »Was für Zwerge? Ein Verräter, der sich selbst zum König gekrönt hat, und seine nicht weniger verräterische Anhängerschaft …«

»… die Lord Ansgar getötet und seine Alchemisten aus Gorta Ruun vertrieben hat«, brachte Argulf in Erinnerung. »Bertin Zwergenhammer ist nicht irgendein hergelaufener Rebell, Statthalter, sondern ein erfahrener Kämpfer, der bei seinen Leuten hohes Ansehen genießt. Man muss die Bedrohung ernst nehmen.«

»Dann nehmt sie ernst, wenn Ihr müsst«, empfahl Fredegar ohne Zögern. »Ich jedenfalls habe Wichtigeres zu tun. Denn der Dunkle Herrscher erwartet Erfolge – und wenn ich sie ihm nicht liefere, wird er sich einen anderen Statthalter suchen. Aber bildet Euch nicht ein, Argulf, dass unsere Köpfe dann noch auf unseren Schultern sitzen.«

Der Oberst blickte weiter betreten zu Boden.

Er schien zu verstehen.

»Wie viele Aufständische sind da draußen?«, wollte Fredegar schließlich wissen.

»Nach unserer Schätzung an die fünftausend – mehr als Zwergenkrieger in der Garnison sind.«

»Dafür haben wir noch die Orksöldner, die ich Tag für Tag bezahle«, brachte der Statthalter in Erinnerung. »Und vergessen wir die Hilfstruppen nicht.«

»Die Orks stehen auf der Seite dessen, der sie am besten bezahlt«, konterte Argulf unbeeindruckt. »Und die Hilfstruppen bestehen aus dem, was von der einstigen Stadtwache übrig geblieben ist. Es sind Menschen, und wir sollten uns keinen Illusionen hingeben, was ihre Loyalität betrifft – sobald sie eine Chance sehen, sich gegen uns zu erheben, werden sie es tun.«

»Dann sorgt dafür, dass sie bei der Axt bleiben«, wies Fredegar ihn an und strich eine Falte glatt, die sich in seinem fellgesäumten Samtrock gebildet hatte.

»Und wie?«

»Muss ich Euch das wirklich erklären?« Der Statthalter warf dem Offizier einen mitleidigen Blick zu. »Schließlich seid Ihr von uns beiden der Soldat, und nicht ich. Aber bitte, wie Ihr wollt – treibt zwanzig beliebige Männer auf einem der Plätze zusammen. Behauptet, dass Ihr sie dabei erwischt hättet, wie sie versuchten, über die Mauer zu fliehen und sich dem Feind anzuschließen. Dann lasst sie enthaupten. Die Köpfe spießt über den Mauern auf, sodass es alle sehen können. Ich versichere Euch, das wird seine Wirkung nicht verfehlen.«

»Meint Ihr?« Argulf schaute verunsichert auf.

»Denkt Ihr, ich scherze?«

»Sicher nicht.«

»Gut so.« Fredegar wandte sich schnaubend ab und blickte wieder auf die nächtliche Stadt hinaus. Noch war alles ruhig, die Luft angenehm warm und mild. Bald schon würde der Geruch von Blut sie tränken und der Gestank von verbranntem Pulver. Das Krachen von Donnerbüchsen würde zu hören sein und das Grollen von Winmars Faust, die mit vernichtender Wucht unter die Angreifer fuhr und sie vernichtete – und dieser Feigling von einem Obristen wollte ihm ernstlich erzählen, dass Gefahr bestand?

»Ihr seid ein Narr, Argulf«, sagte Fredegar.

»Statthalter?«

»Wisst Ihr, warum man mich Helmknecht nennt? Wie meine Ahnen zu diesem Namen kamen?«

»Nein«, gab der andere zu.

»Es geschah zur Regierungszeit König Dorgans«, eröffnete Fredegar.

»Des Wahnsinnigen?«

»So nannten sie ihn – aber vielleicht wurde er auch nur missverstanden und war seiner Zeit in Wahrheit weit voraus.«

»Indem er Männer im Dutzend kastrieren ließ?«

»Nun, wie auch immer – jedenfalls besuchte König Dorgan eines Tages die Minen, in denen mein Vorfahr arbeitete. Als plötzlich Gestein von der Decke rieselte, bekam es der König, der keinen Helm trug, mit der Furcht zu tun und forderte einen seiner Berater auf, ihm doch seinen Helm zu geben. Als der Mann zögerte, weil er selbst fürchtete, von herabfallendem Gestein erschlagen zu werden, trat kurzerhand mein Urahn vor und gab dem König seinen eigenen Helm. Der König nahm das Geschenk dankbar entgegen – und kurz darauf stürzte tatsächlich ein Teil der Stollendecke ein.«

»Und?«, fragte Argulf. »Was geschah?«

»Dem König gar nichts, wie Ihr aus den Geschichtsbüchern wahrscheinlich wisst. Und auch mein Vorfahr ging unbeschadet aus der Sache hervor.«

»Obwohl er keinen Helm trug? Wie das?«

»Just in dem Augenblick, als der Steinschlag einsetzte, nahm mein Urahn seinen Hammer zur Hand und schlug ihn dem Berater ins Genick, der zuvor den Wunsch des Königs abgelehnt hatte. So kam er zu einem Helm und blieb ebenfalls unverletzt. Sobald sich der Steinschlag jedoch legte und der König sah, was mein Urahn getan hatte, musste er herzlich lachen und beschied ihm, dass dies echte Zwergenart sei.«

»Jemanden hinterrücks zu erschlagen?«, fragte Argulf wenig überzeugt.

»Nein – dem Wunsch seines Herrschers zu entsprechen und dabei dennoch am Leben zu bleiben. König Dorgan war so beeindruckt von der Tat meines Ahnen, dass er ihn mitnahm und zu seinem neuen Berater ernannte. Und weil er ihm so trefflich gedient hatte, nannte er ihn fortan Helmknecht.«

»Das wusste ich nicht.«

Der Statthalter nickte. »Sich dem Willen seines Herrschers zu verweigern, bringt keinen Vorteil«, belehrte er seinen Untergebenen. »Erst recht nicht in unserem Fall.«

»Was meint Ihr?«

Fredegar lächelte schwach. »Ihr seid Soldat, Oberst Argulf. Eure Aufgabe ist es, Befehle zu empfangen und nicht, Euch Gedanken über jene zu machen, die sie Euch erteilen. Aber selbst Ihr müsst doch bemerkt haben, dass sich die Dinge geändert haben. Dass König Winmar sich geändert hat.«

»Nun«, meinte der Obrist, »ich gebe zu, dass …«

»Winmar war ein schlauer Fuchs, daran besteht kein Zweifel«, fiel Fredegar ihm ins Wort. »Er hat die Gelegenheit, sich selbst auf den Thron zu bringen, genutzt und das Zwergenvolk zu neuen Höhen geführt, und wir alle, die wir in seiner Gunst standen, haben davon profitiert. Doch inzwischen, so fürchte ich, hat sich vieles geändert. Winmar ist im fernen Tirgas Winmar, und wie es heißt, hat ihn dort kaum jemand je zu Gesicht bekommen. Nur Crodegang, dem Oberpriester des Schattenkults, und einigen seiner Anhänger ist es gestattet, den Dunklen Herrscher von Angesicht zu sehen.«

»Und? Was folgert Ihr daraus?«

»Dass Winmar nicht mehr der ist, der er einst war. Die dunklen Mächte, die er durch seine Alchemisten heraufbeschwören ließ, sind ihm zum Verhängnis geworden. Dieser geheimnisvolle Kult, diese Schattenkreaturen – das alles ist nicht sein Werk. Unser König ist, so fürchte ich, selbst zu einem Werkzeug geworden, zu einem Spielball einer fremden Macht, die in der Lage scheint, der Finsternis selbst zu gebieten.«

Argulf blieb eine Antwort schuldig. Dass er nicht widersprach, schien zu bestätigen, dass auch er schon über diese Dinge nachgedacht hatte; sie jedoch so offen zu hören, noch dazu aus dem Mund eines königlichen Statthalters, erschütterte ihn sichtlich. »U-und das bedeutet?«, fragte er schließlich.

Fredegar sah ihn durchdringend an. »Dass wir in dem Sturm, der dieser Welt bevorsteht, auf der richtigen Seite stehen sollten, mein Freund – andernfalls werden wir ihn nicht überleben.«

»Und welche ist die richtige Seite?«

»Die des Siegers«, erwiderte der Statthalter ohne Zögern, »und wir wissen beide, wer am Ende der Sieger in diesem Konflikt sein wird. Deshalb müssen wir uns als würdig erweisen. Keines Rebellen Fuß darf diese Stadt betreten, Oberst, habt Ihr das verstanden?«

»Ja, Statthalter.«

»Unser dunkler Herrscher blickt auf uns, womöglich gerade jetzt, in diesem Augenblick. Wir wollen ihn nicht enttäuschen, wie Ansgar es in Gorta Ruun getan hat. Ich will leben, Oberst, und meinem König dienen«, fügte Fredegar grinsend hinzu. »Genau wie mein Ahne.«

3

Das Lagerfeuer knisterte. Sein flackernder, orangeroter Schein beleuchtete die Gesichter der beiden Männer, die im Wald ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Der eine hörte auf den Namen Alured.

Er war ein Westmensch, groß gewachsen und sehnig. Die Kleidung, die er am Körper trug, war abgetragen und zeugte von langer Wanderschaft, ebenso die wildledernen Stiefel. Eine Narbe verlief quer über die von blondem Haar umrahmten Gesichtszüge und verlieh ihm ein verwegenes Aussehen.

Der andere Mann war ungleich jünger, beinahe noch ein Knabe; seine zierliche Gestalt, sein schwarzes Haar und die schmalen Augen verrieten, dass er aus dem fernen Osten stammte, aus den Landen jenseits der See.

Sein Name war Suvat Ramil.

In seine Decke gehüllt lag Suvat am Feuer und schlief, während Alured Wache hielt. Mit einem Stück Ast stocherte er im Feuer, das er vorsorglich in einer Grube entzündet hatte. Flammen, die schon von fern zu sehen waren, konnten in diesen unruhigen Zeiten leicht den Ausschlag geben zwischen Tod oder Leben. Und Alured hatte schon zu viele Fährnisse überstanden und war zu weit gekommen, als dass er sich jetzt noch aufhalten lassen wollte.

Ursprünglich waren sie drei Gefährten gewesen. Auch der ruchlose Zwerg Vigor, der Alureds gesamte Familie ausgelöscht hatte und mit dem er sich dennoch notgedrungen verbündet hatte, hatte dazugehört. Doch Vigor war tot. Sie hatten seinen Leichnam in dem Boot gefunden, in dem sie erwacht waren, nachdem sie aus Tirgas Winmar entkommen waren – wie sie in dieses Boot gelangt, wie sie überhaupt aus den Fängen des Dunklen Königs und seiner Häscher entkommen waren, wusste Alured nicht, und Vigor konnte er nicht mehr fragen.

Von Smerada aus, wo sie geholfen hatten, die dort gefangenen Sklaven zu befreien3, waren Alured und Suvat den nördlichen Handelswegen gefolgt und hatten das Gebiet der Hügelclans aufgesucht, um Daghan von Ansun zu finden, Alureds Freund und Lehnsherrn, den er vor den Vorgängen in Tirgas Winmar warnen wollte. Doch sie hatten Daghan nicht mehr angetroffen. Über seinen Verbleib machten wilde Gerüchte die Runde, und was Alured und sein junger Begleiter in den Tavernen und Wegstationen hörten, trug nicht unbedingt zur Klarheit bei. Angeblich, so hieß es, war Daghan nach Gorta Ruun gezogen, wo er den Zwergen dabei geholfen hatte, das Joch der Zwangsherrschaft durch die Alchemisten abzuschütteln. Andere behaupteten, er wäre an der Spitze einer Streitmacht von Menschen und Zwergen gen Süden marschiert, um Tirgaslan zu befreien und die Königskrone zurückzugewinnen.

Alured wusste nicht, was davon der Wahrheit entsprach, aber nachdem sie den Ausläufern des Scharfgebirges bereits ein gutes Stück nach Westen gefolgt waren, waren sie der Zwergenfeste im Augenblick näher als der alten Königsstadt, also hatte er sich entschlossen, zunächst dort nach Dag zu suchen. Und vielleicht, so hoffte er, würde auch sie dort sein.

Catriona.

Fast war ihm, als könnte er die Züge der jungen Kriegerin vom Clan Ca’Dur in den Flammen des Lagerfeuers vor sich sehen. Nur eine kurze Zeit der Zweisamkeit war ihnen vergönnt gewesen, ehe das Schicksal sie getrennt hatte. Mehr als zwei Jahre lag dies nun zurück. Was aus Catriona geworden war, wusste er nicht, und je mehr Zeit verging, desto größer wurde seine Angst, dass sie einander womöglich niemals wiedersehen würden, die Clanstochter aus den Hügellanden und der Krieger aus Ansun …

Alured lachte freudlos auf, verspottete sich selbst für seine Sentimentalität. Hatten die Ereignisse der letzten Jahre, der Krieg und all die anderen schrecklichen Dinge nicht eindringlich gezeigt, dass für zarte Gefühle kein Platz war in dieser Welt? Warum nur hielt er dennoch weiter daran fest?

Mit einem Seufzen brach er den Ast in der Mitte entzwei und warf die Überreste in die allmählich verblassenden Flammen. Der Himmel, der sich hoch über den Wipfeln der Bäume spannte, hatte das Schwarz der Nacht abgelegt. Von Osten dämmerte der neue Tag herauf, nur vereinzelt funkelten noch Sterne.

Alured griff in den weichen Boden und warf mehrere Handvoll Erdreich in die Grube, um das Feuer zu löschen. Dann beugte er sich zu Suvat hinüber, um ihn zu wecken.

»Bruder?«

Es dauerte einen Moment, bis der Jüngere zu sich kam. Dann jedoch war er sofort hellwach. Er riss die schmalen Augen auf und schoss in die Höhe, die Hand am Griff des Dolchs. »Was? Wer …?«

»Schon gut.« Alured winkte ab. »Es ist nichts weiter. Die Nacht ist zu Ende. Wir brechen auf.«

Suvat schien geträumt zu haben, und womöglich wähnte er sich noch immer dort. Verwirrt schaute er sich auf der Lichtung um, dann erst schien die Erinnerung zu ihm zurückzukehren. »Du hast mich nicht zur Wache geweckt«, stellte er dann fest.

»Nein«, gab Alured zu, der bereits dabei war, seine Sachen zusammenzupacken. Ein Streifen Dörrfleisch als Frühstück musste genügen, nicht weit entfernt gab es eine Quelle, dort würden sie ihren Durst löschen und die Feldflaschen füllen.

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht müde war«, entgegnete Alured schulterzuckend. »Und weil ich den Eindruck hatte, dass du ein wenig Schlaf ganz gut brauchen konntest.«

Der Blick, den Suvat ihm schickte, verriet wenig Dankbarkeit, dafür umso mehr Zorn. »Was geht es dich an?«, fuhr er Alured an. »Du bist nicht meine Mutter!«

Alured schürzte die Lippen. Zornesausbrüche wie diese kamen in letzter Zeit häufiger vor. »Nein, mein Freund«, beschwichtigte er, »das bin ich nicht. Aber ich dachte, dass du vielleicht erschöpft …«

»Hör auf, für mich zu denken!«, ereiferte sich der Jüngere. »Ich kann sehr gut für mich entscheiden, verstanden?«

Alured schluckte ob der Abneigung, die ihm entgegenschlug. Kein Zweifel, Suvat hatte sich verändert. An manchen Tagen war von dem gutmütigen, hilfsbereiten Jungen, den Alured in Tirgas Winmar aus der Gewalt der Schattenpriester befreit hatte, kaum noch etwas wiederzuerkennen. Und Alured wurde das Gefühl nicht los, dass dies auch seine Schuld war.

Er hätte sich nicht darauf einlassen dürfen, als Suvat ihm anbot, ihn auf seiner Suche nach Daghan zu begleiten. Die Gründe, die der Junge angeführt hatte – dass er tief in Alureds Schuld stehe und ihm sein Leben verdanke, und dass er deshalb erst nach Hause zurückkehren dürfe, wenn er seine Schuld beglichen hätte – hatten ihn zutiefst berührt, und so hatte er sich einverstanden erklärt. Allerdings ohne zu ahnen, auf welche Irrfahrt der Junge und er sich begeben würden. Die Entbehrungen der langen Reise, die ständige Bedrohung durch Orks und Schattendrachen, das Grauen eines vom Krieg gezeichneten Landes – all das war wohl zu viel für Suvat gewesen. Äußerlich mochte er noch immer der Junge sein, dem Alured das Leben gerettet hatte. Innerlich jedoch hatte er sich sehr verändert – und nicht zum Guten …

»Ich weiß«, versicherte Alured und hob beschwichtigend die Hände, »die letzten Wochen haben dich zum Mann reifen lassen, schneller, als dir lieb sein konnte. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn du …«

»Wenn ich was? Dir nicht gefolgt wäre?«, schnappte Suvat, der ebenfalls dazu überging, seine Decke einzurollen und das wenige Gepäck in einem ledernen Beutel zu verstauen.

»Vielleicht.« Alured nickte.

»Ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich sage es dir wieder.« Energisch zog der Junge den Beutel zu. »Ich hatte keine andere Wahl, als dir zu folgen. Die Gesetze meines Volkes verpflichten mich dazu. Außerdem will ich meinen Teil dazu beitragen, gegen diese Schattenkreaturen zu kämpfen und den Dunklen König, der sie ins Leben gerufen hat.«

»Nicht jeder ist ein Krieger«, wandte Alured ein.

»Das ist wahr«, räumte Suvat ein – und schoss vom Boden hoch, wobei er in einer blitzschnellen, fließenden Bewegung seinen Dolch zückte. »Aber ich schon.«

Alured wusste nicht, ob er darüber lächeln oder bestürzt sein sollte. In jedem Fall nahm er sich vor, auf seinen jungen Begleiter, der ihm in mancher Hinsicht die verlorene Familie ersetzte, gut aufzupassen.

Die grässliche Wahrheit, die hinter Suvats verändertem Verhalten steckte, ahnte er nicht.

4

Der neue Tag war noch nicht ganz angebrochen, als der Angriff auf Tirgaslan begann.

Nicht mit einer frontalen Attacke.

Nicht mit lautem Gebrüll und Trommelschlag.

Nicht mit Leitern und Rammen.

Sondern mit dem Wind, der des Morgens über die Ebene von Trowna strich; der die Bäume des Waldes rauschen ließ und sich schließlich an den gewaltigen, jahrhundertealten Mauern brach. Denn dieser Wind trug sie empor, hinauf in die Wolken, die über den Türmen der Stadt hingen und sie den Blicken der Verteidiger entziehen würden – so lange, bis es zu spät sein würde, um Alarm zu schlagen.

Dado stand vorn am Bug des Luftschiffs, das nach Plänen Daghans von Ansun gebaut worden war. Als Sohn der Berge war ihm schon der Gedanke suspekt, sich in einem Boot auf dem Wasser zu bewegen; sich jedoch an Bord eines noch ungleich abenteuerlichen Vehikels geradewegs in die Lüfte zu schwingen, war in den Augen des jungen Zwergenkriegers ausgemachter Wahnsinn – warum er sich dennoch darauf eingelassen hatte, vermochte er selbst nicht mehr zu sagen.

Neugier war es jedenfalls nicht gewesen – Dado gehörte nicht zu der Sorte Zwerg, die ihre knollenförmige Nase gerne in anderer Leute Angelegenheiten steckten oder auch nur etwas Neues ausprobierten; schon eher Loyalität seinem Freund Bertin gegenüber, der zum König der freien Zwerge gewählt worden war und für diese Mission Freiwillige gesucht hatte.

Dado war nicht der Einzige, der dem Kommando angehörte. Auch Runward Eisenherz zählte dazu, ein weiterer Kampfgefährte Bertins, der auch bei der Befreiung Gorta Ruuns dabei gewesen war; dazu die beiden absonderlichsten Wesen, denen Dado jemals begegnet war. Da war zum einen Nagaya, die geheimnisvolle Schlangenfrau; zum anderen Lyrx, ein Wechselbalg, der in der Lage war, sein Erscheinungsbild nahezu beliebig zu verändern – im Augenblick hatte er die Gestalt eines Zwergenkriegers der Gegenseite angenommen, mit dem verhassten Axtsymbol auf den Schulterstücken seiner Rüstung, das zum Zeichen für Unfreiheit und Unterdrückung geworden war.

An diesem Morgen würde es die Freiheit bringen.

Vorausgesetzt, der Plan gelang.

Dado konnte nicht behaupten, dass ihm das Prinzip, aufgrund dessen sie sich in luftiger Höhe befanden, besonders einleuchtete. Eine riesige Blase, die aus der Seide der Höhlenraupe genäht worden war, war mit heißer Luft gefüllt worden und dadurch aufgestiegen. An ihrer Unterseite hing eine Gondel, die in etwa so lang und breit war wie ein Nachen und fünf Passagieren Platz bot: Dado vorn am Bug, dazwischen Lyrx und Runward. Nagaya, deren menschlicher, mit einer ledernen Rüstung bekleideter Torso auf ihrem eingerollten Schlangenkörper ruhte, kauerte im Heck der Gondel. Ihr gegenüber hockte ein Mensch, einer von Daghans Leuten, der das Steuer bediente und das Luftschiff hart an den Wind brachte. Die Taue knarrten, die Insassen fühlten einen kalten Luftzug – dann wurde es völlig windstill. Die Strömung hatte das Schiff aufgenommen und trug es durch die Wolken.

Während über ihnen alles in dämmrigem Grau verschwamm, konnte Dado unten am Boden Einzelheiten ausmachen – Haine und Lichtungen, dazwischen die Zelte der Belagerer, die sich in den Niederungen duckten; Baumwipfel, die unter dem Luftschiff vorüberwischten, einige davon beängstigend nah.