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Carson McCullers

Spiegelbild

im goldnen Auge

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Richard Moering

Mit einem Nachwort von

Tennessee Williams

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1941 bei Houghton Mifflin, Boston,

erschienenen Originalausgabe:

›Reflections in a Golden Eye‹

Die zugrundeliegende Übersetzung wurde

1958 unter dem Titel ›Der Soldat und die Lady‹

im Goverts Verlag, Stuttgart, veröffentlicht

und erschien 1966 unter dem Titel

›Spiegelbild im goldnen Auge‹ erstmals im Diogenes Verlag

Die Übersetzung wurde für diese Ausgabe überarbeitet

Das Nachwort von Tennessee Williams

erschien 1950 unter dem Titel

Introduction to Reflections in a Golden Eye

bei New Directions, New York

Die vorliegende Übersetzung von Elizabeth Gilbert

erschien 1974 erstmals auf Deutsch im Band

›Über Carson McCullers‹, detebe 20147

Copyright © 1950 by The University of the South

Permission by Mohrbooks AG, Zürich

Umschlagillustration: Edward Hopper,

›Summertime‹, 1943 (Ausschnitt)

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24226 3 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60213 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Für Annemarie Clarac-Schwarzenbach

[7] I

Eine Garnison in Friedenszeiten ist ein langweiliger Ort. Es geschieht wohl hin und wieder etwas, aber fast immer das Gleiche; und die bloße Anlage eines Forts genügt, diese Eintönigkeit noch zu steigern. Die riesigen Betonkasernen, die langen Reihen der Offiziershäuser, blitzblank und eins ums andere demselben Modell folgend, die Turnhalle, die Kirche, der Golfplatz und die Badeplätze – alles ist streng nach Plan entworfen. Vielleicht aber ist an dieser Eintönigkeit vor allem die inselhafte Abgeschiedenheit schuld und ein Übermaß an Muße und Routine; denn wer einmal ins Heer eingetreten ist, braucht fortan in allem nur noch seinem Vordermann nachzueifern. Dennoch geschehen gelegentlich sogar in einer Garnison Dinge, die sich nicht so leicht wiederholen.

Es gibt in einem der Südstaaten ein Fort, wo vor einigen Jahren ein Mord geschah. An dieser Tragödie waren beteiligt: zwei Offiziere, ein Soldat, zwei Frauen, ein Filipino und ein Pferd. Der [8] Soldat war Private Ellgee Williams. Gegen Abend sah man ihn oft allein auf einer der vielen Bänke sitzen, die den Bürgersteig vor den Kasernen säumen. Es war ein angenehmer Ort, man saß unter zweireihig gepflanzten jungen Ahornbäumen, die ihre luftig zarten Schatten auf den Weg und den Rasen warfen. Im Frühling war das Laub der Bäume leuchtend grün, in den heißen Monaten nahm es einen dunkleren, gedämpften Ton an, um sich dann im Spätherbst in flammendes Gold zu verwandeln. Hier pflegte Private Williams zu sitzen und auf das Signal zum Abendessen zu warten. Er war ein schweigsamer junger Mann, der in der Kaserne weder Feinde noch Freunde hatte. Wachsame Unschuld prägte seine runden, sonnengebräunten Züge. Seine vollen Lippen waren rot, und die Ponyfransen fielen ihm dicht und braun in die Stirn. In seinen seltsam bernsteinfarbenen Augen lag jener stumme Ausdruck, den man sonst bei Tieren findet. Auf den ersten Blick wirkte Private Williams etwas schwerfällig und linkisch. Aber der Eindruck täuschte. Er bewegte sich mit der lautlosen Geschicklichkeit eines Raubtieres oder eines Diebes; und wiederholt kam es vor, dass Soldaten, die sich allein glaubten, ihn plötzlich wie aus dem Nichts neben sich auftauchen sahen. Seine Hände waren klein, feingliedrig und sehr kräftig.

[9] Private Williams trank nicht, rauchte nicht, ging nicht zu Huren und spielte auch nicht um Geld. In der Kaserne war er meistens allein, seinen Kameraden war er ein Rätsel. Den Großteil seiner Freizeit verbrachte Private Williams in den Wäldern rund um das Fort. Das über zwanzig Quadratkilometer große Festungsgebiet war wildes, unberührtes Land, mit riesigen uralten Kiefern, den verschiedensten Blumen, sogar so scheue Tiere wie Hirsche, Wildschweine und Füchse gab es dort. Abgesehen vom Reiten konnte er nichts mit den Sportarten anfangen, die den Soldaten sonst offenstehen. Niemand hatte ihn je in der Turnhalle oder im Schwimmbad angetroffen; und nie hatte jemand ihn lachen, sich ärgern oder in irgendeiner Weise leiden sehen. Er aß dreimal am Tag gesund und reichlich und murrte nie über das Essen, wie es die anderen taten. Er schlief in einem Saal mit einer langen Doppelreihe von etwa drei Dutzend Feldbetten. Dort ging es selten still zu. Nachts, wenn die Lichter aus waren, hörte man die Kameraden schnarchen, fluchen und in ihren Träumen stöhnen. Private Williams aber verhielt sich ruhig; nur manchmal war ein leises Rascheln aus seinem Bett zu hören, wenn er einen Schokoladenriegel aus dem Papier wickelte.

Als Private Williams schon zwei Jahre gedient [10] hatte, schickte man ihn eines Tages zur Unterkunft eines gewissen Hauptmanns Penderton. Das kam folgendermaßen: Private Williams hatte ein Händchen für Pferde bewiesen und war in den letzten sechs Monaten oft zum Stalldienst abkommandiert worden. Hauptmann Penderton hatte mit dem Unteroffizier telefoniert; und da gerade viele Pferde auf Manöver waren und es in den Ställen wenig zu tun gab, wurde Private Williams mit dieser besonderen Aufgabe betraut, die im Übrigen sehr einfach war. Hauptmann Penderton wollte einen Teil des Unterholzes hinter seinem Haus roden lassen, um dort später einen Bratrost für Gartenpartys aufzustellen. Die Arbeit würde etwa einen Tag in Anspruch nehmen.

Private Williams begann sein Werk gegen halb acht morgens. Es war ein milder, sonniger Oktobertag. Er wusste bereits, wo der Hauptmann wohnte, da er auf seinen Spaziergängen durch den Wald mehrmals an dem Haus vorbeigekommen war. Auch den Hauptmann selber kannte er vom Sehen, ja, einmal hatte er ihm gar versehentlich einen Schaden zugefügt. Vor anderthalb Jahren war der Soldat für ein paar Wochen als Bursche abkommandiert worden, und zwar zum befehlshabenden Leutnant seiner Einheit. Eines Nachmittags hatte Hauptmann Penderton dem Leutnant einen Besuch [11] gemacht. Private Williams servierte einen Imbiss und goss dem Hauptmann eine Tasse Kaffee über die Hose. Außerdem sah er den Hauptmann häufig im Stall, denn er sorgte für das Reitpferd der Frau des Hauptmanns – ein kastanienbrauner Hengst, das mit Abstand schönste Pferd in der Garnison.

Der Hauptmann wohnte am Rand des Forts. Sein mit Mörtel verputztes Haus war zweistöckig, hatte acht Zimmer und sah aus wie alle anderen Häuser in dieser Straße, außer dass es ein Eckhaus war. Auf zwei Seiten grenzte der Rasen an den Wald des Festungsgeländes; rechts wohnte der einzige Nachbar des Hauptmanns, Major Morris Langdon. Die Häuser in der Straße blickten auf eine weite braune Rasenfläche, die noch vor kurzem als Polofeld benutzt worden war.

Als Private Williams eintraf, kam der Hauptmann heraus, um ihm im Einzelnen zu erklären, was zu erledigen war. Das Zwergeichengebüsch und die Brombeersträuche sollten gerodet und die Äste der größeren Bäume abgesägt werden, wenn sie tiefer als etwa zwei Meter hinabreichten. Der Hauptmann bezeichnete eine mächtige alte Eiche etwa zwanzig Meter hinter dem Rasen als Grenze des zu bearbeitenden Geländes. An einer seiner teigigen Hände hatte der Hauptmann einen goldenen Ring. Er trug an diesem Morgen kurze [12] Khakihosen, lange Wollstrümpfe und eine Wildlederjacke. Sein scharfgeschnittenes Gesicht wirkte angespannt. Er hatte schwarzes Haar und wasserblaue Augen. Der Hauptmann schien Private Williams nicht wiederzuerkennen und gab seine Befehle in einem nervösen, gezierten Ton. Er erklärte ihm, dass er noch an diesem Tag mit seiner Arbeit fertig werden müsse, und setzte hinzu, er werde gegen Abend zurückkommen.

Der Soldat arbeitete den ganzen Vormittag ohne Unterbrechung. Um die Mittagszeit ging er zum Essen in die Kantine. Um vier Uhr war er mit der Arbeit fertig. Er hatte sogar mehr getan, als der Hauptmann ausdrücklich verlangt hatte. Die alte Eiche, die ihm als Grenze bezeichnet worden war, hatte eine ungewöhnliche Gestalt. Die Äste auf der Rasenseite waren so hoch, dass man bequem unter ihnen hindurchgehen konnte, während die Äste auf der anderen Seite in der anmutigsten Weise bis auf den Boden reichten. Diese tiefhängenden Äste hatte der Soldat mit viel Mühe abgesägt. Als er mit allem fertig war, lehnte er sich gegen den Stamm einer Kiefer und wartete. Er schien mit sich zufrieden zu sein und durchaus bereit, hier für alle Ewigkeit zu stehen und zu warten.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte plötzlich eine Stimme.

[13] Der Soldat hatte die Frau des Hauptmanns aus der Hintertür des Nachbarhauses herauskommen und über den Rasen auf sich zugehen sehen; aber erst als sie ihn anredete, nahm sein dämmriges Bewusstsein sie wirklich wahr.

»Ich war gerade drüben bei den Ställen«, sagte Mrs. Penderton. »Firebird ist getreten worden.«

»Jawohl, Ma’am«, erwiderte der Soldat vage. Er hielt kurz inne, um den Sinn ihrer Worte zu erfassen. »Wie denn?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht so ein verdammtes Maultier… vielleicht hat man ihn auch zu den Stuten gelassen. Ich war wütend und habe nach Ihnen gefragt.«

Die Frau des Hauptmanns legte sich in eine Hängematte, die zwischen zwei Bäumen am Rand des Rasens aufgehängt war. Selbst in ihrer Sportkleidung – hohe Stiefel, schmutzige Reithosen aus Kord, die an den Knien abgeschabt waren, und ein grauer Wollpullover – war sie eine hübsche Frau. Sie hatte die friedlich-versonnenen Gesichtszüge einer Madonna und trug ihr glattes bronzefarbenes Haar in einen Knoten geschlungen dicht überm Nacken. Während sie sich ausruhte, kam das Dienstmädchen, eine junge Schwarze, mit einem Tablett heraus, auf dem eine Flasche Schnaps, ein Glas und ein Krug Wasser standen. [14] Mrs. Penderton war nicht kleinlich mit dem Schnaps. Sie trank schnell zwei volle Gläser und goss dann einen Schluck kaltes Wasser hinterher. Sie sagte nichts mehr zu dem Soldaten, und er fragte sie nicht weiter nach dem Pferd. Keiner schien sich um die Gegenwart des anderen zu kümmern. Der Soldat lehnte sich zurück gegen seine Kiefer und starrte ohne zu blinzeln ins Weite.

Die späte Herbstsonne warf einen goldenen Lichtschleier über den frischverlegten Winterrasen; und selbst im Wald blitzte sie hier und da durch das Blätterdach und malte leuchtende Goldmuster auf den Boden. Dann plötzlich war sie verschwunden. Die Luft kühlte sich ab, und ein leichter, frischer Wind kam auf. Es war Zeit, ins Haus zu gehen. Aus der Ferne klang der Ruf des Signalhorns milde herüber, und sein flüchtiges Echo hallte dumpf in den Wäldern wider. Die Nacht war nah.

In diesem Augenblick kehrte Hauptmann Penderton zurück. Er parkte seinen Wagen vor dem Haus und ging sofort in den Garten, um sich die geleistete Arbeit anzusehen. Er begrüßte seine Frau und winkte dem Soldaten kurz zu, der jetzt in recht nachlässiger Haltung vor ihm stand. Der Hauptmann warf einen Blick auf das gerodete Stück Land. Plötzlich schnipste er mit den Fingern, verzog seine Lippen zu einem schmalen höhnischen [15] Lächeln und sah den Soldaten mit seinen wasserblauen Augen an. Dann sagte er sehr ruhig: »Soldat, es ging vor allem um die Eiche.«

Der Soldat nahm diese Bemerkung schweigend hin. Sein rundes ernstes Gesicht veränderte sich nicht.

»Ich hatte Sie angewiesen, nur bis zur Eiche zu roden«, fuhr der Offizier mit erhobener Stimme fort. Er stakste auf den besagten Baum zu und zeigte auf die großen abgesägten Äste. »Der ganze Sinn war doch, dass diese Zweige, weil sie so tief herabhängen, einen abschließenden Hintergrund vor dem Wald bildeten. Jetzt ist alles ruiniert.«

Die Erregung des Hauptmanns war zu groß, als dass man sie allein diesem Missgeschick hätte zuschreiben können. Wie er so allein unter den Bäumen stand, sah man erst, wie klein er eigentlich war.

»Was befehlen Herr Hauptmann?«, fragte Private Williams nach einer langen Pause.

Mrs. Penderton lachte plötzlich auf, stellte einen gestiefelten Fuß auf den Boden und begann, sich in der Hängematte zu schaukeln. »Herr Hauptmann befehlen, die abgesägten Äste wieder anzunähen.«

Ihr Mann blieb ernst. »Los!«, rief er dem Soldaten zu. »Holen Sie etwas Laub, und bedecken Sie damit die kahlen Stellen, wo Sie die Büsche [16] ausgerissen haben. Dann können Sie gehen.« Er gab dem Soldaten ein Trinkgeld und begab sich ins Haus.

Private Williams ging langsam in den dunkelnden Wald, um Laub zu sammeln. Die Frau des Hauptmanns schaukelte weiter und schien nahe daran einzuschlafen. Der Himmel füllte sich mit einem blassgelben kalten Licht, und alles war still.

Hauptmann Penderton fühlte sich an diesem Abend unwohl. Er ging ins Haus und weiter in sein Arbeitszimmer, das neben dem Esszimmer lag und ursprünglich als Veranda geplant war. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, öffnete ein dickes Notizbuch, breitete eine Karte vor sich aus und nahm seinen Rechenschieber aus der Schublade, konnte sich aber trotz dieser Vorbereitungen nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er beugte sich über den Schreibtisch, stützte den Kopf in beide Hände und schloss die Augen.

Zum Teil rührte seine Unruhe von dem Ärger mit Private Williams her. Es hatte ihn schon gereizt, dass man ihm gerade diesen Soldaten geschickt hatte. Es gab im ganzen Fort vermutlich nur ein halbes Dutzend einfache Soldaten, die der Hauptmann vom Sehen kannte. Und er hatte nichts als Verachtung für sie übrig. Offiziere und Soldaten mochten zwar beide dem menschlichen [17] Geschlecht angehören, doch stellten sie zwei grundverschiedene Arten dar. Der Hauptmann hatte den verschütteten Kaffee nicht vergessen, der ihm einen nagelneuen Anzug verdorben hatte. Der Anzug war aus schwerer Chinaseide, und der Fleck war nie ganz herausgegangen. (Der Hauptmann trug auch außerhalb des Forts stets seine Uniform; zu Offiziersgesellschaften aber kam er in Zivil, da war er ganz der feine Herr.)

Abgesehen von diesem Ärgernis hing Private Williams in der Vorstellung des Hauptmanns auf unangenehme Weise mit den Stallungen und mit Firebird zusammen, dem Pferd seiner Frau. Und nun war auch noch die Sache mit der Eiche passiert. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Der Hauptmann überließ sich an seinem Schreibtisch einem kurzen, grimmigen Wachtraum. Er malte sich eine Gelegenheit aus, wie er den Soldaten bei einer verbotenen Handlung ertappte und ihn deswegen vor das Militärgericht brachte. Das tröstete ihn ein wenig. Er goss sich aus der Thermosflasche auf seinem Tisch eine Tasse Tee ein, und dringlichere Sorgen bemächtigten sich seiner.

Die Rastlosigkeit, die den Hauptmann an diesem Abend quälte, hatte verschiedene Gründe. Seine Persönlichkeit war in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zu den drei Fundamenten des [18] Daseins, Leben, Liebe und Tod, stand er in einem etwas sonderbaren Verhältnis. Was die Liebe betraf, so vermochte der Hauptmann, das männliche wie das weibliche Element in sich in einem, wenn auch heiklen Gleichgewicht zu halten. Er vereinigte die Empfindlichkeiten beider Geschlechter in sich, ohne jedoch ihre Stärken zu besitzen. Für jemanden, der schon zufrieden ist, wenn er sich zurückziehen und seine vielfältigen Interessen energisch in irgendeiner unpersönlichen Tätigkeit bündeln kann, etwas Künstlerischem oder gar einer verschrobenen Idee wie der Quadratur des Kreises, für einen solchen Menschen ist dieser Zustand durchaus erträglich. Der Hauptmann hatte seinen Beruf und schonte sich nicht; es hieß, eine glänzende Laufbahn liege vor ihm. Am Ende hätte er jenen Grundmangel, beziehungsweise jenes Zuviel, gar nicht empfunden, wäre nicht seine Frau gewesen. Sie war der Anlass seiner Leiden. Denn er hatte die unglückliche Neigung, sich in ihre Liebhaber zu verlieben.

Sein Verhältnis zu den beiden anderen Fundamenten des Daseins war wesentlich einfacher. Zwischen den beiden großen Instinkten, dem Lebenswillen und der Todesfurcht, neigte seine innere Waagschale entschieden nach der zweiten Seite. Und deshalb war der Hauptmann ein Feigling.

[19] Hauptmann Penderton war eine Art Privatgelehrter. Als Leutnant und Junggeselle hatte er jahrelang reichlich Gelegenheit zum Lesen gehabt, da die Kameraden sein Zimmer im Junggesellenquartier eher mieden oder ihn nur zu zweien oder in Gruppen besuchten. Sein Kopf war vollgestopft mit Statistiken, sein Wissen von schulmeisterlicher Genauigkeit. So konnte er beispielsweise den sonderbaren Verdauungsapparat eines Hummers oder die Lebensgeschichte eines Trilobiten bis ins Detail erklären. Er schrieb und sprach drei Sprachen mit großer Eleganz. Er kannte sich leidlich aus in der Sternkunde und hatte eine Menge Gedichte gelesen. Aber obwohl er über so viele Dinge Bescheid wusste, hatte der Hauptmann sein Leben lang nie eine eigene Idee gehabt. Denn eine Idee setzt die Verknüpfung zweier oder mehrerer Tatsachen voraus, und dazu fehlte es dem Hauptmann an Mut.

Als er an jenem Abend so verloren an seinem Schreibtisch saß und nicht arbeiten konnte, befasste er sich nicht mit seinen Gefühlen. Das Gesicht des Soldaten Williams fiel ihm wieder ein. Dann erinnerte er sich daran, dass sie die Langdons von nebenan zum Abendessen eingeladen hatten. Major Morris Langdon war der Geliebte seiner Frau; aber der Hauptmann verweilte nicht bei diesem [20] Gedanken. Stattdessen entsann er sich plötzlich eines lange zurückliegenden Abends, kurz nach seiner Hochzeit. An jenem Abend war er genauso unglücklich und rastlos gewesen und hatte seine Nerven auf eine recht sonderbare Weise beruhigt. Er war von dem Fort, in dem er damals Dienst tat, in die nächste Stadt gefahren, hatte seinen Wagen abgestellt und war dann lange in den Straßen herumgewandert. Es war Winter und spät in der Nacht. Auf seinem Weg begegnete der Hauptmann einem winzigen Kätzchen, das sich im Schutz eines Hauseingangs behaglich zusammengekauert hatte. Als der Hauptmann sich zu ihm hinunterbeugte, hörte er es schnurren. Er hob das Kätzchen hoch und fühlte deutlich das leichte Vibrieren auf seiner Handfläche. Lange blickte er in das sanfte niedliche Gesichtchen und streichelte das warme Fell. Das Kätzchen war gerade so alt, dass es seine klaren grünen Augen ganz öffnen konnte. Schließlich nahm der Hauptmann das Kätzchen bis zur nächsten Straßenecke mit, wo ein Briefkasten hing. Nachdem er sich rasch umgeschaut hatte, öffnete der Hauptmann die eiskalte Klappe und steckte das Kätzchen hinein. Dann ging er wieder seines Weges.

Der Hauptmann hörte die Gartentür zuschlagen und verließ seinen Schreibtisch. In der Küche saß seine Frau auf dem Tisch und ließ sich von [21] Susie, dem farbigen Hausmädchen, die Stiefel ausziehen. Mrs. Penderton war keine reinblütige Südstaatlerin. Als Tochter eines Offiziers war sie in der Armee groß geworden. Ihr Vater, der zuletzt als Brigadegeneral gedient hatte, stammte von der Westküste, während ihre Mutter in South Carolina geboren war. Ihrem Wesen nach war auch die Frau des Hauptmanns ganz Südstaatlerin. Ihr Gasofen zum Beispiel war zwar nicht, wie bei ihrer Großmutter, seit Generationen unter einer Schmutzkruste verschwunden, sauber konnte man ihn aber nicht nennen. Mrs. Penderton hielt auch andere Südstaatenbräuche treu in Ehren, wie etwa den Glauben, dass Brot wie überhaupt jedes Gebäck nur dann essbar sei, wenn der Teig auf einer marmornen Tischplatte geknetet werde. Aus diesem Grund hatten sie damals, als der Hauptmann nach Schofield Barracks abkommandiert worden war, den Tisch, auf dem sie gerade saß, bis nach Hawaii und dann wieder zurück mit sich geschleppt. Fand die Frau des Hauptmanns einmal ein schwarzes krauses Haar in der Suppe, so wischte sie es seelenruhig in die Serviette und widmete sich, ohne mit der Wimper zu zucken, wieder ihrer Mahlzeit.

»Susie«, sagte Mrs. Penderton, »haben Menschen eigentlich auch einen Muskelmagen, wie die Hühner?«

[22] Der Hauptmann stand unbemerkt von seiner Frau und dem Dienstmädchen in der Tür. Als Mrs. Penderton von ihren Stiefeln befreit war, lief sie barfuß in der Küche herum. Sie nahm eine Schinkenkeule aus dem Ofen und bestreute sie mit braunem Zucker und Brotkrumen. Dann goss sie sich ein neues Glas ein, diesmal aber nur halb, und führte aus purem Übermut einen kleinen shag dance auf. Das reizte den Hauptmann aufs Höchste, was sie genau wusste. »Um Gottes willen, geh rauf, Leonora, und zieh dir Schuhe an.«

Statt einer Antwort summte Mrs. Penderton eine alberne kleine Melodie vor sich hin und tanzte an dem Hauptmann vorbei ins Wohnzimmer.

Ihr Mann ging dicht hinter ihr her. »Du läufst durchs Haus wie die letzte Schlampe.«

Mrs. Penderton beugte sich nieder, um das Feuerholz im Kamin anzuzünden. Ihr glattes Gesicht war gerötet, und auf ihrer Oberlippe glänzten kleine Schweißperlen.

»Die Langdons können jeden Augenblick kommen. Du willst sie doch nicht in diesem Aufzug empfangen?«

»Warum denn nicht, du alte Zimperliese?«, sagte sie.

Der Hauptmann sagte kalt und steif: »Du widerst mich an.«

[23] Mrs.