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George Orwell

Mein Katalonien

Bericht über den
Spanischen Bürgerkrieg
Aus dem Englischen von
Wolfgang Rieger

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Originalausgabe erschien 1938

in London unter dem Titel

›Homage to Catalonia‹

Copyright © by The Estate of the

late Sonia Brownell Orwell

Die deutsche Erstausgabe erschien 1964

Im Verlag Rütten & Loening,

München

Umschlagzeichnung von

Tomi Ungerer

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 20214 4 (19. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60248 7

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

 

 

 

[5] Antworte dem Narren nicht nach seiner Narrheit,
daß du ihm nicht auch gleich werdest.
Antworte aber dem Narren nach seiner Narrheit,
daß er sich nicht weise lasse dünken.

Sprüche, XXVI, 4  5

[7] Erstes Kapitel

Einen Tag, ehe ich in die Miliz eintrat, sah ich in der Lenin-Kaserne in Barcelona einen italienischen Milizsoldaten, der vor dem Offizierstisch stand.

Er war ein zäher Bursche, fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt, mit rötlichgelbem Haar und kräftigen Schultern. Seine lederne Schirmmütze hatte er grimmig über ein Auge gezogen. Ich sah von der Seite, wie er, mit dem Kinn auf der Brust und einem verwirrten Stirnrunzeln, auf eine Karte starrte, die einer der Offiziere offen auf dem Tisch liegen hatte. Etwas in diesem Gesicht rührte mich tief. Es war das Gesicht eines Mannes, der einen Mord begehen oder sein Leben für einen Freund wegwerfen würde. Es war ein Gesicht, das man bei einem Anarchisten erwartete, obwohl er sehr wahrscheinlich ein Kommunist war. Offenherzigkeit und Wildheit lagen darin und gleichzeitig auch die rührende Ehrfurcht, die des Schreibens und Lesens unkundige Menschen ihren vermeintlichen Vorgesetzten entgegenbringen. Es war klar, daß er aus der Karte nicht klug werden konnte, sicherlich hielt er Kartenlesen für ein erstaunliches intellektuelles Kunststück. Ich weiß kaum, warum, aber ich habe selten jemand gesehen – ich meine einen Mann –, für den ich eine solch unmittelbare Zuneigung empfand. Während man sich am Tisch unterhielt, verriet eine Bemerkung, daß ich ein Ausländer war. Der Italiener hob seinen Kopf und sagte schnell: »Italiano?«

Ich antwortete in meinem schlechten Spanisch: »No, inglés; y tú?«

»Italiano.«

Als wir hinausgingen, schritt er quer durch das Zimmer und packte meine Hand mit hartem Griff. Seltsam, welche [8] Zuneigung man für einen Fremden fühlen kann! Es war so, als ob es seiner und meiner Seele für einen Augenblick gelungen sei, den Abgrund der Sprache und Tradition zu überbrücken und sich in völliger Vertrautheit zu treffen. Ich hoffte, daß er mich genauso gut leiden möge wie ich ihn. Ich wußte aber auch, daß ich ihn nie wiedersehen durfte, um an meinem ersten Eindruck von ihm festzuhalten. Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß ich ihn wirklich nie wiedersah. In Spanien hatte man dauernd derartige Begegnungen.

Ich erwähne diesen italienischen Milizsoldaten, da er in meiner Erinnerung lebendig geblieben ist. In seiner schäbigen Uniform und mit seinem grimmigen, rührenden Gesicht ist er für mich ein typisches Bild der besonderen Atmosphäre jener Zeit. Er ist mit all meinen Erinnerungen an diesen Abschnitt des Krieges verknüpft: den roten Fahnen in Barcelona; den schlechten Zügen, die mit armselig ausgerüsteten Soldaten an die Front krochen; den grauen, vom Krieg angeschlagenen Städten hinter der Frontlinie und den schlammigen, eiskalten Schützengräben in den Bergen.

Das war Ende Dezember 1936. Kaum sieben Monate sind bis heute, während ich darüber schreibe, vergangen, und doch ist es ein Abschnitt, der schon in eine gewaltige Entfernung zurückgewichen ist. Spätere Ereignisse haben diese Zeit viel nachhaltiger verwischt als etwa meine Erinnerungen an 1935 oder sagen wir 1905. Ich war nach Spanien gekommen, um Zeitungsartikel zu schreiben. Aber ich war fast sofort in die Miliz eingetreten, denn bei der damaligen Lage schien es das einzig Denkbare zu sein, was man tun konnte. Die Anarchisten besaßen im Grunde genommen, noch immer die Kontrolle über Katalonien, und die Revolution war weiter in vollem Gange. Wer von Anfang an dort gewesen war, mochte vielleicht schon im Dezember oder Januar annehmen, daß sich die Revolutionsperiode ihrem Ende näherte. Wenn man aber gerade aus England kam, hatte der Anblick von Barcelona etwas [9] Überraschendes und Überwältigendes. Zum erstenmal war ich in einer Stadt, in der die arbeitende Klasse im Sattel saß. Die Arbeiter hatten sich praktisch jedes größeren Gebäudes bemächtigt und es mit roten Fahnen oder der rot und schwarzen Fahne der Anarchisten behängt. Auf jede Wand hatte man Hammer und Sichel oder die Anfangsbuchstaben der Revolutionsparteien gekritzelt. Fast jede Kirche hatte man ausgeräumt und ihre Bilder verbrannt. Hier und dort zerstörten Arbeitstrupps systematisch die Kirchen. Jeder Laden und jedes Café trugen eine Inschrift, daß sie kollektiviert worden seien. Man hatte sogar die Schuhputzer kollektiviert und ihre Kästen rot und schwarz gestrichen. Kellner und Ladenaufseher schauten jedem aufrecht ins Gesicht und behandelten ihn als ebenbürtig. Unterwürfige, ja auch förmliche Redewendungen waren vorübergehend verschwunden. Niemand sagte »Señor« oder »Don« oder sogar »Usted«. Man sprach einander mit »Kamerad« und »du« an und sagte »Salud!« statt »Buenos días«. Trinkgelder waren schon seit Primo de Riveras Zeiten verboten. Eins meiner allerersten Erlebnisse war eine Strafpredigt, die mir ein Hotelmanager hielt, als ich versuchte, dem Liftboy ein Trinkgeld zu geben. Private Autos gab es nicht mehr, sie waren alle requiriert worden. Sämtliche Straßenbahnen, Taxis und die meisten anderen Transportmittel hatte man rot und schwarz angestrichen. Überall leuchteten revolutionäre Plakate in hellem Rot und Blau von den Wänden, so daß die vereinzelt übriggebliebenen Reklamen daneben wie Lehmkleckse aussahen. Auf der Rambla, der breiten Hauptstraße der Stadt, in der große Menschenmengen ständig auf und ab strömten, röhrten tagsüber und bis spät in die Nacht Lautsprecher revolutionäre Lieder. Das Seltsamste von allem aber war das Aussehen der Menge. Nach dem äußeren Bild zu urteilen, hatten die wohlhabenden Klassen in dieser Stadt praktisch aufgehört zu existieren. Außer wenigen Frauen und Ausländern gab es überhaupt keine [10] »gutangezogenen« Leute. Praktisch trug jeder grobe Arbeiterkleidung, blaue Overalls oder irgendein der Milizuniform ähnliches Kleidungsstück. All das war seltsam und rührend. Es gab vieles, was ich nicht verstand. In gewisser Hinsicht gefiel es mir sogar nicht. Aber ich erkannte sofort die Situation, für die zu kämpfen sich lohnte. Außerdem glaubte ich, daß wirklich alles so sei, wie es aussah, daß dies tatsächlich ein Arbeiterstaat wäre und daß die ganze Bourgeoisie entweder geflohen, getötet worden oder freiwillig auf die Seite der Arbeiter übergetreten sei.

Ich erkannte nicht, daß sich viele wohlhabende Bürger einfach still verhielten und vorübergehend als Proletarier verkleideten.

Gleichzeitig mit diesen Eindrücken spürte man etwas vom üblen Einfluß des Krieges. Die Stadt machte einen schlechten, ungepflegten Eindruck, die Boulevards und Gebäude waren in einem dürftigen Zustand, bei Nacht waren die Straßen aus Furcht vor Luftangriffen nur schwach beleuchtet, die Läden waren meist armselig und halb leer. Fleisch war rar und Milch praktisch nicht zu erhalten, es gab kaum Kohle, Zucker oder Benzin, und Brot war wirklich sehr knapp. Schon zu dieser Zeit waren die Schlangen der Leute, die sich nach Brot anstellten, oft mehrere hundert Meter lang. Doch soweit man es beurteilen konnte, waren die Leute zufrieden und hoffnungsvoll. Es gab keine Arbeitslosigkeit, und die Lebenskosten waren immer noch äußerst niedrig. Auffallend mittellose Leute sah man nur selten und Bettler außer den Zigeunern nie. Vor allen Dingen aber glaubte man an die Revolution und die Zukunft. Man hatte das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine. In den Friseurläden hingen Anschläge der Anarchisten (die Friseure waren meistens Anarchisten), in denen ernsthaft erklärt wurde, die [11] Friseure seien nun keine Sklaven mehr. Farbige Plakate in den Straßen forderten die Prostituierten auf, sich von der Prostitution abzuwenden. Die Art, in der die idealistischen Spanier die abgedroschenen Phrasen der Revolution wörtlich nahmen, hatte für jeden Angehörigen der abgebrühten, höhnischen Welt der englisch sprechenden Völker etwas Rührendes. Man verkaufte damals in den Straßen für wenige Céntimos recht naive revolutionäre Balladen über die proletarische Brüderschaft oder die Bosheit Mussolinis. Ich habe öfters gesehen, wie ein des Lesens fast unkundiger Milizsoldat eine dieser Balladen kaufte, mit viel Mühe die Worte buchstabierte und sie dann, wenn er dahintergekommen war, zu der passenden Melodie sang.

Während der ganzen Zeit war ich in der Lenin-Kaserne, angeblich, um für die Front ausgebildet zu werden. Als ich in die Miliz eintrat, hatte man mir gesagt, daß ich am nächsten Tag zur Front geschickt werden solle. Aber in Wirklichkeit mußte ich warten, bis eine neue centuria zusammengestellt wurde. Die Arbeitermiliz, in aller Eile zu Beginn des Krieges von den Gewerkschaften aufgestellt, hatte man bis jetzt noch nicht nach dem Vorbild der regulären Armee organisiert. Kommandoeinheiten waren der ›Zug‹ (sección, d. Ü.) mit etwa dreißig Mann, die centuria mit etwa hundert Mann und die ›Kolonne‹ (columna, d. Ü.), praktisch nichts anderes als eine große Zahl Soldaten. Die Lenin-Kaserne bestand aus mehreren großartigen Steinbauten, einer Reitschule und weitläufigen, gepflasterten Höfen. Sie war früher als Kavalleriekaserne benutzt worden, die man während der Kämpfe im Juli erobert hatte. Meine centuria schlief in einem der Ställe unter den Steinkrippen, auf denen noch die Namen der Kavalleristen standen, die die Pferde zu versorgen hatten. Die Pferde hatte man erbeutet und an die Front geschickt, aber die Ställe stanken noch immer nach Pferdepisse und verfaultem Hafer. Ich blieb ungefähr eine Woche in der Kaserne. Ich erinnere mich [12] hauptsächlich an den Pferdegeruch, die ungeschickten Trompetensignale (unsere Trompeter waren alle Amateure – ich hörte zum ersten Male die richtigen spanischen Trompetensignale, als ich vor der faschistischen Linie auf sie lauschte), das Trapp-trapp der mit Nägeln beschlagenen Stiefelsohlen auf dem Kasernenhof, die langen Morgenparaden im winterlichen Sonnenschein und die wilden Fußballspiele auf dem Kies der Reitschule mit fünfzig Mann auf jeder Seite. In der Kaserne lagen vielleicht tausend Mann und etwa zwanzig Frauen, außerdem die Frauen der Milizsoldaten, die das Essen kochten. Einige Frauen dienten immer noch in der Miliz, aber nicht mehr viele. In den ersten Schlachten hatten sie ganz selbstverständlich Seite an Seite mit den Männern gekämpft. Während einer Revolution scheint das eine natürliche Sache zu sein. Jetzt aber änderten sich die Ansichten schon. Die Milizsoldaten mußten aus der Reitschule gehalten werden, während die Frauen dort exerzierten, denn sie lachten über die Frauen und brachten sie aus dem Konzept. Ein paar Monate vorher hätte niemand etwas Komisches dabei gefunden, daß eine Frau mit einem Gewehr umging.

Die ganze Kaserne befand sich in einem schmutzigen, chaotischen Zustand, in den die Miliz jedes Gebäude versetzte, das sie bewohnte. Das war wohl eines der Nebenprodukte der Revolution. In jeder Ecke fand man haufenweise zerschlagene Möbel, zerrissene Sättel, Kavalleriehelme aus Messing, leere Säbelscheiden und verfaulende Verpflegung. Lebensmittel wurden fürchterlich vergeudet, besonders das Brot. Nach jeder Mahlzeit wurde allein aus meiner Stube ein Korb voll Brot weggeworfen, eine schimpfliche Sache, wenn gleichzeitig die Zivilbevölkerung danach darbte. Wir aßen aus ständig schmierigen kleinen Blechpfannen und saßen an langen Tischplatten, die man auf Böcke gelegt hatte. Wir tranken aus einem scheußlichen Gefäß, das man porrón nannte. Ein porrón ist eine Glasflasche mit einer spitzen [13] Tülle, aus der ein dünner Strahl Wein spritzt, wenn man die Flasche kippt. So kann man aus einiger Entfernung trinken, ohne die Flasche mit den Lippen zu berühren, und sie kann von Hand zu Hand weitergereicht werden. Sobald ich einen porrón in Gebrauch sah, streikte ich und verlangte einen Trinkbecher. In meinen Augen ähnelten diese Trinkflaschen allzusehr Bettflaschen, besonders, wenn sie mit Weißwein gefüllt waren.

Nach und nach wurden Uniformen an die Rekruten ausgegeben, und da wir in Spanien waren, wurde alles einzeln verteilt, so daß niemand genau wußte, wer was erhalten hatte. Manches, was wir am nötigsten gebrauchten, wie etwa Koppel und Patronentaschen, wurde erst im letzten Augenblick ausgegeben, als der Zug, der uns an die Front bringen sollte, schon wartete. Ich habe von einer »Uniform« der Miliz gesprochen, das erweckt wahrscheinlich einen falschen Eindruck. Es war eigentlich keine Uniform, und vielleicht wäre ›Multiform‹ der richtige Name dafür. Die Einkleidung jedes einzelnen erfolgte zwar nach demselben allgemeinen Plan, aber man erhielt nicht in zwei Fällen das gleiche. Praktisch trug jeder in der Armee Kordkniehosen, aber damit hörte die Uniformität auf. Einige trugen Wickelgamaschen, andere Kordgamaschen, wieder andere lederne Gamaschen oder hohe Stiefel. Jeder trug eine Jacke mit Reißverschluß, aber einige der Jacken waren aus Leder, andere aus Wolle und in allen erdenklichen Farben. Die Form der Mützen war genauso unterschiedlich wie die Leute, die sie trugen. Normalerweise schmückte man die Mütze vorne mit einem Parteiabzeichen, außerdem band sich fast jeder ein rotes oder rot-schwarzes Taschentuch um den Hals. Eine Milizkolonne war damals ein außergewöhnlich bunter Haufen. Aber man mußte die Kleidung eben dann verteilen, wenn sie von der einen oder anderen Fabrik überstürzt geliefert wurde. In Anbetracht der ganzen Umstände war es nicht einmal eine so schlechte Kleidung. [14] Hemden und Socken allerdings waren aus miserabler Baumwolle, vollständig nutzlos bei Kälte. Ich wage nicht auszudenken, was die Milizsoldaten während der ersten Monate erduldet haben müssen, als noch nichts organisiert war. Ich erinnere mich daran, daß ich einmal eine etwa zwei Monate alte Zeitung las, in der ein P.O.U.M.-Führer* [* Arbeiterpartei der marxistischen Einigung (Partido Obrero de Unificación Marxista).] nach dem Besuch der Front schrieb, er wolle sich darum kümmern, daß »jeder Milizsoldat eine Decke bekommt«. Dieser Satz läßt einen schaudern, wenn man jemals in einem Schützengraben geschlafen hat.

Nachdem ich zwei Tage in der Kaserne war, begann man mit der ›Instruktion‹, wie man es komisch genug nannte. Anfangs gab es schreckliche Szenen des Durcheinanders. Die Rekruten waren hauptsächlich sechzehn- oder siebzehnjährige Jungen aus den Armutsvierteln Barcelonas, voll revolutionärer Begeisterung, aber vollständig ahnungslos in bezug auf die Anforderungen eines Krieges. Es war sogar unmöglich, sie in Reih und Glied aufzustellen. Disziplin existierte nicht: wenn ein Befehl einem Mann nicht gefiel, trat er aus dem Glied vor und argumentierte heftig mit dem Offizier. Der Leutnant, der uns ausbildete, war ein untersetzter, angenehmer junger Mann mit einem frischen Gesicht, der vorher als Offizier in der regulären Armee gedient hatte. Mit seiner feschen Haltung und in seiner blitzblanken Uniform sah er immer noch wie ein Armeeoffizier aus. Sonderbarerweise war er ein ernster und glühender Sozialist. Mehr noch als die Leute selbst bestand er auf vollständiger sozialer Gleichheit zwischen allen Rängen. Ich erinnere mich, wie er schmerzlich überrascht war, als ihn ein unwissender Rekrut mit »Señor« anredete. »Was! Señor! Wer ruft mich Señor? Sind wir nicht alle Kameraden?« Ich bezweifle, daß ihm diese Haltung seine Arbeit erleichterte. Unterdessen [15] erhielten die ungeschliffenen Rekruten keinerlei militärische Ausbildung, die ihnen in irgendeiner Weise nützlich sein konnte. Man hatte mir gesagt, daß Ausländer an der Instruktion nicht teilnehmen müßten. Ich hatte bemerkt, daß die Spanier felsenfest daran glaubten, alle Ausländer wüßten mehr von militärischen Dingen als sie selbst. Aber natürlich ging ich mit den anderen zum Dienst. Ich wollte vor allem die Bedienung eines Maschinengewehrs lernen. Ich hatte noch nie Gelegenheit gehabt, damit umzugehen. Zu meiner Bestürzung erfuhr ich, daß man uns nichts über den Gebrauch dieser Waffe beibringen werde. Die sogenannte Instruktion erschöpfte sich in einem völlig veralteten und geistlosen Exerzierdienst. Rechts um, links um, ganze Abteilung kehrt, Parademarsch in Dreierreihen und der ganze übrige nutzlose Unsinn, den ich schon gelernt hatte, als ich fünfzehn Jahre alt war. Das war wirklich eine unglaubliche Art, um eine Armee für den Kleinkrieg auszubilden. Wenn man nur einige Tage zur Verfügung hat, um einen Soldaten auszubilden, ist es eigentlich selbstverständlich, ihm das beizubringen, was er wirklich braucht: wie man in Deckung geht, wie man in offenem Gelände vorgeht, wie man auf Wache zieht und wie man eine Befestigung errichtet – vor allem aber, wie man seine Waffen gebraucht. Aber man zeigte diesem Haufen eifriger Kinder, die in wenigen Tagen an die Front geworfen werden sollten, nicht einmal, wie man ein Gewehr abfeuert oder den Sicherungsstift aus einer Handgranate herauszieht. Damals begriff ich noch nicht, daß dies nur geschah, weil man keine Waffen hatte. In der P.O.U.M.-Miliz war der Mangel an Gewehren so hoffnungslos, daß die frischen Truppen, wenn sie zur Front kamen, ihre Gewehre immer von den Truppen übernehmen mußten, die sie ablösten. Ich glaube, in der ganzen Lenin-Kaserne gab es nur die Gewehre, die von den Wachtposten benutzt wurden.

Obwohl wir für normale Begriffe ein noch vollständig undisziplinierter Haufen waren, glaubte man nach einigen [16] Tagen, wir seien schon so weit, daß wir uns in der Öffentlichkeit sehen lassen könnten. So ließ man uns morgens in die öffentlichen Gärten auf dem Hügel jenseits der Plaza de España marschieren. Hier war der gemeinsame Übungsplatz aller Parteimilizen, außerdem der Carabineros und der ersten Einheiten der neu aufgestellten Volksarmee. In den öffentlichen Gärten bot sich ein merkwürdiges und ermutigendes Bild. Steif marschierten die Soldaten in Abteilungen und Kompanien zwischen den abgezirkelten Blumenbeeten die Wege und Alleen auf und ab. Sie warfen ihre Brust heraus und versuchten verzweifelt, wie Soldaten auszusehen. Alle waren ohne Waffen, und keiner hatte eine komplette Uniform, obwohl bei den meisten die Milizuniform wenigstens stückweise vorhanden war. Die Prozedur blieb sich meistens ziemlich gleich. Drei Stunden lang stolzierten wir auf und ab (der spanische Marschschritt ist sehr kurz und schnell), dann machten wir halt, verließen unsere Formation und strömten durstig zu einem Lebensmittelladen auf halbem Wege hügelabwärts. Dieser Laden machte ein blühendes Geschäft mit billigem Wein. Jeder war sehr freundlich zu mir. Als Engländer wurde ich wie eine Art Kuriosität betrachtet. Die Carabinero-Offiziere hielten viel von mir und luden mich zu manchem Glas Wein ein. Unterdessen ließ ich nicht locker, unseren Leutnant, sooft ich ihn erwischte, zu beschwören, mich im Gebrauch des Maschinengewehrs zu unterrichten. Ich zog mein Hugo-Wörterbuch aus der Tasche und fiel in meinem abscheulichen Spanisch über ihn her:

»Yo sé manejar fusil. No sé manejar ametralladora. Quiero aprender ametralladora. Cuándo vamos aprender ametralladora?«

Die Antwort war stets ein gequältes Lächeln und das Versprechen, der Unterricht am Maschinengewehr werde mañana beginnen. Selbstverständlich kam mañana nie. So vergingen mehrere Tage, und die Rekruten lernten, beim [17] Marschieren Schritt zu halten und fast elegant Haltung anzunehmen. Aber wenn sie wußten, aus welchem Ende des Gewehrs die Kugel kam, so war das schon ihr ganzes Wissen. Eines Tages gesellte sich ein bewaffneter Carabinero zu uns, als wir gerade haltmachten, und erlaubte uns, sein Gewehr zu untersuchen. Es stellte sich heraus, daß in meiner gesamten Abteilung niemand außer mir auch nur wußte, wie man ein Gewehr lädt, geschweige denn, wie man damit zielt.

Während der ganzen Zeit hatte ich die üblichen Mühen mit der spanischen Sprache. In der Kaserne gab es außer mir nur noch einen Engländer, und selbst unter den Offizieren sprach niemand ein Wort Französisch. Die Sache wurde für mich auch dadurch nicht leichter, daß meine Kameraden untereinander normalerweise katalanisch sprachen. Die einzige Art, mich überhaupt verständlich zu machen, bestand darin, überall ein kleines Lexikon mit mir herumzutragen, das ich in Krisenmomenten geschwind aus meiner Tasche hervorzauberte. Aber ich möchte dennoch eher ein Ausländer in Spanien sein als in den meisten anderen Ländern. Wie leicht ist es, in Spanien Freunde zu gewinnen! Schon nach ein oder zwei Tagen riefen mich viele Milizsoldaten bei meinem Vornamen, weihten mich in alle Tricks ein und überschütteten mich mit ihrer Gastfreundschaft. Ich schreibe kein Propagandabuch, und ich möchte auch nicht die P.O.U.M.-Miliz idealisieren. Das ganze Milizsystem hatte ernste Fehler, und die Leute selbst waren ein zusammengewürfelter Haufen, denn zu dieser Zeit ließ die freiwillige Rekrutierung nach, und viele der besten Männer waren schon an der Front oder tot. Ein bestimmter Prozentsatz unter uns war immer vollständig nutzlos. Fünfzehnjährige Jungen wurden von ihren Eltern ganz offen nur deshalb zum Eintritt in die Armee gebracht, um die zehn Peseten täglich zu verdienen, die ein Milizsoldat als Lohn erhielt; gleichzeitig aber auch wegen des Brotes, das die [18] Milizangehörigen so reichlich bekamen und das sie nach Hause zu ihren Eltern schmuggeln konnten. Aber ich möchte den sehen, der nicht mit mir übereinstimmt, wenn er unter die spanische Arbeiterklasse gerät wie ich – ich sollte vielleicht sagen, unter die katalanische Arbeiterklasse, da ich außer mit einigen Aragoniern und Andalusiern nur mit Katalanen zusammenkam –, der dann nicht von ihrer grundsätzlichen Anständigkeit beeindruckt ist; vor allem von ihrer Aufrichtigkeit und ihrer Großzügigkeit. Die spanische Freigebigkeit, im gewöhnlichen Sinn des Wortes, kann einen manchmal fast in Verlegenheit bringen. Wenn man einen Spanier um eine Zigarette bittet, zwingt er einem das ganze Päckchen auf. Und darüber hinaus gibt es noch Großzügigkeit in einem tieferen Sinn, eine wahre Großmütigkeit der Gesinnung, der ich immer wieder unter den aussichtslosesten Umständen begegnet bin. Einige Journalisten und andere Ausländer, die während des Bürgerkrieges durch Spanien gereist sind, haben erklärt, daß die Spanier insgeheim bitter eifersüchtig auf die ausländische Hilfe waren. Ich kann nur sagen, daß ich niemals etwas Derartiges beobachtet habe. Ich entsinne mich, daß, wenige Tage bevor ich die Kaserne verließ, eine Gruppe von Männern auf Urlaub von der Front zurückkam. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Erfahrungen und waren voller Begeisterung über französische Truppen, die bei Huesca neben ihnen gelegen hatten. Sie sagten, die Franzosen seien sehr tapfer gewesen, und fügten enthusiastisch hinzu: »Más valientes que nosotros« – »Tapferer, als wir es sind!« Natürlich äußerte ich Bedenken, worauf sie erklärten, die Franzosen verstünden mehr von der Kriegskunst – sie könnten besser mit Bomben, Maschinengewehren und dergleichen umgehen. Gleichwohl war die Bemerkung bezeichnend. Ein Engländer würde sich eher die Hand abschneiden, als so etwas zu sagen.

Jeder Ausländer, der in der Miliz diente, verbrachte die ersten Wochen damit, die Spanier liebenzulernen und sich [19] gleichzeitig über einige ihrer Eigenschaften zu ärgern. An der Front erreichte meine eigene Verärgerung manchmal den Gipfel der Wut. Die Spanier sind in vielen Dingen sehr geschickt, aber nicht im Kriegführen. Ohne Ausnahme sind alle Ausländer über ihre Unfähigkeit erschrocken, vor allem ihre unbeschreibliche Unpünktlichkeit. Kein Ausländer wird es vermeiden können, ein spanisches Wort zu lernen, es heißt mañana – ›morgen‹. Wenn es nur irgendwie möglich ist, wird eine Arbeit von heute auf mañana verschoben. Das ist so weltbekannt, daß sogar die Spanier selbst Witze darüber machen. In Spanien ereignet sich nichts zur angesetzten Zeit; sei es eine Mahlzeit oder eine Schlacht. In der Regel geschieht alles zu spät. Nur rein zufällig – damit man sich selbst darauf nicht verlassen kann, daß sich etwas spät ereignet – geschieht es manchmal zu früh. Ein Zug, der um acht Uhr abfahren soll, wird normalerweise irgendwann zwischen neun und zehn abfahren, aber vielleicht einmal in der Woche fährt er dank einer persönlichen Laune des Lokomotivführers um halb acht ab. So etwas kann natürlich ein wenig anstrengend sein. Theoretisch jedoch bewundere ich die Spanier, weil sie unsere nordeuropäische Zeitneurose nicht teilen; aber unglücklicherweise bin ich selbst davon befallen.

Nach endlosen Gerüchten, mañanas und Verzögerungen erhielten wir plötzlich den Befehl, uns innerhalb von zwei Stunden zur Front in Marsch zu setzen, als ein großer Teil unserer Ausrüstung noch nicht ausgegeben war. Auf der Kammer gab es furchtbare Tumulte; zum Schluß mußte eine große Anzahl Leute ohne ihre volle Ausrüstung abmarschieren. Die Kaserne war rasch voller Frauen, die aus dem Boden zu wachsen schienen und ihrem Mannsvolk halfen, ihre Decken zusammenzurollen und ihre Rucksäcke zu packen. Es war sehr demütigend für mich, daß mir ein spanisches Mädchen, die Frau von Williams, dem anderen englischen Milizsoldaten, zeigen mußte, wie ich meine neuen [20] ledernen Patronentaschen anzuschnallen hatte. Sie war ein liebenswürdiges, dunkeläugiges und höchst weibliches Geschöpf. Sie sah aus, als ob ihre Lebensarbeit darin bestünde, eine Wiege zu schaukeln. In Wirklichkeit aber hatte sie bei den Straßenschlachten im Juli tapfer gefochten. Augenblicklich trug sie ein Baby mit sich, das gerade zehn Monate nach Ausbruch des Krieges zur Welt gekommen und vielleicht hinter den Barrikaden gezeugt worden war.

Der Zug sollte um acht abfahren, und es war etwa zehn nach acht, als es den geplagten, schwitzenden Offizieren gelang, uns auf dem Kasernenhof aufzustellen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die von Fackeln erleuchtete Szene: das Getümmel und die Aufregung, die roten Fahnen, die im Fackellicht flatterten, die Reihen der Milizsoldaten mit ihren Rucksäcken auf dem Rücken und ihren gerollten Decken, die sie wie Patronengurte über der Schulter trugen; und das Geschrei und das Klappern der Stiefel und Blecheßnäpfe und dann schließlich ein gewaltiges und schließlich erfolgreiches Ruhezischen; und dann ein politischer Kommissar, der unter einem riesigen, rauschenden roten Banner stand und uns eine Ansprache auf katalanisch hielt. Endlich ließ man uns zum Bahnhof marschieren, indem wir die längste Route von etwa fünf oder sechs Kilometern einschlugen, um uns der ganzen Stadt zu zeigen. In der Rambla mußten wir haltmachen, während eine herbeigeholte Kapelle irgendwelche Revolutionslieder spielte. Noch einmal Heldenrummel – Geschrei und Begeisterung, überall rote und rot-schwarze Fahnen, freundliche Volksmassen, die sich auf dem Bürgersteig drängten, um uns zu sehen, Frauen, die aus den Fenstern winkten. Wie natürlich schien damals alles; wie entfernt und unwahrscheinlich heute! Der Zug war so dicht mit Männern vollgepackt, daß selbst auf dem Fußboden kaum Platz war, geschweige denn auf den Sitzen. Im letzten Moment lief Williams’ Frau am Bahnsteig entlang und gab uns eine Flasche Wein und ein drittel [21] Meter der knallroten Wurst, die nach Seife schmeckt und Durchfall bewirkt. Der Zug kroch mit der normalen Kriegsgeschwindigkeit von weniger als zwanzig Kilometern in der Stunde aus Katalonien hinaus und auf das Plateau von Aragonien hinauf.

[22] Zweites Kapitel

Barbastro sah öde und zerstört aus, obwohl es weit hinter der Front lag. In Gruppen schlenderten die Milizsoldaten mit ihren schlechten Uniformen die Straßen auf und ab und versuchten, sich warm zu halten. An einer baufälligen Wand fand ich ein Plakat aus dem Vorjahr, das ankündigte, am Soundsovielten würden »sechs stattliche Stiere« in der Arena getötet. Wie verloren sahen die verblichenen Farben aus! Wo waren die stattlichen Stiere und die stattlichen Stierkämpfer jetzt? Es schien, daß es heute selbst in Barcelona kaum noch Stierkämpfe gab; aus irgendeinem Grund waren die besten Matadore alle Faschisten.

Meine Kompanie wurde auf Lastwagen nach Sietamo geschickt, von dort weiter westlich nach Alcubierre, das gerade hinter der Front gegenüber von Saragossa lag. Dreimal hatte man um Sietamo gekämpft, ehe es im Oktober von den Anarchisten endgültig erobert wurde. Teile der Stadt waren durch Granatfeuer zertrümmert und die meisten Häuser durch die Einschläge der Gewehrkugeln wie von Pockennarben übersät.

Wir befanden uns jetzt etwa vierhundertfünfzig Meter über Meereshöhe. Es war scheußlich kalt, dazu dichter Nebel, der aus dem Nichts heraufwirbelte. Der Lastwagenfahrer verfuhr sich zwischen Sietamo und Alcubierre (das war eines der typischen Merkmale dieses Krieges), und wir irrten stundenlang durch den Nebel. Spät in der Nacht erreichten wir Alcubierre. Jemand führte uns durch schlammigen Morast in einen Maultierstall, wo wir uns in die Spreu eingruben und sofort einschliefen. Spreu ist zum Schlafen nicht schlecht, wenn sie sauber ist, nicht so gut wie Heu, aber besser als Stroh. Erst beim Morgenlicht entdeckte ich, [23] daß die Spreu voller Brotkrusten, zerrissener Zeitungen, Knochen, toter Ratten und schartiger Milchbüchsen war.

Wir waren jetzt nahe an der Front, nahe genug, um den charakteristischen Geruch des Krieges zu riechen – nach meiner Erfahrung ein Gestank von Exkrementen und verfaulenden Lebensmitteln. Alcubierre war nie von der Artillerie beschossen worden und befand sich in einem besseren Zustand als die meisten Dörfer unmittelbar hinter der Front. Aber ich glaube, daß man selbst in Friedenszeiten nicht durch diesen Teil von Spanien reisen konnte, ohne von dem besonders armseligen Elend der aragonischen Dörfer betroffen zu sein. Sie sind wie Festungen gebaut. Eine Menge mittelmäßiger, kleiner Häuser aus Lehm und Stein drängt sich um die Kirche, und selbst im Frühling sieht man kaum irgendwo eine Blume. Die Häuser haben keine Gärten, nur Hinterhöfe, in denen magere Hühner über Haufen von Maultiermist rutschen. Es war ein widerliches Wetter, abwechselnd Nebel und Regen. Die engen Landwege hatten sich in einen See von Schlamm verwandelt, der stellenweise bis zu sechzig Zentimeter tief war. Durch diesen Schlamm wühlten sich die Lastwagen mit rasend drehenden Rädern und führten die Bauern ihre schwerfälligen Karren, die von Maultiergespannen gezogen wurden, manchmal sechs in einer Reihe und immer voreinandergespannt. Das ständige Kommen und Gehen der Truppen hatte das Dorf in einen Zustand unaussprechlichen Schmutzes versetzt. Irgendeine Toilette oder eine Art Kanalisation besaß es nicht und hatte es nie besessen, daher fand man auch nicht einen Quadratmeter, wo man gehen konnte, ohne darauf achten zu müssen, wohin man trat. Die Kirche hatte man schon seit langem als Latrine benutzt, ebenso aber auch alle Felder im Umkreis von etwa vierhundert Metern. Ich denke nie an meine ersten zwei Kriegsmonate, ohne mich an winterliche Stoppelfelder zu erinnern, deren Ränder mit Kot überkrustet waren.

[24] Zwei Tage vergingen, und immer noch wurden keine Gewehre an uns ausgegeben. Wenn man im Comité de Guerra gewesen war und eine Reihe Löcher in der Wand besichtigt hatte – Einschläge der Gewehrsalven, durch die hier Faschisten erschossen wurden –, hatte man alle Sehenswürdigkeiten gesehen, die es in Alcubierre gab. Draußen an der Front war offensichtlich alles ruhig, nur wenige Verwundete kamen ins Dorf. Die größte Aufregung rief die Ankunft faschistischer Deserteure hervor, die unter Bewachung von der Front gebracht wurden. Viele der Truppen, die uns an diesem Teil der Front gegenüberlagen, waren gar keine Faschisten, sondern nur unglückliche Dienstpflichtige, die gerade in der Armee dienten, als der Krieg ausbrach, und die nun eifrig bemüht waren zu fliehen. Gelegentlich wagten kleine Gruppen, zu unserer Linie hinüberzuschlüpfen. Ohne Zweifel wären noch mehr geflohen, wenn ihre Verwandten nicht auf faschistischem Gebiet gewohnt hätten. Diese Deserteure waren die ersten ›richtigen‹ Faschisten, die ich je zu Gesicht bekam. Es fiel mir auf, daß sie sich in nichts von uns unterschieden, außer daß sie Khaki-Overalls trugen. Wenn sie bei uns ankamen, waren sie immer heißhungrig – eine natürliche Sache, nachdem sie sich ein oder zwei Tage im Niemandsland herumgedrückt hatten. Aber diese Tatsache wurde triumphierend als eine Bestätigung dafür angesehen, daß die faschistischen Truppen Hunger litten. Ich schaute zu, wie einer von ihnen in einem Bauernhaus gefüttert wurde. Es war ein erbarmungswürdiger Anblick. Der große zwanzigjährige Junge, vom Wetter gebräunt und die Kleider in Lumpen, duckte sich vor dem Feuer und schaufelte mit verzweifelter Eile ein Kochgeschirr voll Stew in sich hinein. Während der ganzen Zeit flogen seine Augen nervös im Kreis der Milizsoldaten umher, die dabeistanden und ihn beobachteten. Ich denke, er glaubte wohl immer noch, daß wir blutdürstige ›Rote‹ seien und ihn erschießen würden, sobald er seine Mahlzeit beendet habe. Die [25] bewaffneten Männer, die ihn bewachten, klopften ihm auf die Schulter und versuchten ihn zu beruhigen. An einem denkwürdigen Tag kamen fünfzehn Deserteure in einem einzigen Trupp. Man führte sie im Triumph durch das Dorf, und ein Mann ritt auf einem weißen Pferd vor ihnen her. Es gelang mir, ein ziemlich unscharfes Foto aufzunehmen, das mir später gestohlen wurde.

Am dritten Morgen unseres Aufenthaltes in Alcubierre kamen die Gewehre an. Ein Sergeant mit plumpem, dunkelgelbem Gesicht verteilte sie im Maultierstall. Ich erschrak vor Entsetzen, als ich sah, was man mir in die Hand drückte. Es war ein deutsches Mausergewehr aus dem Jahr 1896 – mehr als vierzig Jahre alt! Es war rostig, das Schloß klemmte, und der hölzerne Laufschutz war zersplittert. Ein Blick in die Mündung zeigte, daß der Lauf zerfressen und ein hoffnungsloser Fall war. Die meisten der anderen Gewehre waren genauso schlecht, einige sogar noch schlechter, und niemand machte den Versuch, die besten Waffen den Männern zu geben, die damit umzugehen wußten. Das beste Gewehr der Sammlung, nur zehn Jahre alt, gab man einem einfältigen kleinen fünfzehnjährigen Scheusal, von dem jeder wußte, daß er ein maricón (Homosexueller) war. Der Sergeant gab uns fünf Minuten »Instruktion«, die darin bestand, uns zu erklären, wie man ein Gewehr lud und wie man den Bolzen herausnahm. Viele Milizsoldaten hatten nie zuvor ein Gewehr in der Hand gehabt, und ich vermute, daß sehr wenige wußten, wozu das Visier da war. Patronen wurden ausgeteilt, jeweils fünfzig pro Mann. Dann traten wir in Reih und Glied an, schulterten unsere Ausrüstung und setzten uns zu der etwa viereinhalb Kilometer entfernten Front in Bewegung.

Die centuria, achtzig Männer und mehrere Hunde, bewegte sich in unregelmäßigen Windungen die Straße hinauf. Jede Milizkolonne hatte sich zumindest einen Hund als Maskottchen zugelegt. Einem dieser elenden Viecher, das [26] mit uns marschierte, hatte man P.O.U.M. in großen Buchstaben aufgebrannt, und es schlich daher, als ob es wüßte, daß etwas mit seinem Aussehen nicht in Ordnung sei. An der Spitze der Kolonne auf einem schwarzen Pferd ritt Georges Kopp, der stämmige belgische Comandante, neben der roten Fahne. Etwas weiter vorne ritt ein Junge der räuberähnlichen Milizkavallerie stolz auf und ab. Jede kleine Anhöhe galoppierte er hinauf und setzte sich auf der Höhe in malerischer Haltung in Positur. Während der Revolution hatte man die vorzüglichen Pferde der spanischen Kavallerie in großer Zahl erbeutet und der Miliz übergeben, die sie natürlich fleißig zu Tode ritt.

Die Straße zog sich zwischen gelben, unfruchtbaren Feldern dahin, die seit der Ernte des letzten Jahres unberührt geblieben waren. Vor uns lag die niedrige Sierra, die sich zwischen Alcubierre und Saragossa erstreckt. Wir kamen jetzt näher an die Front, näher heran an die Bomben, die Maschinengewehre und den Schlamm. Insgeheim hatte ich Angst. Ich wußte, daß die Front zur Zeit ruhig war, aber im Gegensatz zu den meisten Männern neben mir war ich alt genug, mich an den Weltkrieg zu erinnern, wenn auch nicht so alt, um mitgekämpft zu haben. Krieg bedeutete für mich donnernde Geschosse und herumschwirrende Stahlsplitter. Vor allem bedeutete es Schlamm, Läuse, Hunger und Kälte. Es ist merkwürdig, aber ich fürchtete mich vor der Kälte mehr als vor dem Feind. Der Gedanke daran hatte mich während der ganzen Dauer meines Aufenthaltes in Barcelona heimgesucht. Ich hatte sogar nachts wach gelegen, und an die Kälte in den Schützengräben gedacht, an die Alarmbereitschaft während der gräßlichen Morgendämmerung, die langen Stunden des Wacheschiebens mit einem reifbedeckten Gewehr und den eisigen Schlamm, der über meine Stiefelränder laufen würde. Ich gebe auch zu, daß ich eine Art Grausen spürte, wenn ich mir die Leute ansah, mit denen ich marschierte. Man kann sich unmöglich vorstellen, [27] welch ein elender Haufen wir waren. Wir zogen zerstreut dahin, mit weniger Zusammenhalt als eine Herde Schafe. Wir waren noch keine drei Kilometer marschiert, als man das Ende der Kolonne schon nicht mehr sehen konnte. Gut die Hälfte der sogenannten Männer waren Kinder – und ich meine wörtlich Kinder, sechzehn Jahre alt, wenn es hoch kam. Doch sie waren alle glücklich und aufgeregt von der Aussicht, endlich an die Front zu kommen. Als wir uns der Kampflinie näherten, begannen die Jungen unter der roten Fahne an der Spitze zu rufen: »Visca P.O.U.M.!«, »Fascistas – maricones!« und so fort. Ein Geschrei, das kriegerisch und drohend sein sollte, da es aber aus diesen kindlichen Kehlen kam, so pathetisch klang wie die Schreie von Kätzchen. Es schien schrecklich, daß dieser Haufen zerlumpter Kinder, die abgenutzte Gewehre trugen, von denen sie nicht wußten, wie sie bedient wurden, die Verteidiger der Republik sein sollten. Ich erinnere mich, daß ich neugierig war, was geschehen würde, wenn ein faschistisches Flugzeug über uns wegflöge – ob der Flieger es überhaupt für nötig halten würde hinabzustoßen, um uns mit einer Runde seines Maschinengewehrs zu überschütten. Sicherlich konnte er sogar aus der Luft sehen, daß wir keine richtigen Soldaten waren.

Als die Straße die Sierra erreichte, zweigten wir nach rechts ab und kletterten einen schmalen Maultierpfad hoch, der sich um die Flanke des Berges herumwand. Die Hügel in diesem Teil Spaniens haben eine eigentümliche Form, nämlich die Gestalt von Hufeisen mit flachen Kuppen und sehr steilen Abhängen, die in riesige Schluchten hinabstürzen. Auf den oberen Hängen wächst nichts außer verkümmerten Stauden und Heidekraut, dazwischen lugen überall die weißen Umrisse des Kalksteins hervor. Die vorderste Stellung bestand hier nicht aus einer zusammenhängenden Linie von Schützengräben, das wäre in einem solch bergigen Gelände unmöglich gewesen. Es war einfach eine Kette befestigter Posten, die man jeweils ›Stellung‹ nannte und [28] die auf jeder Hügelkuppe saßen. In einiger Entfernung konnte man unsere ›Stellung‹ auf dem Scheitelpunkt des Hufeisens sehen: eine zerfetzte Barrikade aus Sandsäcken, eine flatternde rote Fahne und der Rauch der Feuer in den Unterständen. Wenn man etwas näher kam, konnte man einen ekelerregenden, süßlichen Gestank riechen, der sich noch viele Wochen hinterher in meiner Nase hielt. Unmittelbar hinter der Stellung war der Müll vieler Monate in die Schlucht gekippt worden – eine tiefe Schwäre aus Brotkrusten, Kot und rostigen Blechdosen.

Die Kompanie, die wir ablösten, packte gerade ihre Ausrüstung zusammen. Die Leute hatten drei Monate an der Front gelegen. Schlamm backte an ihren Uniformen, ihre Stiefel fielen auseinander, und ihre Gesichter waren größtenteils von Bärten bedeckt. Der Hauptmann, der den Befehl über die Stellung hatte, kroch aus seinem Unterstand und begrüßte uns. Er hieß Levinski, aber jeder kannte ihn unter dem Namen Benjamin. Von Geburt war er ein polnischer Jude, aber seine Muttersprache war Französisch. Der kleine junge Kerl, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, hatte straffes schwarzes Haar und ein bleiches, lebhaftes Gesicht, das während dieser Periode des Krieges immer sehr schmutzig war. Einige verirrte Kugeln pfiffen hoch über unseren Köpfen. Die Stellung bestand aus einer halbkreisförmigen Einfriedigung mit einem Durchmesser von etwa fünfzig Metern und einer Brustwehr, die teilweise aus Sandsäcken und teilweise aus Kalksteinbrocken bestand. Dreißig oder vierzig Unterstände verliefen wie Rattenlöcher in den Boden. Williams, ich selbst und Williams’ spanischer Schwager stürzten uns sofort auf den nächsten unbesetzten Unterstand, der bewohnbar aussah. Irgendwo vor uns knallte von Zeit zu Zeit ein Gewehr und verursachte ein merkwürdig rollendes Echo zwischen den steinigen Hügeln. Wir hatten gerade unser Gepäck hingeworfen und krochen aus dem Unterstand hinaus, als es wiederum knallte und eines der [29] Kinder unserer Kompanie von der Brustwehr zurückstürzte, das Gesicht voll von Blut. Er hatte sein Gewehr abgefeuert und es irgendwie fertiggebracht, das Schloß herauszusprengen. Seine Kopfhaut war durch die Splitter der explodierenden Patronenhülse zerfetzt worden. Er war unser erster Verwundeter, und zwar durch eigenes Verschulden.

Am Nachmittag zogen wir zum erstenmal auf Wache, und Benjamin zeigte uns die ganze Stellung. Vor der Brustwehr lief ein System von engen, aus dem Fels gehauenen Schützengräben mit äußerst primitiven Schießscharten, die aus Kalksteinhaufen bestanden. Zwölf Wachtposten standen an verschiedenen Punkten im Schützengraben und hinter der inneren Brustwehr. Vor dem Schützengraben lag Stacheldraht, und dann glitt der Abhang in eine anscheinend bodenlose Schlucht hinab. Gegenüber lagen nackte Hügel, stellenweise schiere Felsklippen, grau und winterlich, nirgendwo Leben, nicht einmal ein Vogel. Ich spähte vorsichtig durch eine Schießscharte und versuchte, den faschistischen Schützengraben zu finden. »Wo ist der Feind?«

Benjamin winkte ausholend mit seiner Hand. »Dort drüben.« (Benjamin sprach englisch – aber ein furchtbares Englisch.)

»Aber wo

Meiner Vorstellung vom Schützengrabenkrieg entsprechend sollten die Faschisten fünfzig oder hundert Meter weit entfernt liegen. Ich sah nichts – anscheinend waren ihre Schützengräben sehr gut versteckt. Dann sah ich erschrocken und entsetzt, wohin Benjamin zeigte: zur gegenüberliegenden Hügelkuppe. Jenseits der Schlucht, mindestens siebenhundert Meter weit weg, die dünnen Umrisse einer Brustwehr und eine rot-gelbe Fahne – die faschistische Stellung. Ich war unbeschreiblich enttäuscht. Wir waren ihnen nirgendwo nahe! Auf diese Entfernung waren unsere Gewehre vollständig nutzlos. In diesem Augenblick ertönte ein aufgeregtes Geschrei. Uns gegenüber krochen zwei Faschisten, [30] graue Figuren in weiter Entfernung, den nackten Abhang hinauf. Benjamin ergriff das Gewehr des neben uns stehenden Mannes, zielte und drückte ab. Klick! Ein Versager; ich hielt es für ein schlechtes Omen.

Die neuen Wachtposten waren kaum im Schützengraben, als sie schon ein fürchterliches Gewehrfeuer ins Ungewisse abschossen. Ich konnte sehen, wie sich die Faschisten, winzig wie Ameisen, hinter ihrer Brustwehr hin und her bewegten. Manchmal stand ein schwarzer Punkt, ein Kopf, einen Moment still, unverschämt zur Schau gestellt. Es hatte augenscheinlich keinen Zweck zu schießen. Aber sogleich verließ der Wachtposten zu meiner Linken in typisch spanischer Weise seine Position, kam auf meine Seite und drängte mich zu schießen. Ich versuchte ihm zu erklären, daß man auf diese Entfernung und mit diesen Gewehren einen Mann nur durch einen Zufall treffen könnte. Aber er war eben ein Kind und zeigte weiter mit seinem Gewehr auf einen der Punkte, ungeduldig die Zähne fletschend wie ein Hund, der erwartet, daß man einen Kieselstein wirft. Schließlich stellte ich mein Visier auf siebenhundert Meter ein und feuerte. Der Punkt verschwand. Ich hoffte, der Schuß ging nahe genug, um ihn zum Springen zu bringen. Das war das erste Mal in meinem Leben, daß ich mit einem Gewehr auf ein menschliches Wesen schoß.

Nun, nachdem ich die Front gesehen hatte, war ich gründlich angeekelt. Das nannte man Krieg! Und wir hatten sogar kaum Berührung mit dem Feind! Ich versuchte nicht einmal, meinen Kopf unter dem Rand des Schützengrabens zu halten. Aber eine kurze Weile später schoß eine Kugel mit einem bösartigen Knall an meinem Ohr vorbei und schlug in die Rückenwehr hinter mir ein. Ach! Ich duckte mich. Mein Leben lang hatte ich mir geschworen, mich nicht zu ducken, wenn zum ersten Male eine Kugel über mich hinwegflöge. Aber die Bewegung scheint instinktiv zu sein, und fast jeder tut es mindestens einmal.

[31] Drittes Kapitel

Im Schützengrabenkrieg sind fünf Dinge wichtig: Brennholz, Lebensmittel, Tabak, Kerzen und der Feind. Im Winter an der Saragossa-Front waren sie in dieser Reihenfolge wichtig, und der Feind war schlechterdings das letzte. Niemand kümmerte sich um den Feind, außer bei Nacht, wenn ein Überraschungsangriff jederzeit denkbar war. Die Gegner waren einfach weit entfernte schwarze Insekten, die man gelegentlich hin und her springen sah. Die eigentliche Hauptbeschäftigung beider Armeen bestand in dem Versuch, sich warm zu halten.

Ich sollte beiläufig sagen, daß ich während meines ganzen Aufenthaltes in Spanien sehr wenig richtige Kämpfe sah. Ich war von Januar bis Mai an der Front in Aragonien, und zwischen Januar und Ende März ereignete sich an dieser Front außer bei Teruel wenig oder gar nichts. Im März kam es zu heftigen Kämpfen in der Nähe von Huesca, aber ich selbst spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Später im Juni erfolgte der verhängnisvolle Angriff auf Huesca, bei dem einige tausend Mann an einem einzigen Tag getötet wurden. Aber ich war schon verwundet worden und kampfunfähig, ehe dieser Angriff stattfand. Mir selbst stießen nur selten die Dinge zu, die man sich normalerweise als die Schrecken des Krieges vorstellt.

Kein Flugzeug ließ je eine Bombe auch nur in meine Nähe fallen. Ich glaube nicht, daß eine Granate je näher als fünfzig Meter von mir entfernt explodierte, und ich geriet nur einmal in einen Kampf Mann gegen Mann (obwohl ich sagen möchte, einmal ist einmal zuviel). Natürlich lag ich oft unter schwerem Maschinengewehrfeuer, aber [32] normalerweise auf große Entfernung. Selbst bei Huesca war man im allgemeinen sicher, wenn man Vernunft und Vorsicht walten ließ.

Hier oben in den Hügeln um Saragossa war es einfach eine Mischung von Langeweile und Unbehagen am Stellungskrieg. Das Leben war so ohne Ereignisse wie bei einem Büroangestellten in der Stadt und fast genauso regelmäßig. Wache schieben, Spähtrupps, graben – graben, Spähtrupps, Wache schieben. Auf jeder Hügelkuppe, ob faschistisch oder loyalistisch, zitterte ein Haufen zerlumpter, schmutziger Männer rund um ihre Fahne und versuchte, sich warm zu halten. Und bei Tag und Nacht wanderten sinnlose Kugeln über die leeren Täler hinweg, und nur durch irgendeinen seltenen, unwahrscheinlichen Zufall fanden sie ihr Ziel in einem menschlichen Körper.