Reinhold Ruthe

Die Kunst, trotz allem
gelassen zu sein

Entspannung, Geduld, Ruhe und
Gelassenheit gewinnen

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN-10: 3-87067-836-4

ISBN-13: 978-3-86506-812-5

6. Auflage 2006

© 2000 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: Getty Images

Satz: Hans Winkens, Wegberg

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Gelassenheit gewinnen

Kapitel 2

Selbstmitleid überwinden

Kapitel 3

Geduld einüben

Kapitel 4

Zeitprobleme meistern

Kapitel 5

Fragen zur Selbsterforschung

Literaturhinweise

Vorwort

Gelassenheit wünschen sich die meisten Menschen. Offensichtlich vermissen sie diese Lebenshaltung. Unsere Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft produziert dieses Defizit in hohem Maße. Die Menschen fühlen sich gehetzt, nervös, angespannt und unter Zeitdruck.

Nur, wie gewinnt man Gelassenheit? Der Psychiater Prof. Dr. Viktor E. Frankl war der Meinung: »Wer Gelassenheit anstrebt, dem vergeht sie!« Wir stutzen und fragen, was Frankl uns sagen will.

Er macht darauf aufmerksam, dass Gelassenheit eine Beigabe ist, ein Geschenk. Gelassenheit ist die Folge unseres Bemühens, zu verzichten, vieles lassen zu können. Gelassenheit lässt sich nicht erzwingen. Gelassenheit fällt uns als reife Frucht in den Schoss, wenn wir Personen, Besitz, Ämter, Ehren und vieles andere mehr loslassen können.

Gelassenheit hat mit loslassen zu tun.

Wer etwas lassen kann, wird frei.

Wer etwas lassen kann, wird ruhig.

Wer etwas lassen kann, wird zufrieden.

Wer etwas lassen kann, wird gelassen.

Gelassenheit ist Reife und Lebensklugheit. Wesentliches stellt sich heraus, Wichtiges gewinnt an Konturen. Gelassenheit hat, wer alles, Gutes und Schlechtes, Erfreuliches und Leidvolles, aus Gottes Hand nehmen kann.

KAPITEL 1

Gelassenheit gewinnen

Eine alte Sage berichtet: Ein Mensch ist unterwegs zum Land seiner Sehnsucht. Es ist eine lange und beschwerliche Reise. Endlich kommt er an einen breiten Fluss. Er weiß: Drüben, am anderen Ufer, liegt das Land der Herrlichkeit – und er kann es kaum erwarten, hinüberzukommen.

Er findet einen Fährmann, der bereit ist, ihn mit seinem Boot so schnell wie möglich überzusetzen. »Aber«, sagt er, »du musst dein Gepäck hier lassen. Ich nehme nur die Menschen mit ohne Ballast.« Der Reisende erschrickt sehr. Es scheint ihm unmöglich, all die Dinge, die er angesammelt hat, die er liebt, die er für lebensnotwendig hält, die er auf seiner weiten Reise mühsam bis hierher geschleppt hat, einfach abzulegen und am Ufer des Flusses zurückzulassen.

»Alles?«, fragt der Mensch, hoffend, doch ein wenig von seiner Habe mitnehmen zu können. »Alles. Ich nehme nur dich mit. Entscheide dich«, antwortet der Fährmann ernst.

Gelassenheit hat mit Verzicht zu tun. Wer Ballast nicht abwerfen kann, wird es schwer haben, lange und anstrengende Reisen zu unternehmen. Noch schwerer wird es, die letzte Lebensreise anzutreten und sich dem Fährmann ohne alles anzuvertrauen. Schon jetzt müssen wir im Leben lernen, unnötigen Ballast abzuwerfen.

Wer nur reagiert, hat keine Gelassenheit

Ein Mensch, der nur reagiert, wird gelebt. Er hat sein Eigenleben, seine Eigenverantwortung und Eigenständigkeit verloren. An den folgenden Aussagen können Sie überprüfen, ob auch Sie zu den Über-Reagierenden gehören:

Eine tieftraurige Lebenseinstellung. Haben wir uns von Menschen so abhängig gemacht? Wir haben auf Ruhe und Frieden verzichtet. Mit Augen und Ohren, die wie ein Radar auf andere Menschen gerichtet sind, nehmen wir alle Gefühle, Wünsche und Bedürfnisse der anderen wahr. Warum nehmen wir vieles, vielleicht sogar alles von anderen Menschen so ernst?

In der Bibel steht ein kluger Rat: »Werdet nicht der Menschen Knechte!« Menschen, die in erster Linie auf andere schauen, sind Knechte. Sie haben sich abhängig gemacht. Je mehr wir uns verantwortlich fühlen und gedanklich ins Schlepptau nehmen lassen, desto mehr werden wir zu Objekten. Wenn uns jemand mit Wünschen, Bedürfnissen und Kritik in den Ohren liegt, müssen wir ernsthaft prüfen, ob die Zumutungen angemessen sind oder nicht. Wir müssen auch Nein sagen können.

Hat der Partner, ein Angehöriger, ein Bekannter oder Fremder einen schlechten Tag, eine schlechte Stimmung, dann müssen wir nicht reagieren. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir nehmen den anderen ernst, aber wir werden nicht zu seinem Knecht, der auf Augenwink springt und sich fesseln lässt. Niemand von uns muss reagieren. Wir sind in der Lage, frei Entscheidungen zu treffen. Je mehr wir eigenständig und unabhängig denken und handeln, desto ruhiger und gelassener reagieren wir.

Einige Fragen zur Selbstprüfung

Wenn Sie einige Selbstaussagen mit ja beantwortet haben, was können Sie tun, um sich mehr zu lösen, um selbstständiger und unabhängiger zu reagieren? Welche Entscheidungen wollen Sie treffen? Können Sie Ihre Sorgen um den anderen, Ihre Verantwortung, die Sie fühlen, und Ihr Mitleid, das Sie spüren, abgeben?

Müssen Sie alles persönlich nehmen?

Wer alles persönlich nimmt, belastet sein Leben aufs Schwerste. Wer sich vieles, was gesagt, geschrieben und dahergeschwätzt ist, zu Herzen nimmt, wird herzkrank.

Da ist Edith, eine sensible Frau von 34 Jahren. Sie ist jung verheiratet, hat zwei süße Kinder und ist »mit den Nerven fertig«, wie sie sagt. Sie besitzt die Kunst, alles und nichts auf sich zu beziehen. Wenn der Postbote an ihr vorbeigeht, ohne zu grüßen, bekommt sie ein schlechtes Gewissen und grübelt, was sie ihm angetan haben könnte. Wenn sie nach dem Gottesdienst nicht freundlich mit Händedruck verabschiedet wird, durchleuchtet sie alle Reaktionen der letzten Woche und prüft, was sie schuldig geblieben ist. Sie ist eine Meisterin darin, hinter allem die verrücktesten Provokationen zu vermuten. Der eine schaut sie böse an, der andere interessiert sich überhaupt nicht für sie, der Dritte gönnt ihr nicht das Salz in der Suppe, der Vierte verwünscht sie und der Fünfte ist ein Lump, der sie betrügen will.

Edith ist Tag und Nacht beschäftigt mit Menschen, die ihr Probleme auf die Seele binden, die sie verstehen, erklären und lösen muss. Edith wird gelebt.

Sie nimmt alles persönlich, kann nicht loslassen, muss reagieren, das ist ihr Problem.

Solche Reaktionen können zu Kettenreaktionen werden. Weil wir glauben, etwas so oder so verstanden zu haben, bringen wir Partner, Eltern oder Kinder in Schwierigkeiten. Sie fühlen sich in Anspruch genommen, reagieren ärgerlich und belasten uns jetzt erst recht.

Doch müssen wir wirklich reagieren? Müssen wir uns quälen und grübeln? In jedem Augenblick des Tages können wir uns neu entscheiden:

Niemand muss müssen. Wir sind freie Menschen und können uns schützen. Die Ediths in dieser Welt müssen lernen, die tausend Kümmernisse, die wir uns anziehen, wegzuwerfen und loszulassen. Die Nerven beruhigen sich wieder, sogar ohne Beruhigungspillen. Wir werden gelassen, weil wir losgelassen haben.

Slow Food und Gelassenheit

Was Fast Food beinhaltet, das hat sich herumgesprochen. Es geht um Schnellgerichte. Im Zeitalter des ungestümen Fortschritts muss alles schnell gehen. Die Wirtschaft hat sich darauf eingestellt. Überall gibt es

Schnell-Imbissstuben

Schnell-Reinigungen

Schnell-Entwicklung von Filmen

Schnell-Transporter usw.

Schnelligkeit und Hektik unserer Zeit werden klug vermarktet. Der Mensch wird in den Strudel der Time-is-Money-Ideologie hineingezerrt. Was auf der Strecke bleibt, ist die Gesundheit. Der gestresste und getriebene Mensch reagiert nervös, auch mit einem nervösen Magen.

Inzwischen gibt es eine Slow Food-Bewegung. Sie hat sich dem langsamen Essen verschrieben. Ihr Vereinssymbol ist die Schnecke. Sie wird nicht als besonderes Genussprodukt verherrlicht, sondern soll als Symbol für Langsamkeit gesehen werden. Den Anfang machten 150 Genießer in München, die das Ziel verfolgten, nicht Schnellgerichte im Eiltempo, möglichst noch im Stehen, herunterzuschlucken, sondern Appetit auf qualitativ gute und reine Produkte zu machen. Inzwischen gibt es in 35 Ländern viele Anhänger; in Deutschland sind es schon viele Tausende.

Wer langsam isst und viele Male kaut, der demonstriert in der Regel Ruhe und Gelassenheit. Wer schluckt und gleichzeitig trinkt, demonstriert Unruhe, Hektik und Getriebensein. Essen wird zur Nebensache, weil Ehrgeiz, Karriere, Ziel- und Planerfüllung einen höheren Stellenwert haben. Die Korrektur des Lebensstiles ist allerdings keine Frage des Mundes, sondern eine Frage der Einstellung. Wer Gelassenheit wünscht, muss seine Grundeinstellung zum Leben und zur Arbeit revidieren.

Stress und Entspannung

Es gibt negativen Stress und es gibt positiven Stress. Negativer Stress bedeutet

Überanstrengung

Überbelastung

Überforderung

Übertreibung

Das »Über« verrät das Krankhafte. Es stört, verzerrt, bedroht, macht krank und kann töten. Negativer und übertriebener Stress ist zum Krankheitsfaktor erster Ordnung geworden. Wir sprechen bereits von Lärmstress, Verkehrsstress, Schulstress, Berufsstress, Wettbewerbsstress, Alltagsstress, Ehestress, Leistungsstress, optischem Stress, akustischem Stress und Konfliktstress.

Das Ergebnis ist die Überbelastung. Biologische Funktionen des Menschen versagen, die Spannung wird unerträglich. Unser Herr, der uns diesen Schutz- und Verteidigungsmechanismus in unser Leben einprogrammiert hat, wird zum Instrument der Selbstzerstörung gemacht.

Fakire haben die Fähigkeit, einen Teil ihrer unbewussten Lebensfunktionen willkürlich zu steuern. So können sie beispielsweise ihren Herzschlag und ihren Kreislauf willentlich beeinflussen und sogar ihren Blutdruck verändern. Aufgrund dieser Beobachtung hat der Berliner Nervenarzt J. H. Schultz im Jahre 1920 die Methode des »Autogenen Trainings« entwickelt. Diese »konzentrative Selbstentspannung« ermöglicht es dem Lernenden, Zustände und Vorgänge des eigenen Körpers, die normalerweise nicht wahrgenommen werden, bewusst zu empfinden, sie bis zu einem gewissen Grade zu beeinflussen und damit zu kontrollieren. Diese Methode hat sich bei »psychosomatischen Störungen« als sehr hilfreich erwiesen. Darunter versteht man Krankheitszustände, die durch eine seelische Fehlregulation hervorgerufen werden, wie z. B. Schlafstörungen, Herzneurosen und Muskelkrämpfe. Die »konzentrative Selbstentspannung« hilft, den Gebrauch von Arzneimitteln, insbesondere Psychopharmaka, Schlaf- und Schmerzmitteln, einzuschränken. Wer den Erfolg der Methode überprüfen will, kann eine Bio-Feedback-Methode benutzen, also eine Methode, die ihm eine Rückmeldung gibt, was im Organismus abläuft. Das geschieht mit Hilfe von elektrischen Geräten. Sie registrieren verschiedene unbewusst verlaufende Körperfunktionen, die normalerweise nicht wahrgenommen werden, und melden sie an die äußeren Sinnesorgane zurück. Wer die Übungen macht, kann die verschiedenen inneren Organe kontrollieren. Die Messung geschieht mit einem so genannten Elektromyogramm (EMG), das den elektrischen Strom, der dauernd in der Muskulatur fließt, misst. Mit seiner Hilfe lässt sich z. B. der Spannungskopfschmerz behandeln. Er ist oft die Folge einer Verkrampfung der Nackenmuskulatur. Mit der Hilfe des Bio-Feedbacks lernt der Mensch, Muskelspannungen abzubauen und sich so von diesen krampfbedingten Schmerzen zu befreien.

Es gibt Menschen, die aus Gründen ihrer Glaubensüberzeugung mit dieser Methode Schwierigkeiten haben. Sie glauben, es handele sich um okkulte Praktiken, um verborgene Kräfte und Einflüsse. In der Bibel gibt es dazu einen praktischen Rat: »Wer etwas für ›unrein‹ hält, für den ist es tatsächlich ›unrein‹.« Niemand sollte also gegen seine persönliche Überzeugung handeln.

Viele stoßen sich auch an einem Wort, das überall mit diesen und anderen Methoden verbunden ist. Es handelt sich um das Wort »Selbst«.

Häufig ist die Rede von

Selbstentspannung,

Selbsterfahrung,

Selbsthypnose,

Selbstsuggestion,

Selbstverwirklichung und

Selbstheilung.

Die Tragik ist, dass der Mensch überall in der Welt Hilfe sucht, sich selbst retten und erlösen will, selbst alles in die Hand nehmen und sich selbst am eigenen Schopf aus dem Sumpf seiner körperlichen und seelischen Probleme herausziehen will.

Der Co-Abhängige muss loslassen

Der Ausdruck Co-Abhängigkeit kam Ende der 70er Jahre auf. Er bezeichnet Menschen,

Der Co-Abhängige kann für Trinker, Magersüchtige, Bulemiker, Spieler und für alle Menschen, die Probleme haben, zur Belastung werden, weil für ihn selbst zu wenig übrig bleibt. Der Co-Abhängige bindet und fesselt sich an die Menschen mit Problemen; sie verlieren den Kontakt zu sich selbst. Sie verlieren ihre Kraft und Fähigkeit, an sich selbst zu denken, sich um das eigene Wohlergehen zu kümmern.

Die amerikanische Therapeutin Melody Beattie kennzeichnet diese Menschen so:

»Sorge und Besessenheit bringen unseren Verstand so durcheinander, dass wir unsere Probleme nicht lösen können. Wann immer wir auf diese Weise an jemanden oder etwas gefesselt sind, lassen wir uns selbst los (…). Dieser Mensch kann über nichts anderes mehr reden, an nichts anderes mehr denken. Der Betroffene ist geistig abwesend. Viele, mit denen ich in Familiengruppen gearbeitet habe, waren von den Menschen, um die sie sich Sorgen machten, in dieser Form besessen. Wenn sie besessen sind, können sie ihre Gedanken von dieser Person und diesem Problem nicht lösen.«1

Der Co-Abhängige führt kein eigenes Leben mehr. Er hat sein Leben an andere gebunden. Er wird von ihnen und ihren Problemen aufgefressen. Im Grunde ist der Co-Abhängige mit dem anderen verstrickt. Und diese Verstrickung hält ihn gefangen. Noch einmal Melody Beattie, die dem Co-Abhängigen zum Loslassen rät:

»Was genau ist Loslassen? Loslassen ist kein kalter, feindseliger Rückzug, kein resigniertes, verzweifeltes Akzeptieren von allem, was das Leben und andere Menschen uns in den Weg werfen, kein Ausweichen vor unseren wahren Verpflichtungen uns und anderen gegenüber (…). Loslassen basiert auf der Voraussetzung, dass jeder Mensch für sich selbst verantwortlich ist, dass wir Probleme, die wir nicht zu lösen haben, nicht lösen können. Loslassen bedeutet nicht, dass wir uns nicht kümmern. Es bedeutet, dass wir lernen zu lieben, zu sorgen und verstrickt zu sein, ohne verrückt zu werden.«2