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Meir Shalev

Meine russische
Großmutter
und ihr amerikanischer
Staubsauger

Roman

Aus dem Hebräischen von
Ruth Achlama

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2009 bei Am Oved Publishers Ltd., Tel Aviv,

erschienenen Originalausgabe:

›Ha-davar haja kacha‹

Copyright © 2009 by Meir Shalev

Die deutsche Erstausgabe erschien

2011 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von David Polonsky

Copyright © David Polonsky

 

 

Für meine Onkel und Tanten

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24200 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60204 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Die Sache war so: Vor einigen Jahren, an einem heißen Sommertag, erhob ich mich von einem angenehmen Mittagsschlaf, machte mir eine Tasse Kaffee und merkte beim Trinken, dass mich alle komisch anschauten und sich das Lachen verkniffen. Als ich mich bückte, um mir die Sandalen zuzuschnallen, entdeckte ich den Grund: Meine Zehennägel, alle zehn, waren glänzend rot lackiert.

»Was ist das?«, rief ich. »Wer hat mir denn die Zehennägel angemalt?«

Durch die halboffene Verandatür hörte man kichernde Stimmen, die ich von früheren Vorfällen nur zu gut kannte.

»Ich weiß, wer’s war«, rief ich laut, »ich werde euch finden, ihr Gören, werde euch schnappen und euch Nasen und Ohren mit demselben Lack anmalen, den ihr mir auf die Füße geschmiert habt, und ich schaff das alles, ehe mein Kaffee kalt wird.«

Das Kichern ging in Gelächter über und bestätigte meinen Verdacht. Während ich schlief, hatten Ronny und Naomi, die kleinen Töchter meines Bruders, sich angeschlichen und mir die Zehennägel lackiert. Die jüngere, erklärten mir die beiden später, hatte vier Nägel angemalt, die ältere sechs. Sie hatten gehofft, ich würde es nicht merken, würde so unter die Leute gehen und mich Hohn und Spott aussetzen. [6] Aber jetzt, da ihr Streich aufgeflogen war, stürmten sie ins Zimmer und riefen: »Mach den Lack nicht ab, nicht abmachen, das ist furchtbar schön.«

Ich sagte, ich fände es ja auch furchtbar schön, aber es gebe da ein Problem: Ich müsse zu einer »wichtigen Veranstaltung« und dort sogar eine Rede halten, könne so aber nicht vors Publikum treten, denn wir hätten jetzt Sommer, und im Sommer trüge ich Sandalen.

Über beides – die Veranstaltung wie auch meine Gewohnheit, Sandalen zu tragen – seien sie im Bilde, erwiderten die Mädchen, und gerade deswegen hätten sie es getan.

Ich erklärte, dass ich zu jeder anderen wichtigen Veranstaltung durchaus so gehen würde, nicht aber zu dieser wichtigen Veranstaltung. Und zwar wegen des Publikums dort, einem Publikum, vor dem kein zurechnungsfähiger Mann mit lackierten Zehennägeln erscheinen würde, und schon gar nicht mit roten.

Die wichtige Veranstaltung, von der wir redeten, war die Einweihung des frisch renovierten Waffenverstecks der Hagana in einem der Bauernhöfe in Nahalal. Das Versteck war in der britischen Mandatszeit gebaut worden, und zwar zur Tarnung in der umfunktionierten Jauchegrube eines Kuhstalls. In meinem Buch Ein russischer Roman habe ich ein fiktives Waffenversteck in einem gleichfalls fiktiven Dorf in der Jesreelebene, die im Hebräischen Emek Israel oder kurz Emek genannt wird, beschrieben, und auch das war nach diesem Muster gebaut und getarnt. Nach Erscheinen des Romans tauchten immer mehr Leser auf dem echten Grundstück in dem echten Dorf auf und wollten das echte Waffenversteck besichtigen.

[7] Das Gerücht verbreitete sich von Mund zu Mund, die wachsende Besucherzahl wurde zur Plage, doch die Eigentümer des Hofes wussten das Beste aus der Sache zu machen: Sie renovierten das Waffenversteck, errichteten ein kleines Besucherzentrum darüber, und schon hatten sie eine weitere Erwerbsquelle aufgetan. An dem Tag, an dem die beiden Töchter meines Bruders mir die Zehennägel rot lackierten, sollte die feierliche Eröffnung des renovierten Waffenverstecks stattfinden, und ich gehörte zu den Festrednern.

»Jetzt holt mal Nagellackentferner und befreit mich von dieser schönen Farbe«, bat ich Ronny und Naomi. »Und beeilt euch bitte, denn ich muss bald los!«

Die beiden weigerten sich. »Geh so!«, sagten sie.

Ich erklärte ihnen erneut, dass es sich um eine ausgesprochen männliche Veranstaltung handle, an der mehrere Generationen von Kämpfern aus dem Emek teilnehmen würden: Veteranen der Hagana, der israelischen Streitkräfte und der Palmach, Männer, die unter dem Zeichen des Schwertes und der zwei Ähren kämpften, die Lanzen zu Winzermessern schmiedeten und umgekehrt. »Kurzum, Mädels, es geht um Leute, die Männer mit roten Zehennägeln nicht gerade mit offenen Armen empfangen.«

Aber Naomi und Ronny blieben ungerührt von meinen Argumenten. »Das kann dir doch egal sein!«, riefen sie. »Du hast selbst gesagt, dass es schön aussieht.«

»Wenn ihr das nicht abmacht, zieh ich Schuhe an!«, drohte ich. »Dann sieht kein Mensch euren roten Lack und fertig!«

[8] »Du hast Angst!«, schleuderten sie mir entgegen. »Du hast Angst vor dem, was man im Dorf über dich sagen wird.«

Diese Worte wirkten sofort. Die beiden hatten mich unwissentlich an einer empfindlichen Stelle getroffen. Wer die alte Arbeitersiedlungsbewegung mit ihren Genossenschaftsdörfern, den Kibbuzim und Moschawim, kennt und die Kritik ihrer Bewohner am eigenen Leib erfahren hat, der weiß: In kleinen Ortschaften gibt es stets prüfende Augen, häufig unverblümte Kommentare, und Gerüchte fliegen auf und landen wie Kraniche auf einem Saatfeld – besonders in Orten, deren Geschichte so bekannt und ruhmreich ist wie die Nahalals. Hier werden strengere Maßstäbe angelegt, und wenn jemand aus der Reihe tanzt und vom geraden Weg abweicht, sei es nach rechts oder links, nach oben oder unten, ja auch nur einen einzigen Kindheitsfehler begangen hat – es wird nicht vergessen. Erst recht bei einem, der als »Sonderling« gilt, als »komischer Vogel«, als »Zudrejter«, das heißt als »Durchgeknallter«, und somit auch als »Ungeratener« – das krasse Gegenteil des »Wohlgeratenen«, einem der höchsten Titel, die das Dorf an seine tüchtigen Leute vergibt.

Doch nach vielen Jahren in der Stadt hatten die Worte »was« und »wird man« und »im Dorf« und »sagen«, einzeln und zusammengenommen, etwas von ihrer Kraft und Bedrohlichkeit verloren. Deshalb beschloss ich nach kurzer Überlegung, den Fehdehandschuh – oder genauer gesagt, die Sandalen – aufzuheben. Ich schnallte sie zu, steckte mein Redemanuskript in die Hemdtasche und machte mich mit bloßen, rotlackierten Zehen auf zur Einweihung des [9] Waffenverstecks. Die Blicke meiner Angehörigen begleiteten mich, manche belustigt oder bekümmert, andere schadenfroh oder sorgenvoll – würde der, der nun aufbrach, seine Familie und sein Haus wiedersehen? Und in welchem Zustand?

Ich muss gestehen: Trotz meines kühnen Abgangs wuchs meine Besorgnis, je näher Zeit und Ort der Veranstaltung rückten. Bei der Ankunft war mir schon flau im Magen. Ich hoffte insgeheim, dass man meine Zehen gar nicht beachten würde, und mein Wunsch schien in Erfüllung zu gehen. Kein Mensch machte eine Bemerkung, keiner sagte etwas. Ganz im Gegenteil begegneten mir alle äußerst herzlich. Meine rechte Hand wurde von markigem Händedruck zerquetscht. Meine Schulter wankte unter mannhaftem Schulterklopfen. Und auch meine kurze Ansprache ging glatt und zur allgemeinen Zufriedenheit über die Bühne, oder das meinte ich wenigstens.

Ich nutzte das Waffenversteck natürlich metaphorisch – als Sinnbild der Erinnerung und dessen, was sich allgemein in den Tiefen der menschlichen Seele verbirgt. Nach Schriftstellerart verlor ich auch einige Worte über das, was auf und was unter der Oberfläche geschieht, was sichtbar ist und was nicht, und von dort war es nicht mehr weit zu erprobten Waren wie »Dichtung und Wahrheit«, »das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in der Literatur« und das übrige Gemüse, das Schriftsteller feilbieten und mit geschlossenen Augen anpreisen können.

Doch als ich geendet hatte, von der kleinen Bühne trat und erleichtert aufatmete, sagte mir eine Frau aus der Familie, auf deren Hof das Waffenversteck lag, sie würde gern [10] kurz unter vier Augen mit mir sprechen. Sie dankte mir für meine Rede, sagte sogar, sie sei völlig in Ordnung gewesen, fügte dann aber, fast beiläufig, hinzu, sie würde gern wissen, welchen Nagellack ich benützte. Zwei ihrer Freundinnen, die im Publikum saßen, hätten sie gebeten, das herauszufinden, und auch ihr gefalle dieses Rot ausnehmend gut.

Und als ebendieses Rot nun auf meine Wangen trat, hob meine Gesprächspartnerin hastig hervor, dass sie gar nichts dagegen habe, ganz im Gegenteil. So etwas habe ihr im Dorf immer schon gefehlt und könne sogar ein hoffnungsvolles Vorzeichen künftiger Entwicklungen sein. Aber unter den anderen Teilnehmern des Festakts habe es Bedenken erregt.

»Ich dachte, man hätte es gar nicht beachtet«, sagte ich.

»Nicht beachtet? Man spricht von nichts anderem«, erwiderte sie. »Aber du kannst dich damit trösten, dass es keinen überrascht hat. Ich habe sogar eine Frau sagen hören: Was wollt ihr denn? Das hat er von Tonia. Die war genauso verrückt wie er. So ist das bei denen in der Familie.«

[11] 2

Tonia war meine Großmutter mütterlicherseits, und ich fand sie kein bisschen verrückt. Sie war anders. Sie war eigenartig. Sie war das, was wir ein »Original« nennen. Sie war, gelinde gesagt, ein schwieriger Mensch. Aber verrückt? Das nicht. Doch wie in anderen Fragen stimmen mir auch darin nicht alle zu. Manche sind anderer Meinung, im Dorf und in der Familie.

Die Geschichte, die ich hier erzählen möchte, handelt von meiner Großmutter und ihrem »Sweeper«. So nennen wir den Staubsauger, den Onkel Jeschajahu, der ältere Bruder von Großvater Aaron, ihrem Ehemann, ihr geschickt hatte. Ich möchte betonen, dass ich sehr wohl weiß, dass »Sweeper« und »Staubsauger« zwei verschiedene Geräte sind, aber Großmutter Tonia nannte ihren Staubsauger »Sweeper«, und so bezeichnen wir bis heute jeden Staubsauger, mit diesem Namen und demselben Akzent, mit rollendem russischen R und tiefem russischen I-Laut.

Was Onkel Jeschajahu angeht: Ihm bin ich nie begegnet, aber die Geschichten, die ich seit meiner Kindheit über ihn hörte, zeichnen das Bild einer problematischen, um nicht zu sagen, negativen und schädlichen Persönlichkeit. Mitten in der Zeit der zweiten Einwanderungswelle, der »hebräischen Arbeit« und der Trockenlegung der Sümpfe, entschied sich [12] Onkel Jeschajahu, nach Amerika auszuwandern und gewissermaßen die Wüsten von Los Angeles zum Blühen zu bringen. Ja, damit nicht genug, änderte er seinen hebräischen Namen in das englische »Sam« und gründete ein business, mit dem er sein Geld unter Ausbeutung der Arbeiterklasse verdiente.

Beide Brüder entstammten einer chassidischen Familie, und beide kehrten der Religion den Rücken. Aber Großvater Aaron tauschte seine Religion gegen einen anderen glühenden Glauben, den an Sozialismus und Zionismus, während sein älterer Bruder sich bestens mit dem amerikanischen Kapitalismus arrangierte. Großvater Aaron verzieh ihm das nicht. Er nannte ihn sogar »den doppelten Verräter« – weil er weder Zionist noch Sozialist war.

Der »Sweeper« wiederum war ein großer und starker Staubsauger der Marke General Electric, desgleichen man im Dorf, in der Jesreelebene, ja in ganz Palästina noch nie gesehen hatte und auch künftig nicht sehen würde. So erzählte es mir meine Mutter, die ihn auch wunderbar beschreiben konnte. Er hatte ein riesiges, chromglitzerndes Gehäuse, sagte sie, und große, leise Gummiräder, und einen starken Elektromotor und ein langes, biegsames Saugrohr. Aber trotz aller Hochachtung und Sympathie, die ich für ihn empfinde, und trotz der Tatsache, dass der Staubsauger der Held dieses Buches ist, muss ich gleich jetzt einräumen, dass seine Geschichte nicht zu den wichtigen Geschichten meiner Familie zählt. Es ist keine Liebesgeschichte, obwohl es darin Liebe gibt. Es ist keine Geschichte vom Tod, auch wenn so einige ihrer Helden längst gestorben sind. Es ist keine Geschichte über Rache und Verrat, obwohl beides [13] darin vorkommt. Und sie birgt nicht den Schmerz, den andere Geschichten unserer Familie enthalten, kennt jedoch Leiden, die damit verwandt sind.

Kurzum, es ist keine jener Geschichten, die mit uns aufstehen, uns auf unseren Wegen begleiten und mit uns schlafen gehen, sondern eine Geschichte, die wir einander gelegentlich erzählen, eine Geschichte, die wir von den ersten Generationen an jene weitergeben, die Großvater Aaron nicht gekannt haben, auch nicht den Sweeper, den sein Bruder Großmutter Tonia schickte, ja nicht einmal Tonia selbst.

Die große Geschichte meiner großen Familie schreibe ich vielleicht ein andermal in einem anderen Buch. Darin werde ich von meinen Eltern und deren Eltern erzählen, von den Jabbok-Furten, die sie durchquerten, und von den Kämpfen, die sie ausfochten. Ich werde die körperliche Schwerarbeit schildern und die lebenslängliche Einkerkerung ihrer Herzen. Werde meinen Kugelschreiber zücken für die Scharmützel der Liebe, für die Kriege der Ideenhirten, die Leidenswettbewerbe, die Vormachtskämpfe um die Brunnen der Erinnerung. Ich werde die bekannten und unbekannten, die versteckten und die offensichtlichen Verrückten benennen, werde über die entführte Tochter und die verstoßenen Söhne schreiben – und all das, meine Herrschaften, im Rahmen der zionistischen Revolution.

Falls ich dieses Buch schreibe, dann nicht heute oder morgen und auch nicht in den nächsten Jahren. Ich werde es schreiben, wenn ich älter und gemäßigter und mutiger und versöhnlicher geworden bin – und ich bin keineswegs sicher, ob ich dieses Versprechen je einlösen werde. Vorerst, [14] in diesem kleinen Buch, möchte ich nur eine einzige Geschichte erzählen: die von Großmutter Tonia und ihrem Sweeper, den Onkel Jeschajahu ihr aus den Vereinigten Staaten schickte.

Diese Geschichte ist eine wahre Geschichte, ihre Helden sind real und ihre Namen echt. Aber wie alle Geschichten in unserer Familie hat auch sie einige Versionen, jede mit ihren Übertreibungen und Zusätzen und Auslassungen und Verbesserungen. Und noch etwas muss ich vorausschicken: Hie und da werde ich eine kleine Nebengeschichte einfügen, die dem Verständnis und der Orientierung dient, werde eine vergessene Tat aus dem Schlaf kitzeln und versunkene Bilder heraufbeschwören. Hier und da wird Kichern in einen Schrei umschlagen und ein Weinen in Gelächter.

[15] 3

Mein Großvater mütterlicherseits, Aaron Ben-Barak, wurde 1889 geboren und wuchs in dem Schtetl Makarow in der Ukraine auf. Mit neunzehn Jahren übersiedelte er nach Palästina, und wie viele seiner Genossen unter den Pionieren der Zweiten Alija, der zweiten Einwanderungswelle, zog er im ganzen Land umher und arbeitete überall: in Sichron Jaakov und in Hulda, in Ben Schemen und in Kfar Urija, in Beer Jaakov, das er und Großmutter Tonia »Berjakov« aussprachen, und noch in anderen Farmbetrieben und Dörfern. Da er von Ort zu Ort wanderte und wache Augen, ein warmes Herz, Humor und Schreibtalent hatte, verfasste er gelegentlich Aufsätze und Reportagen für die Zeitung Hapoel Hazair – »Der junge Arbeiter«.

Seine erste Frau, Schoschana, geborene Pecker, aus dem ukrainischen Dorf Rokitno, gebar ihm Itamar, meinen älteren Onkel, und Binjamin, den alle Binja nannten. Im Jahr 1920 erkrankte Schoschana an Malaria und starb jung. Drei Jahre später trafen weitere Verwandte der Peckers aus Rokitno ein: Schoschanas Halbgeschwister, Jaakov und Tonia, und deren Mutter, Großmutter Batja. Der Vater der Familie, Mordechai Zvi, war schon eher eingewandert und bereits gestorben, und auch Tonias große Brüder, Mosche und Jizchak, lebten schon im Land.

[16] Aaron Ben-Barak, Witwer und Vater zweier kleiner Kinder, und Tonia Pecker, eine ledige junge Frau von achtzehn Jahren, beschlossen zu heiraten. Viele Jahre später, als auch ich in die Familie gekommen und herangewachsen und zu einem derer geworden war, denen Großmutter Tonia ihr bitteres Herz ausschüttete, erzählte sie mir immer wieder ihre Version der Hochzeitsgeschichte: »Die Sache war so: Ich war ein junges Mädchen, das nichts vom Leben wusste, und er war ein erfahrener Mann, vierzehn Jahre älter als ich, und er hat mir Versprechungen gemacht und Geschichten erzählt, und so ist es passiert…«

Abbildung

Nahalal, 1925. Obere Reihe (von links): Onkel Jizchak, Vetter Matitjahu, Großvater Aaron, Onkel Jaakov, Onkel Mosche. Sitzend: Binja, Großmutter Tonia mit Micha, Mosches Frau Chaja mit Sohn Oded, Itamar.

»Die Sache war so« war die Eingangsformel für jede Geschichte, die sie erzählte. Sie sprach diese Worte unweigerlich in ihrem starken russischen Akzent, mit dem R, bei dem [17] die Zungenspitze nur so am Gaumen ratterte. Auch ihre Kinder – meine Mutter und deren Geschwister – sagten »die Sache war so« mit demselben Akzent und demselben R, wenn sie eine Geschichte begannen, und nicht nur sie. Bis heute benutzen wir diese Eröffnung und diesen Akzent, um zu sagen: Das ist die Wahrheit. Was ich gleich erzähle, entspricht den genauen Tatsachen.

Manche sagen, Großvater Aaron habe sich tatsächlich haargenau in dem Augenblick in Großmutter Tonia verliebt, als er sie von Bord des Schiffes gehen sah. Manche raunen, er habe sogar, wie in russischen Romanen gang und gäbe, mit Selbstmord gedroht, falls sie sein Werben nicht erhöre. Das behauptete auch Großmutter Tonia selbst, sie fügte sogar an, Großvater Aaron habe angekündigt, »sich in den Jordan zu werfen«. Warum gerade in den Jordan? Nun, Erhängen passt nicht für diese Sorte Selbstmord. Schlaftabletten und hohe Gebäude waren damals Mangelware. An Pistolen kam man schwer heran, Munition war rar und teuer, und wer damals eine Kugel vergeudete, um sich das eigene Leben zu nehmen, wurde des »Egoismus« beschuldigt und von der Gesellschaft gebrandmarkt. Dagegen nun der Jordan – poetisch, romantisch, nicht so groß wie die altvertrauten Flüsse in Russland, aber mit einer Aura, die jenen fehlte. Außerdem war er nah und gut erreichbar – »in Erez Israel ist alles nah«, erklärte mir Großvater Aaron Jahre später persönlich bei einem Gespräch, in dem er alles ableugnete, was Großmutter sagte.

Andere erzählten, Großvater Aaron habe Großmutter Tonia aus einem einfacheren und praktischeren Grund [18] begehrt: Er hoffte, sie würde die Söhne großziehen, die ihre Schwester ihm geboren hatte, und ihnen eine gute Mutter sein. Daraus wurde nichts, und Großmutter Tonias Beziehung zu Schoschanas Söhnen ist eine schwärende Wunde in der Familienchronik. Auch Schoschana und Tonia waren ihrem Vater von einer ersten und einer zweiten Frau geboren worden, und manche behaupten, nach zwei Generationen von Zweitehen und Kindern zweier Mütter sei die Sache noch viel komplizierter, als ich sie gemeinhin schildere.

Wie gesagt, gehörte Großvater Aaron zu den Pionieren der Zweiten Alija, während Großmutter Tonia mit der dritten Einwanderungswelle ins Land gekommen war. Er zählte zu den »Gründern von Nahalal« und sie zu den »Ersten von Nahalal«. Trotz dieser Unterschiede, denen in den ersten Moschawim und Kibbuzim große Bedeutung beigemessen wird, setzten sie fünf Kinder in die Welt: Micha, Batja, die meine Mutter ist, die Zwillinge Menachem und Batscheva und den Nachzügler Jair. Alle fünf waren geborene Geschichtenerzähler, und viele ihrer Geschichten handelten von ihrer Mutter.

»Kommt ein junges Mädchen aus Russland, ein Mädchen mit zwei Zöpfen, im Gymnasiastinnenkleid, trinkt ihren Tee so, den kleinen Finger vom Glas abgespreizt, und dann geradewegs ins Emek Israel, in den Staub und den Dreck und die Arbeit und den Morast…«, erzählte mir meine Mutter über ihre Mutter.

Ich spürte, dass sie sie verstehen und erklären, ihr vielleicht auch etwas verzeihen wollte: »Sie kam her, entdeckte, dass all das Gerede über das Vermögen, das ihr Vater hier angeblich besaß, nicht stimmte, dass Großvater Aaron zwar [19] viele Vorzüge und Begabungen hatte, aber kein tüchtiger Bauer war, und versank in einem Leben voll Not und Arbeit. Und trotz alledem entschloss sie sich, nicht zu zerbrechen und nicht nach Russland zurückzukehren und nicht nach Amerika auszuwandern und nicht nach Tel Aviv zu übersiedeln. Wir hatten kein leichtes Leben mit ihr, aber für diesen Bauernhof muss die ganze Familie ihr danke sagen.«

Tatsächlich hatte Onkel Aaron noch anderes als Landwirtschaft im Kopf. Ich habe schon erzählt, dass er manchmal Aufsätze und Reportagen für Der junge Arbeiter schrieb, und in Nahalal verfasste er ein satirisches Lokalblatt namens Die Fliege. Auch die Sederabende, die er seinerzeit veranstaltete, waren berühmt. Nachdem jede Familie ihre häusliche Sederfeier beendet hatte, gingen alle ins »Volkshaus«, wo ein turbulenter Seder der etwas anderen Art stattfand, mit eigens verfassten scharfzüngigen Bearbeitungen der Lieder aus der Haggada, in denen er Personen und Ereignisse aus dem Dorf und der Moschaw-Bewegung aufs Korn nahm.

Doch am nächsten Morgen hieß es wieder früh aufstehen zum Pflügen und Melken, Säen und Mähen, und gelegentlich, wenn Großvater Aaron die Last und die Verantwortung nicht mehr aushielt, verkündete er: »Ich habe Kopfschmerzen«, und machte sich aus dem Staub. Und Großmutter Tonia sagte darauf, »er entfleucht wieder mal«, und lief ihm nach, um ihn zurückzuholen.

»Das hier war eine Tragödie für ihn und für sie«, erzählte meine Mutter. »Mein Vater hätte anderswo ein anderes Leben führen sollen, ein Leben, das seiner Persönlichkeit und seinen Begabungen eher entsprochen hätte. Aber sie war [20] entschlossen, den Hof mit Zähnen und Klauen zu erhalten, und ebendiese Zähne und Klauen hat sie in die Erde und ins Haus und in uns und in ihn geschlagen. Und da jeder Mensch einen Feind braucht, war ihr Feind der Schmutz.«

[21] 4

Als die Gründer von Nahalal sich auf dem zugeteilten Stück Land niederließen, wohnten sie in Zelten. Später übersiedelten sie in Holzbaracken, und als die ersten richtigen Gebäude errichtet wurden, waren sie nicht für die Menschen, sondern fürs Vieh bestimmt. Erst 1936, fünfzehn Jahre nach der Dorfgründung, wurden Bauernhäuser gebaut und ans Stromnetz angeschlossen.

Dieser Umstand ist außerordentlich wichtig, denn der Held der Geschichte, jeder Geschichte, muss in Aktion treten. Und der Held dieser Geschichte ist ein Elektrogerät: ein Staubsauger.

Jede Familie weihte ihr Haus damals auf ihre Weise ein. Ich weiß nicht, was andere Familien taten, aber Großmutter Tonia vollzog eine eigene kleine Zeremonie, deren ungeheure Bedeutung und Tragweite nicht alle erfassten: Sie umwickelte die Klinke der Eingangstür mit einem kleinen Lappen. Das Haus sei neu und sauber, erklärte sie, und die Klinke neu und blank, der Lappen solle sie gegen Schmutz und Flecken schützen.

Alle grinsten, aber innerhalb weniger Tage stellte sich heraus, dass dieses unscheinbare Läppchen selbst eine Art Pionier war. Weitere Lappen tauchten in seinem Gefolge auf und umhüllten die Klinken sämtlicher Türen sowie die [22] Griffe einiger Schubladen, Fenster und Schränke, und sie blieben dort bis zu ihrem, und Großmutters, letztem Tag.

Einen weiteren Lappen schwang Großmutter Tonia sich über die linke Schulter. Er war größer als all seine Brüder auf den Griffen und war sich seiner Wichtigkeit und Vorrangstellung voll bewusst: eine Art Wächterlappen, der sie auf Schritt und Tritt begleitete, allzeit für einen Blitzeinsatz bereit – wenn sie etwa einen Fleck abwischen wollte, der ihr zuvor entgangen war, nun aber plötzlich ins Auge stach, oder wenn ihr ein Utensil auffiel, das eine Reinigung nötig hatte, oder sie sich die Hände abwischen musste, ehe sie etwas Sauberes anfasste, das keinen eigenen Abdecklappen hatte.

Auch ich, ein Dutzend Jahre später geboren, erinnere mich gut an diesen Schulterlappen und an all seine Gefährten, die wie Gefechtsfähnchen auf Klinken und Griffen prangten, sie gegen den Direktkontakt mit Händen und Fingern schützten. In jenen Zeiten pries jedermann die arbeitenden Hände, die Hände des Baumeisters, des Arbeiters und des Wächters, vor allem aber die Hände des Bauern, die pflanzen, mähen, melken und pflücken. Auch Großmutter Tonia war eine fleißige Bäuerin, die bei jeder Arbeit Hand anlegte, aber als realistische Frau wusste sie: Bei allem Respekt für die landwirtschaftliche Arbeit im Allgemeinen und die hebräische Arbeit im Besonderen – Bauernhände kommen mit Schmutz aller Art in Berührung: mit Schlamm und Staub, mit Kuhmist und Hühnerdreck, mit der »schwarzen Salbe« für die Bäume und mit dem schwarzen Schmieröl der Maschinen, und diese ganze schöne Bescherung sucht nur nach einem sauberen Plätzchen, um sich festzusetzen und es [23] zu verdrecken. Selbst wenn man sich die Hände gründlich wäscht, hinterlässt sie Flecken, ja schlimmer noch – »Spuren«.

Das Haus hatte seinerzeit drei Zimmer, Küche und Bad, eine Vordertür zur Straße und eine Hintertür zum Hof. Vor der Hintertür hatte man eine geräumige Fläche betoniert: die sogenannte »Plattform«, auf der sich das Familienleben größtenteils abspielte. Ich war damals noch nicht auf der Welt, und die Geschichten über die »Plattform« machten mich neidisch. Hier saß man und redete, schälte Mais und Kartoffeln, rupfte und zerlegte Tauben und Hühner, knetete Teig, bauschte Geschichten auf, legte Gurken ein, konservierte Obst und kochte Marmelade. Hier nahm Onkel Jizchak, Großmutter Tonias Bruder, auch den Staubsauger auseinander, den Onkel Jeschajahu ihr geschickt hatte, und deckte sein Innerstes und seine Schande auf. Aber alles zu seiner Zeit.

Die Marmeladen köchelten in einer großen Kupferwanne, die im Dorf von Haus zu Haus weitergegeben und auf eine Feuerstelle im Hof gestellt wurde. Bei uns entzündete man das Feuer im Schatten des Granatapfelbaums neben der Baracke, und die eingedosten Marmeladen hielten sich sehr lange. Eines Tages, Großmutter war schon ein paar Jahre tot, fand ich in der alten Holzbaracke eine solche Dose und öffnete sie mit dem Dosenöffner. Ein leichter Geruch nach Lagerfeuer stieg heraus, und wie es Lagerfeuergeruch so an sich hat, ließ er meine Augen überquellen.

Fünfzehn Jahre nach seiner Erbauung wurde das Haus erweitert und renoviert: Die alte Küche verwandelte sich in [24] ein zweites Wohnzimmer, auf der Plattform entstand die neue Küche mit überdachter Veranda davor, und man baute ein Badezimmer und eine Toilette an. Das ist das Haus, wie ich es kannte. Ich habe es gut im Gedächtnis, von innen und außen, und erinnere mich, wie eifersüchtig Großmutter es hütete.

Zunächst einmal achtete sie streng darauf, dass man das Haus nur durch die Tür im Hof betrat und nicht durch die Vordertür von der Straße her, denn durch die Vordertür wäre der Gast direkt in den geschützten, verbotenen Teil des Hauses gelangt. Sooft jemand dort anklopfte, erklang von drinnen ihr energischer Ruf: »Außen rum! Die andere Tür!«, und der Besucher musste ums Haus herumgehen – ohne einen Fuß vom betonierten Weg auf die Erde zu setzen, damit ihm ja kein Schlamm oder Staub anhaftete – und erreichte so über die Veranda die Hintertür, nur um zu gewärtigen, dass er auch dort nicht eingelassen wurde, es sei denn, er war ein hoher Ehrengast.

Großmutter Tonia hatte gern Gäste, nahm die Wendung »gastliches Haus« jedoch nicht wörtlich. Gäste ins Haus lassen? O nein, keineswegs! Das Gebot der Gastfreundschaft erfüllte sie draußen. Die Gäste saßen auf der Veranda, und Großmutter holte ihnen ein Glas Tee, Kekse mit Marmelade und Obst heraus. Sie fragten sich sicher: Was ist denn im Haus, dass sie es wie ihren Augapfel hütet? Aber die wenigen, die eingelassen wurden, fanden ein ganz normales und bescheidenes Heim vor. Eine kleine Küche zur Rechten, ein Flur mit Bad und Toilette am Ende und ein »Esszimmer« zur Linken. Ich setze es in Anführungszeichen, weil es nur so hieß. Gegessen wurde dort lediglich [25] einmal im Jahr – am Sederabend. Die übrige Zeit des Jahres wurde darin geschlafen, und essen tat man auf der Veranda oder in der Küche.

Vom Esszimmer bog ein zweiter kleiner Flur zum alten Teil des Hauses ab. Hier, erzählte mir meine Mutter, hatte die Familie nach den Jahren in der Baracke gewohnt. Ihre Augen leuchteten, wenn sie davon sprach. Es war ein Haus voller Leben, Geschichten, Liedern und Humor gewesen. Doch als die Kinder meiner Großeltern erwachsen wurden und ihrer eigenen Wege gingen, wurde dieser Bereich endgültig geschlossen, und so, abgesperrt und verboten, habe ich ihn in Erinnerung. Es gab dort ein Zimmer, das wenigen auserwählten Gästen vorbehalten blieb, und zwei Zimmer, die Sperrgebiet für die gesamte Menschheit waren, selbst für Familienangehörige, ja sogar für »Blutsverwandte«. Großmutter Tonia unterschied zwischen »Blutsverwandten« und »Nichtblutsverwandten«, aber auch das gehört nicht zu der Geschichte, die ich hier erzählen möchte, der Geschichte des Staubsaugers, den Onkel Jeschajahu ihr aus den Vereinigten Staaten schickte.

Hier, in den zwei ständig verschlossenen Zimmern, stand ihr »Mobiliar«. Wer sich darunter Mahagoni und Ebenholz, Schränkchen und Kommoden vorstellt, dem sei gesagt, dass es schlichte Möbel waren: Es gab dort einen Schrank, bei dem ich versucht bin, ihn den »Heiligen Schrein« zu nennen, es mir aber verkneifen werde. Und es gab dort ein Sofa, auf dem kein Mensch je die Beine ausstreckte, zwei kleine Sessel, auf denen keiner je saß, und eine Anrichte, deren Türen und Schubladen nie aufgemacht wurden, voll mit Essgeschirr, das nie einen Tisch oder einen Tischgast zu Gesicht [26] bekam. Als Kind argwöhnte ich, dass dieses Geschirr nur in der Erinnerung meiner Mutter und ihrer Schwester Batscheva existierte. Da in unserer Familie Erinnerung und Phantasie zwei Namen für ein und dasselbe sind, zweifelte ich an seiner tatsächlichen Existenz. Aber nach Großmutter Tonias Tod sah ich es mit eigenen Augen.

Im Nebenzimmer stand ein Doppelbett mit hohem Kopfende aus Metall, das dunkelbraun gestrichen war, so dass es wie Holz aussah. Früher hatte dieses Bett Großvater und Großmutter gedient, aber zu meiner Zeit schlief niemand mehr darin. Es spürte nicht mehr die Schwere und Wärme eines menschlichen Leibes, nicht sein schlafloses Wälzen, weder das Beben im Traum noch die Regungen der Liebe – »das Bett kannte Liebe, als Liebe da war«, bemerkte eine Verwandte einmal treffend –, noch die Berührung von Decke und Laken, abgesehen von dem alten Leintuch, das es gegen Staub schützen sollte.

Nicht nur das Bett, auch alle anderen Gefängnisinsassen – Sessel und Stühle, Sofa, Tisch, Schrank und Anrichte – waren in solch alte Totenschleier gehüllt. Kein Mensch setzte sich auf sie, kein Auge sah sie, außer den Augen von Großmutter Tonia, die gelegentlich hineinging, um »mit dem Lappen drüberzugehen« und nachzuprüfen, dass keiner von ihnen schmutzig geworden oder getürmt war. Aber einmal im Jahr, zu Ehren des Sederabends, holte sie die Stühle heraus und brachte sie ins Esszimmer, und so betrat auch ich erstmals das Heiligtum, denn vor dem achten Pessachfest meines Lebens wurde ich für reif und verantwortungsbewusst genug befunden, um bei den Festvorbereitungen mitzuhelfen.

[27] Ich erinnere mich sehr gut an jenen Tag. Neugierig und aufgeregt stand ich hinter Großmutter Tonia. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn, öffnete die Tür und sagte: »Du darfst reingehen, aber fass nichts an.«

Ich ging hinein. Zum ersten Mal war ich in ihren verbotenen Zimmern. Bei der Niederschrift dieser Worte kommt mir auch mein letztes Mal, rund dreißig Jahre später, in den Sinn, als wir am Tag ihrer Beerdigung vom Friedhof in ihr Haus zurückkehrten, aber beim ersten Mal lebte sie und schloss die Tür mit einem Schlüssel auf, den sie aus der Tasche ihres Kleides gezogen hatte.

Kühle, dämmrige und kristallklare Stille schlug mir entgegen. Die Luft hatte dort so lange gestanden, dass sie sich auf meiner Haut wie Wasser anfühlte. Fenster und Läden waren geschlossen. Die Lappen, die die Griffe schützten, waren über die Jahre verschlissen, durchbrochen wie Spitzen. Alles war sauber und weiß und kristallklar und ermattet. So sauber, dass zwei Sonnenstrahlen, die durch die Ladenritzen drangen, keine Staubpartikel beschienen, wie sie es jeden Morgen in den anderen Zimmern taten, sondern nur zwei bebende Lichtflecke an die Wand malten.

Großmutter Tonia zog das Laken von einem der Stühle in der Ecke. Er blinzelte mit seinen Holzaugen, entblößt und geblendet.

»Kannst du ihn ins Esszimmer tragen?«, fragte sie mich.

»Ja«, sagte ich.

»Ganz allein?«

»Ja.«

»Heb ihn hoch. Schleif ihn mir nicht mit den Beinen über den sauberen Boden und ›kratzratz‹ mir nicht die Wand.«

[28] Abgesehen von ihrem reichen Wortschatz, ihrer Erzählfreude und ihrem typischen Akzent hatte ihr Hebräisch noch eine Eigenheit – alle Verben waren auf sie bezogen: Man schleifte ihr die Stühle über den sauberen Boden, verschmutzte ihr die aufgewischten Gehwege, kratzratzte ihr die gestrichenen Wände. »Kratzratzen« ist ein altes Familienwort, das in unserem Lexikon der Ausdrücke und Redewendungen noch immer häufig vorkommt. Er ist von dem jiddischen Wort Kratz für »Kratzer« abgeleitet, wird in unserer Familie aber nur für das Verkratzen von Wänden verwendet.

Eine Sprache muss viele Welten beschreiben: die reale Welt, in der sie lebt und wirkt, und die furchterregenden oder herbeigesehnten Phantasiewelten, in denen sie und ihre Sprecher leben oder nicht leben möchten. In vielen realistischen Häusern jener realistischen Zeit waren die Flur-, Esszimmer- und Küchenwände bis in anderthalb Meter Höhe mit Ölfarbe gestrichen, damit man sie abwischen konnte. Großmutter Tonia erfüllte das Gebot des Wandabwischens täglich, und ein Kratzer in der Ölfarbe war für sie ein derart gravierender Schaden, dass er ein eigenes Wort erforderte: Er war ein Kratz.

Vorsichtig, ohne ihr auch nur einen einzigen »Kratz« zu »kratzratzen«, trug ich ihr den Stuhl ins Esszimmer und stellte ihn ihr dort ab. Er blickte sich um, verdattert über seine jähe Blöße, die Freiheit und das starke Licht, so exponiert und so nahe bei den einfachen Stühlen, die von der Veranda und aus der Küche stammten. Sie waren an Licht und Leute, Blicke und Berührungen gewöhnt und erzählten einander, wie Mutter behauptete, lustige [29] Klatschgeschichten über allerlei Hintern, mit denen sie in Kontakt gekommen waren. Er dagegen war zwar froh und zufrieden über den Ausflug in die Weite und Freiheit, wusste aber, dass es nur für einen einzigen Abend war, dass er nur einem einzigen Hintern begegnen würde, und dass er nach dem Sederabend mit einer großen Bürste bearbeitet, abgeseift, trockengerieben, wieder in sein altes Laken gehüllt und bis zum nächsten Freiheitsfest in sein Gefängnis zurückbefördert werden würde.

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Wie gesagt gab es in Großmutter Tonias Haus zwei Badezimmer, das alte und das neue. Das neue hatte nur eine Dusche, aber im alten stand eine richtige Badewanne. Als ihre Kinder noch im Haus wohnten, war es in Betrieb, aber als sie erwachsen geworden waren und auszogen, wurde es für immer geschlossen.

Badezimmer, erklärte mir meine Mutter, sind höchst heimtückische und gefährliche Räume. Gerade sie, deren erklärtes Ziel Sauberkeit ist, werden erstaunlich dreckig: Kacheln, Fußboden, Wasserhähne, sanitäre Anlagen. Man braucht kein Genie zu sein, um zu begreifen, dass derjenige, der duschen geht, ein dreckiger Mensch ist, sonst hätte er es ja nicht nötig. Und so ein dreckiger Mensch lässt in der Dusche all den Unrat zurück, den er sich vom Leib entfernen wollte. Er tropft trübes Wasser auf den sauberen Boden, fasst mit schmutzigen Fingern an die sauberen Kacheln, hinterlässt überall Flecken und Spuren.

Im Winter wusch man sich im Haus, im Sommer jedoch draußen. Die Erwachsenen unter der »vorzüglichen Dusche«, wie Großmutter Tonia sie nannte – nichts weiter als ein Schlauch an einer Wand des Kuhstalls –, und die Kleinen am »Trog«, von dem ich noch erzählen werde. Mit den Jahren verbesserten sich die hygienischen Bedingungen: [31] Neben der Kükenbrüterei wurde eine Waschküche gebaut, und dort gab es warmes Wasser, dank eines großen Boilers mit Abzugsrohr. In seinem Innenraum brannte ein Feuer und erhitzte das Wasser zwischen den doppelten Wänden. Anfangs verfeuerte man darin Reisig und trockene Maisstrünke, später wurde eine Vorrichtung installiert, aus der Petroleum träufelte. Ich kann mich bis heute an das besondere Geräusch dieses Boilers erinnern – eine Art dumpfes, geheimnisvolles Bullern, das keinem anderen Klang ähnelte und dem kindlichen Ohr höchst angenehm und unheimlich zugleich war.

Wie in allen anderen Häusern gab es auch bei Großmutter Tonia ein Kämmerchen, das WC hieß, aber sie ermunterte einen nicht, es als solches zu benutzen. Eine Version der Geschichte vom ersten Besuch meines Vaters im Haus der Familie in Nahalal – er warb damals um meine Mutter – berichtet, dass er arglos das Örtchen aufsuchte und es blitzblank geputzt vorfand. Auf dem geschlossenen Klodeckel lag eine Zeitung, auf der Zeitung ein Holzbrett, mit einer weiteren Lage Zeitung abgedeckt, und darauf stand eine Backhaube, in der ein Pflaumenkuchen auskühlte.

An dieser Stelle sind zwei Dinge anzumerken. Erstens, dass Großmutter Tonia ein Händchen für Pflaumen hatte – ihr Pflaumenkuchen und ihre Pflaumenmarmelade waren wahre Kunstwerke. Und zweitens, dass mein Vater im Dorf nicht selten abfällig als Tilligent oder auch als Tillignat bezeichnet wurde – zwei Moschaw-Schimpfwörter für bebrillte Städter, die Bücher lesen und schreiben, statt zu arbeiten. Aber einige Tilligente waren auch intelligent, und mein Vater begriff sofort, dass das WC seiner künftigen [32] Schwiegermutter nicht für seinen ursprünglichen Zweck bestimmt war. Deshalb verkniff er es sich, und statt sich zu erleichtern, machte er sich über ihren Pflaumenkuchen her, verputzte die Hälfte und trat mit unschuldiger Miene heraus. Der Vorfall trug nicht gerade zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen bei, aber darauf werde ich später zurückkommen.

Auch über mich gibt es eine einschlägige Geschichte. Als ich im Alter von vier oder fünf Jahren bei Großmutter zu Gast war, erwischte sie mich vor der Toilettentür und wünschte zu wissen, wohin ich denn wolle.

»Dahin.« Ich zeigte auf die geschlossene Tür, ohne zu begreifen, was daran problematisch sein könnte.

»Musst du groß oder klein?«

»Klein.«

Sie atmete erleichtert auf, sagte, das könne man auch draußen tun, und bugsierte mich sogleich sanft, aber bestimmt – Großmutter Tonia war klein, aber kräftig – zur Haustür und von dort auf den Hof, mit der Erklärung, am Kuhstall stehe noch das alte Toilettenhäuschen aus der Zeit, als sie in der Baracke wohnten, und wenn ich wolle, könne ich auch die Abflussrinne für die Kühe benutzen oder den speziellen Zitrusbaum begießen, den Großvater gepflanzt und aufgepfropft hatte und von dem ich ebenfalls noch erzählen werde.

»Und geh nicht mit leeren Händen.« Sie reichte mir eine kleine Abfalltüte. »Wenn du schon auf den Hof gehst, nimm das mit und wirf es auf den Misthaufen.«

Großmutter Tonia konnte Dreck weder im Haus noch in seiner näheren Umgebung dulden, selbst wenn er schon [33] säuberlich zusammengekehrt und in einer Tüte im Mülleimer ruhte. Wer Richtung Hof ging, bekam von ihr etwas Abfall mit, in ein Stück Zeitung gewickelt oder in einer alten Papiertüte vom Dorfladen, und meist fügte sie die Aufforderung hinzu: »Bring mir auf dem Rückweg ein paar Eier von den Hennen mit.«