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Ingrid Noll

Der Hahn ist tot

Roman

 
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1991

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Hans Baldung Grien, ›Eva, die Schlange

und der Tod‹, um 1525

(Ausschnitt)

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22575 4 (43. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60032 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

Altweibersommer

Septembergold
Und neuer Wein.
Ich hab’ gewollt
Es wär aus Stein,
Mein Herz aus Gold.

Oktoberrot
Und Hasenjagd.
Die Liebe tot.
Die Leiche fragt
Nach Lippenrot.

Novembergrau,
Die Toten ruhn.
Mein Haar wird grau.
Ich färb’ es nun:
Altweiberblau.

[7] 1

In der Schule hatte ich zwei altjüngferliche Lehrerinnen, die behaupteten, ihre Verlobten seien im Krieg gefallen. Wenn man wie ich nicht verheiratet, verwitwet, geschieden ist, keinen Lebensgefährten oder Freund hat – von Kindern ganz zu schweigen – und nicht mal mit kurzfristigen Männerbekanntschaften aufwarten kann, dann kriegt man heute wie damals einen abwertenden Spitznamen angehängt. Aber eine alte Jungfer wie meine Lehrerinnen bin ich nicht. Und es gibt auch Leute, die meinen Status positiv sehen: Verheiratete Kolleginnen betrachten meine Unabhängigkeit, meine Reisen, meine berufliche Karriere oft mit Neid und dichten mir so manches romantische Urlaubserlebnis an, wozu ich vielsagend lächle.

Ich verdiene gut, ich halte mich gut. Mit meinen zweiundfünfzig Jahren sehe ich besser aus als in meiner Jugend. Mein Gott, wenn ich die Fotos von damals sehe! Gute zwanzig Pfund zuviel, eine unvorteilhafte Brille, diese plumpen Schnürschuhe und der Bordürenrock. Ich war die Frau, mit der man angeblich Pferde stehlen kann und die schließlich selbst einem Pferd immer ähnlicher wurde. Warum hat mir damals keiner gesagt, daß es auch anders geht! Make-up habe ich verachtet, ohne dabei »natürlich« auszusehen. Ich war voller Komplexe. Heute bin ich schlank und gepflegt, meine Kleider, mein Parfüm und erst recht meine Schuhe sind teuer. Hat es was gebracht?

[8] Damals im Bordürenrock studierte ich Jura. Warum gerade das? Vielleicht weil ich keine ausgesprochene Begabung für Sprachen hatte und, ehrlich gesagt, auch sonst keine. Ich dachte etwas naiv, in diesem neutralen Fach wäre ich gut untergebracht. Viele Jahre war ich befreundet mit Hartmut. Wir lernten uns gleich im ersten Semester kennen. Eine zündende Leidenschaft war es nicht; wir paukten zusammen bis in die Nacht, und schließlich war es zu spät zum Heimgehen. So entwickelte sich ein festes Verhältnis, und eigentlich war mir klar, daß es auf eine Ehe mit zwei Kindern und einer gemeinsamen Anwaltspraxis hinauslief. Kurz vorm Examen, ich hatte damals nur Paragraphen im Kopf, teilte mir Hartmut schriftlich mit, daß er demnächst heiraten würde. Ich fiel aus allen Wolken und durch die Prüfung. Hartmut bestand und wurde bald darauf Vater. Ich sah ihn zuweilen mit Frau und Kinderwagen durch unseren Park spazieren.

Mir ging’s schlecht damals, ich nahm dramatisch zu und wieder ab und wollte um keinen Preis ein zweites Mal zum Examen antreten. Meine Mutter starb in jener Zeit, mein Vater war schon lange tot. Geschwister habe ich nicht; ich war sehr einsam.

In den Semesterferien hatte ich häufig bei einer Rechtsschutzversicherung gearbeitet. Man bot mir dort eine Stelle als Sachbearbeiterin an; es war nichts Aufregendes und wurde schlecht bezahlt. Trotzdem nahm ich an, denn schließlich mußte ich auf eigenen Füßen stehen, obgleich ich von meiner Mutter eine kleine Erbschaft hatte. So sah es mit mir aus vor siebenundzwanzig Jahren.

Ich blieb noch acht Jahre in Berlin. Bei meiner [9] Versicherung machte ich ein wenig Karriere; ich war bienenfleißig, ich hatte den Ehrgeiz einer Beinah-Akademikerin, und schließlich hatte ich kaum andere Ablenkungen. Der berufliche Erfolg tat wenigstens gut, ich mauserte mich auch äußerlich, wurde selbstbewußter, tat viel für die gute Figur, ging ständig zu Frisör und Kosmetikerin, kaufte mir eine teure und sehr englische Garderobe. In den letzten Berliner Jahren wurde einer der Chefs auf mich aufmerksam und förderte mich.

Nach fünfjähriger Pause hatte ich meine zweite Männergeschichte. Vielleicht war ich sogar etwas verliebt, aber im Vordergrund stand für mich die Anerkennung. Dieser Mann fand mich klug, schick, nett und sogar hübsch, und ich blühte richtig auf. Es war mir egal, daß er verheiratet war. Als nach zwei Jahren schließlich jeder bis zum jüngsten Büroboten von unserer Affäre wußte, erfuhr es als letzte auch seine Frau. Die Sache war an und für sich bereits am Abklingen, als der Terror losging. Nachts wurde ich vom Telefon hochgeschreckt, im Briefkasten lagen anonyme Drohbriefe, auf meinem Wagen klebten Kaugummis, und einmal hatte sie sogar eine Tube Alleskleber in die Autoschlüssellöcher gequetscht – es war mir klar, daß nur sie das gewesen sein konnte. Da er aber nachts nie bei mir blieb, verstand ich nicht, wieso sie zu Hause um vier Uhr morgens telefonieren konnte, ohne von ihm ertappt zu werden. Später bekam ich auch das zu hören: Er hatte bereits eine Neue, und dort übernachtete er sehr wohl. Wenn seine Frau wieder einmal allein im Bett lag, wollte sie ihn wenigstens durch Telefongeklingel stören. Natürlich dachte sie, er wäre bei mir.

[10] Ich habe mich in jenen Tagen gleichzeitig bei vielen Versicherungen in allen möglichen Städten beworben, aber es dauerte ein ganzes Jahr, bis es klappte. Mir war es einerlei, wohin ich kam, ich wollte nur weg und neu beginnen.

Als ich Mitte Dreißig war, zog ich nach Mannheim. Ich kannte weder die Stadt noch einen Menschen dort. Nach einem halben Jahr fiel mir allerdings ein, daß meine Schulfreundin Beate hier irgendwo in der Nähe, in einer Kleinstadt an der Bergstraße, leben müsse. Seit ich nach dem Abitur nach Berlin gezogen war, hatten wir uns aus den Augen verloren und in der ganzen Zeit nur einmal bei einem Klassentreffen gesehen.

In unserer Jugendzeit in Kassel wohnte Beate am Ende meiner Straße. Ob sie sonst meine Freundin geworden wäre, kann ich nicht sagen. Auf dem Schulweg kam ich zwangsweise an ihrem Haus vorbei. Dort blieb ich stehen und pfiff. Ich war immer sehr pünktlich, Beate dagegen gar nicht. Manchmal hatte ich fast das Gefühl, sie durch mein Pfeifen erst geweckt zu haben. Ich mußte immer lange warten, bis sie endlich an der Haustür erschien, oft kam ich durch ihre Schuld zu spät. Aber nie ging ich allein, zwanghaft habe ich vor ihrem Haus gestanden. Beate hatte eine beste und eine zweitbeste Freundin, dann kamen mehrere Nebenfreundinnen, und zu denen gehörte ich. Ich dagegen hatte wahrscheinlich nur zwei oder drei von dieser letzten Sorte und überhaupt keine Busenfreundin.

Beate hatte einen Architekten geheiratet, viel mehr wußte ich nicht über ihr Schicksal. Als ich sie anrief, lud sie mich sofort zu einer Party ein, die in wenigen Tagen [11] geplant war. Ich ging auch hin und sah das Familienglück: drei süße Kinder, ein gutaussehender charmanter Mann, ein wunderschönes Haus, eine strahlende Beate, die ein vorzügliches Essen für die vielen netten Leute gekocht hatte. Alles wie im Bilderbuch. Im Grunde war ich voller Animosität wegen so viel Sonnenschein. Ich fuhr in schlechter Laune und unversöhnlichem Neid nach Hause. Aber trotz allem habe ich Beate auch eingeladen, und wenn sie in Mannheim einkaufen ging, kam sie gelegentlich nach Ladenschluß auf einen Sprung vorbei. Oft war das nicht.

Dieses nicht sehr enge Verhältnis änderte sich schlagartig, als Beates heile Welt zehn Jahre später in die Brüche ging. Die süßen Kinder wurden schwierig und aufsässig, blieben sitzen, haschten, klauten, kamen nicht heim. Der charmante Mann hatte ein Verhältnis mit einer viel jüngeren Kollegin. Wie damals in meinem lang zurückliegenden Hartmut-Drama wurde diese Kollegin schließlich schwanger, er ließ sich scheiden und gründete eine neue Familie. Beate wurde depressiv und heulte mir wochenlang am Telefon und in natura die Ohren voll. Irgendwie fühlte sie sich von mir verstanden, und ich hatte auf einmal das gute Gefühl, helfen und trösten zu können. Seitdem erst wurden wir echte Freundinnen.

Übrigens war Beate nicht allzulange so ein Jammerlappen, das war nicht ihre Natur. Sie blieb auch nicht verbittert und menschenscheu, sondern kämpfte und arbeitete. Natürlich mußte sie aus dem Haus ausziehen, als die Kinder zum Studieren wegzogen. Es wurde verkauft. Beate bekam vom Exmann eine Dreizimmereigentumswohnung [12] und auch eine angemessene Versorgung. Sie wollte aber selbst Geld verdienen und fing mit vierundvierzig Jahren zum ersten Mal im Leben an, für ein Gehalt zu arbeiten. Natürlich war sie die Jahre zuvor auch nicht untätig gewesen, denn es hatte schon Fleiß und Organisationstalent gefordert, den großen Haushalt, die Geschäftsbuchführung und den überforderten Mann im Griff zu haben; im letzteren Fall war es ja auch nicht gelungen. Nun wurde Beate halbtags Sekretärin in der Volkshochschule, anfangs nur aushilfsweise. Nach zwei Jahren schmiß sie den Laden und ging ganz in ihrem neuen Beruf auf. Beate begeisterte sich für immer neue Kurse, an denen sie kostenlos teilnehmen konnte. Sie begann mit Töpfern und Seidenmalerei, fuhr fort mit Bauchtanz und transzendentaler Meditation, lernte Italienisch und diskutierte mit anderen Frauen über ihre Stellung in der Gesellschaft.

Außer von Beate bekam ich fast nie Besuch. Meine Wohnung war auch zu klein, um viele Leute aufzunehmen. Beate besuchte mich manchmal unangemeldet, und ich hatte auch nichts dagegen. Eine zweite Ausnahme war eine ältere Kollegin, Frau Römer. Sie stand kurz vor dem Rentenantritt und arbeitete schon seit einer Ewigkeit in unserem Betrieb. Frau Römer wußte alles, kannte jeden und genoß allerhand Privilegien: Sie hatte ein gemütliches Einzelzimmer, was eigentlich von ihrer Arbeit her nicht gerechtfertigt war, und durfte außerdem ihren alten Hund mitbringen. Als vor Jahren ihre Tochter heiratete und wegzog, kriegte Frau Römer zum ersten und einzigen Mal einen Rappel, weil der Hund, nach dem bisher die Tochter gesehen hatte, nicht den ganzen Tag allein bleiben konnte.

[13] Sie müsse den Hund also abschaffen, lamentierte sie, denn sie wohne zu weit, um mittags heimzugehen (ein Auto hatte sie nicht) und den Hund auszuführen. Schließlich war sie so fertig, daß abwechselnd alle Kolleginnen und Kollegen beim Chef vorstellig wurden und ihn mit Frau Römers Hund nervten. Probeweise durfte sie ihn mitnehmen; er war alt, dick und faul, lag unter ihrem Schreibtisch und muckste nicht. Der Chef hatte aber eindringlich an alle appelliert, daß dies ein Einzelfall bleiben müsse.

Frau Römer hatte noch eine Besonderheit: eine uneheliche Tochter. In ihrer Generation war ein Fehltritt mit Folgen katastrophal, und sie hatte mir erzählt, daß sie vom Vater damals regelrecht verstoßen worden war. Erst als er starb, hatte die Mutter gewagt, wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen. Über den Vater ihrer Tochter sprach Frau Römer nie; wenn man sie auf Betriebsfeiern, wenn sich die Stimmung gelockert hatte, danach fragte, meinte sie nur, das sei eine lange Geschichte, aber sie wolle sie nicht erzählen. Auch mir sagte sie nie etwas darüber, obgleich wir mit der Zeit ganz vertraut und beinahe befreundet waren. Eines Tages hatte sie nämlich wieder ein Problem mit dem Hund. Ich bot ihr spontan an, ihren Liebling gelegentlich bei mir zu lassen. Im Grunde mag ich keine Tiere, habe sogar etwas Angst vor Hunden – aber diesen alten Kerl kannte ich ja vom Büro her zur Genüge, und ich traute mir schon zu, ein Wochenende mit ihm zu verbringen. Frau Römer war überglücklich. Alle vier Wochen fuhr sie also ohne Hund davon, und ich hatte dann den dicken Spaniel unterm Bett. Mit der Zeit entwickelte sich sogar eine freundschaftliche Beziehung zwischen uns, und [14] ich ertappte mich, daß ich ekelhafterweise in Babysprache auf ihn einredete.

Irgendwie bewunderte ich Frau Römer, die damals ein uneheliches Kind bekommen hatte. Ich hatte in jungen Jahren, noch vor der Pillenära, zwar immer in Angst vor einer möglichen Schwangerschaft gelebt, aber heute, wo ich keine Kinder mehr kriegen kann, bedauere ich das. Ja, fast tut es mir leid, nicht wie so viele Frauen wenigstens eine Abtreibung oder Fehlgeburt durchgemacht zu haben, denn selbst so ein Negativerlebnis hätte mich doch einige Wochen Schwangerschaft erfahren lassen. In meinem Leben als Frau fehlt das ganz. Und meine Männergeschichten waren auch nicht gerade erfreulich. Die Hartmut-Story hatte eine eiternde Wunde hinterlassen. Die Sache mit dem Berliner Chef war ebenfalls nicht wohltuend gewesen, fast war es erniedrigend, daran zurückzudenken. Später habe ich nie mehr etwas mit Kollegen gehabt, weil ich diesem Klatsch und Tratsch nicht ausgesetzt sein wollte. Ich gelte in der Firma als sehr anständig, man hat Respekt vor mir, sogar Vertrauen. Im Urlaub habe ich in früheren Jahren öfters einen Mann kennengelernt, aber das letzte derartige Abenteuer liegt nun auch schon fünf Jahre zurück und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Nun war ich wahrscheinlich zu alt für die Liebe und mußte dieses Kapitel mit einem gewaltigen Defizit abschließen.

Frau Römer und Beate waren also meine einzigen Besucherinnen. Meine Wohnung ist eng, ordentlich und vielleicht ein bißchen unpersönlich. Ich bin kein kreativer Mensch. Aus Musik, Theater, Malerei und so weiter [15] mache ich mir leider gar nichts. Lesen tue ich natürlich schon, aber mir sind ein Sachbuch, eine Wirtschaftszeitung oder ein Kriminalroman lieber als die sogenannte Literatur. Beate wollte manchmal in mein Leben eingreifen, sie fand meine Kleidung, meine Möbel, meinen Geschmack insgesamt viel zu langweilig. Dabei spielen Geschmacksfragen in meinem Leben eine unendlich wichtige Rolle, nur bin ich unfähig, meine ausgefallenen Vorstellungen auf mich selbst anzuwenden.

Bei Beate sieht es natürlich ganz anders aus als bei mir, ziemlich chaotisch. Mir würden die vielen Trockensträuße auf den Geist gehen, die poppigen Plakate, der selbstgebastelte Kram. Ich finde meinerseits, daß sich Beate zu jugendlich anzieht. Ich halte es für würdiger, zu meinem Alter zu stehen. Aber wir sind trotzdem gute Freundinnen, ich im grauen Tweedrock mit elfenbeinfarbener Seidenbluse, Perlenkette und Twinset – Grace-Kelly-Look, sagt Beate –, sie mit ihren verrückten Reithosen und den bunten Westen. Meine Möbel: schwarz und weiß, japanisch streng und zeitlos, von bester Qualität; die ihren: immer wieder anders, mal Ikea – alles Naturholz –, dann selbstangestrichen in Gold und Violett. Beate will mich auch sonst zu ihrem way of life bekehren. Sie schleppt mich gern mit, lädt mich zu ihren Partys ein, will mich immer wieder zu ihren geliebten Volkshochschulkursen anwerben. Ich versprach ihr, hin und wieder zu einem Einzelvortrag mitzukommen.

Schließlich, nach längerer Pause, beschlossen wir, einen Vortrag über die Lyrik der Befreiungskriege zu besuchen. Es fing um zwanzig Uhr an, und ich war pünktlich um [16] halb acht bei Beate. Schon auf der Treppe hörte ich das verstimmte Klavier, das eines ihrer Kinder zurückgelassen hatte. Beate machte auf. »Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge«, erklang es durchdringend. Die jüngste Tochter hatte Semesterferien, eine für mein Gefühl reichlich infantile Zwanzigjährige. Beate machte ein seltsames Gesicht. »Du, ich werde Großmutter!«

Ich trat ein und sah die singende Lenore am Klavier. Ich schaute Beate fragend an. Sie nickte: »Ja, Lessi ist schwanger!«

Mir entfuhr es entsetzt: »Aber da kann man doch noch etwas machen!«

Lessi schnellte herum und sagte einstimmig mit ihrer Mutter: »Wie bitte?«

Die beiden dachten gar nicht an eine Unterbrechung, sondern schienen sich zu freuen. Dabei stimmte in Lessis Leben noch gar nichts: kein fester Freund, am Anfang der Ausbildung zur Sportlehrerin und grün bis hinter beide Ohren. Ich ärgerte mich über die Unvernunft, aber irgendwo war auch Neid auf diese beiden Unschuldslämmer.

»Sei mir nicht böse«, sagte Beate, »ich habe diese Neuigkeit erst vor zehn Minuten erfahren, ich kann jetzt nicht weggehen. Sei so lieb, geh allein und erzähl mir morgen, wie es war!«

Ich machte, daß ich fortkam, am liebsten wäre ich gleich wieder heimgefahren. Eigentlich wollte ich doch nur Beate zuliebe dieses Literaturgeschwätz anhören. Wenn ich damals sofort nach Hause gefahren wäre, hätte sich das Schicksal von einigen Menschen auf andere Weise erfüllt.

Aber ich ging doch hin, ziemlich zerstreut. Nun hatte ich [17] diesen Abend so geplant, jetzt war es auch egal. Der kleine Saal war ganz voll. Als der Redner eintrat, wurde sofort geklatscht. Er sah gut aus: grau-brauner Wuschelkopf, tiefblaue Augen. Lässig angezogen, aber durchaus überlegt. Mittelgroß, eher zierlich. Ein schöner Mann, ich vergaß Beate und Lessi. Als er dann anfing zu reden, vergaß ich überhaupt alles um mich und weiß auch nichts mehr von dem, was er über Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner und Friedrich Rückert sagte. Seine Stimme tönte in meinen Ohren, daß es mir schwindelig wurde, mein Herz klopfte, mein Magen flatterte. Es war nicht die berühmte Liebe auf den ersten Blick, sondern auf den ersten Ton. Seine warme Stimme war es, die auf mich einen derartigen erotischen Zauber ausübte, daß ich völlig ins Träumen geriet und nach anderthalb Stunden halb betäubt nach Hause fuhr.

So plötzlich hatte es mich erwischt, mich alte Schachtel, die fest geglaubt hatte, völlig immun gegen schöne Männer und aufregende Stimmen zu sein. »Wenn alte Scheunen brennen…«

Am nächsten Tag rief ich Beate gleich in der Mittagspause an. Doch sie wollte nur von ihrer schwangeren Tochter reden, und ich mußte mir das wohl oder übel eine Zeitlang anhören. Schließlich erkundigte sie sich doch nach dem gestrigen Vortrag, und ich konnte sie endlich fragen, was sie über den Redner wüßte.

»Ach, weißt du, die hiesigen Dozenten kenne ich alle mehr oder weniger gut. Aber der ist ja nicht von hier, er hält höchstens einmal pro Semester einen Vortrag bei uns. Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn.«

[18] Natürlich bin ich nicht der Mensch, der selbst der besten Freundin seine verwirrten Gefühle gleich unter die Nase reibt. Nichts wäre mir schlimmer, als mich lächerlich zu machen. Ich drückte mich recht vorsichtig aus, um mehr aus Beate herauszuquetschen.

»Ich kann ja mal rumfragen«, erbot sie sich schließlich, »sicher kennt ihn irgend jemand. Außerdem soll er mal ein Buch geschrieben haben.«

Am nächsten Tag war Samstag. Ich trat in eine Mannheimer Buchhandlung, vorsichtshalber nicht in die, in der ich sonst meine Bücher kaufe, und fragte nach dem Autor Rainer Engstern. Die Buchhändlerin blätterte in ihrem dicken Katalog. Schließlich sagte sie, ja, den Autor Rainer Witold Engstern gebe es, und er hätte eine kleine Abhandlung über Malerei im vierzehnten Jahrhundert geschrieben, ob ich das Büchlein bestellen wolle. Das tat ich natürlich und konnte es am nächsten Dienstag abholen.

Inzwischen kam ich mir vor, als wäre ich wieder jung, nein geradezu pubertär geworden. Nur damals war ich so oft ins Phantasieren geraten und hatte derart unrealistische Wünsche gehabt. Wurde ich jetzt kindisch?

Das ganze Wochenende verbrachte ich mit Trödeln, Lächeln, Summen und vor dem Spiegel. Ob ich mich wirklich zu alt zurechtmachte? Ich beschloß, mir etwas Hinreißendes zu kaufen, eventuell ein duftiges Sommerkleid mit weit schwingendem Rock. Ich hatte eigentlich immer nur gerade Röcke, strenge Kostüme und Hosenanzüge besessen, vielleicht sollte ich auf romantisch-verspielt setzen? Ob ich meine Frisur, die seit dreißig Jahren ein Garçonne-Schnitt war, abschaffen sollte? Aber wofür [19] eigentlich? Ich kannte diesen Mann ja noch gar nicht und er mich erst recht nicht. Sicher war er verheiratet, hatte Kinder und einen völlig anderen Bekanntenkreis als ich. Aber dieses Wahnsinnsgefühl, verliebt zu sein, hatte schon einen Wert an sich, denn ich hatte fest geglaubt, dazu nie mehr fähig zu sein.

Ich holte das bestellte Büchlein ab. Vielseitiger Mensch, dachte ich: Sein Vortrag hatte von romantischer Literatur gehandelt, in diesem Bändchen ging es dagegen um die reale Welt in der Malerei des vierzehnten Jahrhunderts. Vielseitig – oder neigte er zum Verzetteln? Hinten auf der Umschlagklappe war eine Kurzbiographie des Autors mit Foto. Toller Mann, dachte ich ohne Unterlaß. Er war drei Jahre jünger als ich, verheiratet, Lehrer, lebte in der Nähe von Heidelberg. Studiert hatte er Germanistik, Kunstgeschichte und Französisch.

Ich las die Broschüre zweimal. Der Verlag war mir unbekannt, die Auflage klein. Den Text fand ich gescheit, aber nicht wissenschaftlich, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Wie schon erwähnt, interessiere ich mich nicht für Kunst, aber diese abgebildeten Pantoffeln, Leuchter, Stoffe und Gebäude waren eigentlich für jeden attraktiv anzusehen und die Ausführungen über den kulturellen Hintergrund interessant zu lesen. Sicher ein exzellenter Lehrer!

Frau Römer riß mich aus meinen Träumen. Sie war zur Vorsorgeuntersuchung gegangen und mußte schon in der nächsten Woche ins Krankenhaus, Verdacht auf Brustkrebs. Sie war gefaßt und tapfer. Flehend sah sie mich an: Ich wußte schon, es ging um den Hund. Natürlich wäre [20] ich sehr egoistisch gewesen, wenn ich ihr nicht sofort angeboten hätte, den Vierbeiner während ihres Krankenhausaufenthaltes aufzunehmen. Ich log sogar und behauptete, mich auf ihn zu freuen, da er mir die einsamen Stunden vertreiben würde. Im nachhinein stelle ich fest, daß vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn ich damals nicht Frau Römers Spaniel gehütet hätte.

Wenn ich sonst vom Büro nach Hause komme, habe ich eigentlich keine Motivation, noch mal die Wohnung zu verlassen. Ich bade, ziehe mir einen Morgenrock an, wasche oder bügle vielleicht, mache mir ein Brot und lege mich vor den Fernseher. Nicht besonders aufregend, aber die meisten Menschen machen es wohl genauso. Der Hund war damit aber nicht zufrieden. Zwar wollte er auch heim, um zu fressen und zu saufen – schließlich hatte er ebenfalls den Tag im Büro verbracht –, aber dann meinte er wohl, ein Gewohnheitsrecht auf einen Spaziergang zu haben. Wenn er übers Wochenende bei mir war, ging ich regelmäßig mittags in den Park, am Abend hatte ich dazu wenig Lust. Nun kam mir ein abenteuerlicher Gedanke. Ich wälzte das Telefonbuch. Wo wohnte mein Rainer Witold Engstern? Oder sollte ich ihn nur Witold nennen? Ich blätterte anfangs vergeblich, doch schließlich wurde ich fündig. R. Engstern, Ladenburg – da hatten wir ihn ja. Mein Gott, das war jetzt ohne Berufsverkehr in einer Viertelstunde mit dem Auto zu erreichen. Ich fand sogar eine Ladenburger Straßenkarte und entdeckte schließlich auch seine Straße, etwas außerhalb der Altstadt. Der Hund sah mich fragend an. Ich fühlte mich jung und abenteuerlustig. Von meiner letzten Kur in Bad Saßbach besaß ich [21] einen Jogginganzug, den ich sonst nie anzog. Also her damit, Hund angeleint, Treppe wieder runter, rein ins Auto und losgefahren!

Mit Herzklopfen sah ich die Doppeltürme der St. Gallus-Kirche in Ladenburg auftauchen. Ich bog in der Weinheimer Straße ab und parkte schließlich in der Trajan-Straße, das war nicht in unmittelbarer Nähe seines Hauses, sondern mindestens drei Blocks weiter. Dann stieg ich aus, ließ den Spaniel am Straßenrand schnüffeln und machte einen unauffälligen Hundespaziergang. Die Gegend, in der Witold wohnte, war jedenfalls sehr schön: bäuerliche Häuser, mäßig und zum Glück nicht gar so geleckt renoviert wie in der Altstadt. In der bewußten Straße standen Neubauten, und fast an ihrem Ende die Nummer 29, mit wildem Wein bewachsen. Natürlich konnte ich nicht einfach stehenbleiben und dieses Haus inspizieren. Es war noch hell; ich ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hatte das Einfamilienhaus scharf im Blick. Kein Licht, es sah ein wenig verlassen aus, aber ein Auto stand vor der Tür. Mir klopfte mein verwegenes Herz immer weiter, als ob ich eine tollkühne Tat vollbringen würde. Ich ging das kurze Stück bis ans Ende der Straße und kehrte dann um. Auf der anderen Straßenseite – also seiner! – trat ich den Rückweg an und sah das Haus jetzt noch einmal aus einer neuen Perspektive. Fingerhut und Malven im Vorgarten, hinterm Haus ein leicht verwilderter Obstgarten. Das Nachbargrundstück war unbebaut. Ich ließ den Hund frei und erlaubte ihm, auf diesem Stück voller Brennesseln und Goldraute ein bißchen herumzustöbern. So konnte ich kurz stehenbleiben.

[22] Der Hund wollte aber gar nicht mehr lange trödeln, also zogen wir gemeinsam Leine.

Ich war immer noch ziemlich aufgeregt. Die übernächste Straße mußten wir überqueren. Weil es eine stille, feierabendfriedliche Gegend war, paßte ich nicht sonderlich auf. Eine Fahrradklingel schreckte mich aus meinen Träumen.

Mir stockte der Atem. Witold! Ich wäre fast in sein Fahrrad gelaufen. Er bremste, sah mich an und lächelte. Ich lächelte zurück, völlig verwirrt und wieder mit diesem Dröhnen in den Ohren. Er hatte wohl so etwas gesagt wie »Aufpassen!«, dann war er schon wieder weg. Er hatte mich angesehen! Angelächelt! Ich war selig wie ein Kleinkind. Singend fuhr ich heim, umarmte den Hund, küßte ihn, legte mich ins Bett und tat kein Auge zu. Die ganze Nacht über sah mich Witold an, auf dem Fahrrad sitzend, lässig in Jeans und rotem Pullover, lächelnd.

Am nächsten Abend machte ich wieder die gleiche Tour zur gleichen Zeit, doch in vorteilhafteren Kleidern. Im Haus waren diesmal die Fenster im oberen Stock geöffnet, ich hörte schwach ein Radio. Nun, ich hatte Geduld; täglich konnte ich aufs neue versuchen, einen Blick und ein Lächeln zu erwischen. Vielleicht lief der Hund in seinen Garten, und ich mußte ihn einfangen, Witold stände mit einer Gartenschere vor einem duftenden Rosenstrauch, würde mir in die Augen blicken, lächeln, vielleicht ein wenig mit mir plaudern. Immer neue glückliche Möglichkeiten fielen mir ein.

Wieder ein Tag später. Ich hatte Frau Römer versprochen, sie heute im Krankenhaus zu besuchen. Inzwischen [23] wußte ich, daß man ihr die rechte Brust abgenommen hatte, was mich tief bestürzte. Pünktlich hörte ich im Büro auf. In diesen Tagen saß ich in Frau Römers Zimmer, weil der Hund an den dortigen Platz unterm Schreibtisch gewöhnt war, geduldet vom Chef. Als er vor Jahren hier eingezogen war und sich immer mäuschenstill verhalten hatte, kam der Chef eines Tages herein, um sich leutselig nach dem Tier zu erkundigen. Damals hieß der Hund noch Micki oder ähnlich ordinär. Als er den Chef vor dem Schreibtisch stehen sah, fing er mit samtener Stimme an zu heulen.

»Nanu«, wunderte sich der Chef, »du hast ja einen sehr gepflegten Bariton. Bist du ein tierischer Fischer-Dieskau?« Von da an hieß Micki nur noch der Dieskau.

Ich fuhr mit dem Dieskau direkt vom Büro ins Krankenhaus, kaufte unterwegs Blumen, ließ den Hund im Wagen und stieg die blanken Krankenhaustreppen hoch zu Frau Römer. Da lag sie, ein Drainageschlauch ragte aus ihrem Nachthemd heraus, aber sonst sah sie ziemlich aus wie immer. Sie fand alles nicht so schlimm.

»Wissen Sie, ich bin schon über sechzig, da definiert man sich nicht mehr so stark vom Körperlichen her. Wenn mit dieser Operation der Krebs wirklich weg ist, werde ich nie mehr ein Wort darüber verlieren.«

Sie fragte vor allem nach ihrem Dieskau und freute sich, daß ich ihr von tollen abendlichen Exkursionen erzählte, natürlich ohne zu sagen, wohin wir gingen.

An diesem Tag wurde alles später. Ich war erst nach sieben zu Hause, wollte noch baden und essen und stand schließlich lange vor dem Kleiderschrank. Was sollte ich [24] diesmal anziehen? Auf keinen Fall den Jogginganzug, der war mausgrau und langweilig. Ein Kostüm? Auch nicht, dann sah ich schon wieder wie eine korrekte Bürofrau aus. Schließlich zog ich eine weiße Hose an, einen dunkelblauen Pullover und flache Schuhe. Es war schon leicht dämmrig, und diesmal traf ich Witold in der Parallelstraße, jedoch nicht auf dem Rad. Er hastete an mir vorbei, sah mich nicht an, machte ein abwesendes Gesicht; offensichtlich wollte er noch mal ins Städtchen gehen. Das Auto stand vor seinem Haus, die Fenster waren geschlossen, nirgends Licht. Ich ging mit dem Dieskau wieder zu meinem Wagen. Als wir beide drin saßen, stieg ich kurz entschlossen von neuem aus und ließ den Hund allein zurück. Er hatte nie etwas dagegen, akzeptierte das Auto als Zweitbett.

Ich ging zu Fuß in die Altstadt. Die Straßen waren naß, es mußte vor kurzem geregnet haben. Gut, daß ich bequeme Schuhe trug, das Kopfsteinpflaster war nichts für Stöckelschuhe. Witold mußte hier irgendwo sein, vielleicht in einer Kneipe. Sonst ging ich nie abends allein in Kneipen, ganz selten nur mit Bekannten. Ich war sehr unsicher. Die erste Wirtschaft war gut zu beobachten, man konnte von draußen durch die niedrigen, offenstehenden Fenster schauen, aber ich entdeckte ihn nicht.

In eine zweite trat ich ein und sah mich suchend um. »Na, Mutter, kommst du deinen Ollen holen?« fragte mich ein angetrunkener Mensch. Ich ging sofort wieder und hatte keinen Mut mehr, die nächsten Lokale zu betreten. Endlich suchte ich mir eine Edelkneipe, setzte mich in eine Ecke und bestellte eine Weinschorle. Natürlich war er [25] auch nicht hier. Ich bezahlte und bummelte über den Marktplatz, besah mir den Brunnen mit einer Marienstatue auf hoher Säule. Überall Stadtmauerreste; vor einer Schule – war es seine? – las ich: Um 90 nach Chr. errichteten römische Soldaten unweit der keltischen Siedlung Lopodunum ein Steinkastell.

Vielleicht war Witold im Kino? Ich sah mir das Kinoprogramm an und überlegte, ob ich noch in eine Spätvorstellung gehen sollte. Dann betrachtete ich wieder Schaufenster, trödelte herum. In einem alten Fachwerkhaus wurde eine Hochzeit gefeiert, über dem Torbogen hing eine Wäscheleine voller Babykram.

Als es dunkel war, ging ich noch einmal zu Witolds Haus. Im Erdgeschoß brannte jetzt Licht. Niemand war auf der Straße zu sehen, das ganze Viertel schien ziemlich ausgestorben, schließlich war Sommer und Urlaubszeit. Ich schlich über das Nachbargrundstück mit Kirsch- und Nußbäumen, bis ich Witolds Garten erreichte. Es war nicht schwer, den defekten Drahtzaun hochzuheben und ohne turnerische Anstrengung darunter durchzuschlüpfen. Allerdings war die weiße Hose nicht gut gewählt: Erstens wurde sie schmutzig, zweitens leuchtete sie vielleicht im Dunkeln.

Die Blätter der Walnußbäume hoben sich schwarz gegen den dunklen Himmel ab. Hinter einem dicken Apfelbaum glaubte ich mich ganz gut getarnt. Mein Puls ratterte. Ich kam mir wie eine Einbrecherin vor, wie eine andere Person, die nichts mehr mit der korrekten Sachbearbeiterin zu tun hatte.

Das Haus öffnete sich mit der Breitseite nach hinten [26] zum Garten hin. Die Vorderseite war dagegen ziemlich verschlossen, wahrscheinlich lagen Flur, Klo und Küche nach vorn. Man sah durch eine große Glasschiebetür in ein erleuchtetes Wohnzimmer. Ein Schreibtisch war direkt an die Glasfront gerückt, eine Gestalt saß daran, wahrscheinlich Witold. Ich tastete mich sehr vorsichtig, sehr langsam, näher heran. Nasse Zweige wischten mir übers Gesicht, ein zertretenes Schneckenhaus knirschte unter meinen Füßen. Zum Glück standen die Obstbäume dicht und buschig um mich herum, der Lichtschein erreichte mich nicht. Nun konnte ich das Objekt meiner Sehnsucht gut erkennen. Es arbeitete am Schreibtisch. Schulhefte? Nein, es waren ja Ferien. Vielleicht ein neues Buch, ein Vortrag für die Volkshochschule, ein Brief. Er hielt immer mal wieder inne und blickte nachdenklich in den dunklen Garten hinaus – wie mir schien, geradezu in mein Gesicht. Aber sehen konnte er mich bestimmt nicht.

Ich konnte mich von diesem Bild nicht lösen. Ich bin ein weiblicher Spanner! schoß es mir durch den Kopf. Witold hatte Cordhosen an, heruntergetretene schwarze Hongkong-Stoffschlappen, eine grüne Strickjacke mit fehlendem Knopf und durchlöcherten Ellbogen. Bei mir kann ich solche Schlampereien nicht ausstehen. Fehlende Knöpfe werden sofort angenäht, zerrissene Pullover kommen in den Rotkreuzsack. Seine Frau war wohl nicht so penibel. Im übrigen, wo war sie überhaupt? Im Wohnzimmer war es reichlich unordentlich, eine heruntergerutschte Wolldecke neben dem Sofa, eine vertrocknete Azalee auf der Fensterbank, volle Aschenbecher, Zeitungshaufen. Entweder war die Hausfrau eine Schlampe oder verreist [27] oder krank, oder sie war beruflich total überfordert. Ich hoffte, sie wäre überhaupt nicht vorhanden.

Witold schrieb und schrieb. Dazwischen nahm er die Halbbrille ab, rauchte zuweilen eine Zigarette, ging auch manchmal auf und ab. Einmal klingelte das Telefon. Er sprach mit aufgeregtem, ja bösem Gesicht, knallte plötzlich den Hörer auf die Gabel und steckte sich sofort eine neue Zigarette an. Danach nahm er die Schreibarbeit nicht mehr auf, sondern tigerte im Zimmer herum wie im Zwinger. Dann rief er seinerseits jemanden an, sprach lange, schwieg, redete wieder lange und hörte sehr abrupt auf. Als er das Zimmer verließ, kroch ich aus dem Labyrinth der Bäume heraus und fiel dabei fast über einen abgebrochenen Ast. Es gewitterte. Ich machte mich endlich auf den Heimweg; es war spät, und ich war ganz durcheinander.

Ich nahm in diesen Tagen ab, obgleich ich das schon lange nicht mehr nötig hatte, ich schlief schlecht, hatte bläuliche Ringe und, wie ich fand, viel mehr Falten unter den Augen, mich quälten Wallungen, von denen ich bisher verschont geblieben war. Im Büro saß ich unkonzentriert vor meiner Arbeit, machte keine Überstunden mehr und hatte Mühe mit Formulierungen. Dem Chef entging das nicht. Freundlich stellte er fest, die Krankheit von Frau Römer gehe mir wohl sehr nahe.

»Sie sind ein vorzüglicher Psychologe«, sagte ich so herzlich, wie ich konnte, und er lächelte geschmeichelt.

Am Wochenende ging ich mit Beate einkaufen. Sie sollte mich beraten. Das wurde allerdings schwierig. Am Ende hatte sie zwei schillernde Blusen bei C & A gekauft, ein [28] Babyjäckchen fürs drohende Enkelkind, einen Hosenrock im Ausverkauf und merkwürdige Schnabelschuhe. Ich hatte ein veilchenblaugeblümtes teures Sommerkleid erstanden und gleich anbehalten, das einzige Stück, auf das wir uns hatten einigen können.

Auf der Straße trafen wir zwei Männer, Beate kannte ja Gott und die Welt. Anscheinend hatte ihr Mann früher einmal ein Haus für sie gebaut. Der eine war Graphiker, der andere Einkäufer für ein Kaufhaus. Wir gingen einen Espresso trinken, und Beate flirtete ungeniert mit den beiden. Überhaupt hatte ich den Eindruck, daß sie seit ihrer Scheidung nicht gerade wie eine Nonne lebte, aber sie erzählte mir nichts darüber, wahrscheinlich aus Taktgefühl. In meinem schönen Kleid, mit von Kaffee geröteten Wangen und dem neuen, überdrehten Gefühl im Bauch entdeckte ich auf einmal, daß ich durch bedeutungsvolles Lächeln, gurrendes Lachen und intensives Wimperngeklappere auch beachtet wurde. Mein Gott, warum hatte ich das nicht dreißig Jahre früher kapiert.

Als die Männer weg waren, sagte Beate: »Das ist ein wahnsinnig nettes Paar, sie leben seit zehn Jahren zusammen. Mit denen läßt sich wunderbar quatschen. Übrigens habe ich neulich was über diesen Rainer Engstern gehört.«

Am liebsten hätte ich gebrüllt: »Warum sagst du mir das nicht gleich!« Und dann der Schreck: War er etwa schwul, weil Beate ihn in diesem Zusammenhang erwähnte? Ich hätte diese flirtfreudigen Männer niemals richtig einordnen können, darin hatte ich keine Erfahrung.

[29] »Also, paß auf«, begann Beate, »die Lessi hat eine Freundin, die Eva, die ist mit einem Sohn vom Engstern befreundet.«

»Und wie ist er?« fragte ich sofort.

»Weiß nicht, wahrscheinlich ein netter Junge, macht gerade Zivildienst.«

»Also, ich meinte doch den Vater!«

»Ja, der ist Lehrer in Ladenburg (das habe ich auch schon rausgekriegt, dachte ich), die Schüler nennen ihn ENGSTIRN, aber er ist ganz beliebt, meint Lessi. Sie war nämlich mal dort.«

»Und die Mutter?« fragte ich.

»Ach ja«, bedeutete mir Beate, »irgend etwas stimmt da nicht, sie ist angeblich schon lange verreist.«

Mehr wagte ich nicht zu fragen, aber innerlich tat ich einen Freudensprung. Da stimmt was nicht! Ganz ausgezeichnet, dann war mein Witold vielleicht zu haben.

Zu Hause war ich wieder von Zweifeln geplagt. Und wenn er nun wirklich zu haben war, ob er dann ausgerechnet mich haben wollte, vorausgesetzt natürlich, wir würden uns überhaupt kennenlernen. Ich stand jetzt so oft vor dem Spiegel wie in den ganzen letzten zwanzig Jahren nicht. Ich besah mich kritisch. Ob ich mich im Gesicht liften lassen sollte, obgleich ich so etwas immer verachtet hatte? Er war neunundvierzig und sah unerhört gut aus – Männer in diesem Alter, so hört man immer wieder, bevorzugen nicht gerade Frauen in meinem Alter.

Abends hatte ich jetzt ein festes Programm: In der Dämmerung versuchte ich mit dem Dieskau meinem Traummann zu begegnen. In der Dunkelheit kroch ich [30] ohne Hund in seinem Garten herum – übrigens nur noch in dunklen Hosen; wie ein Einbrecher hatte ich eine Art Berufskleidung angezogen. Darüber hinaus wählte ich manchmal seine Telefonnummer, allerdings aus Ängstlichkeit nie von meinem Apparat aus (ich hatte zu oft von Fangschaltungen gelesen), sondern aus einer Zelle. Ich hörte ihn dann seinen Namen sagen, manchmal mit heiterer Stimme, manchmal müde. Ich legte immer sofort auf und wußte, er ist zu Hause, sitzt vielleicht am Schreibtisch. Einmal prallte ich wieder, allerdings in voller Absicht, fast mit seinem Fahrrad zusammen. Er lächelte wieder, wie beim ersten Mal, und sagte mit seiner atemberaubenden Stimme: »Guten Abend, immer ganz in Gedanken, nicht wahr?«

Ich lächelte zurück, konnte aber leider nichts Kluges oder Schlagfertiges entgegnen.