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Andrea De Carlo

Macno

Roman

Aus dem Italienischen von

Renate Heimbucher

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1984 bei Bompiani, Mailand,

erschienenen Originalausgabe: ›Macno‹

Copyright © 1984 by Gruppo Editoriale Fabbri,

Bompiani, Sonzogno, Etas S.p.A., Milano

Die deutsche Erstausgabe erschien

1987 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration von Andrea De Carlo

Copyright © Andrea De Carlo

 

 

Für Federico Fellini

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 21754 4 (3. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60230 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] It’s often said that life is strange.
Oh yes, but compared to what?

Steve Forbert

[7] Eins

Er kommt gerade von der Aufzeichnung einer weiteren Version der Rede zum Dritten Jahrestag zurück, die in anderthalb Monaten so gesendet werden soll, als wäre es eine Live-Übertragung. Zurückgelehnt im Fond der großen schwarzen Limousine sieht er sich auf dem kleinen Monitor zum vierten Mal dasselbe Stück Band an: die Kunstpausen, das An- und Abschwellen der Lautstärke. Er ist gereizt, deprimiert, müde; das Polster ist zu weich, der Wagen zu gut schallgedämpft.

Er drückt die Rücklauftaste, blickt hinaus. Die Palastwachen haben immer diese zögernde Art, den Konvoi wahrzunehmen, abzuwarten, bis ihre Kollegen hinter der Glasscheibe die Öffner betätigen, und sich dann den Flügeln des Gittertors folgend an die Ränder der Einfahrt zurückzuziehen, als sähen sie nichts mehr. Die zwei Motorräder, das große schwarze Auto und wieder zwei Motorräder fahren auf dem knirschenden weißen Kies in den Park hinein.

Macno drückt die Wiedergabetaste, und im selben Augenblick jault eine Sirene auf. Das Auto bremst, schlingert, beschleunigt wieder. Macno kippt zur Seite; Palmario wirft sich über ihn, will ihn hinabdrücken. Macno aber hat nicht die mindeste Lust, in die Luft zu fliegen, ohne wenigstens zu sehen, wer ihm da mit der Bazooka zu Leibe will oder die Handgranate auf ihn schleudert oder dergleichen. Er entwindet sich dem starken, schützenden Arm, reckt den Kopf hoch und späht durch die [8] Panzerglasscheibe: die Sicherheitsbeamten rennen quer über den Rasen. Jemand feuert eine MP-Salve; die knatternden Schüsse zerreißen die Luft. An anderen Stellen des Parks ertönen auf unterschiedlichen Frequenzen weitere Sirenen.

Der schwarze Wagen beendet seinen Bogen entlang der Randlinie des Rasens und bremst vor der Palasttreppe. Palmario steigt aus, läuft rasch um den Wagen herum und reißt Macnos Tür auf, bevor irgendein anderer es tun kann. Die Motorradfahrer springen von ihren Maschinen, mischen sich unter die Palastwachen, die fächerförmig das Auto umstellen. Macno steigt aus: jung, dunkelhaarig und agil in seinem schwarzen Anzug im japanischen Stil. Zwischen zwei Reihen der Wachen geht er hinauf zur obersten Stufe, dreht sich um und blickt in Richtung des Rasens.

Die Sicherheitsbeamten sprinten dicht am Bambuswäldchen entlang. Wieder knattern MP-Salven, und plötzlich brechen zwei grüne Gestalten zwischen den Bambusstengeln hervor, rollen auf die Erde, noch bevor die Männer sich auf sie werfen und ein um sich schlagendes Knäuel bilden, das in Sekundenschnelle immer größer wird.

Macno blickt gespannt zu der Szene hinüber; er sagt: »Sind nur zwei.«

»Vielleicht«, sagt Palmario neben ihm.

Macno steigt eine Stufe tiefer; steigt die Treppe hinunter und rennt über den weißen Kies. Palmario stürzt hinter ihm her, die Wachen hinter Palmario. In Pfeilformation jagen sie über das kurzgeschnittene Gras.

Im Laufschritt langen sie bei dem ringenden Haufen an, wo Rücken und Beine und wild um sich schlagende Arme unentwirrbar scheinen. »Ruhe!« schreit Macno. Die [9] Sicherheitsbeamten fahren herum, mitten in der Bewegung erstarrt.

Macno tritt näher, sagt erneut: »Ruhe, Ruhe.« Die Sirenen verstummen eine nach der anderen; die Luft beruhigt sich. Nur das atemlose Keuchen ist zu hören; das Klicken von Schnallen und Stiefeln und MP-Läufen. Die Sicherheitsbeamten stehen nacheinander auf, treten im Halbkreis auseinander, um Macno durchzulassen.

Am Boden liegt flach auf dem Rücken ein großer, kräftiger Typ mit rötlichem Haar. Er hebt ein wenig den Kopf, blickt mit kleinen Augen in die Höhe. Eine Augenbraue ist gerötet, Blut läuft ihm aus der Nase. Sein militärgrüner Overall hat einen Riß über dem behaarten Arm; einer der großen Füße ist ohne Schuh. Seine Brust hebt und senkt sich.

Macno betrachtet die zweite Gestalt am Boden; es ist ein junges Mädchen mit kurzem blondem Haar. Sie liegt zusammengekrümmt auf der Seite, die Arme schützend um den Kopf gelegt. Sie trägt den gleichen grünen, straff die Wölbung der Hüften umspannenden Overall wie der andere. Macno blickt auf einen ganz hellen Knöchel, der aus einem weißen Baumwollsöckchen mit ausgeleiertem Gummi herausschaut.

Er dreht sich um, sagt: »Man hätte sie doch nicht gleich umzulegen brauchen, mein Gott.«

Die Sicherheitsbeamten weichen einen halben Schritt zurück, schlagen die Augen nieder. Ihr Offizier sagt halblaut: »Wir konnten ja nicht wissen, ob sie bewaffnet waren oder nicht.« Er deutet mit dem Kinn auf eine kleine Videokamera, die zwei Meter von dem Mädchen entfernt zerbrochen im Gras liegt.

Das Mädchen nimmt erst die eine, dann die andere Hand vom Gesicht; äugt, auf den Ellbogen gestützt, nach [10] oben. Die Haare kleben ihr in Strähnen an der Stirn, am Jochbogen hat sie einen feinen Kratzer. Ihre Pupillen sind so geweitet, daß ihre hellen Augen schwarz aussehen. Ihre Lippen zittern leicht.

Macno beugt sich über sie und sagt: »Tut mir sehr leid.«

Sie sieht ihn an, schnieft, setzt sich auf und reibt sich das Knie.

Macno streckt ihr die Hand hin. Hinter ihm keuchen regungslos die Sicherheitsbeamten, unter die sich die Palastwachen gemischt haben. Palmario blickt wachsam im Park umher.

Das Mädchen greift nach der ausgestreckten Hand und steht auf; probiert vorsichtig ein Bein aus. Sagt: »Keine Sorge. Mir geht’s bestens.« Sie hat einen deutschen Akzent, ihr Ton ist, gemessen an der Blässe des feingeschnittenen Gesichts, beinahe zu unbefangen. Sie dreht sich um und blickt über den Rasen zu dem großen weißen Palast hinüber.

Der Rothaarige läßt sich von einem der Sicherheitsbeamten hochziehen. Er macht ein paar Schritte, schüttelt den Kopf, betastet vorsichtig seine Nasenwurzel.

»Warum seid ihr hier reingekommen?« fragt Macno, erst ihn, dann sie fixierend.

»Um Aufnahmen zu machen«, sagt das Mädchen. Langsam kehrt die Farbe in ihre Wangen zurück; ihre Augen sind jetzt ganz hell.

»Aufnahmen wovon?« fragt Macno.

»Von Ihnen«, sagt das Mädchen. Sie hält seinem Blick stand, zwei, drei Sekunden lang.

Macno stößt mit der Fußspitze an die Reste der kleinen Videokamera. »Und wer hat euch geschickt?«

»Niemand«, sagt das Mädchen. Sie fährt sich rasch mit [11] der Hand durchs Haar; sagt: »Wir sind freie Journalisten.«

Macno blickt auf ihre rosigen, vollen Lippen; dreht sich zum Sicherheitsoffizier um und sagt: »Tja, dann muß man sich vielleicht doch ernstlich Sorgen machen.«

Der Offizier bleibt einen Augenblick stumm, dann sagt er: »Sie müssen westlich vom Tor rübergeklettert sein.«

Macno bückt sich, um die Reste der Kamera aufzuheben; mustert sie aus der Nähe, wie man ein kleines totes Tier mustert. Er hebt die Augen zu den beiden im grünen Overall und meint: »Wir werden euch in euer Land zurückschicken müssen. Normalerweise würde man euch den Prozeß machen und all das, glaube ich.«

Der Rothaarige entspannt sich wie ein dem Netz entschlüpfter Fisch. »Danke, Herr Präsident«, sagt er erleichtert.

Das Mädchen dreht sich um und sieht ihn an, macht einen Schritt auf Macno zu und sagt: »Warten Sie doch. Wir wollten die Aufnahmen ja gar nicht heimlich machen. Wir wollten ein Interview mit Ihnen machen. Wir wollten Sie darum bitten.« Sie ist jung, durch und durch aufrichtig, sie bebt unter dem verwaschenen Overall.

Macno reicht dem Offizier die kleine, kaputte Videokamera, der sie einem seiner Männer gibt. Zu dem Mädchen sagt er: »Wissen Sie denn nicht, wie schwierig es ist, ein Interview mit mir zu bekommen? Man kann nicht einfach mit einer Kamera am Tor aufkreuzen.«

»Weiß ich«, sagt das Mädchen. »Deswegen sind wir ja rübergeklettert.«

Der rothaarige Typ sieht sie mit alarmierten Augen an; die Sicherheitsbeamten treten von einem Bein auf das andere; Palmario sieht Macno an.

Macno wägt einen Augenblick verschiedene Worte [12] gegeneinander ab, legt den Kopf schräg. »Wie heißen Sie?« fragt er das Mädchen.

»Liza Förster«, sagt das Mädchen. Unter dem Schock und der Ungewißheit der Situation liegt ein herausforderndes, ironisches Funkeln in ihren Augen.

Macno sagt: »Na schön, Liza. Da Sie so unglaublich frech sind und der Sicherheitsdienst so schlecht funktioniert, sollen Sie Ihr Interview haben.«

Das Mädchen weicht ein wenig zurück, ein paar Millimeter nur. Sagt: »Danke.«

Macno wendet sich an den Rothaarigen. »Und Sie, wie heißen Sie?«

»Ted Wesley, Herr Präsident«, sagt der Rothaarige mit amerikanischem Akzent. »Ich bin der Kameramann.«

»Sie bleiben natürlich auch«, sagt Macno. »Ihr seid meine Gäste hier im Palast.«

Der Kameramann ringt nach Worten. »Danke, Herr Präsident«, sagt er schließlich.

»Bitte«, sagt Macno. »Und noch was, in diesem Land nennt man mich einfach Macno, Herr Wesley.« Dann sagt er: »Guten Tag« und wendet sich ab. Die Sicherheitsbeamten bilden ein Spalier und lassen ihn durch.

Der rothaarige Kameramann kratzt sich am Kopf; er sieht die Blonde erst an, als Macno mindestens hundert Schritt entfernt ist.

[13] Zwei

Liza wirft die Decken zur Seite und steigt aus dem Bett. Sie geht ans Fenster, schiebt die Vorhänge auseinander. Licht flutet ins Zimmer und hellt die Wände auf, von Dunkelblau über Azur zu fahlem Himmelblau. Sie drückt die Nase an die Fensterscheibe und schaut hinaus: auf den rückwärtigen Teil des Parks bis zur fernen Linie der Umschließungsmauer. Sie fährt sich mit der Hand durchs Haar. An zwei, drei Stellen hat sie noch ein leichtes Schmerzgefühl, am linken Arm ist ein blauer Fleck, am rechten Knie eine kleine Schürfwunde. Es erscheint ihr seltsam, hier zu sein, und sie weiß nicht mehr genau, was geschehen ist.

Auf den Zehenspitzen wippend geht sie zur Badezimmertür. Sie betrachtet sich eingehend im Spiegel, hebt das Kinn, dreht den Kopf, untersucht aus der Nähe den Kratzer am Jochbogen, spannt die Lippen. Auf einer Konsole unter dem Spiegel stehen Fläschchen mit verschiedenen Essenzen, Flakons und bunte Glastiegel mit handbeschrifteten, verschnörkelten Etiketten. Liza greift nach einer Honigcreme, schnuppert daran, streicht sich ein wenig davon mit kreisenden Bewegungen der Fingerkuppen auf Stirn und Wangen. Die Creme verströmt einen milden Duft nach Bienenwachs, der zum warmen Licht der Lampen paßt. Es klopft an der Tür.

Liza blickt von Panik gepackt um sich, schnappt ein türkisfarbenes Badetuch und hüllt sich darin ein; rennt ins Zimmer hinüber, sucht nach ihren Kleidern, findet sie [14] aber nirgends; rennt ins Bad zurück, sieht einen Bademantel an einem Haken hängen; eilt wieder hinaus und öffnet die Tür einen Spaltbreit, das Handtuch fest um sich gewickelt.

Draußen steht ein Zimmermädchen mit einem Paket in der Hand. Sie reicht es Liza, sagt: »Bitte schön. Die Kleider in den Schränken dürfen Sie auch nehmen.«

Liza nimmt das Paket. »Sie wissen nicht, wo Herr Wesley ist?« fragt sie. »Der Rothaarige, der mit mir gekommen ist?« Sie skandiert die Worte, aus Angst, das Zimmermädchen könne kein Englisch und verfüge nur über ein kleines Repertoire einstudierter Sätze.

Das Zimmermädchen nickt. Sagt flüssig, wenn auch ziemlich nuschelnd: »Dritte Tür links, bei den Treppen.« Sie macht eine knappe Verbeugung und verschwindet im Korridor.

Liza reißt das Paket auf und findet darin ihre Strümpfe und ihr Höschen, den grünen Overall, gewaschen und gebügelt und geflickt. Sie wirft alles aufs Bett und öffnet den Wandschrank: Kleider und nochmals Kleider und Röcke und Blusen und Jacken in vielerlei Schnitten, Farben und Stoffen. Sie sieht sie mit der Hand darübergleitend durch, nimmt die rasch wechselnden Tastempfindungen und Farbeindrücke auf, so wie die Stoffe nacheinander zum Vorschein kommen. Sie zögert unschlüssig: zieht ein orange- und violettfarbenes Kleid aus weicher Baumwolle heraus, hält es sich vor die Brust, betrachtet es prüfend im Spiegel an der Schranktür. Sie schlüpft hinein, zupft es zurecht; stemmt die Hände in die Hüften, dreht sich, um sich von der Seite zu sehen. Von einem Haken nimmt sie einen hellen Ledergürtel, schnallt ihn um die Taille. Sie bückt sich, um die Dutzenden von Schuhen zu betrachten, die unten in einem Fach auf einer [15] Messingstange aufgereiht sind. Sie wählt ein lilafarbenes Paar mit mittelhohem Absatz und zieht sie an, mühsam die Ferse hineinzwängend.

Der Korridor ist hell erleuchtet und still; an den weißen Wänden hängen zwei, drei Pop-Stilleben aus den sechziger Jahren. Liza geht unsicher ein paar Schritte, ohne sich erinnern zu können, in welchem Zimmer Ted sein soll. Sie versucht, sich auf die Worte des Zimmermädchens zu besinnen, aber sie erinnert sich nur an diese rasche, nuschelnde Aussprache, die Art, wie sie die Lippen bewegte. Aufs Geratewohl klopft sie an zwei Türen: keine Antwort. Sie geht weiter bis zur Treppe, beugt sich übers Geländer und späht hinunter: zwei graurot uniformierte Wachen stehen bewegungslos auf dem Absatz im ersten Stock. Zögernd nimmt sie die erste Stufe, steigt die Treppe hinunter.

Auch in der Halle im Erdgeschoß stehen Wachen: zu beiden Seiten der Türen, an den Ecken der Korridore. Sonst ist weit und breit niemand zu sehen, nichts zu hören: keine Geräusche oder Stimmen. Liza geht an der großen verglasten Eingangsfront vorbei, blickt hinaus auf die Freitreppe, den weißen Kiesweg, die Blumenrabatten vor dem Palast.

Aus einem der Gänge kommt ein elektrisches Summen. Liza geht ihm nach und kommt in einen Saal, in dem zwei Zimmermädchen zwei Staubsauger in konvergierenden Linien über den Boden schieben. »Entschuldigen Sie, wo kann man hier frühstücken?« fragt sie. Sie muß die Stimme heben, um gegen den Staubsaugerlärm anzukommen. Die beiden Zimmermädchen drehen sich zu ihr; eine kommt bis zur Tür, zeigt ihr die Richtung.

Liza geht den Korridor hinunter, tritt in einen lichtdurchfluteten kleinen Salon mit großen Fenstern zum [16] Garten, weißen Tischen und Stühlen, chinesischen Orangenbäumchen in Kübeln. Nur einer der kleinen Tische ist besetzt, von einem Typ um die Vierzig mit einem grau- und malvenfarben karierten Jackett, mausgrauem Haar und einer Brille mit schmalem Gestell. Er liest in einem Buch, das er aufgeschlagen aufs Tischtuch drückt, während seine Linke mit dem Teelöffel in einer Tasse rührt.

Liza geht zögernd auf ihn zu; sagt: »Entschuldigen Sie, haben Sie zufällig einen dicken Typ mit rötlichem Haar gesehen, einen Amerikaner?« Sie spricht langsam und deutlich und begleitet ihre Worte mit Gesten, die Teds Leibesumfang anzeigen.

Der Typ am Tisch blickt auf ihre Hände. »Nein, tut mir leid«, sagt er. »Ich glaube nicht.« Er hat einen ausgeprägt englischen Akzent, eine Art, mit kaum halb geöffneten Lippen zu sprechen. Unschlüssig blickt er zwischen dem aufgeschlagenen Buch und Liza hin und her.

Liza sieht sich in dem leeren Raum um; zieht einen Stuhl zurück. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich zu Ihnen setze?«

Der Typ sagt: »Aber nein, bitte sehr!« Aus Höflichkeit wartet er einen Augenblick; liest dann weiter.

Liza nimmt Platz und räuspert sich. Sie hat immer noch leichte Kopfschmerzen. Ein weißgekleidetes junges Mädchen tritt an den Tisch, fragt, was sie bringen darf. Liza deutet auf die Tasse des Typs mit dem Buch und sagt: »Das gleiche.« Das Mädchen huscht davon. Liza blickt sich nach allen Seiten um und sieht nirgends im Raum Ecken; keine scharfen Linien, wo die Wände aufeinandertreffen, an den Fensterrahmen, Stuhllehnen oder Tischrändern. Sie ruft sich den Korridor ins Gedächtnis, ihr Zimmer, und auch dort kann sie sich nicht an Ecken oder Kanten erinnern. Die Weißgekleidete kommt zurück und bringt [17] auf einem Tablett ein Kännchen Milch, eine Tasse mit Getreideflocken, ein Schälchen Nüsse und ein Töpfchen Honig.

Liza mischt die Nüsse unter die Flocken, gießt die Milch darüber. Der Typ ihr gegenüber ist wieder in sein Buch vertieft; hebt nur kurz den Kopf, um sie prüfend anzusehen. Liza fragt ihn: »Wo sind die alle hin?«

Er braucht ein paar Sekunden, bis er die Frage begriffen hat; lehnt sich zurück und sagt: »Macno weiht irgendeine Solaranlage ein, wo, weiß ich nicht mehr genau. Fast alle sind mitgefahren.«

»Und Sie wissen nicht, wann sie wiederkommen? Wann ist Macno zurück?« fragt Liza, seinen Kragen betrachtend.

»Ich hab nicht die blässeste Ahnung, um ehrlich zu sein«, sagt er.

Liza blickt auf sein Haar, unter dessen Grau noch eine Spur von Blond durchschimmert. »Wissen Sie, ich soll nämlich ein Interview mit ihm machen. Wir sind vom Fernsehen, ich und der Kameramann. Macno hat uns ein Exklusivinterview versprochen.«

»Ah, interessant«, sagt der Typ mit leisem Zweifel in den Augen. Er klappt das Buch zu.

»Ja«, sagt Liza. Sie nimmt einen Löffel Honig und läßt ihn in die Tasse fließen: langsam und goldgelb. Dann sagt sie: »Aber wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Liza Förster.« Sie nimmt den Löffel in die Linke und streckt die Rechte über den Tisch.

Der Typ reicht ihr impulsiv die Linke, zieht sie schnell zurück und gibt ihr die Rechte. »Freut mich, Henry Dunnell.« Seine Bewegungen wirken linkisch, behindert durch die Länge seiner Arme in den zu weiten Ärmeln.

Liza ißt einen Löffel Müsli, kaut sorgfältig. Dunnell [18] beobachtet durchs Fenster zwei Wachen, die in der Ferne über den Rasen gehen, zwei zimtfarbene Hunde an der Leine. »Und was tun Sie hier?« fragt ihn Liza.

»Frühstücken«, erwidert er mit schiefem Lächeln.

»Hier in Macnos Palast, meine ich«, sagt Liza und blickt auf seine nicht ganz ebenmäßigen Zähne, die er beim Lächeln entblößt.

»Ach so«, sagt Dunnell. »Ich bin Botaniker, sozusagen.«

»Sie kümmern sich um den Park?« fragt Liza und deutet hinaus auf den Garten.

»Unter anderem«, sagt Dunnell. Er dreht sich wieder um und schaut hinaus; sagt zu Liza: »Wenn Sie Lust haben, können wir einen kleinen Rundgang machen.«

»Im Ernst?« sagt Liza.

»Natürlich«, sagt Dunnell. Er blickt auf den Tisch, auf seine unberührte Müslischale, steht auf, nimmt sein Buch.

Liza schiebt sich hastig einen Löffel voll in den Mund, wischt sich einen Milchtropfen vom Kinn. Sie versucht, den Titel von Dunnells Buch zu lesen, während er sich vergeblich bemüht, es in die Jackentasche zu stopfen. Der Titel lautet Unsichere Zustände. Dunnell fängt ihren Blick auf und lächelt kaum merklich. »Eine Art Politfiction, aber einigermaßen plausibel. Oder vielleicht eher eine Liebesgeschichte, in Wirklichkeit«, sagt er.

Durch die Glastür treten sie hinaus auf den Rasen. Liza kneift im hellen Licht die Augen zusammen, blickt durch die Wimpern über die sanft geneigte Grasfläche, auf die verschiedenen Grüntöne der Büsche, die kleinen Bäumchen und hohen Bäume, den dichten Wald hinter dem kleinen See.

Dunnell geht unbeholfen vor ihr her, versucht sie mit erläuternden Gebärden zu führen. »Sicher ist Ihnen schon [19] aufgefallen, wie verschieden die beiden Parkhälften sind, die vordere und diese hier. In gleicher Weise ist auch der Palast aufgeteilt, die vordere Hälfte für offizielle Angelegenheiten und die rückwärtige für alles andere. Der eigentliche Park aber ist dies hier.«

Sie gehen über das kurze Gras, träge von der Sonne, die sich in Dunnells Brillengläsern und auf dem Seewasser spiegelt, auf den Glasflächen eines Treibhauses. Dunnell führt Liza einen gewundenen Pfad entlang, dirigiert sie zum günstigsten Blickwinkel auf Sträucher und Bäume, deutet auf die Pflanzen rechts und links, die einzeln stehen oder zu Form- und Farbkompositionen arrangiert sind, kontrastierend in Blattwerk, Höhe und Dichte. Er bleibt stehen, damit Liza Zeit hat, die Aussicht gebührend zu würdigen; er beobachtet ihre Reaktionen.

Liza versucht sich zu konzentrieren; betrachtet die in einem leisen Windhauch zitternden Blätter eines Ginkgos; sagt: »Wunderschön.« Drei Wachen mit Walkie-talkies in der Hand und umgehängten MPS eilen in zehn Metern Entfernung vorüber, winken Dunnell grüßend zu.

Dunnell zeigt auf einen Strauch mit schräger Krone. »Sehen Sie sich diese Rhyvia Ponewiczi an. Wir haben sie aus Bolivien mitgebracht, weil Macno die Form so gefiel. Ich hätte nie geglaubt, daß sie Wurzeln fassen würde, aber Macno hat eine Art Grundsatzfrage daraus gemacht. Er sah jeden Morgen nach ihr. Wenn er auswärts war, rief er mich an, um zu fragen, wie es ihr gehe.«

Liza streifte mit den Fingern über das geschmeidige rötliche Laub, fragt: »Hat Macno die Pflanzen für den Park selbst ausgesucht?«

»Selbstverständlich«, sagt Dunnell. »Wir haben natürlich alles gemeinsam besprochen, aber entschieden hat fast immer er. Das einzige, was er mich allein machen ließ, war [20] das Stück vorn an der Fassade, weil es förmlich und konventionell sein sollte und ihn daher nicht interessierte. Nur das Bambuswäldchen war seine Idee.«

Sie treten in einen Garten mit Zitrusgewächsen von kräftigem, gesundem Laub. Dunnell begutachtet mit Kennerblick die Pomeranzen- und Apfelsinen- und Mandarinen- und Tangelo- und Limonen- und Pampelmusen- und Clementinenbäume, die Zitronen, Limetten, Bitterorangen, Bergamotten. »Macno findet, Zitrusgewächse seien ganz besondere Bäume, edler als die anderen. Manchmal sagt er, das einzig Gute an der Hauptstadt hier ist, daß man mittendrin Zitrusbäume züchten kann.«

Liza blickt zum Palast zurück. »Macno weiß wohl alles über Pflanzen«, sagt sie.

»Das nicht, aber das Nötige weiß er«, sagt Dunnell und folgt mit den Augen der Verzweigung eines Mandarinenastes. »Als er den Entschluß faßte, diesen Ort hier zu seiner offiziellen Residenz zu machen, war der alte Park völlig heruntergekommen. Macno hatte ein paar recht vage Ideen, was man daraus machen könnte. Damals hat er sich mit mir in Verbindung gesetzt.«

»Hat er Sie angerufen?« fragt Liza.

»Na ja, er hat mich von einer seiner Mitarbeiterinnen anrufen lassen«, sagt Dunnell. »Als diese Stimme am Telephon mir erklärte, Macno wolle sich von mir beraten lassen, war ich natürlich völlig perplex. Aha, dachte ich, dieser Latino-Diktator will sich also einen extravaganten Park zulegen. Sie wissen ja, welches Bild man von Macno im Ausland hat. Aber als ich hierher kam und ihm begegnet bin, war mir sofort klar, was für eine außergewöhnliche Persönlichkeit er ist. Jedem, der Macno begegnet, wird das klar, denke ich.«

Liza sagt: »Und so haben Sie gemeinsam den Park [21] angelegt.« Sie stellt sich ihn und Macno in dem alten, verwilderten Park vor; wie sie, die Hände in die Hüften gestemmt, vor den Resten einer Libanon-Zeder stehen.

»Wir haben wochenlang diskutiert«, sagt Dunnell. »Macno konnte noch so viele und wichtige Dinge zu tun haben, irgendwie brachte er es immer fertig, sich Zeit zu nehmen. Manchmal blieben wir die ganze Nacht auf, diskutierten und sahen uns Videofilme an und blätterten in alten Handbüchern, die er irgendwo aufgetrieben hatte, und morgens um halb sechs ging er dann duschen und begann seine Arbeit, im Land herumfahren, Leute treffen und überzeugen, Pläne und Programme entwerfen. Ich hab mich oft gefragt, wo er die Kraft hernahm, sich auch noch mit Pflanzen abzugeben. Manchmal hatte ich fast ein schlechtes Gewissen. Aber er ist eben so, er hat diesen Drang, den Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, sich die Schlüssel anzueignen. Und er teilt die Dinge nie in wichtige und unwichtige ein. In den Nächten damals vor drei Jahren redeten wir über Baumschnitt und Veredelung und Verpflanzung, und ich merkte, daß er mit derselben Spannung, derselben Intensität bei der Sache war, mit der er sich den Staatsangelegenheiten widmet.«

Sie verlassen in Gedanken versunken den Zitrusgarten, schlendern auf den fernen Palast zu. Im Rasen sind fünf oder sechs kubische Löcher und neben jedem Loch Erdhaufen und Säcke voll Torf. Dunnell betrachtet sie und sagt: »Macno hatte noch eine Menge Ideen für den Park, aber in letzter Zeit hat er’s nicht mehr geschafft, sich damit zu befassen. Ohne ihn will ich nichts machen, und so bleibt alles liegen.« Er nimmt die Brille ab, putzt sie mit seinem Taschentuch. »Das Problem ist, daß er sich nicht damit abfinden will, daß alles seine Zeit braucht. Der Gedanke, Jahre warten zu müssen, bis eine Pflanze sich so [22] entwickelt hat, wie er gern möchte, ist ihm unerträglich. Tote Zeit, erzwungene Langsamkeit sind ihm zuwider. Sie erinnern ihn vermutlich zu sehr an die anderen Langsamkeiten, mit denen er ständig zu tun hat.«

Liza hört seinen bescheidenen, rückhaltlos bewundernden Ton und fühlt eine sonderbare Sehnsucht in sich aufsteigen nach allem, was sie über Macno nicht weiß und vielleicht nie wissen wird. Während sie an einer Verbenenrabatte entlanggehen, fragt sie Dunnell: »Kennen Sie ihn gut, Macno?«

Dunnell sieht sie schräg an: mager und zerzaust, mit seinem zu weiten, karierten Jackett. »Manchmal denke ich ja. Aber ganz sicher bin ich mir nie. Er ist so vielschichtig.«

Sie nähern sich dem Palast, und keiner von beiden scheint noch an den Pflanzen interessiert.

Auf dem Rasen vor der Glastür steht Ted mit verschränkten Armen. Er trägt einen altmodischen, sandfarbenen Anzug, der an Ärmeln und Hosenbeinen eine Spur zu kurz ist und über der Brust spannt. Als sie auf vier Meter herangekommen sind, ruft er Liza entgegen: »Da bist du also. Ich hab dich überall gesucht.«

»Ich hab dich auch gesucht«, sagt Liza und geht auf ihn zu. »Ich wußte nicht, in welchem Zimmer du wohnst.«

»Du hättest ja fragen können«, sagt Ted. Er beugt sich vor, um ihr einen Kuß auf die Stirn zu geben, aber sie dreht sich zu Dunnell, und Ted küßt sie auf die linke Schläfe.

»Henry Dunnell; Ted, der Kameramann«, sagt Liza mit einer vagen Handbewegung.

»Freut mich«, sagt Ted, leicht verstimmt über diese Vorstellung.

Sie stehen alle drei ein paar Sekunden lang da und sehen sich an, dann sagt Dunnell: »Ich fürchte, ich muß [23] schleunigst los. Sie bleiben doch noch, hoffe ich? Ein bißchen Zeit wird man für so ein Interview schon brauchen, kann ich mir vorstellen.«

»Ja, sicher«, sagt Liza, »ein paar Tage bestimmt. Wir sehen uns noch.«

»Bis später«, sagt Dunnell und geht auf die Glastür zu.

Ted wartet, bis er drinnen ist, und sagt: »Wer war das?«

»Ein Botaniker«, sagt Liza. »Sehr sympathisch. Er ist von Anfang an hier bei Macno. Sie sind, glaube ich, gute Freunde.«

Ted blickt über den stillen Garten und sagt leise: »Sieht aus, als seien alle zur Einweihung einer Solaranlage gefahren.«

»Weiß ich«, sagt Liza, verärgert über seinen verschwörerischen Tonfall.

»Schade, wir hätten doch mitfahren und irgendwas filmen können«, sagt Ted. Er deutet auf den Palast, der das Sonnenlicht reflektiert. »Normalerweise sind hier massenhaft Leute. Ich hab’s mir von einem Zimmermädchen erklären lassen: da sind Macnos Mitarbeiter, die im vorderen Teil des Palasts sitzen, und jede Menge Gäste, die hier in der rückwärtigen Hälfte untergebracht sind. Offenbar lädt er Leute aus der ganzen Welt ein und hält sie hier monatelang als seine Gäste frei und alles. Musiker, Maler, Tänzerinnen, was weiß ich, wer ihm grad so einfällt, den lädt er ein. Muß ein unglaublicher Megalomane sein.«

»Woher willst du das wissen?« sagt Liza rasch. »Wo du ihn nicht mal kennst.«

»Wieso, kennst du ihn etwa?« sagt Ted. »Und überhaupt, mußt du denn auf einmal so abweisend sein?« Er streckt die Hand aus, versucht ihren Arm zu fassen.

»Ich bin gar nicht abweisend«, sagt sie und entzieht sich ihm. Sie geht auf die Glastür zu.

[24] Ted folgt ihr in den Korridor, trottet neben ihr her, sagt: »Hochelegant siehst du aus.«

»Danke«, sagt sie. »War im Schrank in meinem Zimmer.«

»Das hier war bei mir im Schrank«, sagt Ted und zupft an seinem sandfarbenen Jackett. »Steht mir aber nicht so gut, was?« Er klopft sich auf den Bauch, um sie zum Lachen zu bringen.

Liza bemüht sich, ernst zu bleiben; lächelt. Sagt: »Nicht sonderlich, wenn ich ehrlich sein soll.«

Ted lacht erleichtert, nimmt ihren Arm. »Wir wollen doch nicht streiten, Lizzie, bitte. Wir sind zu Gast in Macnos Palast, und er hat uns ein Exklusivinterview zugesagt, und wir sind praktisch reich und berühmt, und statt dich zu freuen und nett zu sein, gehst du beim geringsten Anlaß auf mich los.«

»Mich ärgert es nur, wenn du so oberflächlich daherschwätzt«, sagt Liza und bleibt an der Tür zu einem Saal voller Musikinstrumente stehen. Vor einem der großen Fenster sitzt ein junger Mann mit dunkler Brille und einem Gipsbein und klimpert mit zwei Stöckchen auf den Stäben eines Vibraphons. Er ist so vertieft, oder seine Brille ist so dunkel, daß er Ted und Liza nicht einmal bemerkt, als sie schon mitten im Zimmer sind.

»Ich tu’s nicht mehr«, sagt Ted. »Ich versprech’s dir.«

»Schon gut«, sagt Liza und entzieht sich ihm nicht, als er sich hinabbeugt und sie auf die Wange küßt.

[25] Drei

Liza schaut auf die Uhr; es ist zehn Uhr abends. Auf dem Videoschirm dreht Vee Dawny Pirouetten zum monotonen Summen des Geräts bei abgedrehtem Ton.

Sie geht sich das Gesicht mit kaltem Wasser waschen; klopft sich ein paarmal kurz auf die Wangen, um die Schlaftrunkenheit zu verscheuchen. Sie stöbert im Wandschrank, zieht zwei, drei Kleider heraus; entscheidet sich für eins aus dunkelgrüner Seide und zieht es über. Sie faßt sich mit der Linken an die rechte Schulter; zieht die Brauen hoch.

Im Korridor ist niemand zu sehen, aber von unten dringt Musik herauf und das dumpfe Brodeln vieler durcheinander redender Stimmen. Liza klopft kräftig an Teds Tür. »Ich komme«, sagt seine Stimme von innen. Liza schlägt erneut mit den Fingerknöcheln gegen die Tür, schneller diesmal.

»Ich komm ja schon. Wer ist da?« ruft Teds Stimme, schon leicht beunruhigt. Die Tür geht auf, Ted streckt seinen rötlichen Kopf heraus und sagt: »Herrje, hast du mir einen Schreck eingejagt.«

»Sei nicht so nervös«, sagt Liza. »Jetzt sind wir doch Gäste.« Er ist noch im Hemd, hat ein Paar blaue Hosen an und glänzende schwarze Schuhe. Sein Zimmer ist geräumig und hübsch eingerichtet, wenn auch weniger erlesen als das von Liza. Er nimmt ein blaues Jackett vom Kleiderständer und zieht es über, aber auch dieses ist zu kurz an den Ärmeln und zu eng um die Taille.

[26] »Hast du nichts, was ein bißchen besser sitzt?« fragt Liza, während sie um ihn herumgeht.

»Nein«, sagt Ted. »In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie so viele Kleider zur Verfügung, und doch ist nichts in meiner Größe dabei.« Trotzdem begutachtet er sich eingehend im Spiegel; zupft den Kragen zurecht.

»Hochelegant siehst du aus«, sagt Liza und schaut auf seine Knöchel, die aus den blauen Hosenbeinen ragen.

»Hör auf, du kleines Aas«, sagt Ted. Er zerrt am Jackenärmel, um wenigstens ein Stück der gestärkten weißen Manschette zu bedecken; gibt es schließlich auf. Er sagt: »Ich glaube, die sind alle wieder zurück. Unten scheint ein Fest in Gang zu sein.«

Sie lauschen beide: der elektrische Baß dröhnt durch den Fußboden.

Sie gehen die Treppe hinunter, Liza voraus, etwas wacklig auf den zu hohen Absätzen. Die Wachen auf dem Treppenabsatz im ersten Stock zeigen keine Regung, als die beiden dicht am Geländer an ihnen Vorbeigehen.

Die Wachen unten tragen weiße Pistolentaschen am Gürtel, mattschwarze Funkgeräte, Kopfhörer an nur einem Ohr. Sie tun, als seien sie gänzlich unempfänglich für die Musik und die Stimmen, die aus den weit offenen Türen des Saals quellen und den Korridor erfüllen. Liza und Ted durchqueren die Halle, treten ein.

Die Musik ist elektronisch, rhythmisch und komprimiert. Der große Saal ist voller laut schwatzender Leute, die unter den Lichtern der Kronleuchter vibrieren. Baß und Schlagzeug bilden einen dichten Klangteppich, in den sich Lachen und Rufe flechten, hervorgehobene Wörter und herausgeplatzte Wörter, langgezogene Vokale, gerollte R, Kreischen und Flüstern, Gemurmel und Hustenstöße. Und mit den Stimmen verweben sich die Gesten: [27] langsame und jähe und sich an zehn verschiedenen Punkten wiederholende; Vor- und Zurückbewegungen, Drehungen von Köpfen und Oberkörpern, diagonale Ströme, die die Leute zu Rudeln zusammenführen und wieder in Dreiergruppen, Paare und Einzelpersonen auflösen, die auf der Suche nach neuen Gruppierungen den Saal durchqueren.

Liza geht langsam weiter, gefolgt von Ted, der dicht hinter ihr hertrottet. Da sind elegante, gesetzte Damen, Damen in leichten Stoffen, die den Blick auf lange Schenkel und samtene Rücken freigeben; Mädchen in Gymnastikanzügen, bebrillte junge Frauen in wallenden Gewändern; blutjunge, schmalhüftige Mädchen, Damen mit ergrauten Ringellöckchen. Breitschultrige Männer mit kräftigen Armen, schmächtige Männer mit spitzen Gesichtszügen; im japanischen Stil à la Macno gekleidete Männer und Männer in konventionellen Anzügen wie dem von Ted. Exotische Männer und Frauen, schwarz- oder rothäutig, die durch Kleidung und Gebärden ihre Besonderheit noch herausstreichen und fast ins Pathetische steigern. Alle haben ihre Stimme und ihre Bewegungen genau unter Kontrolle: sind ganz damit beschäftigt, sich darzustellen und Bestandteil des Fests zu sein.

Liza bahnt sich einen Weg, ohne recht zu wissen, wohin sie gehen oder wo sie stehenbleiben soll. Ted trottet ihr nach wie ein Hündchen, zupft sie am Ellenbogen, um ihr jemanden zu zeigen oder mit Blicken die Situation zu kommentieren. An einem Tisch, auf dem große Holzschalen voller Nüsse und Radieschen und Käsewürfel und winziger Wachteleier aufgereiht sind, sagt sie zu ihm: »Willst du nicht aufhören, alle so anzustarren?«

»Wieso, ist das denn verboten?« sagt er, beinahe an ihr klebend und den Kopf nach allen Seiten drehend. Er [28] nimmt sich eine Handvoll Nüsse, stopft sie in den Mund und mampft geräuschvoll; sagt: »Wenn wir’s schon geschafft haben, hier reinzukommen, können wir uns doch wohl auch ein bißchen umsehen, oder?« und schaut mit schmalen Augen einem jungen Mädchen mit wohlgeformtem Gesäß nach.

Liza ißt eine Scheibe kandierte Mango; sie geht auf den Absätzen wippend ein paar Schritte weiter. Ted heftet sich an ihre Fersen, atmet dicht an ihrer Schulter, plump und unelegant; er sagt: »Guck mal die da, wie die angezogen ist.« Er versucht in einem fort, ihre Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken, verfolgt sie auf Schritt und Tritt, streift ihren Schenkel mit dem seinen.

Schließlich sagt Liza: »Vielleicht müssen wir nicht unbedingt immer aneinanderkleben.«

»Fang doch nicht schon wieder an«, erwidert er mit beleidigter Miene. Aber er folgt ihr nicht, als sie sich von ihm abwendet und sich ein paar Meter durchs Gedränge schiebt.

Liza nimmt ein Glas Apfelwein von einem Tablett, trinkt es halb leer und beobachtet dabei die Gesichter und Gesten. Sie stellt sich neben ein Sofa, auf dem ein junges Mädchen mit Pilzfrisur und ein Mann in himmelblauem, rot eingefaßtem Jackett sitzen. Das Mädchen hält ein langstieliges Weinglas in der Hand, betrachtet es im Gegenlicht; sagt: »Ich hab gehört, daß gestern im Park zwei bewaffnete Typen geschnappt worden sind.«

»Sie waren unbewaffnet«, sagt der Mann im himmelblauen Jackett und dreht den Blick zur Seite.

Liza folgt der Drehung und bemerkt, daß alle Blicke, Gesten und Gebärden an einem Punkt im Saal zusammenfließen, wo die Vibrationen am heftigsten scheinen. Niemand ist ihm ausdrücklich zugewandt; die Spannung ist [29] unterschwellig, verborgen unter der Oberfläche, hinter jeder Annäherung und jedem Zurückweichen, jeder Körperdrehung und Kopfbewegung. Liza sucht das Zentrum der Vibration und erblickt durch den Filter der Leute Macno.

Er steht neben einer Lampe mit orangegelbem Licht; sagt irgend etwas, und alle in seiner Nähe erschauern bei jeder Bewegung seiner Lippen.

Liza geht ohne zu überlegen auf ihn zu, drängt sich durch Rücken und Brüste und Beine. Es ist heiß jetzt; der Lärm der durcheinanderredenden Stimmen steigt und fällt je nach dem Rhythmus der Musik.

Vier Meter vor Macno werden die lächelnden Blicke und schmachtenden Gebärden der Mädchen und Frauen um ihn, die Bemühungen, seinen Blick einzufangen und für eine Zehntelsekunde festzuhalten, gezielter und unverhohlener. Und die Männer haben die gleichen Posen, den gleichen Drang, in seiner Aura zu verweilen.

Liza gibt sich Mühe, gelassen zu wirken, blickt zur Seite, führt das Glas an die Lippen. Aber sie muß die Nachdrängenden abwehren, die sie wegschubsen, sich mit Unschuldsmiene an ihre Stelle schieben wollen, um näher bei Macno zu sein.

Macno redet, und jedes Lächeln von ihm pflanzt sich fort wie Kreise auf dem Wasser, greift über auf die um ihn herum und die hinter ihnen und die noch weiter hinten. Die Mädchen und Frauen in nächster Nähe versuchen ihm noch näher zu kommen; schmachten ihn mit halbgeöffneten Lippen an, lassen ihre Zähne schimmern; nutzen jede Bewegung von ihm, um seinen Arm, seine Hüfte zu streifen. Er macht keinen Versuch, auf Distanz zu gehen; legt den Kopf schief, wendet sich nach rechts und nach links.

[30] Liza versucht, sich nicht zu sehr zu ihm hinziehen zu lassen; sie hält sich vorgeneigt und wie magnetisiert in vier Metern Entfernung.

Plötzlich dreht er sich um und sieht sie. Er lächelt ihr zu, macht eine grüßende Geste.

Liza stellt sich auf die Zehenspitzen und erwidert sein Lächeln, aber er schaut bereits woandershin, abgelenkt von den auf ihn einstürmenden Stimmen und Gesten und Forderungen nach Gesten. Zwischen den beiden Lächeln liegt eine Zeitverschiebung, aber ihr ist nicht klar, wo. Liza verharrt einen Augenblick in der Schwebe, mit leerem Kopf, und die Männer und Frauen drängen sie mit kleinen Hüftschlenkern und Fußstößen ungeduldig zurück, um den Kreis um Macno enger zu schließen.

Liza steht zehn Meter von ihm entfernt; ihre Wangen brennen bei der Vorstellung, auf so dämliche Weise die Fassung verloren zu haben. Trotzdem kann sie den Blick nicht von ihm wenden, während er den Platz wechselt: der Kreis öffnet sich, um ihn durchzulassen, löst sich auf in einzelne Individuen, die sich wie ein Schweif an seine Fersen hängen.

Liza trinkt noch ein Glas Apfelwein, trinkt schweren Rotwein. Über den Glasrand hinweg beobachtet sie Gesichter, schnappt Fetzen peripherer Gespräche auf. Jedesmal, wenn ihre Augen Macno suchen, sieht sie ihn von anderen Leuten umringt an einem anderen Punkt im Saal.

Jemand fuchtelt ihr mit der Hand vor dem Gesicht herum. »Erkennen Sie mich, Fräulein Förster?« sagt Ted. Er guckt leicht beschwipst, bewegt sich mit kindlichem Übermut. »Ich kann es kaum fassen, daß wir hier sind. Geht’s dir nicht auch so?« sagt er, dreht den Kopf hierhin und dorthin, legt ihr die Hand auf die Hüfte. »Alles dir zu verdanken.«

[31] Aber sein Ton ist ihr jetzt zuwider; diese Aufgekratztheit eines großen Kindes, das nach Bestätigung sucht. Sie sagt: »Führ dich nicht so auf, sei so gut.«

»Na hör mal, wie führ ich mich denn auf?« sagt er, leicht gekränkt dreinblickend. Er nimmt ihr das Weinglas aus der Hand, trinkt einen großen Schluck und sieht sich um.

Im Mittelpunkt einer Gruppe ein paar Meter weiter steht eine Frau mit vornehmen Gesichtszügen. Sie trägt ein grünes Kleid, ähnlich dem von Liza, aber länger an den Knien. Ihr Haar ist an den Schläfen mit raffinierter Schlichtheit zurückgekämmt, festgehalten von zwei Spangen aus Goldfiligran.

»Das ist Macnos Frau, Melissa«, sagt Ted halblaut. »Brüll doch nicht so«, sagt Liza peinlich berührt. Sie mustert die Frau mit gespieltem Desinteresse und findet, daß sie gegenüber ihrem Bild im Fernsehen eine Spur zarter und blasser ist. Auch in ihrer Nähe sind die Leute erregt, aber weniger als die um Macno.

Ted läßt sich auf ein flaches Sofa fallen, macht Liza ein Zeichen, sich neben ihn zu setzen. Liza setzt sich, versucht wenigstens ein paar Zentimeter Abstand zu halten; schiebt Teds Arm weg, den er ihr um die Hüfte legen will. Schweigend beobachten sie die plaudernden und gestikulierenden Leute, die näher kommen und sich wieder entfernen, während die Nacht fortschreitet. Ab und zu greifen sie sich ein Glas von einem Tablett, das ihnen ein Kellner hinhält; trinken achtlos verschiedene Weine.

Ted steht auf, sagt: »Ich geh mal das Klo suchen, weiß der Teufel, wo es ist. Bin gleich wieder da.« Nach allen Seiten blickend geht er davon: linkisch und plump in seinem an Armen und Beinen zu kurzen Anzug. Liza sieht ihm nach, voller Verlegenheit und Zärtlichkeit und [32] Gereiztheit, so miteinander vermischt, daß sie die einzelnen Gefühle nicht unterscheiden kann. Als er schon fast fünfzehn Meter weit weg ist, dreht er sich um und versichert ihr durch Zeichen noch einmal, er sei gleich wieder da.

Liza trinkt den Wein in kleinen Schlucken, legt den linken Arm auf die Sofalehne. Die Leute wirken jetzt aufgekratzter, lachen häufiger. Die Musiker auf dem kleinen Podium hinten im Saal steigern das Tempo; die Musik wird lebhafter. Liza hält Augen und Ohren offen, aber sie hat den Eindruck, als entgingen ihr die Feinheiten, als sähe sie alles mit dem Blick der Touristin. Sie steht auf, geht kreuz und quer durch den Saal und sieht sich die Leute aus der Nähe an. Macno ist in keinem der Kreise mehr, aber die Spannung hinter Gesten und Gesichtsausdrücken ist geblieben: immer noch reden alle erregt durcheinander, drehen und wenden die Köpfe. Liza hält sich am Rand der Gespräche, und ein paar Männer lächeln ihr zu, fragen: »Wie geht’s?« Stellen Fragen über sie und ihre Arbeit, erwidern: »Interessant« oder »Wie schön«. Aber sie sind zu ungeduldig, und ihre Aufmerksamkeit währt nicht lange: sie nicken und halten bereits nach neuen Kontakten Ausschau.

Ein Mädchen mit schlankem Hals beginnt zu tanzen; schwenkt die Arme über dem Kopf, schüttelt das Haar. Andere Frauen machen es ihr nach, dann auch Männer. Liza schlüpft zwischen den Tanzenden hindurch zu den großen Fenstern, die auf den dunklen Park hinausgehen, betrachtet die sich spiegelnden Lichter und Bewegungen. Sie geht weiter bis zu einer der Glastüren, öffnet sie; geht hinaus.