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Barbara Vine

Astas
Tagebuch

Roman

Aus dem Englischen von
Renate Orth-Guttmann

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1993 bei Viking, London,

erschienenen Originalausgabe: ›Asta’s Book‹

Copyright © 1993 Kingsmarkham Enterprises Ltd.

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1994 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von René Gruau

Copyright © Société René Gruau

 

 

Meinen Großeltern,

Anna Larsson und Mads Kruse,

zum Gedächtnis

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2020

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24536 3

ISBN E-Book 978 3 257 60118 3

[5] Vorbemerkung

Meine Großmutter war Romanschriftstellerin, ohne es zu wissen. Sie hatte keine Ahnung, wie man Schriftstellerin wird, und hätte sie es gewußt, hätte sie dieses Ziel für unerreichbar gehalten. Der Weg, den sie statt dessen einschlug, ist inzwischen hinlänglich bekannt.

Ins vorliegende Buch sind Schrift- und Erinnerungsstücke zu ihrem Leben eingegangen: die Tagebücher meiner Großmutter, ein Prozeßbericht und eine Gerichtsreportage, Briefe, Zeitungsartikel und eigene Erinnerungen. Es ist eine doppelte Kriminalgeschichte, die Suche einer Frau nach ihrer eigenen Identität und die nach einem verschwundenen Kind. Gleichzeitig ist es eine Entdeckungsreise und bezeugt die Macht des Zufalls.

Zuerst hatte ich gedacht, ich müßte sämtliche Tagebücher einbeziehen, aber das war unmöglich, es wäre ein Wälzer von einer Million Worten geworden. Die meisten meiner Leserinnen und Leser kennen ja Asta auch schon, wenn man den Absatzzahlen glauben darf – manchmal habe ich den Eindruck, daß alle Welt Asta kennt besitzen vielleicht Band I bis Band IV (zumindest in der Taschenbuchausgabe), und da die von mir zitierten Abschnitte nur Auszüge sind, brauchen sie, wenn es ihnen um den größeren Zusammenhang geht, nur ihr Exemplar zur Hand zu nehmen. Ich mußte mich auf die für Swannys und für Ediths Geschichte wichtigen Abschnitte beschränken.

[6] Den wenigen meiner Leserinnen und Leser, die von den Tagebüchern bisher nur gehört haben oder sie vielleicht von einer Audiokassette oder aus dem Fernsehen kennen, sei hier gesagt, daß die Tagebücher sich über einen Zeitraum von zweiundsechzig Jahren erstrecken, daß die bisher gedruckten Aufzeichnungen von 1905 bis 1944 vier dicke Bände füllen und weitere geplant sind.

Es ist heutzutage große Mode, einen Film über die Produktion eines Films zu drehen und Fernsehdokumentationen über die Produktion einer Dokumentation. Dies ist ein Buch über die Entdeckung eines Tagebuches und über den langen Arm des Schicksals, der dafür sorgte, daß noch nach fast hundert Jahren Ränkeschmieden und gutgemeinte Täuschung nicht vergessen sind.

Ann Eastbrook
Hampstead, 1991

[7] 1

26. Juni 1905

Idag til Formiddag da jeg gik i Byen var der en Kone, som spurgte mig om der gik Isbjørne paa Gaderne i København.

Als ich heute vormittag aus dem Haus ging, fragte mich eine Frau, ob in Kopenhagen Eisbären auf der Straße herumlaufen. Sie wohnt ein paar Häuser weiter und lauert hinter ihrem Gartentor den Passanten auf, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Mich hält sie für eine Barbarin und für schwachsinnig obendrein, weil ich keine Engländerin bin und nicht gut Englisch spreche und über manche Worte stolpere.

Die meisten hier sehen uns so. Nicht, daß es keine Ausländer gäbe (denn das sind wir für sie), sie sind es gewohnt, daß Leute aus ganz Europa bei ihnen herumlaufen, aber sie mögen uns nicht, keinen von uns. Wir leben wie die Tiere, sagen sie, und nehmen ihnen die Arbeit weg. Wie mag es dem kleinen Mogens in der Schule ergehen? Von selbst erzählt er nichts, und ich habe nicht gefragt, ich will es gar nicht wissen. Ich mag keine schlimmen Sachen mehr hören. Ich würde gern etwas Schönes hören, aber das ist ebenso schwer zu finden wie eine Blume auf diesen langen grauen Straßen. Ich mache die Augen zu und denke an den Hortensiavej, die Birken und die Schneebeeren.

[8] Heute vormittag war ich bei Sonne und drückender Hitze – die Sonne ist nie angenehm in der Stadt – in dem Papierwarengeschäft Ecke Richmond Road und habe dieses Heft gekauft. Ich habe vorher geübt, was ich sagen und wie ich es sagen würde, und es muß wohl richtig gewesen sein, denn statt zu grinsen und sich mit der Hand hinter dem Ohr über den Ladentisch zu beugen, hat der Verkäufer nur genickt und mir zwei Sorten gezeigt, ein dickes Heft mit steifem schwarzen Deckel für Sixpence und ein billigeres mit Papiereinband und liniierten Seiten. Ich mußte das billige nehmen, weil ich es mir eigentlich nicht leisten kann, für so was Geld auszugeben. Wenn Rasmus kommt, wird er über jeden Penny Rechenschaft von mir verlangen, obgleich er selbst überhaupt nicht mit Geld umgehen kann.

Seit ich verheiratet bin, führe ich nicht mehr Tagebuch, aber als junges Mädchen hatte ich eins. Das letzte Wort darin habe ich zwei Tage vor der Hochzeit geschrieben, am Tag darauf habe ich kurz entschlossen alles verbrannt. In deinem neuen Leben, sagte ich mir, ist kein Platz fürs Schreiben, eine gute Ehefrau muß ganz für ihren Mann da sein und ihm ein behagliches Heim schaffen. So hatte ich es von allen Seiten gehört und glaubte es wohl auch selbst, ich dachte es mir sogar recht hübsch. Zu meiner Entschuldigung kann ich nur anführen, daß ich damals erst siebzehn war.

Jetzt, acht Jahre später, sehe ich vieles anders. Gejammer ist zwecklos, keiner hört es, und interessieren würde es erst recht keinen. Wenn ich mich über etwas beschweren will, werden diese Seiten dafür herhalten müssen. [9] Nachdem ich das Heft gekauft hatte, ging es mir komischerweise schon viel besser. Völlig grundlos hatte ich wieder Hoffnung. Ich sitze immer noch mutterseelenallein in der Lavender Grove, habe keinen Menschen, mit dem ich reden kann, bis auf Hansine – und da habe ich was Rechtes! –, muß dafür aber an zwei kleine Söhne, ein totes Kind und bald noch eines denken. Daran hat sich nichts geändert. Ebensowenig daran, daß ich meinen Mann seit fünf Monaten nicht mehr gesehen und seit zwei Monaten auch nichts mehr von ihm gehört habe. Dieses Heft macht die Last des Kindes, das mir anhängt wie ein praller Mehlsack, um nichts leichter. Leichter geworden ist nur die Last der Einsamkeit, die so mit das Fürchterlichste ist, was ich in diesem entsetzlich fremden Land ertragen muß. Durch das Heft hat sie etwas von ihrem Schrecken verloren. Heute abend, dachte ich, wenn Mogens und Knud schlafen, habe ich etwas zu tun, dann habe ich jemanden, mit dem ich reden kann. Statt über Rasmus nachzugrübeln und darüber, wie es möglich ist, daß man auf einen Menschen, den man nicht leiden mag, trotzdem eifersüchtig sein kann, statt mir Gedanken wegen der Jungen zu machen und wegen des Babys in meinem Bauch, werde ich wieder schreiben können.

Und hier sitze ich nun. Hansine hat mir die Zeitung gebracht. Ich habe ihr gesagt, daß ich Briefe schreibe, sie soll das Gaslicht nicht herunterdrehen, wie sie es sonst macht in der löblichen Absicht, sein Geld zu sparen. In Kopenhagen wäre es um zehn noch hell, aber hier wird es eine halbe Stunde früher dunkel. Seit der Sommersonnenwende hat mir Hansine das schon dreimal erzählt, so wie [10] sie mit bäurischer Sturheit unentwegt wiederholt, daß die Tage jetzt kürzer werden. Sie fragte mich, ob ich von »Mr. Westerby« gehört hätte. Das fragt sie immer, obgleich sie ganz genau weiß, daß der Briefträger in die Nachbarhäuser rechts und links, nie aber zu uns kommt. Was kümmert es sie? Ich glaube, sie ist seinetwegen noch mehr in Sorge als ich – wenn das überhaupt geht. Wahrscheinlich glaubt sie, daß wir drei im Armenhaus landen und sie ihre Stellung verliert, wenn er nicht wiederkommt.

Als sie zum zweiten Mal hereinkam, wollte sie Tee für mich machen, aber ich habe sie zu Bett geschickt. Wenn kein Geld kommt, werden wir alle bald am Essen sparen müssen, dann wird sie vielleicht dünner. Die Ärmste, sie ist so dick und wird immer dicker. Ob es am Weißbrot liegt? Als wir nach England kamen, hatten wir noch nie Weißbrot gegessen. Die Jungen fanden es herrlich und aßen so viel, daß ihnen schlecht wurde. Jetzt haben wir den Roggenbrotschneider, Tante Frederikkes Hochzeitsgeschenk, weggestellt, ich glaube kaum, daß wir ihn je wieder benützen werden. Gestern habe ich den Schrank aufgemacht und ihn mir angesehen, er ist für mich zum Symbol für unser altes Leben geworden, und Tränen brannten mir in den Augen. Aber ich will nicht weinen. Zum letzten Mal habe ich geweint, als Mads gestorben ist, und es soll nie wieder vorkommen.

Das Zimmer, in dem ich sitze, der sogenannte Salon, wäre winzig, wenn ich nicht die Falttüren zum Eßzimmer offenlassen würde. Die Möbel unseres Vermieters sind alle häßlich, allenfalls der Spiegel ist eine Spur weniger häßlich, längliches Glas mit einem Mahagonirahmen, an dem sich [11] geschnitzte Blüten und Blätter entlangranken. Ein Zweig mit geschnitzten Blättern ragt sogar in den Spiegel hinein, das fand der Künstler wohl besonders einfallsreich. Dieser Spiegel wirft mein Bild zurück, während ich an dem runden Tisch mit der Marmorplatte sitze – solche Tische mit einem Eisengestell habe ich durch die offene Tür in Wirtshäusern stehen sehen. Mein Sessel hat ein Stück braunroten Polsterstoff auf dem Sitz, um die abgewetzten Stellen zu kaschieren, an denen das Roßhaar durchkommt.

Die Vorhänge sind nicht vorgezogen. Manchmal fährt eine Kutsche vorbei oder in dieser tristen Gegend eher ein Pferdefuhrwerk, und manchmal höre ich, wie auf der holperigen Straße ein Pferd aus dem Tritt kommt. Rechter Hand sehe ich den Garten vor der Terrassentür, ein winziges Gärtchen mit Büschen, die sommers wie winters schwärzlichgrüne Blätter haben. Es ist eigentlich nur eine Miniaturausgabe von einem Haus, aber man hat ebenso viele Räume hineingezwängt wie in ein richtiges. In dieser Gegend ist alles abgenutzt und schäbig, und doch will man mehr sein, als man ist, und das ärgert mich.

Im Spiegel, im matten Gaslicht, sehe ich meine obere Körperhälfte, mein schmales Gesicht und das rötliche Haar, das sich aus den Haarnadeln gelöst hat und mir in Strähnen um die Wangen hängt. Du hast die blauesten Augen, die ich kenne, hat Rasmus vor der Hochzeit zu mir gesagt, als ich das mit den fünftausend Kronen noch nicht begriffen hatte. Aber vielleicht war es gar nicht als Kompliment gemeint. Blaue Augen sind nicht zwangsläufig auch schön, und meine schon gar nicht. Sie sind zu blau, zu grell, eher eine Pfauen-, eine Eisvogelfarbe. Genauso blau [12] wie die Schmetterlingsflügelbrosche, die mir Tante Frederikke zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hat.

Aber wer fragt schon nach den Augen einer alten Frau, so komme ich mir nämlich vor, auch wenn ich noch nicht mal fünfundzwanzig bin. Richtig, ich darf nicht vergessen, morgen die Brosche anzustecken. Ich trage sie gern, nicht weil sie hübsch wäre, das ist sie nämlich nicht, oder mir gut steht, was nicht der Fall ist, sondern… ja, vielleicht aus meiner Dickköpfigkeit und meinem Eigensinn heraus, wie Rasmus es nennen würde. Ich trage sie, damit die Leute denken: Weiß diese Person eigentlich, daß die Brosche genau die Farbe ihrer Augen hat? Und: Wer eine so häßliche Augenfarbe hat, täte besser daran, sie nicht noch extra zu betonen… Das gefällt mir, es macht mir Spaß, mir auszumalen, was die Leute von mir denken.

Die unerträgliche Sonne war vor einer halben Stunde untergegangen, dann kam die Dämmerung, und jetzt ist es draußen ziemlich dunkel und sehr still. Die Straßenlampen brennen, aber es ist noch immer warm und stickig. Viel ist es nicht, was ich am ersten Tag in mein schönes neues Heft geschrieben habe, und weil ich doch irgend etwas schreiben muß, will ich noch berichten, was ich von dem schrecklichen Schiffsunglück in der Zeitung gelesen habe. Ich habe es nur gelesen, weil die ›Georg Stage‹ ein dänisches Schulschiff war und der Unfall bei Kopenhagen passiert ist. Ein britischer Dampfer hat das Schiff in der Dunkelheit gerammt, zweiundzwanzig Seekadetten sind umgekommen. Ganz junge Burschen zwischen vierzehn und sechzehn. Aber ich glaube kaum, daß ich einen von ihnen oder ihre Eltern gekannt habe.

[13] 28. Juni 1905

Mein Kind soll am 31. Juli zur Welt kommen. Wann immer es kommt – hier steht es nun schwarz auf weiß, daß der 31. Juli der Tag ist, an dem sie erwartet wird. Jawohl, ich habe »sie« geschrieben. Das heißt das Schicksal versuchen, würde Hansine sagen. Zu meinem Glück kann sie nicht lesen. Sie tratscht mit den Leuten, die sie trifft, wenn sie einkaufen geht, sie spricht ein haarsträubendes Englisch, aber sie spricht es fließend und findet es überhaupt nicht schlimm, wenn sie sich lächerlich macht, im Gegensatz zu mir, deshalb komme ich wohl so langsam voran. Lesen aber kann sie in keiner Sprache. Sonst würde ich es nicht wagen, Dänisch zu schreiben, würde also ganz aufs Schreiben verzichten müssen, denn auf Englisch bringe ich keine Zeile zustande. »Sie«… – ich will ein Mädchen haben. Aussprechen würde ich das nie, und hier interessiert es sowieso keinen. Man stelle sich vor, ich würde so etwas zu der Frau sagen, die mich das mit den Eisbären gefragt hat…

Ich wollte – wenn es denn unbedingt wieder sein mußte – schon beim letzten Mal ein Mädchen haben, und statt dessen kam der arme kleine Mads. Einen Monat später war er tot. So, das steht nun also auch schwarz auf weiß da. Dieses Kind wünsche ich mir, und ich will, daß es eine Tochter wird. Selbst wenn Rasmus nie mehr auftaucht, selbst wenn es zum Schlimmsten kommt, wenn wir uns nach Kors0r durchschlagen und uns auf Gnade und Barmherzigkeit Tante Frederikke und Farbror ausliefern müssen – ich will meine Tochter haben.

[14] Wenn sie sich doch nur bewegen würde… Ich weiß, daß Babys in den letzten Wochen nicht mehr so viel zappeln, ich müßte es wissen, ich hatte schließlich schon drei. Wie war das eigentlich bei Mads? Hat er sich bis zum Schluß bewegt? Und die anderen beiden? Sind Mädchen anders, ist diese Ruhe, dieses Stillesein vielleicht ein Zeichen dafür, daß es ein Mädchen ist? Beim nächsten Mal – und bestimmt gibt es ein nächstes Mal, das bleibt uns Frauen nicht erspart – brauche ich nicht in meinem Gedächtnis zu kramen, denn nun habe ich ja mein Tagebuch, und es tut gut, diese Dinge aufzuschreiben.

2. Juli 1905

Ich schreibe nicht jeden Tag etwas in dieses Heft. Zum einen, um das Tagebuch vor Hansine geheimzuhalten – sie würde versuchen herauszubekommen, was ich da mache, und sich etwas ganz Blödsinniges denken, daß ich Briefe an einen Liebhaber verfasse vielleicht, das muß man sich mal vorstellen! –, zum anderen aber auch, weil ich nicht nur über die Ereignisse schreiben will, sondern auch über meine Gedanken. Und über Leute. Auch Geschichten kommen darin vor. Ich habe mir immer gern Geschichten erzählt, wahre und ausgedachte, und jetzt erzähle ich sie natürlich meinen Söhnen. Mir selbst erzähle ich bisweilen Geschichten, um besser einschlafen zu können, und tagsüber, um aus der Wirklichkeit wegzukommen, die ja alles andere als erfreulich ist.

Als junges Mädchen habe ich auch Geschichten in mein [15] Tagebuch geschrieben, mußte aber immer achtgeben, daß mir Mutter oder Vater nicht auf die Schliche kamen.

Ein absolut sicheres Versteck von fremden Blicken gibt es nicht. Aber eine Fremdsprache gibt Sicherheit, denn sie ist wie ein Code. Es klingt eigenartig, wenn ich Dänisch eine Fremdsprache nenne, aber für alle anderen hier ist es das ja. Gewiß, es muß hier auch Dänen geben, unseren Botschafter und den Konsul und solche Leute, und vielleicht Professoren in Oxford, und die Frau des Königs natürlich, die ist ja Dänin, und manchmal steht auch etwas über Dänemark in der Zeitung.

Daß unser dänischer Prinz vielleicht der erste König von Norwegen wird zum Beispiel, und auch über die ›Georg Stage‹ stand wieder etwas drin. Sie haben in Kopenhagen eine gerichtliche Untersuchung durchgeführt, aber der Gerichtspräsident soll befangen gewesen sein, das heißt nicht neutral, wie sich das gehört. Der Kapitän des britischen Schiffes ist zusammengebrochen, beteuert aber nach wie vor, daß er an dem Tod der dreiundzwanzig jungen Leute nicht schuld sei (inzwischen ist noch einer gestorben). König Edward hat kondoliert!

Noch wichtiger ist die Meldung über ein russisches Schiff, die ›Knjas Potemkin‹ alles habe ich leider nicht verstanden, wegen der vielen langen Wörter. Aus irgendeinem Grund haben die Bewohner von Odessa das Schiff daran gehindert, zu landen und Proviant an Bord zu nehmen oder so etwas, und da hat das Schiff seine Geschütze auf die Stadt gerichtet und sie beschossen. Diese Russen sind Barbaren, schlimmer als die Deutschen!

Ich habe eine Annonce für eine Cook-Gesellschaftsreise [16] nach Dänemark gesehen. Wenn ich nur mitfahren könnte! Wir kaufen dänischen Schinken, und eine dänische Firma bietet hier einen Brotaufstrich an, den sie Butterine nennen. Monsted heißt die Firma, schon wenn ich den Namen höre, bekomme ich Heimweh, er klingt so dänisch, so vertraut. – Aber daß ein Däne zu uns ins Haus kommt, ist unwahrscheinlich. Hansine kann nicht lesen, Mogens und Knud haben es noch nicht gelernt, und Rasmus ist wer weiß wo. Ich könnte hier sogar unanständige Geschichten aufschreiben, aber ich weiß keine.

Wenn ich nur schreiben würde, was ich mache, wäre das eine endlose Wiederholung. Meine Tage verlaufen alle gleich. Ich stehe früh auf, weil ich früh aufwache und, wenn ich dann noch liegenbliebe, doch nur grübeln würde, und mich sorge, weil das Kind in mir zu hoch sitzt. Bis ich aufgestanden bin, sind auch die Jungen wach, ich wasche ihnen Hände und Gesicht und ziehe sie an, und wir gehen nach unten, wo Hansine inzwischen Frühstück gemacht hat. Hansine hat natürlich Kaffee gekocht, und es gibt das Weißbrot, das Mr. Spenner, der Bäcker, bringt und das die Kinder so gern essen. Für Dänen ist Kaffeetrinken lebenswichtiger als Essen, und ich trinke drei Tassen. So haushälterisch ich sonst auch bin – von meinem Kaffee könnte ich keine einzige Tasse einsparen.

Hansine spricht neuerdings mit den Kindern englisch. Mogens kann es schon besser als sie, Kinder in seinem Alter lernen offenbar Sprachen sehr schnell, und er lacht über ihre Fehler, was sie kein bißchen stört, im Gegenteil, sie lacht mit ihm und macht Faxen. Und dann versucht sich Knud daran, und sie machen sich alle lächerlich, [17] finden es aber offenbar furchtbar lustig, und ich bin böse, weil ich nicht mithalten kann. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich bin eifersüchtig. Eifersüchtig, weil sie eine Frau ist und meine Söhne schließlich kleine Männer sind. Eine Tochter, das spüre ich, würde zu mir halten, sie wäre auf meiner Seite.

5. Juli 1905

Ich habe mir überlegt, ob ich Hansine verbieten soll, bei uns zu Hause englisch zu sprechen, vermutlich würde sie sich daran halten. Sie hat immer noch Respekt und ein bißchen Angst vor mir, allerdings nicht halb so viel Angst wie vor Rasmus. Aber mit Rücksicht auf Mogens und Knud werde ich es wohl doch nicht tun. Es ist wichtig, daß sie Englisch lernen, denn sie müssen hier zurechtkommen – vielleicht ihr ganzes Leben lang.

Hansine bringt Mogens zur Schule in die Gayhurst Road, zwei Straßen weiter. Er würde natürlich lieber allein gehen, und das soll er auch bald, aber jetzt noch nicht. Sie ist ziemlich brummig, denn wenn sie ihren Besucher im Haus hat, bekommt sie immer furchtbare Bauchschmerzen. Ich bleibe mit Knud zu Hause und nehme ihn auf den Schoß und erzähle ihm eine Geschichte. Früher habe ich beiden Kindern Andersen-Märchen erzählt, aber der Abschied von meiner Heimat Dänemark war auch ein Abschied von H. C. Andersen. Ich begriff mit einemmal, wie grausam manche dieser Märchen sind. »Das Mädchen, das auf das Brot trat« von der kleinen Inger, die aus lauter [18] Stolz auf ihre neuen Schuhe ihr ganzes Leben in der Brauerei der Moorfee unter der Erde verbringen mußte, war das Lieblingsmärchen meiner Mutter, aber ich fand es abscheulich. Auch »Das Feuerzeug« ist schlimm und »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern«, und deshalb erzähle ich jetzt den Kindern selbsterfundene Geschichten, im Augenblick eine Fortsetzungsgeschichte von Jeppe, einem kleinen Jungen mit einem Freund, der zaubern kann. Heute vormittag habe ich Knud erzählt, wie der Freund eines Nachts von allen Dächern Kopenhagens den Grünspan wegzaubert, und als Jeppe am nächsten Morgen aufwacht, erstrahlen sie in rotgoldenem Glanz.

Wenn Hansine zurückkommt, gehe ich aus dem Haus. Ich setze meinen Hut auf, ziehe mir den Kittel über meinen dicken Bauch und nehme ein Cape darüber und hoffe, daß keiner sieht, daß ich guter Hoffnung bin, aber natürlich sieht man es doch. Dann gehe ich spazieren. Einfach so. Die Lavender Grove und die Wilman Grove hinunter bis London Fields und zum Victoria Park, manchmal bis zu den Hackney Downs oder De Beauvoir Town, die ich nicht mal richtig aussprechen kann. Meist halte ich mich an die Straßen und sehe mir die Häuser an, die Kirchen, die berühmten Bauwerke, aber manchmal gehe ich auch über die Wiesen oder am Kanal entlang. Bei dieser Wärme brauche ich eigentlich kein Cape, aber ohne Cape wäre mir meine Unförmigkeit so peinlich, daß ich mich gar nicht aus dem Haus trauen würde.

Hansine macht Smørrebrød zum Mittagessen, aber ohne Roggenbrot schmeckt es nicht so recht. Ich würde am liebsten überhaupt nichts essen, aber ich zwinge mich, [19] meiner kleinen Tochter zuliebe. Manchmal gehe ich nachmittags noch mal weg, sonst sitze ich im Wohnzimmer am Erkerfenster. Unser Haus in der Lavender Grove gehört zu einer Zeile von neun Häusern, die alle Zusammenhängen. Es ist kein hübsches Haus, im Gegenteil, es ist eins der häßlichsten Häuser, die ich je gesehen habe, viel zu niedrig, aus grauem Backstein mit klobiger Steinmetzarbeit und Holzfenstern. Über der Haustür ist ein komisches kleines Frauengesicht aus Stein, das eine Krone trägt, und zwei ebensolche Gesichter sitzen über den beiden oberen Fenstern. Ich überlege oft, wer sie sind oder sein sollen, diese jungen Frauen mit den Kronen. Zum Glück gibt es dieses Erkerfenster hier und ein Stück Garten mit einer Hecke. Tüllgardinen kommen mir nicht an die Scheiben, da mag Hansine sagen, was sie will, denn dann könnte ich nicht hinaussehen, wenn ich hier sitze und nähe.

Das Nähen hat Mutter mir schon beigebracht, lange bevor ich in die Schule kam. Eine abscheuliche Tätigkeit, fand ich, und besonders abscheulich war der Fingerhut, zumal ich ihn auch noch zum Geburtstag geschenkt bekam, aber wenn ich mich mit der Nadel stach, war das noch ärger. Heute bin ich froh, daß ich es gelernt habe. Zumindest das kann ich besser als Hansine, die über meine zierlichen Stiche und die sorgfältigen Stopfstellen an den Sachen der Jungen staunt.

Manchmal holt sie Mogens von der Schule ab, und manchmal mache ich es. Heute ging sie, weil sie sowieso in der Mare Street war, um beim Tuchhändler Nähgarn für mich zu kaufen. Als sie zusammen ins Haus kamen, [20] unterhielten sie sich auf Englisch. Hansine hatte viel zu erzählen, sie hatte ein richtiges Abenteuer erlebt. Als sie an London Fields vorbeiging, sah sie einen alten Mann aus einem Wirtshaus kommen und auf dem Gehsteig herumtorkeln. Sie trat zur Seite, um nicht von ihm über den Haufen gerannt zu werden, aber da prallte er gegen die Hauswand und stürzte bewußtlos zu Boden.

Sie bekam einen Riesenschrecken, kniete sich neben ihn und fühlte seinen Puls, und schon hatte sich ein Kreis von Schaulustigen um sie gebildet. Natürlich war weit und breit kein Polizist, kein Arzt zu sehen, die sind ja nie da, wenn man sie braucht. Sie hielt den Mann für tot. Dann trat eine junge Frau näher, schrie laut auf und erklärte, sie sei Dienstmagd in der Pension, in der er wohnte. Alle redeten durcheinander, ein paar Leute sagten, es käme wohl von der Hitze, aber die junge Frau sagte, nein, es käme vom Schnaps, der habe ihn jetzt das Leben gekostet. Hansine versprach, bei ihr zu bleiben, bis Hilfe eingetroffen war, und kam deshalb zu spät zur Schule.

»Hoffentlich hast du nicht mit Mogens darüber gesprochen«, sagte ich. »So ein alter Trunkenbold, der auf der Straße umfällt…« – »Natürlich nicht«, entgegnete sie, »was denken Sie denn von mir«, aber ich traue ihr nicht über den Weg. Frauen aus dieser Schicht finden solche Sachen ungeheuer spannend und können sie einfach nicht für sich behalten.

Sie solle still sein, sagte ich, aber sie redete unbekümmert weiter und breitete vor dem Großen sämtliche Einzelheiten aus. »Jetzt reicht’s«, sagte ich und hielt mir die Ohren zu. – »Bestimmt steht es morgen in der Zeitung«, [21] sagte sie und gab mir das Stichwort. »Nur könntest du damit nicht viel anfangen«, sagte ich, »selbst wenn es auf Dänisch wäre, wie?« Sie wurde rot wie eine Geranie und hielt mit beiden Händen ihren Bauch fest, der beinah so dick ist wie meiner, es ist ihr furchtbar peinlich, wenn jemand darauf anspielt, daß sie nicht lesen kann, aber ich drehte mich einfach um und ließ sie stehen. Nichts und niemand kümmert mich mehr – außer meiner Tochter natürlich, die jetzt bald zur Welt kommen wird.

6. Juli 1905

Mein Geburtstag. Fünfundzwanzig Jahre bin ich heute geworden, und niemand hat Notiz davon genommen. Von Dienstboten kann man das natürlich nicht erwarten, und die Kinder sind zu klein, aber eigentlich hatte ich doch gedacht, mein Mann hätte sich das Datum gemerkt. Dabei müßte ich ihn inzwischen kennen. Hoffnung ist ein großes Ärgernis. Ich weiß nicht, warum Kirchenleute sie einem immer als eine Tugend hinstellen, dabei wird sie doch nur enttäuscht. Wer alt ist, rechnet wahrscheinlich damit, daß keiner mehr an seinen Geburtstag denkt, es wäre einem vielleicht gar nicht mal recht, ihn zu begehen, aber als Fünfundzwanzigjährige sieht man das schon ein bißchen anders.

Den ganzen Tag habe ich mir ausgemalt, wie ich mein Vierteljahrhundert hätte feiern wollen. Ich habe mir einen Ehemann vorgestellt, der mir etwas Schönes schenkt, einen Pelzmantel oder einen Brillantring, und der mich abends [22] groß zum Essen ausführt. Die Wirklichkeit sah, wie gewöhnlich, anders aus. Abends wieder mal frikadeller. Wir leben hauptsächlich von Fleischklopsen und Kartoffeln. Manchmal gibt es røkaal, mit Essig und Zucker angemacht, aber Hansine hat ihre liebe Not, auf dem Markt Rotkohl aufzutreiben. Ich hätte schrecklich gern rullepølse, aber dafür haben sie hier nicht die richtige Sorte Rindfleisch, und guten Fisch gibt es überhaupt nicht. Statt dessen kaufen wir Bratwürste, die kosten nur neun Pence das Pfund. Milch für die Jungen bekommt man für zwei Pence den halben Liter, und ich versuche, nicht daran zu denken, daß sie davon die Schwindsucht bekommen können. Stonors Molkerei lädt die Kunden ein, sich die Kuhställe anzuschauen, und Mogens und Knud möchten schrecklich gern hin, aber bisher waren wir noch nicht da.

Hansine bringt die Jungen zu Bett, und dann gehe ich nach oben und erzähle ihnen noch ein bißchen was von Jeppe und seinem zaubernden Freund. »Englische Jungs heißen nicht Jeppe!« sagte Mogens, und mir fiel nichts Besseres ein als: »Du bist aber kein englischer Junge.« »Doch, das bin ich«, sagte Mogens, »wenn wir hier wohnen bleiben«, und fragte, ob er sich einen anderen Namen zulegen dürfe. »Welchen denn?« fragte ich. »Die Kinder machen sich alle über meinen Namen lustig«, sagte er. »Ich möchte Jack heißen.«

Darüber mußte ich lachen. Jedenfalls tat ich so. Dabei hätte ich weinen mögen, so bange war mir. Ich sah schon alle zu Engländern werden und von mir abrücken, bis ich ganz allein war, die einzige Dänin in ganz England. Noch nie, seit wir Kopenhagen verlassen haben, hat mich das [23] Heimweh so geplagt wie heute abend. Ich sitze im Dämmerlicht hier am Tisch, aber ich sehe weder das Zimmer noch das, was vor dem Fenster ist, ich sehe nur Bilder aus der Vergangenheit. Die grünen Dächer meiner Stadt und den Kirchturm der Frelsers Kirke, die Buchenwälder von Sjælland, ich sehe uns bei Tante Frederikke im Garten Tee trinken. Warum ißt man in England nie draußen? Das Klima hier ist besser als bei uns, ein bißchen jedenfalls, aber sie sperren sich in den Häusern ein, während wir bei jeder Gelegenheit draußen in der Sonne und in der frischen Luft sind.

Ob ich mich Rasmus gegenüber falsch verhalten habe? Aber wir sind so viel umgezogen, ausgerechnet immer dann – so kommt es mir jedenfalls vor –, wenn ich in anderen Umständen war, immer auf der Suche nach dem großen Geschäft, einer Gelegenheit, sein Glück zu machen. Von Kopenhagen nach Stockholm, wo Knud zur Welt kam, von Stockholm zurück nach Kopenhagen, zu meinem geliebten weißen Häuschen im Hortensiavej, dem schönsten Zuhause, das ich je hatte und von dem ich mich trennen mußte, um hierherzukommen. London, ja, das ist das Wahre, London, der Mittelpunkt der Welt; und dann, wir waren gerade einen Monat hier, wollte er schon wieder weg, diesmal nach Amerika. Und da habe ich mich zu einem Nein durchgerungen. »Auch ein Wurm krümmt sich, wenn er getreten wird«, sagte ich. »Du hast mich zum letzten Mal zerdrückt.«

Dabei war ich eigentlich nie so recht ein Wurm. Zumindest habe ich mich immer meiner Haut gewehrt, hab es ihm, soweit es ging, mit gleicher Münze heimgezahlt. Von [24] den Kindern mal abgesehen, denn wenn er mir zur Strafe viele Kinder macht – womit soll ich mich rächen? Er könne allein nach Amerika fahren, ohne mich, dann ginge ich zurück in unsere Heimat, und die Jungen könne er meinetwegen auch mitnehmen. Statt dessen ist er dann nach Dänemark gefahren, weil er sich »dringend um seine Geschäfte« kümmern mußte. Inzwischen wußte ich, daß ich mir wieder mal ein Kind hatte anhängen lassen.

Kein sehr genußreicher Geburtstag!

12. Juli 1905

Es gefällt mir überhaupt nicht hier, aber das ist nun mal mein Los. Wenn ich erst meine Tochter habe, wird bestimmt alles besser. Lange kann es jetzt nicht mehr dauern, höchstens noch zwei Wochen, denke ich. Heute abend spürte ich eine Bewegung, ganz schwach, aber doch beruhigend, obwohl sie immer noch sehr hoch sitzt und nicht auf dem Kopf steht, wie es sich eigentlich gehört, bereit zur Flucht in die Freiheit. Ich stelle mir vor, wie sie versucht freizukommen, wie ein mühseliges Anschwimmen gegen gewaltige Brecher, die sie immer wieder zurückwerfen. Und so kommen sie dann heraus, die Babys, schwimmend, gegen die Flut ankämpfend, und wenn sie endlich das Ufer erreicht haben, entfährt ihren Lungen ein Schrei der Erleichterung.

Ich muß durchhalten. Ich muß stark sein, was auch kommen mag. Manchmal denke ich an Karoline, die mein Vater in Kopenhagen einfach stehenließ, so daß sie sich [25] allein bis zu seinem Haus durchschlagen mußte. Sie hat mir die Geschichte selbst erzählt, meine Mutter hätte es nie getan, es war im Grunde eine unschickliche Geschichte und deshalb nichts für mich, und mein Vater hatte die ganze Sache wahrscheinlich längst vergessen. Karoline aber hat sie nie vergessen, das Erlebnis quälte sie wie ein Spuk, sie träumte davon.

Mein Vater kam aus einem Ort bei Aarhus in Nordjütland nach Kopenhagen. Er heiratete meine Mutter, die eine halbe Schwedin war, und verdiente nicht schlecht im Grundstückhandel und beim An- und Verkauf von Möbeln, und eines Tages fand er, es sei an der Zeit, daß meine Mutter eine Hilfe fürs Haus bekam, und er ließ von dem Hof in der alten Heimat eine seiner Nichten kommen. Sie waren so arm dort und hatten so viele Kinder, daß sie gewiß froh waren, eins loszuwerden. Karoline war fünfzehn und mußte mit der Fähre über den Store Bældt und den Lille Bældt und dann noch ein Stück mit dem Zug fahren, ganz allein und ohne Hilfe. Sie war nie aus ihrem Dorf herausgekommen und konnte weder lesen noch schreiben. Sie war wie ein Stück Vieh, ein Lasttier.

Mein Vater holte sie vom Bahnhof ab. Es war ein langer Weg bis zu unserem Haus, mehrere Meilen, und sie war ein armes, tumbes Ding. Als sie sich erleichtern mußte, tat sie, was sie auf dem Land getan hatte, sie ging ein Stück zur Seite – in diesem Fall zum Rinnstein – hob ihre Röcke, hockte sich hin und machte ihr Geschäft auf der Straße. Mein Vater war so peinlich berührt, so aufgebracht, daß er mir nichts, dir nichts davonrannte. Er hatte vergessen oder verdrängt, daß man das dort, wo er herkam, so machte, er [26] war inzwischen fast so was wie ein feiner Herr geworden, und er lief, ohne sich noch einmal umzusehen, durch die gewundenen Straßen und Gassen nach Hause.

Karoline mußte sehen, wie sie zurechtkam. Sie kannte keine Seele in der Stadt. Sie sprach einen Dialekt, den man in Kopenhagen nicht verstand, sie kannte unsere Adresse nicht, nur den Namen – Kastrup sie war noch nie in einer Stadt gewesen, nicht mal in Aarhus. Aber was sollte sie machen? Sie schaffte es. Um Mitternacht traf sie bei uns ein. Wie sie es anstellte, habe ich nie erfahren. »Ich hab hundert Leute gefragt«, sagte sie zu mir. »Ich hab jeden gefragt, dem ich begegnet bin.« Als sie ankam, mußte sie noch froh sein, daß mein Vater ihr nicht die Tür wies.

Sie blieb viele Jahre bei uns. Als ich sechzehn war und meine Mutter starb, ging es auch mit Karoline zu Ende, sie hatte ein grausames Krebsgeschwür, das ihr aus dem Rücken wuchs. Sie kann nicht älter als zwei- oder dreiunddreißig gewesen sein. Als sie mir die Geschichte erzählte, war sie schon krank, und ihr Beispiel hält mich aufrecht, wenn die Verzweiflung droht. Was Karoline konnte, sage ich mir, kann ich auch. Ich komme durch, ich schaffe es!

14. Juli 1905

Rasmus hat geschrieben und Geld geschickt. Hansine strahlte übers ganze Gesicht und war puterrot, als sie mir heute früh den Brief brachte. Sie kann, wie gesagt, nicht [27] lesen, aber sie hatte seine Handschrift erkannt und die dänische Briefmarke.

»Liebste Asta« nennt er mich, und später »meine liebe Frau«. Geredet hat er noch nie so mit mir, das kannst du mir glauben. (Du? Wer um Himmels willen soll das denn sein? Spreche ich am Ende schon mit meinem Tagebuch?) Endlich ist Geld da, nachdem uns langsam schon die frikadeller zu teuer geworden waren und wir uns darauf eingestellt hatten, von Zwiebackbruch und Butterine zu leben.

Es war eine Zahlungsanweisung über 700 Kronen, das sind fast vierzig Pfund, mehr darf man nicht schicken. Ich ging damit zum Postamt in der Lansdowne Road, und dort zahlten sie mir das Geld anstandslos aus, ohne Fragen zu stellen oder meinen Akzent zu belächeln.

Wenigstens kann ich jetzt Stoff für Babysachen kaufen, das heißt, ich habe ihn schon gekauft, weißen Batist und Tüll und weiße Strickwolle aus dem großen Kaufhaus Matthew Rose in der Mare Street. Ich werde den Arzt zahlen können, wenn ich, was ich nicht hoffe, während der Geburt nach ihm schicken muß. Die anderen kamen schnell, besonders der arme kleine Mads, ohne Komplikationen, wenn auch unter großen Schmerzen. Wenn es Probleme gibt, muß wohl ein Arzt her, aber Hansine ist ja da und kann mir helfen, wie damals bei Mads. Sie weiß, wie man die Nachgeburt herausbringt und die Nabelschnur versorgt. (Nur gut, daß ich auf Dänisch schreibe. Wenn das jemand liest… Nicht auszudenken!)

Rasmus ist wieder in Aarhus, ich habe jetzt eine Adresse, an die ich schreiben kann, allerdings, meint er, würde er dort wohl nicht mehr lange bleiben. Ich habe [28] keine Ahnung, was er treibt. Er ist das, was man wohl Ingenieur nennt, ich wüßte nicht, wie ich ihn sonst nennen sollte, so ganz genau weiß ich nämlich nicht, was er macht. Er war mal Schmied, das heißt, er kann ein Pferd beschlagen und kennt sich mit Tieren aus. Er prahlt damit, daß der bösartigste Hund Ruhe gibt, wenn er mit ihm spricht, und komischerweise stimmt das sogar. Er bringt alle Tiere dazu, daß sie ihn lieben. Nur schade, daß er bei seiner Frau offenbar weniger Glück hat.

Auch mit Holz kennt er sich aus. Er könnte sein Brot als Kunstschreiner verdienen, aber das will er nicht, das ist unter seiner Würde. Ihn zieht es zu den Motoren. Einmal hat er mir erzählt – sonst erzählt er mir kaum mal was, er redet überhaupt nicht viel mit mir –, daß er »Motorwagen nach England bringen« will. An sich gibt es die hier ja schon, man sieht sie häufig, sogar in unserer Gegend jeden Tag ein paar, aber er meint Motorwagen für alle. Man stelle sich vor, daß eines Tages jeder seinen eigenen Motorwagen hat! Und was wird dann aus den Pferden, fragte ich, und aus den Eisenbahnzügen und Omnibussen, aber darauf ist er mir die Antwort schuldig geblieben. Er antwortet nie auf die Fragen, die ich ihm stelle.

Eins ist sicher – in Aarhus gibt es keine Motorwagen. Ob er versucht, dort Geld aufzutreiben? Angeblich hat er einen reichen Onkel in Hjørring, am Ende der Welt, an dessen Existenz ich allerdings nicht so recht glaube. Ich muß wohl dankbar sein, daß Rasmus kein Mohammedaner ist, sonst fände er bestimmt dort oben im Norden noch eine zweite Frau mit einer Mitgift von fünftausend Kronen.

[29] 18. Juli 1905

Heute abend kam Hansine herein, blieb mitten im Wohnzimmer stehen und zupfte an ihrer Schürze herum. Ich war wohl durch das Geld milder gestimmt, denn ich sagte, sie sollte sich hinsetzen und ein bißchen mit mir reden. Als Kind habe ich mal ein Buch gelesen, eine Übersetzung aus dem Englischen ins Dänische, es handelte von einem Mann, der auf einer einsamen Insel gestrandet war. Wie es hieß, weiß ich nicht mehr, aber dieser Mann war sehr einsam, und als dann ein zweiter Mann auftauchte, war er überglücklich, Gesellschaft zu haben, mit jemandem reden zu können, und da machte es ihm auch nichts aus, daß es ein Mohr und ein Heide war. So ähnlich geht es mir mit Hansine. Ich habe sonst niemanden, abgesehen von einem siebenjährigen und einem fünfjährigen Sohn, und manchmal ist sogar das Gespräch mit einer ungebildeten Dienstmagd besser als das dumme Gerede und die ewige Fragerei der Kinder.

Hansine stotterte herum und drehte den Kopf hierhin und dahin, um mich nicht ansehen zu müssen. Unsere Karoline war dumm und unwissend, aber manchmal denke ich, daß sie gegen die hier das reinste Genie war. Schließlich fragte ich: »Komm schon, was hast du mir zu sagen?« Ich dachte mir inzwischen, entweder hat sie was zerschlagen – dabei haben wir eigentlich kein wertvolles Porzellan oder es geht um ihren Schatz in Kopenhagen. Aber es ging nur um den Alten, der neulich auf der Straße umgefallen ist.

Sie hat dicke Freundschaft mit dem Dienstmädchen aus [30] der Pension geschlossen, in der er wohnte, das sie »Miss Fisher« nennt, hat herausgebracht, wo diese Pension ist, in der Navarino Road nämlich, nördlich von London Fields, und ist hingegangen, um sich »nach dem armen alten Herrn« zu erkundigen. Er war noch auf der Fahrt ins Krankenhaus gestorben. Vielleicht interessierte sie sich für ihn, weil er auch Ausländer war. »Wie wir«, sagte sie, aber der Mann war Pole und hieß Dzerjinski. Wahrscheinlich war es doch die reine Neugier.

Miss Fisher ist in Stellung bei einem Ehepaar, das zwei Kinder hat, außerdem gibt es noch eine alte Schwiegermutter, Mieter haben sie jetzt, nachdem Dzerjinski weg ist, nicht mehr. Ihr Dienstherr habe ihr gekündigt, hat Miss Fisher unserer Hansine erzählt, aber »ihre Dienstherrin, Mrs. Hyde« habe die Kündigung zurückgenommen, weil »es genug für mich zu tun gibt« – das Baby hüten, putzen und kochen.

Ich wollte schon ungeduldig werden und fragen, was dieses Gefasel eigentlich soll, da kam sie endlich damit heraus, ob sie an ihrem freien Nachmittag Miss Fisher in die Küche zum Tee einladen dürfe. Ich dachte bei mir, wie schön es für sie sei, eine Freundin gefunden zu haben, während ich hier noch keine Seele kenne, aber ich sagte nur, ich hätte nichts dagegen, nur dürfe ihre Arbeit nicht liegenbleiben, und sie solle auch an meine Niederkunft denken.

Es ist gut für ihr Englisch, wenn sie eine Freundin hat, die nichts anderes spricht. »Bald werd ich besser daherschwatzen als wie Sie, Ma’m«, sagte sie mit ihrem blöden Grinsen und wurde wieder rot.

[31] Ich habe sie zu Bett geschickt und schreibe jetzt alles auf. Die Kleine liegt schwer in meinem Leib und rührt sich nicht, und ich habe das seltsame und natürlich unsinnige Gefühl, daß sie sich mit dem Kopf zwischen meinen Rippen verklemmt hat. Zumindest aber weiß ich, was auf mich zukommt, wenn sie in der nächsten oder übernächsten Woche den Weg in die Freiheit antritt. Bei Mogens war ich ahnungslos, ja, schlimmer als ahnungslos. Ich dachte, er käme durch den Nabel heraus. Da ich nichts von der Nachgeburt wußte und wie ein Baby sich im Mutterleib ernährt, sagte ich mir, irgendeinen Zweck müsse der Nabel ja haben, und was lag näher, als daß er sich auftat und das Baby freigab? Es war ein großer Schock, als Mogens plötzlich unten zum Vorschein kam. Meine Mutter hatte mir erzählt, daß Adam keinen Nabel hatte und Eva auch nicht. Sie wurden nicht geboren, sondern von Gott erschaffen. Komischerweise hatte ich bis dahin nie so recht begriffen, was das bedeutet.

Jetzt bin ich müde, ich werde mich hinlegen.

21. Juli 1905

Es ist unerträglich heiß, und zwar in ganz Europa und Amerika, so heißt es. (Ich zwinge mich, jeden Tag Zeitung zu lesen, weil das gut für mein Englisch ist.) In New York sterben die Leute auf der Straße an Sonnenstich, und hier haben sich Kinder mit Speiseeis vergiftet. Ich habe Hansine verboten, den Kindern Eis zu kaufen.

Zwischen England und Deutschland und Dänemark [32] und Schweden gibt es ein großes Gezerre um die Frage, wer nun König von Norwegen werden soll, Prinz Karl von Dänemark oder Bernadotte. So habe ich es jedenfalls verstanden, auf Dänisch könnte ich der Sache besser folgen. Auch Kaiser Wilhelm hat sich eingemischt, das ist wieder mal typisch.

Ich habe einen langen Brief an meinen Mann geschrieben, deshalb hatte ich drei Tage keine Lust auf mein Tagebuch. Ich habe ihm auf vielen Seiten unbequeme Wahrheiten vorgehalten: Wie schrecklich es für mich ist, hier in dieser tristen Straße zu leben, wie feindselig mir alle begegnen mit ihren dummen Fragen, diese Mrs. Gibbons zum Beispiel mit ihren Eisbären, ich habe ihm von der Hitze erzählt und von meiner Angst vor dem Krieg. Wenn es Krieg mit Dänemark gäbe, vielleicht unter Beteiligung von Schweden, hätten die Ausländer es hier noch schwerer. Wie kann er uns monatelang in einem fremden Land allein lassen?

Ich habe ihm noch etwas geschrieben, was ich in der Zeitung gelesen habe, daß die Prinzessin von Wales am 13. Juli einen Sohn bekommen hat. So gut wie die habe ich es nicht. Ob er vergessen hat, daß ich dieses Kind erwarte, habe ich ihn gefragt, das jeden Tag zur Welt kommen kann. Soll ich das hier allein durchstehen? Und wenn ich nun sterbe? Hunderte von Frauen sterben täglich im Kindbett, natürlich nicht, wenn sie Prinzessin von Wales sind. Hansine erzählte mir, nachdem sie Mogens von der Schule abgeholt hatte, von einer Frau, die heute früh nach der Geburt von Zwillingen gestorben ist. Sie hat es von einer anderen Bekannten, einer sehr ordinären Person, die [33] in einem der Elendsquartiere an der Wells Street wohnt. Sie hat noch fünf Kinder, alle unter sieben, der Vater ist krank und arbeitslos. Sei still, schrie ich sie an, erzähl mir nicht solche Sachen, bist du denn nicht gescheit, hast du denn gar kein Gefühl? Aber Rasmus habe ich es geschrieben, er soll es nur wissen. Warum soll ich mich allein damit plagen? Es ist auch sein Kind, und es ist seine Schuld, daß es existiert.

Wahrscheinlich wird er den Brief nie bekommen, inzwischen ist er bestimmt längst weitergezogen, um Geld aufzutreiben, eine Anleihe, oder um irgendwas mit Motorwagen zu machen. Ich habe ihn nicht »mein liebster Ehemann« genannt oder dergleichen, ich bin mehr für Ehrlichkeit. »Lieber Rasmus« habe ich geschrieben und zum Schluß, eigentlich mehr, um der Höflichkeit Genüge zu tun, »Deine Asta«.

26. Juli 1905

Heute habe ich einen langen Spaziergang gemacht. Ich ging langsam, meine schwere Last vor mir hertragend, viele Meilen weit, und kam über Ritson Road und Dalston Lane zurück. Ich wollte zu der lutherischen Kirche, auch wenn es eine deutsche ist und keine skandinavische, und habe dann einen kleinen Abstecher gemacht, um mir das Haus anzuschauen, in dem Hansines Freundin wohnt.

Warum hat Rasmus nicht so ein Haus für uns gemietet? Nicht, daß es besonders vornehm wäre, so was findet man gar nicht in dieser Gegend, aber es hat vier Etagen und ist [34] schön geräumig, man merkt, daß es mal bessere Tage gesehen hat. Stufen führen zur Haustür hinauf, es gibt ein Vordach auf zwei Säulen, einen Vorgarten mit einem hübschen Zaun und viele Bäume. Navarino Road ist nicht so breit wie die Lavender Grove, sondern schmal und schattig, eine richtig schöne Straße.

Ich stand da und dachte gerade, daß man hier bestimmt höchstens zehn Pfund mehr Miete bezahlt als die 36 Pfund im Jahr, die Rasmus das Haus in der Lavender Grove kostet, als eine Frau mit einem kleinen Mädchen herauskam. Sie war ziemlich herausgeputzt und trug einen großen Federhut, aber ich hatte nur Augen für die Kleine, die noch kaum laufen konnte. Wie hübsch und blond und zierlich sie war, wie eine Fee. Ich könnte schwören, daß mein Kind sich bei diesem Gedanken bewegte, vielleicht streckte es dem anderen Kind grüßend die Hand entgegen.

Phantasiegespinste, ich weiß. Aber die Vorstellung heiterte mich auf und brachte mich wohlbehalten heim, ein großes plumpes Schiff, das wankend und schwankend in den Hafen einläuft. Mogens und Knud spielten auf dem Gehsteig mit den Reifen, die ich ihnen gekauft habe, nachdem mein großzügiger Ehemann uns wieder Geld geschickt hat. Wenn ich bei der Geburt meiner Tochter nichts für den Arzt auszugeben brauche, bekommt Knud einen Kreisel. Der Nachbarsjunge hat einen, warum also nicht auch mein Sohn?

Als ich das Haus erreichte, mußte ich mich plötzlich krümmen vor Schmerz. Jetzt ist es soweit, dachte ich, und weil ich nicht wollte, daß Hansine sofort ein großes Getue macht, Wasser aufsetzt und Bettücher über meine [35] Schlafzimmertür hängt, ging ich erst mal nach oben, um meinen Hut abzunehmen, und hielt mich dort am Bettpfosten fest. Eine zweite Schmerzwelle kam, schwächer als die erste. Ich stand da, sah durchs Fenster auf meine Söhne herunter und dachte, daß im September nun auch Knud zur Schule kommt, und ich wußte nicht, ob ich mich darüber freuen oder traurig sein sollte.

Dann fiel mir ein, daß inzwischen meine Tochter auf der Welt sein würde, über einen Monat wäre sie dann schon alt, und ich würde froh sein, die Jungen aus dem Haus zu haben. Vielleicht, dachte ich, wird sie heute abend geboren. Ich blieb noch eine Weile stehen und legte mich schließlich aufs Bett, die Hände auf den großen, schweren Klumpen gepreßt, aber es kamen keine Wehen mehr, und ich begriff, daß dasselbe passiert war wie damals, als ich Mads erwartete. Falsche Wehen, die Stunden oder Tage vor den echten einsetzen. Vermutlich gibt es auch einen wissenschaftlichen Namen dafür, aber den kenne ich nicht. Letztes Jahr, im Februar, hatte ich sie am Mittwoch, und am Freitag kam dann Mads auf die Welt. Der arme Kleine, ich hatte ihn nicht gewollt und begriff erst nach seinem Tod, wie lieb ich ihn hatte.

Wenn nun dieses Kind, meine Tochter, wenn sie… Nein, das will ich nicht hinschreiben, daran will ich nicht mal denken. Oder ist es wie eine Rückversicherung, wenn ich es hinschreibe, eine Garantie, daß es nicht dazu kommt? Ich glaube nicht an solche Sachen. Ich bin nicht abergläubisch, und ich glaube nicht an GOTT, nein, er verdient keine Großbuchstaben, also noch mal, ich glaube nicht an Gott, es ist albern, jemanden zu verherrlichen, [36] wenn man nicht an ihn glaubt. Das habe ich begriffen, als mein erstes Baby an der falschen Stelle herauskam und ich dachte, es würde mich zerreißen. Ich gehe nicht in die lutherische Kirche, sei sie nun deutsch oder dänisch oder sonstwas, und ich lasse mich auch nicht neu einsegnen nach dem Wochenbett, als ob es etwas Schmutziges wäre, ein Kind zu bekommen.

Einen Arzt will ich nur, wenn es unbedingt nötig ist. Hansine kennt sich ja aus. Wenn es Komplikationen gibt, kann sie ihn immer noch holen. Zu schade, daß Frauen nicht Arzt werden können! Es würde mir nichts ausmachen, wenn eine Frau in mein Schlafzimmer käme, in einem schmucken schwarzen Kleid, das Stethoskop umgehängt wie eine Halskette. Aber es schüttelt mich vor Ekel, wenn ich mir vorstelle, daß ein Mann mich so entblößt, so ausgeliefert sieht, mit diesem anstößig weit geöffneten Leib. Und ich glaube, die Männer amüsiert das noch, auch wenn es Ärzte sind. Dieses halbe Lächeln um ihre Lippen, hinter diskret vorgehaltener Hand… Wie albern die Weiber sind, denken sie wohl, schwache, törichte Geschöpfe, die so etwas mit sich machen lassen. Wie häßlich sie aussehen und wie dumm!