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John Irving

Gottes Werk
und Teufels
Beitrag

Roman
Aus dem Amerikanischen von
Thomas Lindquist

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1985 bei William Morrow, New York,

erschienenen Originalausgabe:

›The Cider House Rules‹

Copyright © 1985 by Garp Enterprises, Ltd.

Die deutsche Erstausgabe erschien 1988

im Diogenes Verlag

Die Übersetzung wurde für

die Neuausgabe 2000 überarbeitet

Umschlagillustration von

Heinz Ita

 

 

Für David Calicchio

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21837 4 (35. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60020 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

[5] Festhalten am Herkömmlichen ist nicht sittliches Verhalten.
Selbstgerechtigkeit ist nicht Frömmigkeit.
Erstere schmähen heißt nicht letztere anfechten.

Charlotte Brontë, 1847

 
Die Abtreibung kann für praktische Zwecke als die Unterbrechung einer Schwangerschaft vor der Lebensfähigkeit des Kindes definiert werden.

Dr. H. J. Boldt, 1906

 

[7] Inhalt

  1  Der Junge, der nach St. Cloud’s gehörte  [9]

  2  Gottes Werk  [58]

  3  Prinzen von Maine, Könige Neuenglands  [106]

  4  Der junge Dr. Wells  [166]

  5  Homer bricht ein Versprechen  [233]

  6  Ocean View  [311]

  7  Vor dem Krieg  [386]

  8  Die Chance klopft an  [466]

  9  Über Birma  [543]

10  Fünfzehn Jahre  [629]

11  Die Regeln verletzen  [730]

Anmerkungen des Autors  [822]

[9] 1

Der Junge, der nach St. Cloud’s gehörte

Im Spital des Waisenhauses – in der Knabenabteilung von St. Cloud’s im Staate Maine – waren zwei Krankenschwestern damit betraut, den neugeborenen Babys Namen zu geben und nachzusehen, ob ihr kleiner Penis auch heilte. Zu jener Zeit (im Jahr 192–) wurden alle in St. Cloud’s geborenen Knaben beschnitten, weil der Arzt des Waisenhauses verschiedene Komplikationen gesehen hatte, die sich bei nichtbeschnittenen Soldaten ergaben, welche er im Ersten Weltkrieg medizinisch zu versorgen hatte. Der Arzt, der gleichzeitig Leiter der Knabenabteilung war, war kein religiöser Mensch; für ihn war die Beschneidung kein Ritus – sie war ein rein medizinischer Akt, vorgenommen aus hygienischen Gründen. Sein Name war Wilbur Larch, was eine der Schwestern, abgesehen von dem Ätherduft, der ihn stets umwehte, an das zähe, widerstandsfähige Holz jenes gleichnamigen Nadelbaumes erinnerte – der Lärche. Sie haßte den albernen Namen Wilbur und nahm Anstoß an der Albernheit, ein Wort wie Wilbur mit etwas so Wesentlichem wie einem Baum zu kombinieren.

Die andere Schwester wähnte sich in Dr. Larch verliebt, und wenn es an ihr war, einen Namen für ein Baby zu finden, nannte sie es oft John Larch oder John Wilbur (ihr Vater hieß John) oder Wilbur Walsh (ihre Mutter war eine geborene Walsh). Trotz ihrer Liebe zu Dr. Larch konnte sie sich unter Larch – Lärche – nichts anderes vorstellen als einen Nachnamen – und wenn sie an ihn dachte, dachte sie bestimmt nicht an Bäume. Den Namen Wilbur liebte sie wegen seiner vielseitigen Verwendbarkeit, als [10] Vor- und als Nachname, und wenn sie es leid war, den Namen John zu vergeben, oder wenn sie von ihrer Kollegin getadelt wurde, weil sie ihn überstrapazierte, verfiel sie selten auf etwas Originelleres als einen Robert Larch oder einen Jack Wilbur (sie schien nicht zu wissen, daß Jack ein häufiger Spitzname war für John).

Hätte er seinen Namen von dieser einfältigen, liebesblinden Schwester bekommen, wäre aus ihm wahrscheinlich ein Larch oder ein Wilbur der einen oder anderen Sorte geworden; und ein John oder Jack oder Robert, um alles noch einfältiger zu machen. Weil die andere Schwester an der Reihe war, bekam er den Namen Homer Wells.

Der Vater der anderen Schwester war Brunnenbauer von Beruf, eine harte, mühselige, ehrliche und präzise Arbeit – in ihren Augen bestand ihr Vater aus diesen Eigenschaften, was dem Wort »Wells« – Brunnen – eine gewisse Aura von Tiefe und Erdverbundenheit gab. »Homer« hatte eine der zahllosen Katzen ihrer Familie geheißen.

Diese andere Schwester – von fast allen Schwester Angela genannt – wiederholte selten die Namen ihrer Babys, wogegen die arme Schwester Edna gleich drei John Wilbur junior und zwei John Larchs III. ausgeteilt hatte. Schwester Angela kannte eine unerschöpfliche Zahl sachlicher Dingwörter, die sie eifrig als Nachnamen verwandte – wie Maple, Fields, Stone, Hill, Knot, Day, Waters (um nur einige aufzuzählen) – und eine kaum weniger eindrucksvolle Liste von Vornamen, entlehnt aus einer Familientradition vieler toter, aber in Ehren gehaltener Hauskatzen (Felix, Fuzzy, Smoky, Sam, Snowy, Joe, Curly, Ed und so fort).

Bei den meisten Waisen waren die Namen, die ihnen die Schwestern verliehen, nur eine Übergangslösung. Die Knabenabteilung schnitt besser ab als die Mädchenabteilung, wenn es darum ging, die Waisen noch als Babys in Familien unterzubringen, wenn sie sich die Namen noch nicht merken konnten, die die [11] guten Schwestern ihnen gegeben hatten; die meisten Waisen erinnerten sich später auch nicht an Schwester Angela oder Schwester Edna, die ersten Frauen auf dieser Welt, die sie bemuttert hatten. Dr. Larch hielt an dem Grundsatz fest, den Adoptiveltern der Waisen nicht die Namen mitzuteilen, die die Schwestern mit solchem Eifer verliehen. Man war in St. Cloud’s der Meinung, daß ein Kind, wenn es das Waisenhaus verließ, auch das Erregende eines neuen Anfangs erleben sollte – aber für Schwester Angela und Schwester Edna, und sogar für Dr. Larch, war es (vor allem bei solchen Jungen, die schwierig unterzubringen waren und länger in St. Cloud’s blieben) fast unvorstellbar, daß ihre John Wilburs und ihre John Larchs (ihre Felix Hills und Curly Maples und Joe Knots und Smoky Waters) nicht die von den Schwestern verliehenen Namen behielten.

Der Grund, weshalb Homer Wells seinen Namen behielt, war, daß er so viele Male, nach so vielen gescheiterten Pflegefamilien, nach St. Cloud’s zurückkehrte und daß das Waisenhaus sich mit Homers Absicht abfinden mußte, nach St. Cloud’s zu gehören – womit sich alle Beteiligten schwertaten. Doch Schwester Angela und Schwester Edna – und zuletzt auch Dr. Wilbur Larch – mußten schließlich einsehen, daß Homer Wells zu St. Cloud’s gehörte. Der entschlossene Junge wurde nicht mehr zur Adoption freigegeben.

Schwester Angela, mit ihrer Liebe zu Katzen und Waisen, bemerkte einmal über Homer Wells, der Junge müsse den Namen, den sie ihm gegeben habe, ja wirklich heiß lieben, wenn er so hart darum kämpfte, ihn nicht zu verlieren.

Der Ort St. Cloud’s in Maine war im neunzehnten Jahrhundert die längste Zeit ein Holzfällerlager gewesen. Das Lager und nach und nach auch der Ort nahmen ihren Betrieb im Flußtal auf, wo das Land flach war, was sowohl den Bau der ersten Straßen als auch den Transport der schweren Maschinen enorm erleichterte. [12] Das erste Bauwerk war eine Sägemühle. Die ersten Siedler waren Frankokanadier: Holzhacker, Waldarbeiter, Sägewerker. Dann kamen die Fuhrleute und die Flußschiffer, dann die Prostituierten, dann die Landstreicher und Gauner und (zuletzt) eine Kirche. Das erste Holzfällerlager hatte schlicht Clouds geheißen – weil das Tal so flach war und die Wolken sich nur widerwillig verzogen. Der Nebel hing bis zum späten Morgen über dem reißenden Fluß, und die tosenden Wasserfälle drei Meilen oberhalb des ersten Lagerplatzes erzeugten einen immerwährenden Dunst. Als die ersten Holzfäller dort an die Arbeit gingen, setzten sich nur die Moskitos und Kriebelmücken der Verwüstung des Waldes entgegen; die teuflischen Insekten zogen die permanente Wolkendecke in den stickigen Tälern des Hinterlandes von Maine der scharfen Bergluft oder dem frischen Sonnenlicht über dem blanken Meer vor Maine entschieden vor.

Dr. Wilbur Larch – der nicht nur Arzt des Waisenhauses und Leiter der Knabenabteilung war, sondern das Haus auch gegründet hatte – war der selbsternannte Historiker der Stadt. Dr. Larch zufolge wurde das Holzfällerlager namens Clouds nur deshalb zu St. Clouds, weil die hinterwäldlerischen Katholiken einen inbrünstigen Drang verspürten, allen möglichen Dingen ein Sankt voranzustellen – wie um diesen Dingen einen Liebreiz zu verleihen, der ihnen von Natur aus fehlte. Das Holzfällerlager blieb fast ein halbes Jahrhundert lang St. Clouds, bis der Apostroph eingeführt wurde – wahrscheinlich von jemandem, der vom Ursprung des Lagers nichts wußte. Doch um die Zeit, als es sich zu St. Cloud’s wandelte, mit Apostroph, war es eher Fabrikstadt denn Holzfällerlager. Der Wald war Meilen im Umkreis gerodet; statt Baumstämmen, die sich im Fluß verkeilten, statt des wüsten Lagers voll Männer, die verkrüppelt und gelähmt waren, weil sie von Bäumen oder Bäume auf sie herabgestürzt waren, sah man hohe, ordentliche Stapel frisch geschnittener Bretter in der diesigen Sonne trocknen. Über allem lag ein schmieriger Sägestaub, [13] manchmal zu fein, als daß man ihn überhaupt sah, aber allgegenwärtig im Schniefen und Keuchen der Stadt, in den ewig juckenden Nasen und rasselnden Lungen. Die Invaliden der Stadt protzten jetzt mit chirurgischen Nähten statt Blutergüssen und Knochenbrüchen; sie schmückten sich mit klaffenden Schnittwunden von den vielen Sägeblättern der Stadt (und fanden Mittel und Wege, mit ihren fehlenden Körperteilen zu prunken). Das schrille Wimmern der Sägeblätter hing über St. Cloud’s wie der Nebel, der Dunst, die Feuchtigkeit über dem Hinterland Maines, in der klammen Kälte seiner langen, nassen, verschneiten Winter und in der stinkenden, stickigen Schwüle seiner feuchten (zuweilen gar durch gewaltige Gewitter beglückten) Sommer.

Es gab nie einen Frühling in diesem Teil von Maine, abgesehen von jener Zeitspanne im März und April, die sich durch tauenden Matsch auszeichnete. Die schweren Maschinen des Holzgeschäfts standen still; die Arbeit der Stadt ruhte. Die unpassierbaren Straßen hielten jeden im Hause fest – und der Fluß war so frühlingshaft angeschwollen und so reißend, daß niemand ihn zu befahren wagte. Frühling in St. Cloud’s, das hieß Krawall: Saufkrawall, Raufkrawall, Hurerei und Vergewaltigung. Im Frühling war Selbstmordsaison. Im Frühling wurde die Saat für ein Waisenhaus gesät – überreichlich.

Und der Herbst? In seinem Tagebuch – seinem Miszellenjournal, seinem täglichen Protokoll der Angelegenheiten des Waisenhauses – schrieb Dr. Wilbur Larch auch über den Herbst. Jede von Dr. Larchs Eintragungen begann mit: »Hier in St. Cloud’s…« – abgesehen von jenen Eintragungen, die begannen: »In anderen Teilen der Welt…« Über den Herbst schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt ist der Herbst die Zeit der Ernte. Man sammelt die Früchte der Mühen von Frühling und Sommer. Diese Früchte nähren uns während des langen Schlummers, der Zeit stockenden Wachstums, die wir Winter nennen. Doch hier in St. Cloud’s dauert der Herbst nur fünf Minuten.«

[14] Welches andere Klima hätte denn zu einem Waisenhaus gepaßt? Kurort-Wetter etwa? Würde ein Waisenhaus in einer harmlosen Stadt gedeihen?

In seinem Tagebuch ging Dr. Larch vorbildlich umweltbewußt mit dem Papier um. Er schrieb die Blätter mit seiner kleinen, gedrängten Schrift beidseitig voll. Dr. Larch war nicht der Typ, der Ränder ließ. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er, »darf man dreimal raten: Wer hat die Wälder von Maine auf dem Gewissen, wer ist der schurkische Vater der unerwünschten Babys, wer ist schuld, daß der Fluß an totem Holz erstickt, daß das Tal verödet, versteppt und erodiert? Dreimal darf man raten, wie der unersättliche Zerstörer heißt (des Waldarbeiters mit seinen verpichten Händen und seinen zerquetschten Fingern; des Holzfällers und Sägemühlensklaven, dessen Hände spröde und rissig sind und manche Finger nur Erinnerung) und warum sich dieser Nimmersatt nie mit Balken oder mit Brettern zufriedengibt…«

Für Dr. Larch war der Feind das Papier – genauer, die Ramses-Papierfabrik. Für Balken und Bretter gab es genug Bäume, stellte Dr. Larch sich vor, niemals aber für all das Papier, das die Ramses-Papierfabrik zu benötigen schien – vor allem, wenn man versäumte, neue Bäume zu pflanzen. Als das Tal um St. Cloud’s gerodet war, als der Wildwuchs (Krüppelkiefern und einzelne ungehegte Nadelhölzer) überall aufschoß wie Sumpfblüten und es keine Baumstämme mehr auf dem Fluß von Three Mile Falls nach St. Cloud’s hinabzuschicken gab – weil es keine Bäume mehr gab –, da eröffnete die Ramses-Papierfabrik für St. Cloud’s das zwanzigste Jahrhundert, indem sie die Sägemühle und den Holzhof am Fluß in St. Cloud’s schloß und mit Sack und Pack flußabwärts zog.

Und was blieb zurück? Das Wetter, der Sägestaub, die zerklüfteten und geschändeten Ufer des Flusses (wo die großen Balken triftend, sich verkeilend eine neue wunde Böschung ausgekerbt hatten) und die Gebäude selbst: die Sägemühle mit ihren [15] kaputten Fenstern ohne Scheiben; die Hurenherberge mit ihrem Tanzsaal im Parterre, der Bingo-um-Geld-Halle, die den reißenden Fluß überblickte; die wenigen Privathäuser im Blockhausstil und die Kirche, eine katholische, für die Frankokanadier, die allzu sauber und unbenutzt wirkte, um zu St. Cloud’s zu gehören, wo sie sich niemals solcher Beliebtheit erfreut hatte wie die Huren oder der Tanzsaal oder gar Bingo-um-Geld. (In seinem Tagebuch schrieb Dr. Larch: »In anderen Teilen der Welt spielt man Tennis oder Poker; hier in St. Cloud’s spielt man Bingo-um-Geld.«)

Und die Leute, die zurückblieben? Von der Ramses-Papierfabrik war keiner mehr da, dafür gab es die andern: die Alten, die weniger attraktiven Prostituierten und die Kinder dieser Prostituierten. Nicht einer der ungeliebten Offizianten der katholischen Kirche zu St. Cloud’s wollte bleiben; es gab mehr Seelen zu retten, wenn man der Ramses-Papierfabrik flußabwärts folgte.

In seiner Kurzen Geschichte von St. Cloud’s belegt Dr. Larch, daß zumindest eine dieser Prostituierten lesen und schreiben konnte. Mit der letzten Barke, die der Ramses-Papierfabrik flußab in eine neue Zivilisation folgte, hatte eine relativ schreibkundige Prostituierte einen Brief abgeschickt, adressiert an: IRGENDEINEN BEAMTEN DES STAATES MAINE, DER FÜR WAISEN ZUSTÄNDIG IST!

Irgendwie erreichte dieser Brief sogar irgend jemanden. Vielmals umgeleitet (»wegen seiner Merkwürdigkeit«, schrieb Dr. Larch, »wie auch wegen seiner Dringlichkeit«), erreichte der Brief schließlich die Amtsärztekammer von Maine. Dem jüngsten Mitglied dieser Kammer – »einem jungen Springinsfeld, frisch von der Medizinischen Fakultät«, wie Dr. Larch sich selbst bezeichnete – wurde der Brief wie ein Köder vorgehalten. Der Rest der Kammer meinte, der junge Larch sei »der einzige hoffnungslos naive Demokrat und Liberale« unter ihnen. Der Brief lautete: ES MÜSSTE EINEN VERDAMMTEN ARZT UND EINE VERDAMMTE SCHULE UND AUCH EINEN VERDAMMTEN POLIZISTEN UND EINEN [16] VERDAMMTEN RECHTSANWALT GEBEN IN ST. CLOUD’S, DAS VON SEINEN VERDAMMTEN MÄNNERN (DIE SOWIESO NICHTS TAUGEN) IM STICH GELASSEN UND HILFLOSEN FRAUEN UND WAISEN ÜBERLASSEN IST!

Der Vorsitzende der staatlichen Amtsärztekammer war ein pensionierter Mediziner, für den feststand, daß außer ihm und Präsident Teddy Roosevelt alle Menschen nur Brei im Kopf hatten.

»Kümmern Sie sich um diesen Gefühlsbrei, Larch?« sagte der Vorsitzende, ohne zu ahnen, daß aus dieser Einladung bald eine staatlich geförderte Einrichtung – für Waisen! – hervorgehen sollte. Eines Tages sollte sie, wenigstens teilweise, Unterstützung aus Bundesmitteln erhalten – und gar jene höchst vagen, wenig verläßlichen Zuwendungen »privater Gönner«.

Im Jahr 190– jedenfalls, als das zwanzigste Jahrhundert – so jung und verheißungsvoll – aufblühte (sogar im Hinterland von Maine), übernahm Dr. Wilbur Larch die Aufgabe, alle Übel in St. Cloud’s zu heilen. Die Arbeit war für ihn wie geschaffen. Beinah zwanzig Jahre lang sollte Dr. Larch nur einmal St. Cloud’s verlassen – um in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, wobei zu bezweifeln ist, daß er dort dringender gebraucht wurde. Welch besseren Mann hätte man sich denken können für die Aufgabe, zu richten, was die Ramses-Papierfabrik angerichtet hatte, als einen Mann mit dem Namen eines der Nadelbäume dieser Welt? In seinem eben begonnenen Tagebuch schrieb Dr. Larch: »Hier in St. Cloud’s ist es höchste Zeit, daß etwas Gutes für die Menschen getan wird. Gibt es zur Läuterung – zur Selbstläuterung, zur Läuterung aller – einen besseren Ort als den, wo das Böse so sichtbar gedeiht, wenn nicht gar triumphiert?«

192–, als Homer Wells auf die Welt kam und seinen kleinen Penis beschnippeln ließ und einen Namen bekam, hatten Schwester Edna (die verliebt war) und Schwester Angela (die es nicht war) beide einen besonderen Kosenamen für den Gründer von St. [17] Cloud’s, den Arzt, Stadthistoriker, (dekorierten!) Kriegshelden und Leiter der Knabenabteilung.

»Sankt Larch« nannten sie ihn – und warum nicht?

Als Wilbur Larch Homer Wells die Erlaubnis gab, in St. Cloud’s zu bleiben, solange der Junge dorthin zu gehören meinte, übte der Arzt nur seine beträchtliche, wohlverdiente Autorität aus. In der Frage der Zugehörigkeit zu St. Cloud’s war Dr. Larch eine Autorität. St. Larch hatte dieses Haus – im zwanzigsten Jahrhundert – gegründet, um sich, wie er sagte, »nützlich« zu machen. Und genau mit diesen Worten ermahnte Dr. Larch Homer Wells, als der Arzt den Wunsch des Jungen, in St. Cloud’s zu bleiben, feierlich gewährte.

»Tja, Homer«, sagte St. Larch, »ich erwarte von dir, daß du dich nützlich machst.«

Er (Homer Wells) tat nichts anderes, als sich nützlich zu machen. Sein Sinn für Nützlichkeit schien noch älteren Datums zu sein als Dr. Larchs Ermahnungen. Seine ersten Pflegeeltern hatten ihn nach St. Cloud’s zurückgebracht; er war ihnen unheimlich, weil er nie weinte. Die Pflegeeltern klagten, daß sie von der gleichen Stille erwachten, die sie ursprünglich dazu bewogen hatte, ein Kind zu adoptieren. Sie erwachten vor Schreck darüber, daß das Baby sie nicht geweckt hatte, sie eilten ins Kinderzimmer und erwarteten, es tot vorzufinden, aber Homer Wells biß sich zahnlos auf die Lippe, grimassierte auch vielleicht, aber ohne dagegen zu protestieren, daß er ungefüttert und unbeachtet geblieben war. Homers Pflegeeltern argwöhnten immer, er habe stundenlang leidend wach gelegen. Sie fanden das nicht normal.

Dr. Larch erklärte ihnen, daß die Babys von St. Cloud’s daran gewöhnt seien, unbeachtet in ihren Betten zu liegen. Schwester Angela und Schwester Edna, so lieb und hingebungsvoll sie waren, konnten doch nicht zu jedem einzelnen Baby eilen, kaum daß es anfing zu weinen; Weinen nützte nicht viel in St. Cloud’s [18] (obwohl Dr. Larch in seinem tiefsten Herzen wußte, daß Homer Wells’ Fähigkeit, die Tränen zurückzuhalten, selbst für eine Waise ungewöhnlich war).

Dr. Larch hatte die Erfahrung gemacht, daß Pflegeeltern, die sich so leicht von ihrem Wunsch nach einem Baby abbringen ließen, nicht die besten Pflegeeltern für eine Waise waren. Homers erste Pflegeeltern waren so schnell überzeugt gewesen, daß sie das Falsche bekommen hätten – ein Zurückgebliebenes, ein Hirngeschädigtes, ein Trottelchen –, daß Dr. Larch ihnen nicht lange beteuern wollte, daß Homer nicht nur kerngesund sei, sondern auch mit Mut und Beharrlichkeit gerüstet für das Leben, das vor ihm lag.

Die zweite Pflegefamilie reagierte anders auf Homers Lautlosigkeit – seine stoische, mit zusammengebissenen Zähnen alles runterschluckende Gemütsruhe. Seine zweite Pflegefamilie prügelte das Kind so regelmäßig, daß sie es schafften, ihm die angemessen kindertümlichen Laute zu entlocken. Homers Geschrei war seine Rettung.

Hatte er sich erst als tapferer Kerl erwiesen, der gegen die Tränen anzukämpfen verstand, so versuchte er jetzt, da er sah, daß Tränen und Heulen und Kreischen genau das waren, was seine Pflegeeltern von ihm wünschten, sich nützlich zu machen, und stimmte aus vollem Herzen das kräftigste Gezeter an, das er von sich geben konnte. Er war ein so stillzufriedenes Kind, daß Dr. Larch überrascht war zu erfahren, daß das neue Baby aus St. Cloud’s den Frieden der glücklicherweise kleinen und nahe gelegenen Stadt Three Mile Falls störte. Glücklicherweise war Three Mile Falls klein, denn die Berichte über Homers Geschrei standen wochenlang im Mittelpunkt aller Gerüchte in der Region; und glücklicherweise war Three Mile Falls nah, denn diese Berichte fanden ihren Weg nach St. Cloud’s und zu Schwester Angela und Schwester Edna, die ein Monopol auf dem Gerüchtemarkt all dieser Holz- und Papierstädtchen am Fluß besaßen. Als [19] ihnen zu Ohren kam, wie ihr Homer Wells angeblich Three Mile Falls bis nach Mitternacht wach hielt und wie er die Stadt vor Sonnenaufgang weckte, wußten die Schwestern, daß das nicht sein konnte; sie gingen stracks zu Dr. Larch.

»Das ist nicht mein Homer!« rief Schwester Angela.

»Weinen ist nicht seine Natur, Wilbur!« sagte Schwester Edna – jede Gelegenheit nutzend, die sich ihr bot, den so innig geliebten Namen auszusprechen: Wilbur! Es machte Schwester Angela immer sauer auf sie (immer wenn Schwester Edna ihrem Verlangen frönte, Dr. Larch ihr Wilbur ins Gesicht zu sagen).

»Doktor Larch«, sagte Schwester Angela mit spitzer, übertriebener Höflichkeit, »wenn Homer Wells ganz Three Mile Falls weckt, dann muß die Familie, der Sie ihn überlassen haben, den Jungen mit Zigaretten versengen.«

Nein, so eine Familie waren sie nicht. Das war eine Lieblingsphantasie Schwester Angelas – sie haßte alle Rauchwaren; allein der Anblick einer Zigarette in einem x-beliebigen Mundwinkel erinnerte sie an jenen frankophonen Indianer, der ihren Vater wegen eines zu bohrenden Brunnens sprechen wollte und dann einer ihrer Katzen die Zigarette ins Gesicht gedrückt und ihr so das Näschen versengt hatte! – die Katze, ein besonders zutrauliches sterilisiertes Weibchen, war dem Indianer auf den Schoß gesprungen. Bandit hatte diese Katze geheißen – sie hatte das klassische Maskengesicht eines Waschbären. Schwester Angela hatte es sich versagt, eine der Waisen nach Bandit zu nennen – sie fand, Bandit sei ein Mädchenname.

Doch Homers Adoptiveltern aus Three Mile Falls waren keine gewöhnlichen Sadisten. Ein älterer Mann und seine junge Frau lebten da bei seinen erwachsenen Kindern aus erster Ehe; die junge Frau wünschte sich nun selbst ein Kind, aber sie wurde und wurde nicht schwanger. Alle in der Familie fanden, es wäre nett, wenn die Frau ihr eigenes Baby hätte. Was niemand erwähnte, war, daß eine der erwachsenen Töchter aus erster Ehe ein [20] uneheliches Baby bekommen und sich nicht richtig darum gekümmert hatte und daß das Baby nur schrie, Tag und Nacht. Alle hatten sich über das Baby beschwert, das Tag und Nacht schrie, und eines Morgens hatte die erwachsene Tochter einfach ihr Baby genommen und war verschwunden. Sie hinterließ nur diese Nachricht:

ICH HAB’S SATT, VON EUCH ALLEN ZU HÖREN, DASS MEIN BABY IMMER SCHREIT. WENN ICH VERSCHWINDE, SCHÄTZE ICH, WERDET IHR DAS GESCHREI NICHT VERMISSEN, UND MICH AUCH NICHT.

Aber das taten sie gerade, alle vermißten sie dieses herrliche krähende Baby und die liebe, schwachsinnige Tochter, die es mitgenommen hatte.

»Wäre doch nett, wieder ein schreiendes Baby hierzuhaben«, hatte jemand aus der Familie bemerkt, und so gingen sie hin und holten sich ein Baby aus St. Cloud’s.

Für ein Baby, das nicht schreien wollte, waren sie die falsche Familie. Homers Schweigen war eine so herbe Enttäuschung für sie, daß sie persönlich beleidigt waren und untereinander wetteiferten, wer das Baby als erster zum Schreien bringen konnte; nach »wer als erster« ging es darum, »wer am lautesten«, nach »wer am lautesten« kam »wer am längsten«.

Zuerst brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihn nicht fütterten, aber am lautesten brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihm weh taten; dies bedeutete in der Regel, daß sie ihn kniffen und knufften, aber es gab auch hinreichende Beweise, daß das Kind gebissen worden war. Am längsten brachten sie ihn zum Schreien, indem sie ihm angst machten; sie entdeckten, daß Erschrecken die beste Art war, einem Baby angst zu machen. Sie müssen sehr versiert darin gewesen sein, das längste und lauteste Geschrei zu erzielen, wenn es ihnen gelang, Homer Wells’ [21] Geschrei zur Legende in Three Mile Falls zu machen. In Three Mile Falls war es schon schwer, überhaupt etwas zu hören – ganz zu schweigen, dort zur akustischen Legende zu werden.

Die Wasserfälle allein machten ein so immerwährendes Getöse, daß Three Mile Falls die perfekte Stadt war für einen Mord; Schreie oder Schüsse verhallten ungehört. Wenn in Three Mile Falls jemand ermordet und die Leiche bei den Wasserfällen in den Fluß geworfen worden wäre, wäre die Leiche ungehindert und unentdeckt bis drei Meilen flußabwärts nach St. Cloud’s gelangt. Um so bemerkenswerter, daß die ganze Stadt Homers Geschrei hörte.

Es kostete Schwester Angela und Schwester Edna fast ein Jahr, um Homer Wells soweit zu beruhigen, daß er nicht mehr sofort Zeter und Mordio schrie, sobald jemand sein Gesichtsfeld kreuzte oder wann immer er einen menschlichen Laut vernahm – das Rücken eines Stuhls auf dem Boden, ein knarrendes Bett, ein Fenster, das geschlossen, eine Tür, die geöffnet wurde. Jeder Anblick und jedes Geräusch im Zusammenhang mit einem menschlichen Wesen, das sich womöglich in Homers Richtung bewegte, bewirkte ein schrilles Gezeter und ein so tränenreiches Greinen, daß jeder, der die Knabenabteilung betrat, meinen mußte, die Waisen würden wie im Schauermärchen gefoltert, mißhandelt und anderen undenkbaren Qualen ausgesetzt.

»Aber Homer«, pflegte Dr. Larch besänftigend zu sagen – während der Junge purpurrot anlief und seine Lungen neu füllte. »Homer, du bringst es noch so weit, daß wir wegen Mordes angeklagt werden! Du bringst es so weit, daß man uns das Haus schließen wird!«

Die arme Schwester Angela und die arme Schwester Edna wurden durch diese Familie in Three Mile Falls wahrscheinlich nachhaltiger geschädigt als Homer Wells, und der gute große St. Larch sollte sich nie ganz von dem Zwischenfall erholen. Er hatte die Familie kennengelernt; er hatte sich mit jedem einzeln unterhalten – und sich schrecklich in ihnen getäuscht; und er [22] hatte sie alle wiedergesehen an dem Tag, als er nach Three Mile Falls ging, um Homer Wells heimzuholen nach St. Cloud’s.

Woran sich Dr. Larch immer erinnern sollte, das war die Furcht in ihren Mienen, als er in ihr Haus marschiert war und Homer in die Arme geschlossen hatte. Die Furcht in ihren Gesichtern sollte Dr. Larch immer verfolgen, es war der Inbegriff all dessen, was er vorher nie begriffen hatte: welch zwiespältige Gefühle Erwachsene Kindern gegenüber hegten. Da war einerseits der menschliche Leib, der so deutlich dazu bestimmt war, Babys zu bekommen, und da war andererseits der menschliche Geist, der in diesen Dingen so verwirrt war. Manchmal wollte der Geist keine Babys, aber manchmal war der Geist auch so pervers, daß er andere Menschen zwang, Babys zu haben, die sie, wie sie wußten, nicht haben wollten. In wessen Namen geschah dieses Beharren? fragte sich Dr. Larch. In wessen Namen beharrten manche Geister darauf, daß Babys, auch die eindeutig ungewollten, schreiend auf die Welt gebracht werden mußten?

Und wenn andere Geister glaubten, Babys haben zu wollen, dann aber nicht richtig für sie sorgen konnten (oder wollten) … nun, was dachten sich diese Geister? Wenn Dr. Larch seinem Geist in dieser Sache einmal die Zügel schießenließ, dann sah er immer die Furcht in den Gesichtern der Familie aus Three Mile Falls vor sich und hörte innerlich Homer Wells’ legendäres Geschrei. Die Furcht dieser Familie hatte sich St. Larch so nachhaltig eingeprägt, daß sie ihm gleichsam zur Vision wurde; niemand, so fand er, der solche Furcht gesehen, sollte je eine Frau zwingen, ein unerwünschtes Baby zu bekommen. »NIEMAND!« schrieb Dr. Larch in sein Tagebuch. »Nicht mal jemand von der Ramses-Papierfabrik!«

Niemand, der auch nur einen Funken Verstand besaß, sagte vor Dr. Larch etwas gegen die Abtreibung – sonst mußte er sich einen detaillierten Bericht über die gesamten sechs Wochen anhören, die Homer Wells bei der Familie in Three Mile Falls [23] verbracht hatte; denn das war für Larch die einzige Möglichkeit, die Frage zu diskutieren – auf eine Debatte ließ er sich nicht ein. Er war Geburtshelfer, aber bei Bedarf – und wenn es ungefährlich war – trieb er auch ab.

Als Homer vier war, hatte er keine Alpträume mehr – jene Alpträume, die selbst die tiefsten Schläfer in St. Cloud’s aufweckten und einen Nachtwächter zu kündigen bewogen (»Mein Herz«, sagte er, »übersteht keine weitere Nacht mit diesem Jungen«) und die sich Dr. Wilbur Larch so tief eingeprägt hatten, daß er angeblich noch jahrelang im Schlaf Babys schreien hörte und sich herumwälzte und sagte: »Aber Homer, ist ja schon gut, Homer.«

In St. Cloud’s hörte natürlich jeder im Schlaf Babys schreien, aber kein Baby erwachte je mit einem Mordsgezeter vom Kaliber von Homer Wells.

»Gott, er schreit wie am Spieß«, pflegte Schwester Edna zu sagen.

»Als würde er mit einer Zigarette versengt«, pflegte Schwester Angela zu sagen.

Aber nur Wilbur Larch wußte, wie es wirklich war – diese Art, wie Homer Wells erwachte und (mit seinem lauten Erwachen) alle anderen weckte. »Als ob er beschnitten würde«, schrieb Dr. Larch in sein Tagebuch. »Als ob jemand seinen kleinen Penis beschnippelte und immer wieder schnippelte und schnippelte.«

Die dritte Pflegefamilie, die an Homer Wells scheiterte, war eine Familie von so seltenen und vorbildlichen Qualitäten, daß es töricht wäre, die Menschheit am Beispiel dieser Familie zu messen. Solch eine gute Familie waren sie und so vollkommen, denn sonst hätte Dr. Larch ihnen Homer nie anvertraut. Nach der Familie aus Three Mile Falls war Dr. Larch bei Homer Wells besonders vorsichtig.

Professor Draper und seine Frau waren fast vierzig Jahre [24] verheiratet und lebten in Waterville, Maine. Waterville war bei Homers Ankunft 193– als College-Stadt nichts Berühmtes; aber verglichen mit St. Cloud’s oder Three Mile Falls war Waterville eine Gemeinde von moralischen und sozialen Giganten. Obwohl noch im Hinterland, war es doch beträchtlich höher gelegen – die Berge waren nicht weit, von denen man auch eine nennenswerte Aussicht genoß; wer in den Bergen (oder am Meer oder in der Ebene oder auf offenem Farmland) lebt, genießt den Vorteil, daß er tagtäglich eine Aussicht vor Augen hat. Das Leben in einer Gegend, wo man gelegentlich weit in die Ferne blicken kann, bietet der Seele eine Perspektive von wohltuend weitläufiger Art – so jedenfalls dachte Professor Draper; er war der geborene Lehrer.

»Unbestellte Talgründe«, pflegte er zu dozieren, »und damit meine ich dichte, geduckte Wälder, die einem die Aussicht verstellen, behindern die emporstrebenden Eigenschaften der menschlichen Natur und fördern kleinliche und niedrige Instinkte.«

»Na, Homer«, pflegte Mrs. Draper zu sagen. »Der Professor ist der geborene Lehrer. Bei ihm darfst du nicht alles für bare Münze nehmen.«

Jeder nannte sie Mom. Niemand (auch seine erwachsenen Kinder und seine Enkel nicht) nannte ihn anders als den Professor. Selbst Dr. Larch kannte seinen Vornamen nicht. War auch sein Ton professoral, manchmal sogar offiziös, so war er doch ein Mann von recht durchschnittlichen Gewohnheiten und Leidenschaften und witzigem Gehabe.

»Nasse Schuhe«, sagte der Professor einmal zu Homer, »gehören in Maine dazu. Sie sind ein Faktum. Deine Methode, Homer, nasse Schuhe auf ein Fensterbrett zu stellen, wo sie womöglich beim schwachen, wiewohl seltenen Erscheinen der Sonne von Maine trocknen könnten, zeugt von auffallend positivem Denken und einem unbeugsamen Optimismus. Wohlgemerkt«, fuhr [25] der Professor fort, »zieht die, im übrigen wetterunabhängige, Methode, die ich bei nassen Schuhen empfehlen möchte, eine zuverlässigere Wärmequelle in Maine heran: nämlich die Heizung. Wenn du bedenkst, daß die Tage, an denen die Schuhe naß werden, in der Regel auch Tage sind, an denen wir die Sonne nicht zu Gesicht bekommen, wirst du erkennen, daß die Heizungsmethode gewisse Vorzüge hat.«

»Nicht alles für bare Münze nehmen, Homer«, sagte Mrs. Draper zu dem Jungen. Sogar der Professor nannte sie Mom; sogar Mom nannte ihn Professor.

Wenn Homer Wells auch fand, daß die Gespräche des Professors von platten Sinnsprüchen wimmelten, beschwerte er sich doch nicht. Wenn Professor Drapers Studenten und seine Kollegen von der Historischen Fakultät den Professor auch für einen geschwätzigen Langweiler hielten – und vor ihm Reißaus nahmen wie Hasen vor dem langsamen, aber gründlich schnüffelnden Jagdhund –, konnten sie Homers Meinung über diese erste Vaterfigur seines Lebens, die es mit Dr. Larch aufnahm, doch nicht beeinflussen.

Homers Ankunft in Waterville wurde mit einer Aufmerksamkeit begrüßt, wie der Junge sie niemals kennengelernt hatte. Schwester Angela und Schwester Edna waren Helferinnen in der Not, und Dr. Larch war ein liebevoller, wenn auch zerstreuter Armenvogt. Mrs. Draper aber war eine Mom; sie war die Mami aller Mamis; sie war eine Glucke. Sie war auf, bevor Homer wach wurde; die Plätzchen, die sie buk, während er sein Frühstück aß, waren mittags, wie durch ein Wunder, in seinem Vesperbeutel noch warm. Mom Draper wanderte mit Homer zur Schule – sie gingen über Land und verschmähten die Straße, weil es Mom guttat.

Nachmittags holte Professor Draper Homer auf dem Pausenhof ab – wie durch Zauberei schien der Schulschluß zeitlich mit des Professors letzter Vorlesung am College [26] zusammenzufallen –, und dann trotteten die beiden nach Hause. Im Winter, der in Waterville früh hereinbrach, war es ein buchstäbliches Trotten – auf Schneeschuhen, deren Beherrschung der Professor auf eine Stufe stellte mit der Kunst des Lesens und Schreibens.

»Übe den Körper, übe den Geist, Homer«, sagte der Professor.

Man sieht ohne weiteres, wieso der Mann Wilbur Larch beeindruckte. Er vertrat energisch das Nützlichkeitsprinzip.

In Wahrheit liebte Homer diese Routine, dieses Trott-Trott-Trott, diese äußerste Vorhersagbarkeit. Eine Waise ist einfach mehr Kind als andere Kinder, in ihrer grundsätzlichen Dankbarkeit für all die Dinge, die tagtäglich wiederkehren, wie nach Fahrplan. Auf alles, was zu bleiben, sich gleichzubleiben verspricht, fällt die Waise herein.

Dr. Larch führte die Knabenabteilung mit so vielen simulierten Beweisen alltäglicher Normalität, wie man sie in einem Waisenhaus eben aufrechterhalten kann. Die Mahlzeiten wurden pünktlich serviert, jeden Tag zur gleichen Zeit. Dr. Larch las jeden Abend vor, immer zur gleichen Zeit ein gleich langes Stück, auch wenn dies bedeutete, ein Kapitel mitten im Abenteuer abzubrechen, während die Jungen »Mehr! Mehr!« riefen und: »Lesen Sie doch nur noch, was als nächstes passiert!«

Und Dr. Larch sagte immer: »Morgen, zur gleichen Stunde, am gleichen Ort.« Es gab Seufzer der Enttäuschung, aber Larch wußte, er hatte ein Versprechen gegeben; er hatte eine Routine eingeführt. »Hier in St. Cloud’s«, schrieb er in sein Tagebuch, »messen wir Sicherheit an der Zahl der gehaltenen Versprechen. Jedes Kind versteht ein Versprechen – falls es gehalten wird – und freut sich schon auf das nächste Versprechen. Bei Waisen baut man Sicherheit langsam, aber regelmäßig auf.«

»Langsam, aber regelmäßig«, so läßt sich das Leben beschreiben, das Homer Wells bei den Drapers in Waterville führte. Jede Tätigkeit war eine Lektion; jeder Winkel des gemütlichen alten [27] Hauses barg etwas, was man kennenlernen – und worauf man fortan zählen konnte.

»Das ist Rufus. Er ist sehr alt«, sagte der Professor und machte Homer mit dem Hund bekannt. »Das ist Rufus’ Teppich, er ist sein Königreich. Wenn Rufus auf seinem Teppich schläft, darfst du ihn nicht wecken – wenn du nicht darauf gefaßt sein willst, daß er schnappt.« Worauf der Professor den betagten Hund wachrüttelte, der schnappend erwachte – und dann in die Luft staunte, die er gebissen hatte und in der er die erwachsenen Kinder der Drapers witterte, die nun verheiratet waren und selbst wieder Kinder hatten.

Homer lernte sie alle an Thanksgiving kennen. Erntedank bei den Drapers war ein Familienereignis, das jeder anderen Familie garantiert Minderwertigkeitskomplexe bereitet hätte. Mom übertraf sich selbst an Mamihaftigkeit. Der Professor hielt über jedes nur denkbare Thema eine Vorlesung: über die Qualitäten von weißem Fleisch gegenüber rotem, über die letzten Wahlen, über den Snobismus von Salatgabeln, die Überlegenheit des Romans im neunzehnten Jahrhundert (ganz zu schweigen von anderen Aspekten der Überlegenheit jenes Jahrhunderts), die richtige Konsistenz von Preiselbeermarmelade, die Bedeutung von »Buße«, die Bekömmlichkeit körperlicher Ertüchtigung (einschließlich des Vergleichs zwischen Holzhacken und Schlittschuhlaufen), das Lasterhafte eines Mittagsschläfchens. Auf jede dieser weitschweifig vorgetragenen Ansichten des Professors antworteten seine erwachsenen Kinder (zwei verheiratete Frauen, ein verheirateter Mann) mit einer völlig ausgewogenen Mischung von:

»Ganz genau!«

»War es nicht immer so?«

»Sehr richtig, Professor!«

Diese roboterhaften Antworten wurden, mit gleicher Präzision, unterstrichen durch Moms oft wiederholtes »Bare Münze, bare Münze«.

[28] Homer Wells lauschte diesen gleichmäßigen Rhythmen wie ein Besucher aus einer anderen Welt, der die Trommeln eines fremden Stammes zu entschlüsseln sucht. Er kam nicht dahinter. Diese scheinbare Übereinstimmung aller in allem war überwältigend. Er sollte erst viel später erkennen, was ihm damals nicht hatte einleuchten wollen – diese unausgesprochene (und ausgesprochene) selbstbeweihräuchernde Humanitätsduselei, die Herzhaftigkeit, mit der das Leben wortreich versimpelt wurde.

Was immer es sein mochte, es gefiel ihm nicht mehr; es wurde zum Hindernis auf dem Weg, den er suchte, der ihn zu sich selbst führen sollte – zu dem, was er war oder sein wollte. Er konnte sich an verschiedene Erntedankfeste in St. Cloud’s erinnern. Sie waren nicht so vergnügt gewesen wie das Fest bei Drapers in Waterville, aber sie erschienen ihm so viel wirklicher. Er erinnerte sich, wie er sich nützlich gefühlt hatte. Es gab immer Babys, die noch nicht allein essen konnten. Es gab immer die Möglichkeit eines Schneesturms, der das Stromnetz zusammenbrechen ließ; Homer war verantwortlich für die Kerzen und Petroleumlampen. Er war auch verantwortlich dafür, dem Küchenpersonal beim Putzen zu helfen oder Schwester Angela beim Trösten der anderen Waisen – und er war Dr. Larchs Botenjunge: das war die höchstbegehrte Verantwortung, die einem in der Knabenabteilung übertragen wurde. Bevor er zehn war, und lange bevor er von Dr. Larch ausdrücklich dazu ermahnt worden war, fühlte sich Homer Wells in St. Cloud’s von seiner Nützlichkeit durchdrungen.

Was war los mit dem Erntedankfest bei Drapers, daß es so kraß abstach vom gleichen Ereignis in St. Cloud’s? Mom war eine unvergleichlich gute Köchin; es konnte nicht am Essen liegen – das in St. Cloud’s an einer sichtbaren, anscheinend unheilbaren Bleichsucht litt. Lag es am Sprechen des Dankgebets? In St. Cloud’s war das Dankgebet ein stumpfes Instrument – Dr. Larch war ja kein religiöser Mensch.

[29] »Laßt uns dankbar sein«, pflegte er zu sagen – und innezuhalten, als frage er sich eigentlich: Wofür? »Laßt uns dankbar sein für alles Gute, das wir empfangen haben«, sagte Larch mit einem vorsichtigen Blick in die Runde all der Unerwünschten und Verlassenen um ihn herum. »Laßt uns dankbar sein für Schwester Angela und für Schwester Edna«, fügte er mit mehr Festigkeit in der Stimme hinzu. »Laßt uns dankbar sein dafür, daß wir die freie Entscheidung haben, daß wir immer wieder eine zweite Chance bekommen«, fügte er einmal hinzu, Homer Wells ins Auge fassend.

Beim Erntedankfest in St. Cloud’s war das Dankgebet ein Akt der Unwägbarkeit, der begreiflichen Vorsicht, getragen von typisch Larchscher Zurückhaltung.

Das Dankgebet bei den Drapers war überschwenglich und wunderlich. Anscheinend hing es damit zusammen, wie der Professor die Bedeutung von »Buße« definierte. Professor Draper sagte, der Anfang echter Buße sei, daß man sich als lasterhaft erkenne. Beim Dankgebet rief der Professor aus: »Sprecht mir nach – ich bin lasterhaft, ich verabscheue mich, ich bin dankbar für jeden in meiner Familie!« So sprachen sie alle – sogar Homer, sogar Mom (die diesmal mit ihrer baren Münze zurückhielt).

St. Cloud’s war ein nüchterner Ort, aber seine Art, das bißchen Dank zu sagen, das er zu sagen hatte, klang freimütig und aufrichtig. Homer fiel der unterschwellige Widerspruch bei der Familie Draper zum erstenmal am Erntedankfest auf. Anders als in St. Cloud’s wurde das Leben in Waterville rundum positiv begrüßt – Babys zum Beispiel waren erwünscht. Woher also diese Bußfertigkeit? War es schuldhaft, glücklich zu sein? Und wenn Larch seinen Namen (wie Homer gehört hatte) von einem Baum hatte, so hatte Gott (von dem Homer in Waterville allzu viel zu hören bekam) seinen Namen von einem sehr viel härteren Stoff: vielleicht von Berggipfeln, vielleicht von Eis. So ernüchternd Gott in Waterville sonst wirkte, so sehr artete das [30] Erntedankfest der Drapers – zu Homers Erstaunen – zum trunkenen Besäufnis aus.

Der Professor hatte, mit Moms Worten, »einen sitzen«. Dies besagte, so folgerte Homer, daß der Professor mehr als sein normales, tägliches Quantum Alkohol konsumiert hatte – das ihn, wiederum mit Moms Worten, nur »beschwipst« machte. Erschüttert sah Homer, daß die beiden verheirateten Töchter und der verheiratete Sohn sich benahmen, als hätten auch sie einen sitzen. Und weil das Erntedankfest ein besonderer Anlaß war und er wie die Enkelkinder länger aufbleiben durfte, beobachtete Homer jenes allabendliche Ereignis, das er bislang nur beim Einschlafen gehört hatte: dieses Poltern und Zerren und Schlurfen und dann die gedämpfte Stimme der Vernunft, nämlich die des Professors, der nuschelnd gegen die Tatsache protestierte, daß Mom ihm mit Gewalt die Treppe hinaufhalf und ihn, mit erstaunlicher Körperkraft, aufs Bett hievte.

»Der Wert körperlicher Ertüchtigung!« schrie der erwachsene und verheiratete Sohn, bevor er von der grünen Chaiselongue kippte und auf dem Teppich – neben dem alten Rufus – zusammenbrach, als sei er vergiftet worden.

»Wie der Vater, so der Sohn«, sagte eine der verheirateten Töchter. Die andere verheiratete Tochter, stellte Homer fest, hatte nichts zu sagen. Sie schlummerte friedlich im Schaukelstuhl; ihre ganze Hand – bis übers zweite Fingerglied – badete in ihrem beinah vollen Glas, das sie auf ihrem Schoß balancierte.

Die ungebärdigen Enkel verstießen gegen sämtliche Hausfriedensparagraphen. Die leidenschaftlichen Appelle des Professors, Ruhe und Ordnung zu wahren, verhallten am Erntedankfest offenbar ungehört.

Der noch nicht einmal zehnjährige Homer Wells kroch still in sein Bett. Das Heraufbeschwören einer besonders traurigen Erinnerung an St. Cloud’s war ein Mittel, das ihm oft half, den Schlaf herbeizuzwingen. Er erinnerte sich an das eine Mal, als [31] er die Mütter aus dem Spital des Waisenhauses hatte kommen sehen, das im Gesichtsfeld der Mädchenabteilung lag und an die Knabenabteilung angrenzte – beide waren durch einen langen Schuppen verbunden, in dem früher die Reserveblätter der Kreissäge aufbewahrt wurden. Es war früher Morgen und noch dunkel draußen, und Homer war auf die Lichter der Kutsche angewiesen, um zu erkennen, daß es schneite. Er schlief schlecht und war oft wach bei der Ankunft der Kutsche, die vom Bahnhof kam und das Küchenpersonal und die Putzfrauen und die erste Schicht fürs Spital in St. Cloud’s ablieferte. Die Kutsche war bloß ein ausgemusterter Eisenbahnwaggon; im Winter wurde sie auf Gleitkufen gestellt und fungierte als umgebauter Pferdeschlitten. Wenn nicht genug Schnee auf der Schotterstraße lag, schlugen die Schlittenkufen Funken aus den Steinen am Boden und machten ein schreckliches knirschendes Geräusch (denn die Kufen wurden erst gegen Räder ausgetauscht, wenn man sicher wußte, daß der Winter vorbei war). Eine Laterne zischte hell wie ein Leuchtfeuer neben dem dick vermummten Fahrer auf dem behelfsmäßigen Kutschbock, während im Innern der Kutsche schwächere Lampen blinkten.

An diesem Morgen fielen Homer die Frauen auf, die im Schnee darauf warteten, von der Kutsche abgeholt zu werden. Homer kannte die Frauen nicht, die unruhig umhertrippelten, bis das Personal von St. Cloud’s vollzählig ausgestiegen war. Offenbar bestand eine gewisse Spannung zwischen diesen Gruppen – die Frauen, die darauf warteten, einsteigen zu können, wirkten scheu, sogar verschämt; die Männer und Frauen, die zur Arbeit kamen, wirkten vergleichsweise arrogant, sogar überheblich, und eine von ihnen (es war eine Frau) machte eine grobe Bemerkung zu einer der wartenden Frauen. Homer konnte die Bemerkung nicht hören, stellte aber fest, daß sie die wartenden Frauen wie ein kalter Windstoß von der Kutsche zurücktrieb. Die Frauen, die in die Kutsche einstiegen, blickten sich weder um, noch [32] blickten sie einander an. Sie sprachen nicht einmal miteinander, und der Fahrer, den Homer stets als freundlichen Mann gekannt hatte, der zu jedem etwas zu sagen wußte, bei jedem Wetter, hatte kein freundliches Wort für sie. Die Kutsche wendete einfach und glitt durch den Schnee zum Bahnhof; in den erleuchteten Fenstern sah Homer Wells, daß etliche der Frauen ihr Gesicht in den Händen bargen oder versteinert dasaßen, wie manche Trauernde bei einem Begräbnis – die völlige Teilnahmslosigkeit vortäuschen müssen, um nicht den letzten Rest an Selbstbeherrschung zu verlieren.

Er hatte die Mütter noch nie gesehen, die ihre ungewollten Babys in St. Cloud’s bekamen und dort zurückließen, und diesmal sah er sie auch nicht sehr deutlich. Zweifellos war es bedeutungsvoll, daß er sie zum erstenmal beim Abschiednehmen sah und nicht bei der Ankunft, mit vollem Bauch und ihrer Sorgen unentbunden. Noch bedeutsamer war, daß Homer spürte, daß sie nicht all ihrer Sorgen entbunden waren, wenn sie fortgingen. Noch nie hatte er trostlosere Menschen gesehen als diese Frauen; vermutlich war es kein Zufall, daß sie in der Dunkelheit fortgingen.

Als er sich in den Schlaf zu wiegen versuchte, in jener Erntedanknacht bei Drapers in Waterville, sah Homer Wells die Mütter im Schnee fortgehen, doch er sah sogar mehr, als er tatsächlich gesehen hatte. In den Nächten, wenn er nicht schlafen konnte, fuhr Homer mit den Frauen in der Kutsche zum Bahnhof. Er stieg mit ihnen in den Zug, fuhr mit ihnen nach Hause; er fand heraus, welche seine Mutter war, und folgte ihr. Es war schwer, zu erkennen, wie sie aussah und wo sie wohnte, woher sie gekommen war, ob sie dorthin zurückkehrte – und schwerer noch, sich vorzustellen, wer sein Vater sei und ob sie zu ihm zurückkehrte. Wie die meisten Waisen stellte Homer sich oft vor, seine Eltern zu sehen, aber immer blieb er von ihnen unerkannt. Als Kind war es ihm peinlich, wenn er dabei ertappt wurde, wie er Erwachsene anstarrte – manchmal liebevoll, manchmal mit einer [33] instinktiven Feindseligkeit, die er in seinem Gesicht auch nicht hätte lesen mögen.

»Laß das, Homer«, pflegte Dr. Larch bei solchen Gelegenheiten zu sagen. »Hör endlich auf damit.«

Selbst als Erwachsener ließ Homer sich immer noch beim Anstarren ertappen.

In der Erntedanknacht aber, in Waterville, starrte er so angestrengt in das Leben seiner wirklichen Eltern, daß er sie beinah gefunden hätte, bevor er erschöpft einschlief. Plötzlich wurde er jäh von einem der Enkel geweckt, einem älteren Jungen; Homer hatte vergessen, daß er sein Bett mit ihm teilen sollte, weil das Haus überfüllt war.

»Mach Platz«, sagte der Junge. Homer machte Platz. »Laß deinen Pimmel in deinem Pyjama«, sagte der Junge zu Homer, der nicht die Absicht hatte, ihn herauszuholen. »Weißt du, was Fummeln ist?« fragte der Junge dann.

»Nein«, sagte Homer.

»Doch, du weißt es, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Ihr tut ja nichts anderes, ihr in St. Cloud’s. Ihr befummelt euch. Die ganze Zeit. Versuche nur, mich zu befummeln, und ich sage dir, du wirst zurückgeschickt, ohne deinen Pimmel«, sagte der Junge. »Ich werd dir den Pimmel abschneiden und ihn dem Hund verfüttern.«

»Du meinst Rufus?« fragte Homer Wells.

»Ganz richtig, Pimmelsack«, sagte der Junge. »Willst du mir immer noch erzählen, daß du nicht weißt, was Fummeln ist?«

»Ich weiß nicht«, sagte Homer.

»Du willst, daß ich’s dir zeige, nicht wahr?« sagte der Junge.

»Ich glaube nicht«, sagte Homer.

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