Fußnoten

The Lion and the Unicorn erschien 1941.

von Erich Maria Remarque, erschienen 1929.

Homage to Catalonia (Mein Katalonien), erschienen 1938.

Dali erwähnt den Film L’Age d’Or und bemerkt, daß die erste öffentliche Aufführung durch Rowdies gesprengt wurde, aber er sagt nicht genau, warum. Henry Miller berichtete, daß der Film Szenen enthielt, die mit großer Deutlichkeit eine Frau während der Verrichtung ihres Stuhlgangs zeigen (Anm. d. Autors).

Herzlose Reime für herzlose Heime, deutsch von H.C. Artmann, Zürich 1968.

Große Erwartungen von Charles Dickens, erschienen 1860/61.

Rot und Schwarz von Stendhal, erschienen 1830.

Es ist auch eine andere Lesart möglich. Es kann einfach heißen, daß Miss Blandish schwanger ist. Aber meine Interpretation paßt besser zu der allgemeinen Brutalität des Buches (Anm. d. Autors, 1945).

Die Freistatt, erschienen 1931.

Angeblich sind sie als Ballast hierher importiert worden, daher der niedrige Preis und das verkrumpelte Aussehen. Seit dem Krieg führen die Schiffe nützlicheren Ballast, wahrscheinlich Kies. (Anm. d. Autors).

Dazu muß man sagen, daß sämtliche Tagungen, die eine Woche oder länger dauerten, nicht immer auf dem gleichen Niveau standen. Vielleicht hatte ich einen schlechten Tag erwischt. Aber beim Lesen der Reden (die unter dem Titel Freiheit der Meinungsäußerung gedruckt herauskamen) ergibt sich, daß heute fast niemand für geistige Freiheit eintritt, wie es Milton vor 300 Jahren tat, obwohl er in der Zeit des Bürgerkrieges schrieb. (Anm. d. Autors).

von Edgar Wallace, erschienen 1905.

Erzählung von einer Tonne, erschienen 1704.

… vielleicht nicht so gute Effekte haben wird etc., erschienen 1711.

Houyhnhnms, die zum Laufen zu alt sind, werden auf »Schlitten« befördert, oder »mit einer Art von Vehikel, das wie ein Schlitten gezogen wird«, also vermutlich ohne Räder (Anm. d. Autors).

Der körperliche Verfall, den Swift beobachtet haben will, könnte um jene Zeit tatsächlich eingetreten sein. Er führt ihn auf die Syphilis zurück, die damals auftauchte und virulenter war als heute. Auch Branntweine waren im 17. Jahrhundert eine Neuheit und müssen zu einer beträchtlichen Zunahme der Trunksucht geführt haben (Anm. d. Autors).

Der Tower (Anm. d. Autors).

Am Ende des Buches führt Swift als besonders charakteristische Typen menschlicher Verirrung und Niedrigkeit »einen Rechtsanwalt, einen Taschendieb, einen Obersten, einen Verrückten, einen Lord, einen Spieler, einen Politiker, einen Bordellwirt, einen Verräter, einen Arzt, einen Anstifter, einen Denunzianten und ähnliche« an. Wie man sieht, werden die, die sich über die gesellschaftliche Moral hinwegsetzen, mit denen zusammengeworfen, die sie hochhalten. Wenn man einen Oberst anprangert, nur weil er Oberst ist, mit welcher Begründung prangert man dann einen Verräter an? Oder wenn man den Taschendiebstahl bekämpfen will, so benötigt man dazu Gesetze, das heißt also auch Anwälte. Der ganze Schlußabsatz, in dem der Haß offen zutage tritt und die Begründung so unzureichend ist, wirkt unüberzeugend. Man hat das Gefühl, daß hier persönliche Verbitterung zum Ausdruck kommt. (Anm. d. Autors).

Shakespeare und das Drama, geschrieben um 1903 als Einleitung eines anderen Essays von Ernest Crosby: Shakespeare und die Arbeiterklasse (Anm. d. Autors).

Die Geschichte meiner Erfahrungen mit der Wahrheit von M.K. Gandhi, übersetzt aus dem Gujarati von Mahadev Desai.

Auf der Suche nach Indien, erschienen 1921.

{7}Autobiographisches

Ich wurde 1903 in Motihari, Bengalen, als zweites Kind einer anglo-indischen Familie geboren. Meine Schulbildung erhielt ich teilweise in Eton, von 191721, da ich das Glück hatte, ein Stipendium zu bekommen; aber ich arbeitete dort nicht und lernte sehr wenig, und ich habe nicht das Gefühl, daß Eton einen besonders formenden Einfluß auf mein Leben gehabt hat.

Von 1922 bis 1927 diente ich bei der Kaiserlich Indischen Polizeitruppe in Burma. Ich quittierte den Dienst teilweise deswegen, weil das Klima meine Gesundheit ruiniert hatte, teilweise weil ich bereits vage Vorstellungen vom Bücherschreiben hegte, hauptsächlich aber weil ich auf keinen Fall länger einem Imperialismus dienen konnte, den ich inzwischen als einen ziemlich großen Volksbetrug durchschaut hatte. Nachdem ich nach Europa zurückgekehrt war, lebte ich ungefähr anderthalb Jahre in Paris, wo ich Romane und Kurzgeschichten schrieb, die niemand veröffentlichen wollte. Als mein Geld zu Ende ging, erlebte ich einige Jahre recht bitterer Armut, in denen ich unter anderem als Tellerwäscher, Hauslehrer und Lehrer an minderwertigen Privatschulen arbeitete. Ein Jahr oder etwas länger war ich auch als Aushilfskraft in einer Londoner Buchhandlung beschäftigt – eine Arbeit, die ich sehr interessant fand, die jedoch den Nachteil hatte, mich zum Leben in London zu zwingen, was ich verabscheue. So um 1935 war ich in der Lage, von dem zu leben, was ich mit Schreiben verdiente, und gegen Ende dieses Jahres zog ich aufs Land und machte eine kleine Gemischtwarenhandlung auf. Das Geschäft rentierte sich kaum, lehrte mich aber Dinge über dieses Gewerbe, die von Nutzen sein könnten, falls ich je wieder einen Versuch in {8}dieser Richtung unternehmen sollte. Im Sommer 1936 habe ich geheiratet. Ende des Jahres ging ich nach Spanien, um mich am Bürgerkrieg zu beteiligen, und meine Frau folgte mir bald. Ich diente vier Monate bei der POUM-Miliz an der Front von Aragon und wurde ziemlich schwer verwundet, glücklicherweise aber ohne ernsthafte Folgen. Ehrlicherweise kann ich nicht behaupten, daß ich seit dieser Zeit etwas anderes getan habe – mit Ausnahme eines in Marokko verbrachten Winters – als Bücher zu schreiben und Hühner und Gemüse zu züchten.

Was ich in Spanien gesehen und seitdem von der inneren Funktion linker politischer Parteien erfahren habe, hat in mir tiefen Abscheu vor der Politik erweckt. Ich war eine Zeitlang Mitglied der Independent Labour Party, trat aber zu Beginn des gegenwärtigen Krieges wieder aus, weil ich glaubte, daß diese Leute Unsinn redeten und eine politische Richtung verfolgten, die Hitler sein Vorhaben nur erleichtern konnten. Gefühlsmäßig stehe ich eindeutig ›links‹, aber ich bin überzeugt, daß ein Schriftsteller nur ehrlich bleiben kann, wenn er sich von Parteietiketten freihält.

Die Schriftsteller, die ich am meisten schätze und niemals müde werde zu lesen, sind Shakespeare, Swift, Fielding, Dickens, Charles Reade, Samuel Butler, Zola, Flaubert und, was die modernen Schriftsteller betrifft, James Joyce, T.S. Eliot und D.H. Lawrence. Am meisten aber hat mich wohl von allen modernen Schriftstellern Somerset Maugham beeinflußt, den ich wegen seiner Fähigkeit, eine Geschichte gerade heraus und ohne schmückendes Beiwerk zu erzählen, grenzenlos bewundere. Neben meiner eigentlichen Arbeit schätze ich am meisten die Gartenarbeit, und davon besonders den Gemüseanbau. Ich mag die englische Küche und englisches Bier, französischen Rotwein, spanischen Weißwein, indischen Tee, starken Tabak, Kohlenfeuer im Kamin, Kerzenlicht und bequeme Sessel. Dagegen mag ich nicht große Städte, Lärm, Autos, das Radio, {9}Konservenessen, Zentralheizung und ›moderne‹ Möbel. Der Geschmack meiner Frau stimmt fast vollkommen mit dem meinen überein. Um meine Gesundheit steht es miserabel, aber das hat mich nie davon abhalten können, zu tun was ich wollte, mit der bis jetzt einzigen Ausnahme, in dem gegenwärtigen Krieg zu kämpfen. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, daß George Orwell nicht mein richtiger Name ist, obschon dieser Bericht über mich selbst nichts als die Wahrheit enthält.

Im Augenblick schreibe ich an keinem Roman, hauptsächlich wegen des durch den Krieg verursachten Durcheinanders. Aber ich plane einen langen, dreiteiligen Roman, den ich entweder The Lion and the Unicorn oder The Quick and the Dead1 nennen werde, und ich hoffe, daß ich den ersten Teil irgendwann 1941 fertigstellen kann.

 

Geschrieben am 17. April 1940

{10}Rückblick auf den Spanischen Krieg

I

Vor allem andern die sinnlichen Erinnerungen: die Geräusche, die Gerüche und das Äußere der Dinge.

Es ist sonderbar, daß mir lebhafter als alles, was später während des Spanischen Krieges kam, die Woche der sogenannten Ausbildung im Gedächtnis geblieben ist, die ich durchmachen mußte, bevor ich an die Front geschickt wurde; die weiträumigen Kavallerie-Baracken in Barcelona mit den zugigen Ställen und den mit Kopfsteinen gepflasterten Höfen, das eiskalte Wasser der Brunnen, in denen man sich wusch, das schlechte Essen, nur durch den Wein aus Krügen erträglich gemacht, die weiblichen Milizsoldaten in Hosen, die Brennholz machten, und der Namensaufruf frühmorgens, bei dem mein prosaischer englischer Name leicht komisch gegen die klangvollen spanischen wirkte, gegen den Manuel Gonzalez, Pedro Aguilar, Ramon Fennellosa, Roque Ballaster, Jaime Domenech, Sebastian Viltron, Ramon Nuvo Bosch. Ich erwähne diese Männer besonders, weil ich mich an das Gesicht jedes einzelnen von ihnen erinnere. Außer zweien, ziemlichen Lumpen und sicher guten Faschisten, dürften alle andern heute tot sein. Der älteste wäre jetzt etwa 25, der jüngste 16.

Eine der wesentlichen Erinnerungen an den Krieg hängt untrennbar mit dem widerwärtigen Gestank menschlichen Ursprungs zusammen. Latrinen sind ein abgedroschenes Thema der Kriegsliteratur, und ich hätte es auch nicht erwähnt, wenn die Latrinen in unseren Baracken nicht ihr Teil dazu beigetragen hätten, meine Illusionen über den Spanischen Bürgerkrieg erheblich herabzumindern. Der {11}südliche Typ der Latrine, mit der man zu kämpfen hat, ist schon schlimm genug, aber unsere waren aus einer Art von poliertem Stein, der so glatt war, daß man die größte Mühe hatte, sich auch nur auf den Füßen zu halten. Dazu kam, daß sie immer verstopft waren. Nun habe ich genug andere abstoßende Dinge in meinem Gedächtnis bewahrt, aber ich glaube, es waren diese Latrinen, die in mir zum ersten Mal den Gedanken aufkommen ließen, der später so oft wiederkehrte: »Hier sind wir, Soldaten einer revolutionären Armee, welche die Demokratie gegen den Faschismus verteidigt, und wir kämpfen in einem Krieg, in dem es offensichtlich um etwas geht, um die Umstände, unter denen wir leben, sind so ekelhaft und entwürdigend wie in einem Gefängnis, ganz zu schweigen von einer Armee der Bourgeoise.« Meine Eindrücke wurden später noch durch vieles andere verstärkt, die Langeweile zum Beispiel und der tierische Hunger im Schützengraben, die schmierigen Intrigen um ein bißchen Essen, die zermürbenden Zänkereien von Leuten, die, durch Mangel an Schlaf erschöpft, an Einbildungen litten.

Das wirklich Furchtbare am Leben in einer Armee (wer je Soldat war, weiß, was ich meine) hat im Grunde kaum etwas mit dem Wesen des Krieges zu tun, in dem man zufällig kämpft. Disziplin zum Beispiel ist schließlich in jeder Armee dieselbe. Befehle müssen befolgt und notfalls durch Strafen erzwungen werden, das Verhältnis zwischen Offizieren und Mannschaft ist das Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Das Bild des Krieges, wie er in Büchern wie Im Westen nichts Neues2 geschildert wird, ist im wesentlichen richtig. Geschosse verwunden, Leichen stinken, Männer unter feindlichem Feuer sind oft so von Angst gepackt, daß sie in die Hosen machen. Richtig ist, daß der soziale Hintergrund einer Armee ihr auch sein Gepräge {12}geben wird, ihrer Ausbildung, ihrer Taktik und ihrer Schlagkraft. Und selbstverständlich kann auch das Bewußtsein, für eine gerechte Sache zu kämpfen, die Moral heben, obwohl das mehr für die Zivilbevölkerung gilt als für die Armee. (Es wird immer vergessen, daß ein Soldat irgendwo in Frontnähe viel zu hungrig, von Angst besessen, unter der Kälte leidend, vor allem viel zu müde ist, um sich Gedanken über die politischen Ursachen des Krieges zu machen.) Aber die Naturgesetze sind in einer ›Roten Armee‹ so wenig aufgehoben wie in einer weißen. Eine Laus ist eine Laus und eine Bombe ist eine Bombe, auch wenn die Sache, für die man kämpft, zufällig die gerechte ist.

Warum lohnt es sich, so eingehend über etwas zu reden, das so offensichtlich ist? Weil die Mehrzahl der englischen und amerikanischen Intellektuellen diese Dinge damals offenbar nicht zur Kenntnis nahm, genauso wenig wie heute. Unser Gedächtnis ist kurz geworden, aber man braucht nur ein wenig zurückzuschauen, die alten Nummern von New Masses und Daily Worker herauszusuchen und einen Blick auf den romantischen, kriegshetzerischen Stuß zu werfen, den unsre Linken zu jener Zeit von sich gaben. Alle die abgestandenen alten Phrasen! Und die phantasielose Hornhäutigkeit! Das ›sang froid‹, mit dem London über die Bombardierung von Madrid hinwegging! Ich will mich hier nicht mit der Gegenpropaganda der Rechten auseinandersetzen, den Lunns, Garwick et hoc genus. Das alles versteht sich von selbst. Aber: hier waren die gleichen Leute am Werk, die zwanzig Jahre lang sich nicht genug tun konnten an Spott und Verachtung für den ›Kriegsruhm‹, für Greuelgeschichten, Patriotismus, ja selbst physische Tapferkeit, und die nun einen Blödsinn auftischten, der mit der Änderung von ein paar Namen in den Daily Mail von 1918 gepaßt haben würde. Wenn es etwas gab, wozu die englische Intelligenz verpflichtet gewesen wäre, so war es die Verurteilung des Krieges, die These, daß Krieg Leichen und {13}Latrinen bedeutet und niemals zu einem guten Ende führen kann. Nun gut, die gleichen Leute, die 1933 mitleidig lächelten, wenn jemand darauf hinwies, daß er unter bestimmten Umständen für sein Land kämpfen würde, bezeichneten einen 1937 als einen trotzkistischen Faschisten, wenn man bemerkte, daß die Berichte in den New Masses über Verwundete, die nichts sehnlicher verlangten, als an die Front zurückgeschickt zu werden, vielleicht übertrieben seien. Und die linke Intelligenz vollzog ihren Umschwung von ›Der Krieg ist die Hölle‹ zu ›Der Krieg ist heldenhaft‹ nicht nur ohne jedes Gefühl für die Unlogik ihrer Haltung, sondern auch ohne jeden Übergang. Später führte der große Haufe dieser Leute ebenso gewaltsame Kehrtwendungen durch. Es muß viele von ihnen gegeben haben, so etwas wie einen harten Kern von Intellektuellen, die 1935 für die ›König und Vaterland‹-Erklärung eintraten, 1937 nach einer ›festen Haltung‹ gegenüber Deutschland schrien, 1940 die ›People’s Convention‹ unterstützten und heute eine zweite Front fordern.

Was die breite Masse der Bevölkerung betrifft, so rühren die erstaunlichen Meinungsumschwünge der heutigen Zeit und die Gefühle, die sich auf- und abdrehen lassen wie ein Wasserhahn, von der Suggestivkraft von Zeitung und Radio her. Bei den Intellektuellen, würde ich sagen, hat das mehr mit Geld und der Sorge um die persönliche Sicherheit zu tun. Je nach Lage der Dinge werden sie in einem gegebenen Augenblick ›für den Krieg‹ oder ›gegen den Krieg‹ sein, aber in beiden Fällen fehlt ihnen völlig die reale Vorstellung, was der Krieg ist. Als sie sich für den Spanischen Krieg begeisterten, wußte natürlich jeder, daß dabei Menschen fielen und daß das eine sehr unangenehme Sache war, aber sie meinten, daß das Kriegserlebnis für einen Soldaten in der Republikanischen Armee nichts Herabwürdigendes sei. Die Latrinen stanken irgendwie weniger, die Disziplin war weniger drückend. Man brauchte nur in den New {14}Statesman zu schauen, um festzustellen, daß man das wirklich glaubte. Genau der gleiche Unsinn wird in diesem Augenblick über die ›Rote Armee‹ geschrieben. Wir sind zu zivilisiert geworden, um das Augenscheinliche wahrzunehmen. Denn die Wahrheit ist einfach. Um zu überleben, muß man oft kämpfen, und um zu kämpfen, muß man sich besudeln. Der Krieg ist ein Übel, und er ist manchmal das kleinere. Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen, und wer das Schwert nicht ergreift, kommt durch stinkende Krankheiten um. Die Tatsache, daß man eine derart banale Banalität niederschreiben muß, zeigt, was die Jahre des Rentier-Kapitalismus aus uns gemacht haben.

II

In Verbindung mit dem, was ich eben ausgeführt habe, noch eine Randbemerkung über Kriegsgreuel.

Ich habe nur wenig prima facie Beweise für Akte der Grausamkeit während des Spanischen Bürgerkrieges. Ich weiß, daß einige von den Republikanern begangen worden sind und sehr viel mehr von der faschistischen Seite (sie werden noch heute begangen). Aber was mich damals wie heute beeindruckt, ist der Umstand, daß Greuel geglaubt oder nicht geglaubt werden, je nach dem politischen Standpunkt. Jeder glaubt an die Grausamkeiten der Feinde und bestreitet die seiner eigenen Seite, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu machen, Beweise zu untersuchen. Kürzlich habe ich eine Liste über Greuel zusammengestellt, die in der Zeit zwischen 1918 und heute (1942) begangen worden sind. Es gibt kein Jahr, in dem nicht irgendwo auf der Welt Grausamkeiten verübt wurden, und es gab kaum einen einzigen Fall, an den Linke und Rechte übereinstimmend glaubten. Aber noch sonderbarer – jeden Augenblick kann die Lage plötzlich umschlagen: was gestern eine restlos erwiesene {15}Greuelgeschichte war, ist über Nacht eine faustdicke Lüge geworden, nur weil sich die politische Landschaft verändert hat.

Im gegenwärtigen Krieg sind wir in der seltsamen Lage, daß unsere ›Greuel-Kampagne‹ schon lange vorher in Szene gesetzt worden ist, und zwar hauptsächlich von den Linken, also Leuten, die für gewöhnlich auf ihre Ungläubigkeit stolz sind. In derselben Zeitspanne starrte die Rechte, also die Greuel-Propagandisten von 191418, wie fasziniert auf Nazi-Deutschland und lehnte rundweg ab, irgend etwas Böses darin zu sehen. Kaum war jedoch der Krieg ausgebrochen, als die Nazi-Freunde von gestern wieder Greuel-Geschichten auftischten, während die Nazi-Gegner plötzlich daran zu zweifeln begannen, ob es überhaupt so etwas wie eine GESTAPO gab. Das war jedoch nicht nur das Ergebnis des deutsch-russischen Freundschafts- und Nichtangriffspaktes, sondern hing zum Teil damit zusammen, daß die Linke fälschlicherweise geglaubt hatte, England und Deutschland würden niemals Krieg gegeneinander führen. Das erlaubte ihr, gleichzeitig anti-deutsch und anti-englisch zu sein. Zum Teil hing es auch mit der offiziellen Kriegspropaganda zusammen, die mit ihrer widerwärtigen Heuchelei und Selbstgerechtigkeit denkende Menschen dazu bringt, mit dem Feind zu sympathisieren. Ein Teil des Preises, den wir für die systematische Lügerei von 191418 zu zahlen hatten, bestand in der übertrieben prodeutschen Reaktion, die folgte. In den Jahren 191833 wurde man in linksgerichteten Kreisen niedergeschrien, wenn man die Ansicht vertrat, daß auch Deutschland zu einem Bruchteil am Krieg schuld sei. In keiner Diskussion über die Erbärmlichkeit des Vertrages von Versailles, die ich in all den Jahren mit anhörte, wurde, wenn ich mich recht erinnere, auch nur ein einziges Mal die Frage aufgeworfen, geschweige denn diskutiert: »Was wäre geschehen, wenn Deutschland gesiegt hätte?« Dasselbe mit den Kriegsgreueln. Die Wahrheit wird {16}zur Unwahrheit, wenn der Feind sich äußert. Kürzlich stellte ich fest, daß die gleichen Leute, die 1937 schlechterdings jede Greuelgeschichte über die Japaner in Nanking schluckten, 1942 rundweg ablehnten, genau die gleichen Geschichten über Hongkong zu glauben. Es bestand sogar eine gewisse Tendenz, Nanking-Greuel, so wie die Dinge lagen, nachträglich für unglaubwürdig zu halten, weil die englische Regierung jetzt die Aufmerksamkeit auf sie lenkte.

Unglücklicherweise sind die wirklichen Kriegsgreuel sehr viel scheußlicher als das, was darüber zusammengelogen wird und was die Propaganda daraus macht. Wahr ist, daß Grausamkeiten begangen werden. Und der Umstand, der so oft für die Unglaubwürdigkeit von Greuelgeschichten angeführt wird, daß sie nämlich immer erst nach Kriegsende auftauchen, macht sie im Gegenteil nur um so wahrscheinlicher. Offenbar entspringen sie weitverbreiteten Phantasievorstellungen, und der Krieg bietet die Möglichkeit, sie in die Praxis umzusetzen. Dabei werden – auch wenn die Behauptung gegenwärtig nicht als richtig gilt – von den sogenannten ›Weißen‹ weit mehr und schlimmere Greuel begangen als von den ›Roten‹. Es besteht zum Beispiel nicht der geringste Zweifel an den Ausschreitungen der Japaner in China. Und ebensowenig kann man an den in den letzten zehn Jahren von Faschisten in Europa begangenen Verbrechen zweifeln. Der Umfang der Beweise dafür ist erdrückend, und ein Großteil stammt aus Presse und Rundfunk in Deutschland. Diese Dinge sind geschehen, das darf man nicht übersehen. Und sie geschahen, obwohl Lord Halifax erklärte, daß sie geschehen seien. Die Verschleppungen und Massenschlächtereien in chinesischen Städten, die Folterungen in den Kellern der GESTAPO, die in Jauchegruben geworfenen, alten jüdischen Professoren, die an spanischen Landstraßen mit Maschinenpistolen niedergemähten Flüchtlinge, das alles ist wirklich geschehen und wäre nicht weniger {17}geschehen, selbst wenn der Daily Telegraph es nicht plötzlich entdeckt hätte, fünf Jahre zu spät.

III

Zwei Erinnerungen, von denen die erste nichts besonderes beweist, während ich von der zweiten glaube, daß sie einen gewissen Einblick in die Situation einer revolutionären Zeit gibt.

Eines Morgens in aller Frühe waren ein anderer Mann und ich aufgebrochen, um uns an die faschistischen Schützengräben bei Huesca heranzuschleichen. Ihre und unsere Linien lagen sich etwa in einer Entfernung von dreihundert Yards gegenüber, zu weit, um mit unsern veralteten Gewehren zielsicher schießen zu können. Schlich man sich aber auf hundert Yards heran, so konnte man, wenn man Glück hatte, einen durch eine Lücke in der Verschanzung treffen. Unglücklicherweise war der Boden zwischen beiden Stellungen bis auf ein paar Mulden ein vollkommen ebenes Rübenfeld. Man mußte sich aufmachen, solange es noch dunkel war, und den Rückweg antreten, bevor es hell wurde.

Dieses Mal erschien kein Faschist, und wir blieben zu lange draußen, die Morgendämmerung überraschte uns. Wir lagen in einer Vertiefung, aber hinter uns erstreckten sich bis zu unserm Graben noch etwa zweihundert Yards ebenen Bodens, der kaum einem Kaninchen Deckung bot. Wir waren noch dabei, uns Mut zu einem Sturmlauf nach rückwärts zu machen, als wir in den faschistischen Gräben Lärm und Trillersignale hörten. Ein paar unserer Flugzeuge näherten sich der Stellung. Im gleichen Augenblick sprang ein Mann aus dem Graben, vermutlich um einem Offizier eine Meldung zu machen, und lief in voller Sicht den Grabenrand entlang. Er war nur halb angezogen und hielt im Laufen seine Hosen mit beiden Händen fest.

{18}Ich schoß nicht auf ihn. Um die Wahrheit zu sagen – ich bin kein guter Schütze und hätte einen laufenden Mann auf hundert Yards vermutlich doch nicht getroffen. Gleichzeitig und hauptsächlich war ich in Gedanken damit beschäftigt, unsern Schützengraben zu erreichen, solange die Aufmerksamkeit der Faschisten durch die Flugzeuge in Anspruch genommen war. Schließlich kam noch etwas dazu – ich schoß nicht wegen der Hosen. Ich war nach Spanien gegangen, um auf ›Faschisten‹ zu schießen, aber ein Mann, der seine Hosen festhalten mußte, war kein ›Faschist‹, sondern offensichtlich ein Mitmensch, mir gleich, und mir war nicht danach, auf ihn zu schießen.

Was beweist dieser Vorgang? Nicht sehr viel, denn so etwas kann jederzeit in einem Krieg Vorkommen.

Das zweite Vorkommnis ist anders. Ich nehme nicht an, daß es meinen Leser stärker berühren wird, ich bitte ihn nur, mir zu glauben, daß es auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hat, weil es für die moralische Atmosphäre eines bestimmten Augenblicks der Zeit bezeichnend ist.

Einer der Rekruten, die zu uns stießen, als ich in den Baracken einquartiert war, war ein wild aussehender Junge aus dem Elendsviertel von Barcelona. Er war barfuß und zerlumpt und außergewöhnlich dunkelhäutig. (Ich würde sagen, arabisches Blut.) Er hatte eine Art zu gestikulieren, die man bei keinem Europäer finden würde. So streckte er zum Beispiel beide Arme aus, die Handflächen nach oben, eine Geste, die für Inder bezeichnend ist.

Eines Tages war in meinem Quartier ein kleines Bündel Zigarren gestohlen worden, die man damals noch um ein Spottgeld kaufen konnte. Ziemlich unsinnigerweise erstattete ich dem Offizier Bericht, und prompt meldete sich einer der beiden Lumpenhunde, die ich bereits erwähnt habe, und erklärte, ihm seien fünfundzwanzig Peseten aus seiner Schlafstelle gestohlen worden. Aus mir nicht erklärlichen Gründen entschied der Offizier, der Junge aus Barcelona sei {19}der Dieb. In der Miliz wurde sehr streng gegen Diebstähle vorgegangen, und theoretisch konnte einer deswegen erschossen werden. Der arme Teufel war gleich bereit, sich zur Wachstube führen und dort durchsuchen zu lassen. Am meisten fiel mir auf, daß er nicht einmal seine Unschuld zu beteuern versuchte. Seine fatalistische Haltung verriet die unsägliche Armut, in der er aufgewachsen sein mußte. Der Offizier befahl ihm, sich auszuziehen. Mit einer Demut, die für mich etwas Entsetzliches hatte, legte er seine Kleider ab, bis er nackt war. Dann wurden seine Kleider durchsucht. Natürlich fanden sich weder die Zigarren noch das Geld. Tatsächlich hatte er nichts gestohlen. Am peinlichsten war, daß er nicht weniger beschämt schien, auch nachdem sich seine Unschuld herausgestellt hatte. Am gleichen Abend nahm ich ihn zu einem Film mit und traktierte ihn mit Brandy und Schokolade. Aber auch das – ich meine den Versuch, ein Unrecht mit Geld wiedergutzumachen – war entsetzlich.

Nun gut – einige Wochen später hatte ich an der Front Schwierigkeiten mit den Leuten meiner Abteilung. Zu jener Zeit war ich ›cabo‹ oder Korporal und hatte zwölf Mann unter meinem Kommando. Aus dem Bewegungskrieg war ein Stellungskrieg geworden, es war sehr kalt, und meine Hauptarbeit bestand darin, Wachtposten zu finden, die nicht einschliefen.

Eines Tages weigerte sich plötzlich ein Mann, einen bestimmten Posten zu beziehen, weil dieser, wie er ganz richtig bemerkte, dem feindlichen Feuer ausgesetzt war. Es war ein schwächliches Kerlchen, und ich packte ihn und wollte ihn zu seinem Posten zerren. Das führte bei den übrigen zu einem leidenschaftlichen Proteststurm, da Spanier, wie ich glaube, gegen jede körperliche Berührung empfindlicher sind als wir. Im Nu war ich von einem Kreis schreiender Männer umgeben. »Faschist, Faschist! Laß den Mann los! Hier ist keine Bourgeois-Armee! Faschist!« etc. So gut ich mit meinem schlechten Spanisch konnte, schrie ich zurück, daß {20}Befehle befolgt werden müßten. Der Aufruhr ging in eine der weitschweifenden Diskussionen über, durch die jede Disziplin in Revolutions-Armeen Schritt für Schritt abgebaut wird. Die einen sagten, ich hätte recht, die andern, ich hätte unrecht. Die Pointe der Sache aber war, daß der eine, der am wärmsten meine Partei nahm, der dunkelhäutige Bursche der Diebstahlsgeschichte war. Sobald er sah, was vor sich ging, bahnte er sich einen Weg in den Kreis und fing an, mich leidenschaftlich zu verteidigen. Mit seinen seltsamen, wilden, indischen Gesten erklärte er: »Er ist der beste Korporal, den wir je gehabt haben.« (No hay cabo como el!) Später beantragte er, in meine Abteilung versetzt zu werden.

Warum rührt mich dieser Vorgang besonders? Weil es unter normalen Umständen unmöglich gewesen wäre, jemals wieder aufrichtig gute Beziehungen zwischen dem Jungen und mir herzustellen. Ihn, wenn auch nicht ausdrücklich, als Dieb verdächtigt zu haben, wäre vermutlich durch die nachträglichen Bemühungen, es wiedergutzumachen, nicht behoben, sondern eher verschlimmert worden. Eine der Auswirkungen eines gesicherten, zivilisierten Lebens besteht in einer ungeheuerlichen Überempfindlichkeit, die alle ursprünglichen Gefühle als abstoßend erscheinen läßt. Großmut ist ebenso peinlich wie Gemeinheit, Dankbarkeit so hassenswert wie Undankbarkeit. Aber im Spanien des Jahres 1936 lebten wir in keiner normalen Zeit. Großmütige Gefühle und große Gesten fallen einem in einer solchen Zeit leichter als in einer normalen. Ich könnte noch von einem Dutzend ähnlicher Vorkommnisse berichten, die nicht unbedingt mitteilenswert, aber in meiner Erinnerung untrennbar mit jener Zeit verknüpft sind, die schäbige Uniform, die revolutionären Plakate mit ihrer fröhlichen Buntheit, der allgemeine Gebrauch des Wortes ›Genosse‹, die anti-faschistischen Gedichte auf schlechtem Papier, die für einen Penny feilgeboten wurden, die Schlagworte wie ›internationale {21}proletarische Solidarität‹ die von ahnungslosen Menschen pathetisch wiederholt wurden, weil sie glaubten, sie müßten auch etwas bedeuten. Konnte man sich freundlich jemandem gegenüber benehmen und in einem Streit sogar dessen Partei ergreifen, nachdem man in seiner Gegenwart schamlos nach Dingen durchsucht worden war, die man ihm angeblich gestohlen haben sollte? Nein, man konnte es nicht, und dennoch war es denkbar, wenn beide etwas erlebt hatten, das zu einer Erweiterung ihrer Gefühlswelt geführt hatte. Das ist so ein Nebenprodukt der Revolution, obwohl man damals nur vom Beginn einer Revolution sprechen konnte und ihr Scheitern mit Sicherheit vorauszusehen war.

IV

Über die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Parteien der spanischen Republikaner möchte ich nicht sprechen, sie waren unselig und liegen weit zurück. Ich erwähne sie nur, um zu sagen: Glaube nichts, oder so gut wie nichts von dem, was Du über die internen Angelegenheiten der Regierung liest! Von welcher Seite es auch kommt, es ist alles Parteipropaganda, das heißt gelogen. Im großen und ganzen ist die Wahrheit über den Krieg ganz einfach. Die spanische Bourgeoisie sah ihre Chance gekommen, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und nahm sie wahr, mit Unterstützung der Nazis und aller reaktionären Kräfte der ganzen Welt. Es ist fraglich, ob sich jemals mehr darüber wird feststellen lassen. Ich erinnere mich, daß ich einmal zu Arthur Koestler sagte: »Die Geschichtsschreibung hat 1936 ihr Ende gefunden«, worauf er sofort zustimmend mit dem Kopf nickte. Ganz allgemein dachten wir beide an den hereinbrechenden Totalitarismus, im besonderen aber an den Spanischen Bürgerkrieg. Schon früh in meinem Leben hatte ich festgestellt, daß kein Ereignis in einer Zeitung {22}wahrheitsgemäß wiedergegeben wird, aber in Spanien las ich zum ersten Mal Zeitungsberichte, die mit den Tatsachen überhaupt nichts mehr zu tun hatten, nicht einmal soviel wie für gewöhnlich mit einer Lüge verbunden ist. Ich las Berichte über große Schlachten an Orten, wo es nie zu Kämpfen gekommen war, während Kämpfe, bei denen Hunderte gefallen waren, totgeschwiegen wurden. Ich erlebte, daß Soldaten, die sich tapfer geschlagen hatten, als Verräter und Feiglinge beschimpft wurden, und daß Verräter und andere, die nie Pulver gerochen hatten, als Helden nie stattgefundener Schlachten gefeiert wurden. In London sah ich Zeitungen, welche diese Lügen nachdruckten, während beflissene Intellektuelle Ereignisse emotionell übersteigerten, die nur in der Phantasie existierten. Es bestätigte mir, daß Geschichtsschreibung nicht mehr darin besteht, festzuhalten, was sich ereignet hatte, sondern, was sich je nach der ›Parteilinie‹ hätte ereignen sollen. Trotzdem, so abstoßend das alles war, in gewisser Weise war es unwichtig. Es betraf zweitrangige Fragen, wie zum Beispiel den Kampf um die Macht zwischen der Regierung und den spanischen Linksparteien und die Bemühungen der russischen Regierung, eine Revolution in Spanien zu verhindern. Aber das Bild des Krieges, das die spanische Regierung der Welt in großen Umrissen bot, war nicht unwahr. Die wesentlichen Probleme waren wirklich die, die sie nannte. Dagegen konnten die Faschisten und ihre Hintermänner niemals der Wahrheit auch nur annähernd so nahe kommen. Wie hätten sie auch ihre wirklichen Absichten darlegen können? Ihre Version des Krieges war ein reines Phantasieprodukt und hätte unter den gegebenen Umständen auch nichts anderes sein können.

{23}Catholic HeraldDaily Mail