cover

Urs Widmer

Der blaue
Siphon

Erzählung

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1992

im Diogenes Verlag

Umschlagbild von

Anna Keel

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22675 1 (16. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60053 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Vor wenigen Tagen, vor kaum mehr als einer Woche, hatte ich einen Traum, ein Menschengewimmel, Schreie, und dann stand ich in einem diffusen Nichts, im All vielleicht, und vor mir schwebte, erhöht wie auf einem unsichtbaren Altar, eine Siphonflasche aus blauem Glas, leuchtend in einem sonst unsichtbaren Licht, das das Glas funkeln ließ. Regenbogenfarbblitze in dem tiefen Blau. Ich starrte das Wunder an, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, dachte ich eine Weile lang verwirrt an die Botschaft und vergaß sie dann. Gab mich wieder dem Alltag hin. Ölfelder brannten. Bomben fielen auf Städte. Raketen flogen auf der Höhe der Verkehrsampeln Avenuen entlang und detonierten an ihrem Ende. So hatten die Menschen auch früher in den Himmel gestarrt, in Dresden, in Coventry, und die Flugzeuge gesehen, und dann die schwarzen Punkte, die ihnen entgegenfielen, und die Frauen hielten ihren Kindern die Ohren zu, bevor sie zerrissen wurden. So waren andere, rennend, langsamer als die Luftgifte gewesen, [6] krümmten sich in den Straßen. So rannten die in Pompeji, zu spät, dem Hafen zu: Der Glutregen war schneller. So fuhren die Napalmstürme durch die Hüttendörfer. So erschlugen die Horden der Hunnen Bauern, deren Beine unter Heuhaufen zappelten. So verreckten die Russen im brennenden Moskau und die Franzosen ohne Schuhe im Schnee, die Beresina noch weit. So kratzte Napoleon ab, ungeliebt. So töteten ohne eine Regung Vietnamesen Millionen Kambodschaner oder Kambodschaner Millionen Vietnamesen, wer weiß das heute noch. Die Juden. Die Sieger halten ihre Siege aus, lebend, und die Toten sind tot. Wer kennt ein Opfer? Ölfelder brannten jedenfalls, und der Alltag bestand darin, dass ich meine Tochter nach den Hausaufgaben fragte und nicht vergaß, das Mineralwasser zu bestellen. Auch hörte ich jede Stunde die Nachrichten.

Am Abend jenes Tags, eines Freitags, ging ich ins Kino, in ein Kino der Innenstadt, in dem ein Film lief, von dem ich nur den Titel wusste und dass er im Tagblatt oder in der Abendschau gelobt worden war. Vermutlich hatte ich da etwas verwechselt, denn der Film war merkwürdig, mehr als seltsam, nicht mein Geschmack. Auch saß ich ganz allein im Kino. Vielleicht war doch ein Montag. Ich saß vorn wie immer, in der allerersten [7] Reihe, weil ich es mag, im Film zu ertrinken. Heute gibt es jene ganz breiten Filme ja schon wieder nicht mehr, jene Cinemascope-Welten, in die ich so sehr eintauchen konnte, dass ich nie alles sah, immer nur Teile, wie im wirklichen Leben. Zum Beispiel merkte ich erst, als ich viel später einmal Doktor Schiwago im Fernsehen sah, auf dieser beweglichen Briefmarke, dass ich von den Ereignissen immer nur einen Teil wahrgenommen hatte, den rechten oder linken, je nachdem. Zum Beispiel war mir entgangen, dass Julie Christie einmal völlig nackt unter der Tür stand. Ich konnte mich nur an den leeren Blick des Doktors erinnern. Jetzt saß ich also wieder da. Dass ich allein im Kino war, merkte ich allerdings erst beim Hinausgehen, und es kann sein, dass zu Beginn ganz viele da gewesen und vom Film vertrieben worden waren. Ich war geblieben, ich weiß nicht, warum, wahrscheinlich, weil ich aus einer Stadt stamme, in der man das, was man bezahlt hat, zu Ende genießt.

Der Film war schwarz und weiß, ohne jedes Blau, und es fällt mir schwer zu sagen, was genau eigentlich in ihm vorging. Alt war er jedenfalls, stumm vielleicht, aus den zwanziger oder dreißiger Jahren, und spielte in Indien oder Pakistan oder Bangladesch. Wer kann jene fernen Länder unterscheiden. Kalkutta oder Hekuba, die Männer [8] trugen Turbane und hatten nackte Oberkörper, und die Frauen waren in Saris gehüllt. Hatten Punkte auf der Stirn. Es ging um einen Wahrsager, der hoch oben auf dem Dach eines Hauses wohnte, inmitten von Hühnern und Ziegen, die auf dem Betondach weideten. Er war uralt, eine Frau vielleicht, denn er trug keinen Bart und Tücher, die den Bart allerdings auch verdecken konnten. Kinder, vielleicht seine Enkelkinder, schleppten Passanten aus den Straßen zu ihm hinauf, nicht mit Gewalt, sondern Versprechungen flüsternd und mit tiefen Blicken lockend, so dass immer erneut unglücklich verliebte Frauen und vor dem Konkurs stehende Handelsherren die Treppen hochstiegen, unendlich verwinkelte Stiegensysteme, in denen keine und keiner ohne die Hilfe der Kinder wieder nach unten finden konnte. Wer nicht bezahlte, wurde nicht ins Freie geleitet, ging Stunden, Tage durch die verwinkelte Hölle, durch Küchen und Schneiderateliers und Schlafsäle voller Matratzen, ohne je die ebene Erde zu erreichen. Hie und da kreuzte eines der Kinder seinen Weg und schaute fragend, und endlich gab auch der Hartnäckigste auf und schüttete alle seine Rupien in die hingestreckte Hand. Der Wahrsager, die Wahrsagerin war teuer. Oft saßen Dutzende von Hilfesuchenden zwischen den Ziegen und den Hühnern, [9] wartend, in den Verschlag eingelassen zu werden. Reiche, Maharadschas vielleicht, schienen ebenso geduldig zu sitzen wie greise Bettler, denen niemand mehr eine Zukunft gegeben hätte. Gleich zu Beginn wurde ein junger Mann in einem Tropenanzug – sogar der Helm fehlte nicht – von einem barfüßigen Jungen in den Hausgang verlockt. Er zögerte, wollte nochmals zurück, zurück zu seiner Frau, die, ein Backfisch mit einem rosa Sonnenschirm, mit flehend ausgestreckter Hand im Straßengewimmel stand, aber es war schon zu spät, schon stieg er die Treppen hoch, entschlossen nun, das Abenteuer zu seinem Ende zu führen – »Warte auf mich!«, rief er ins Sonnenlicht zurück, »Wait for me!« –, und als er oben ankam, war er der einzige Kunde, und der junge Führer überließ ihn einer Frau, auch sie fast noch ein Kind, die durch die Tücher des Verschlags lugte und ihm winkte. Sein flaumloses Gesicht war schweißnass. Im Verschlag drin eine furchtbare Hitze. Der Wahrsager im Dämmerlicht kaum zu sehen, die Wahrsagerin. Er oder sie schaute zuerst lange und sagte dann die Wahrheit. Aber der junge Europäer, ein Brite wohl, hatte Augen nur für die Frau, die mit gesenktem Blick neben dem Alten kauerte, neben ihrem Vater oder ihrer Großmutter vielleicht eher, und so verstand er die Botschaft nicht. Stand auf und bezahlte [10] und lachte, obwohl für ein Lachen kein Grund war. Die Frau, die die Wahrheit sehr wohl verstanden hatte, führte ihn die Treppen hinunter und blieb auf einer der Treppenstufen stehen und drehte sich um und wühlte ihre Lippen in die seinen, und so fand die Gattin die beiden. Sie hatte sich auf eigene Faust in das Labyrinth gewagt, schrie und zeterte und fiel in Ohnmacht und erwachte wieder unter den zärtlichen Backenstreichen des Gatten, und endlich waren beide fähig, sich von der Frau auf die Straße zurückführen zu lassen. Ein letzter Kuss, einen auch für die Gattin, die dennoch wie eine Furie schaute, eine Todwunde. Dann gingen beide davon, ihrem Schicksal entgegen, das am Ende der Straße auf sie wartete und die Frau tötete – ein Fanatiker, der alles Britische hasste, erschoss sie –, während der Mann dann bis zu seinem Lebensende die Stadt nicht mehr verlassen konnte und nach der Frau im Treppenlabyrinth suchte, ohne sie jemals wiederzufinden.

Ich taumelte aus dem Kino ins Freie. Es war dunkel geworden. Viel wärmer als vor zwei Stunden noch. Wind rauschte in den Bäumen. Ich ging die Rämistraße hinauf, in meine Gedanken versunken, die vom Film nicht loskamen. Ich wusste weder den Namen des Regisseurs noch den der Schauspielerin. Der Abspann hatte fremde Zeichen [11] gezeigt. Ich ging quer über den Heimplatz, auf dem zu dieser Zeit weder Trambahnen noch Autos fuhren. Die Straßenbeleuchtung war defekt, jedenfalls brannten die Laternen nicht. In der Hottingerstraße tauchte dann doch ein Auto auf, ein lärmiger Oldtimer mit blauleuchtenden Scheinwerfern, das erste Geräusch in dieser stillen Nacht. Der Fahrer unsichtbar. Ich erschrak, obwohl ich noch nicht wusste, worüber, und begann schneller zu gehen. Hetzte über den Platz voller Bäume und Büsche, in dessen Nähe ich wohnte, wohne, und stand auch gleich vor meinem Haus, das keine Klingel mehr hatte und eine neue Tür, hämmerte dagegen und rief: »Isabelle! Was soll das?«, und endlich wurde auch ein Kopf im ersten Stock sichtbar, aber nicht der Isabelles, sondern eines Mannes, der rief, gleich hole er die Polizei. Ich sagte, ich wohnte hier, was er denn hier tue, wer er denn sei, und als er das Fenster zuschlug und sich nicht mehr rührte, als auch Isabelle schwieg, ging ich zur Polizei.

Über eine Schreibmaschine gebeugt saß ein Beamter, der offenbar geschlafen hatte und mich blinzelnd ansah. Er trug eine Uniform wie ein Husar, wie am Sechseläuten, band einen Gurt mit einer riesigen Pistole um und kam zu der Schranke hinübergeschlurft, vor der ich stand. Sah mich aus [12] trüben Augen an, und ich war plötzlich nicht mehr imstande, ihm zu gestehen, dass Isabelle unter einem fremden Mann lag, in einem Haus ohne Klingel und mit einer falschen Tür, und brummte irgendetwas Wirres über die ausgefallene Straßenbeleuchtung, und der Beamte sagte, von einem Ausfall sei ihm nichts bekannt. Ausweis. Ich hatte keinen und tat, als hätte ich ihn nicht gehört, und ging; rannte, als er »Stehen bleiben!« rief und gleich darauf sogar, als ich hinter einem Busch kauerte und er die Außentreppe herabgerannt kam: »Oder ich schieße!« Ich hielt den Atem an, während er direkt vor mir stand und ratlos die leere Hottingerstraße auf und nieder schaute. Endlich verschwand er wieder im Posten. Irgendetwas war seltsam gewesen, mit der Einrichtung, jene Schranke war neu, und auch das Telefon, ein historisches Ungetüm aus schwarzem Bakelit, war bei meinem letzten Besuch nicht dort gewesen. Immerhin hatte ich den Posten kaum zwei Wochen zuvor besucht gehabt, wegen einer Parkbuße, die ich unter dem Scheibenwischer meines in der blauen Zone stehenden Autos gefunden hatte, obwohl ich die Parkberechtigung für Anwohner hinters Steuer geklemmt hatte. Auch das Schild außen, »Polizei«, war neu, in Buchstaben, die an Filme aus der Nazizeit erinnerten.

[13] Ich strich dann doch noch einige Stunden ums Haus herum, das totenstill und schwarz dastand. Wer war der Mann? Einer aus jener Arbeitsgruppe, zu der Isabelle zuweilen aufbrach, um über die Befindlichkeit des Menschen im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert zu reden? Endlich ließ ich von meiner Heimstatt ab und wanderte ziellos durch die Stadt, im Licht eines frühen Morgens, mit nassen Augen, Alleebäume mit Fußtritten traktierend, schimpfend, bis ich am Bahnhof war und in einen Zug stolperte, auf dem der Name meiner Heimat stand, Basel, und auf einer Holzbank einschlief. Ich wachte auf, weil mich ein Kondukteur schüttelte und mich, als ich – so cool, wie es eben ging nach all meinen Erlebnissen – »Basel einfach mit Halbtax« sagte, am Kragen packte und schimpfend aus dem Zug stieß. Zum Glück hielt der gerade, auf dem Bahnhof von Muttenz, an einem Bahnsteig, auf dem nur ein Gepäckwagen stand, und weit vorn ein Soldat mit einem riesigen Tornister aus Fell. Ich war zu benommen, irgendetwas zu fühlen – der Zug fuhr fauchend und quietschend los –, und so ging ich aus dem Bahnhof hinaus, den Rest der Reise zu Fuß zu tun. Basel ist nicht weit von Muttenz entfernt, und Robert Walser ging seinerzeit zu Fuß von Zürich nach Würzburg, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Die Sonne schien. Ich [14] weinte nicht mehr. Ich wollte meiner Lage glasklar ins Auge sehen, irgendwie so was wie zehn Jahre lang nicht mehr zu Isabelle zurückkehren oder den Liebhaber töten oder sie verprügeln, wie noch nie ein Mann eine Frau verprügelt hat, bis sie, von blauen Flecken und roten Striemen übersät, mir tränenüberströmt den Namen des Mannes gestände.