Cover

Jason Reynolds

Coole Nummer

Als ich DER GRÖSSTE war

Aus dem Englischen von Klaus Fritz

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Jason Reynolds

Jason Reynolds studierte Englisch an der University of Maryland. Er lebt in Brooklyn, New York, wo man ihn die vier Blocks lang auf dem Weg von der U-Bahn zu seiner Wohnung bei Selbstgesprächen beobachten kann – die Namen seiner Protagonisten murmelnd, damit er sie nicht vergisst. Manchmal schreibt er sie auch in seinen Blog: iamjasonreynolds.com. ›Coole Nummer‹ ist sein Debüt. Weitere Titel werden in der Reihe Hanser folgen.

Über das Buch

»Mit dem ganzen Scheiß, wegen dem unsere Gegend einen schlechten Ruf hat, will ich überhaupt nichts zu tun haben. Knarren und Drogen und all das, eigentlich nicht mein Ding.«

 

Nein, echt nicht sein Ding. Ali hat genug um die Ohren mit Schule, Boxtraining und Hausarbeit. Noodles, Alis bester Freund, hingegen... also, es gibt Leute, die Ärger regelrecht anziehen. Und es ist immer Ali, der hinter Noodles aufräumt. Nicht schlimm, Freunde passen eben aufeinander auf, jedenfalls passt Ali auf Noodles auf. Ist auch alles keine große Sache, kommt ja keiner wirklich zu Schaden.

Und da gibt es noch Needles. Needles ist Noodles’ Bruder. Er hat ein Syndrom und krasse Ticks und schreit den Leuten die unmöglichsten und beleidigendsten Schimpfwörter ins Gesicht. Aber das ist cool, weil jeder weiß, dass Needles das nicht so meint und nicht anders kann. Bis Ali, Noddles und Needles plötzlich irgendwo sind, wo sie nie erwartet hätten zu sein und wo sie auch absolut nicht sein sollten – wo Typen alles andere als verständnisvoll sind und gnadenlos zurückschlagen. Da ist plötzlich nichts mehr cool, und selbst für Ali könnten die ’ne Nummer zu groß sein.

Impressum

 

 

 

Deutsche Erstausgabe 2015

© 2014 Jason Reynolds

Titel der Originalausgabe:

›When I was the greatest‹

(Simon Schuster Inc., New York

Published by arrangement with Pippin Properties Inc.
through Rights People, London

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© 2015 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlagmotiv: Birgit Schössow
nach einem Entwuf von Magda Sayeg

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-42859-0 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-65018-2

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423428590

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

 

 

 

 

Ein besonderer Dank an Elena Giovinazzo und Caitlyn Dlouhy.
Und natürlich an meine Familie.

 

 

 

»Be good to your family, y’all,

no matter where your families are

’cause everybody needs family, y’all …«

 

– YASIN BEY (MOS DEF), »SUNSHINE«

1

»Okay, hör zu«, sagte Noodles. »Würdest du lieber den Rest von deinen Tagen voll aus dem Mund stinken oder ein Mal fünf Minuten den Gehweg ablecken?« Er wandte sich mit einem breiten Grinsen zu mir um, weil er wusste, dass es eine harte Nuss war.

»Kommt drauf an. Darf ich Kaugummi oder Pfefferminz nehmen?«

»Vergiss es, Mann. Du hast Scheißatem, bis du tot umfällst!« Er bog sich vor Lachen.

Ich überlegte einen Moment. »Also, wenn ich den Boden ablecke, ich mein, das wär das Krasseste, was ich machen kann, aber nach den fünf Minuten könnt ich mir einfach den Mund ausspülen.« Ich überlegte hin und her. »Aber wenn ich Mundgeruch hab, für immer, dann kann ich vielleicht nie ’ne Lady küssen. Also, ich glaub, ich muss den Boden ablecken, Alter.« Allein schon bei dem Gedanken drehte sich mir der Magen um.

»Voll krank«, sagte Noodles stirnrunzelnd und starrte auf den Gehweg. »Aber ich würd’s wahrscheinlich genauso machen.«

Einer von diesen kranken schwarzen SUVs kam den Block langgeröhrt. Anlage total aufgedreht, aber die Musik ging völlig unter in den Bässen, die wummerten und hämmerten, dass der ganze Hintern von dem Monster zitterte.

»Pass auf, ich hab noch was«, sagte Noodles, während das Monster vorbeiröhrte. Er schüttelte seine Coladose, ob noch was drin war. »Würdest du deine kleine Schwester entweder für eine Million oder für einen großen Bruder eintauschen, wenn dieser große Bruder Jay-Z wär?«

»Easy. Weder noch«, sagte ich geraderaus.

»Mann, Alter, du musst dich für irgendwas entscheiden.«

»Muss ich nicht. Ich würd sie nie eintauschen – für nichts.«

Wieder kam ein Wagen die Straße lang. Diesmal eine aufgemotzte graue Schrottkarre, aus der die Musik genauso laut dröhnte wie vorher bei dem nagelneuen SUV.

»Du willst mir also weismachen, dass du Jazz nicht für eine Million Kröten eintauschen würdest?«

»Genau.«

»Du willst nicht der kleine Bruder von Jay-Z sein?« Noodles beäugte mich von der Seite, als ob ich ihn anlügen würde.

»Klar doch, aber Jazz würd ich nicht hergeben dafür«, sagte ich und sah ihn wütend an. »Sie ist meine Schwester, Mann, und ich weiß nicht, wie das mit dir und deinem Bruder läuft, aber für mich gilt, Familie ist Familie, was willst du da machen.«

 

Familie ist Familie. Du kannst sie dir nicht aussuchen, und du kannst sie verdammt noch mal nicht zurückgeben. Ich hab es schon zillionenmal gehört, weil das der Lieblingsspruch von meiner Mutter ist, wenn sie sich über mich und meine kleine Schwester Jazz ärgert. Der kommt meist nachdem sie uns wegen irgendwas angeschrien hat, von wegen wir hätten dies tun oder das lassen sollen. Und bei meiner Mom ist Schreien nicht einfach Schreien. Da gibt sie alles, was sie hat, und ich schwör dir, es ist, als ob ihre Worte schwer und hart auf uns einschlagen und uns peitschen wie Lederriemen. Sie hat uns nie vermöbelt, aber sie droht es immer an, und glaub mir, das ist genauso schlimm. Es läuft immer gleich ab. Sie schreit auf, dann kommt diese ganze Predigt mit Familie ist Familie und dass man die nicht aussuchen oder umtauschen kann. Manchmal frag ich mich, ob sie uns zurückgeben würde, wenn sie könnte. Jazz und mich für einen kleinen Hund eintauschen oder eine lebenslange Rabattkarte von Macy’s oder so was. Ich glaub es eigentlich nicht, aber manchmal denk ich schon drüber nach.

Jazz und ich machen uns immer drüber lustig, dass wir es uns auch nicht aussuchen konnten. Manchmal sagen wir, hätten wir die Wahl gehabt, dann hätten wir uns Oprah als Mom ausgesucht, aber das stimmt nicht, am Ende hätten wir doch die gute alte Doris Brooks genommen. Ich mein, sie ist eine ziemlich taffe Lady, und sie liegt auch manchmal völlig daneben, aber da ist kein Zweifel, dass sie uns liebt. Und wir wissen, wir haben Glück, auch wenn sie uns anbrüllt. Außerdem geht’s nicht immer nur um uns. Gut, manchmal schon, aber da sind auch andere Dinge, zum Beispiel ist unsere Mom einfach gestresst von der Arbeit. Sie ist Sozialarbeiterin, und das heißt im Grunde nichts anderes, als dass sie sich um psychisch kranke Menschen kümmert. Sie sorgt dafür, dass sie kriegen, was sie brauchen, sie ist eine Art Stief-Stief-Stiefmutter für sie. Zumindest erklärt sie es uns so. Ich kann verstehen, dass das anstrengend sein kann, und Jazz und ich bemühen uns wirklich, da nicht noch was draufzupacken.

Verrückt ist, dass wir unsere Mutter ohnehin nicht allzu oft sehen, vor allem, weil sie noch einen zweiten Job in einem Kaufhaus in der City hat. Also arbeitet sie von neun bis fünf mit den Psychos, und danach verkauft sie Klamotten an Leute, von denen sie schwört, dass sie komplett übergeschnappt sind, das macht sie von sechs bis halb zehn und samstags den ganzen Tag. Sonntags macht sie frei. Das ist der Tag des Herrn, sagt sie, obwohl sie da fast die ganze Zeit schläft und nicht betet. Aber Gott versteht sicher, dass sie eine lange Woche hat. Müsste er doch verstehen.

Mom sagt, der einzige Grund, weshalb sie überhaupt so lange arbeiten muss, ist der, dass unsere Miete andauernd steigt. Wir leben in Bedford-Stuyvesant, und ständig jammert sie, dass die Mieten in diesem Teil von Brooklyn hochgehen, weil so viele Weiße herziehen. Ich versteh das nicht. Wenn ich zum Beispiel irgendwo essen gehe und was bestelle, und da kommt ein Weißer rein, muss ich dann plötzlich mehr dafür bezahlen? Ist Unsinn, aber nichts anderes behauptet sie. Mir geht das im Moment sonst wo vorbei, aber vielleicht liegt es daran, dass in meinem Block noch keine Weißen leben. Und ich seh auch nicht, dass hier bald welche kommen werden. Tatsache ist nämlich, dass auch Schwarze nicht so gern hierherziehen. Es heißt, es ist eine miese Gegend, und manchmal stimmt das auch, aber ich schau lieber auf das, was gut ist. Wir haben diese Eckläden, die Bodegas, die sind cool, und zwischen der einen und der anderen Ecke leben eine ganze Menge »interessante Typen«, wie meine Mom sie nennt. Für mich heißt das einfach, es lebt sich ganz gut hier, die meiste Zeit jedenfalls.

Mit dem ganzen Scheiß, wegen dem unsere Gegend einen schlechten Ruf hat, will ich überhaupt nichts zu tun haben. Knarren und Drogen und all das, eigentlich nicht mein Ding. Wenn du eins von Doris’ Kindern bist, lernst du früh im Leben, dass es vor allem die Schule ist, um die du dich zu kümmern hast. Und im Sommer musst du zusehen, dass du deinen Arsch hochkriegst und dir einen Job besorgst und dich von Ärger fernhältst, damit du im September wieder in die Schule zurückdarfst. Natürlich ist Jazz noch nicht alt genug, um zu arbeiten, aber selbst sie verdient sich ab und an ein paar Dollar, indem sie ihren kleinen Freundinnen die Haare macht. Das alles soll heißen, dass Doris auf Teufel komm raus vermeiden will, dass ihre Kleinen in all das reingeraten, was auf den Straßen abgeht. Sie hat Glück, weil ich ohnehin nicht den Mumm dazu hab, ein Gangster zu werden. Ich bin kein Punk oder so, aber während ich hier aufwachse, sehe ich zu viele Idioten den Abgang machen wegen blödem Scheiß wie Street Credibility, weil sie einander beweisen wollen, wie hart sie sind. Ich bin überhaupt nicht drauf aus, möglichst früh zu sterben, und werd den Teufel tun, in den Knast zu wandern. Ich höre Geschichten, die klingen ganz bestimmt nicht danach, dass ich mich da wohlfühlen würd. Also bleib ich hier in meinem Block einfach immer cool und fall nicht auf, hier kenn ich wenigstens all die Typen und weiß, wie ich mir ihren »interessanten« Blödsinn vom Hals halte.

Da sind zum Beispiel meine Nachbarn von nebenan, Needles und Noodles. Sie sind Brüder, und wenn du große Dramen magst, dann sind diese Typen sicher die Meister. Mit beiden bin ich befreundet, aber Noodles, der jüngere Bruder, ist mein bester Kumpel. Er ist nur ein Jahr jünger als Needles, also sind sie praktisch Zwillinge, aber von der Sorte, die unterschiedlich aussieht. Nicht die eineiigen, die andere Sorte. Und wirklich, wenn ich genau überlege, ist Noodles eher der große Bruder im Haus, aber nur, weil es bei Needles so ist, dass es ihm manchmal schwerfällt, bestimmte Dinge zu tun, aber davon später.

Kennengelernt hab ich sie vor knapp fünf Jahren, da war ich elf, und die Brysons waren gerade aus der Nachbarschaft weggezogen. Das war ein altes Ehepaar von nebenan, das alle mochten. Mr Bryson hatte seit klein auf in dem Haus gelebt, und nachdem er Mrs Bryson in einem Greyhound-Bus auf dem Heimweg vom Marsch auf Washington getroffen hatte, eine Story, die er mir immer wieder erzählte, heirateten sie, und sie zog zu ihm in dieses Haus. Sie lebten dort, bis sie alt waren, und eines Tages waren sie urplötzlich verschwunden. Nicht tot. Einfach weg. Sie zogen nach Florida. Als sie dort waren, schickten sie mir eine Postkarte von ihrem neuen Zuhause. Vorne drauf war ein Bild von Martin Luther King jr., und hinten stand in Mrs Brysons Handschrift:

Lieber Allen

Auch wir hatten einen Traum … dass wir eines Tages nicht mehr den A-Train nehmen müssen.

Alles Liebe

Die Brysons

Ich habe von den Brysons nie mehr was gehört, und nachdem sie fort waren, kam ihr Brownstone-Haus allmählich runter. Ich weiß nicht, wer es kaufte, aber wer immer es war, dem war es so was von egal, wen er dort einziehen ließ. Da liefen auf einmal alle möglichen verrückten Sachen ab, sei’s mit Crackheads, sei’s mit Nutten. Sagen wir’s mal ganz schlicht – es wurde ein Drecksloch draus – eine Todesfalle –, was verrückt war, weil die Brysons es sich so nett dort eingerichtet hatten. Dann, eines Tages, tauchten Needles und Noodles auf. Also eigentlich nur Noodles. Es war an einem Sonntagmorgen, ich wollte zur Bodega gehen, um Brot zu holen, und als ich aus dem Haus kam, saß Noodles auf meiner Vortreppe. Ich hatte ihn noch nie gesehen, und wie es in New York üblich ist, beachtete ich ihn nicht weiter und kümmerte mich um meine eigenen Angelegenheiten. Aber als ich vom Laden zurückkam, saß er immer noch da.

Wir nahmen Blickkontakt auf und zogen diese ganze Chose durch mit Kopfnicken und allem. Dann redete er.

»Yo«, sagte er. Seine Stimme war ein bisschen heiser. Mir fiel auf, dass er eine zerknitterte rausgerissene Seite aus einem Comic in der Hand hielt und ein kleines Notizbuch für die Hosentasche, in das er was reinkritzelte.

»Yo«, sagte ich. »Neu hier?«

Der Typ sah erschöpft aus, und das am helllichten Tag. Die Sonne knallte, und der Schweiß lief ihm von der Stirn.

Ich warf einen Blick auf den Comic. Konnte nicht erkennen, welcher es war, was mich nicht überraschte. Comics waren nie so richtig mein Ding.

»Yep«, sagte er barsch. Er faltete das bunte Blatt rasch zusammen und steckte es zwischen die Seiten von seinem kleinen Notizbuch. Dann quetschte er es ganz tief in seine Tasche.

»Welcher Stock?«, fragte ich. Ich war ein wenig verwirrt, weil ich nicht wusste, dass jemand ausgezogen war.

»Erster.« Er zupfte an dem ohnehin schon ausgeleierten Halsausschnitt seines T-Shirts.

Ich lachte, immer noch unsicher, was los war. Vermutlich machte er sich nur lustig.

»Hör mal, Mann, ich wohn im ersten Stock, also weiß ich, dass du nicht hier wohnst.«

»Tja, ich wohn auch im ersten«, sagte er mit unbewegter Miene. »Da drüben.« Er zuckte mit dem Kopf Richtung Nachbarhaus. Zur Todesfalle.

Ich war verdutzt, wollte die Sache aber nicht peinlich werden lassen.

»Und was machst du dann hier drüben?«, fragte ich und stellte die Tüte mit den Einkäufen auf der Treppe ab.

»Sitzen«, murmelte er und starrte auf die Stufe unter ihm. »Würdest du auf dieser Treppe dort sitzen, wenn du an meiner Stelle wärst?«

Zum Teufel, nein, dachte ich. Noodles erklärte, dass er nicht die ganze Zeit dort drüben in der Wohnung rumhocken könne, also sei er rausgegangen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Aber dann wurde ihm klar, dass er auch nicht wollte, dass irgendjemand glaubte, er würde dort drüben wohnen, also beschloss er, sich auf meine Vortreppe zu setzen, bis es dunkel wurde, und dann wieder in sein eigenes Haus zu schleichen. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Ich wollte ihm keinen Ärger machen, weil er mir wie ein harter Kerl vorkam, und ich kannte ihn noch nicht. Er sah aus, als wäre er schlecht drauf, und mir schoss durch den Kopf, wo er auch herkam, da musste es viel besser gewesen sein als dort drüben. Jede Wette.

»Ich bin Ali«, sagte ich und bot ihm die Hand.

Er sah sie an, als ob er hin und her überlegte, ob er sie nun abklatschen sollte oder nicht. Dann nahm er an, und unsere Hände machten dieses klatschende Geräusch.

»Ist ’n Wort. Roland.«

»Okay, wenn du hier draußen chillst«, sagte ich, als ob mir das Haus gehörte oder so. Als ob ich ihn daran hindern könnte, auf den Betonstufen zu sitzen.

Wir hockten eine Weile zusammen auf der Treppe. Ich wollte ihn fragen, welchen Comic er las, aber als ich mitbekam, wie schnell er ihn zusammenfaltete, kam mir die Idee nicht mehr so gut vor. Wir redeten über nichts Bestimmtes. Ich weiß nur noch, dass ich sozusagen den Fremdenführer machte und erklärte, wer dieser und wer jener war und was im Block abging. Ich fand, das war das Mindeste, was ich tun konnte, wo er doch neu in der Gegend war. Der schwierige Teil war allerdings, nicht auf sein Haus zu deuten und zu sagen: »Und da drüben, da hängen all die Junkies ab.«

Die Sonne war fast ganz untergegangen, und die Straßenlaternen flackerten, als meine Mutter den Kopf aus dem Fenster schob und mich zum Abendessen rief.

»Wer ist das, Ali«, fragte sie, ein wenig schroff.

»Das ist Roland. Ist gerade eingezogen … nebenan«, sagte ich, während ich zu ihr aufblickte und versuchte, ihr einen Wink zu geben, ohne dass es sonderlich auffiel. Roland wandte sich um und drückte den Kopf in den Nacken, damit er sie auch sehen konnte.

»Hi, mein Junge«, sagte meine Mutter, jetzt mit sanfterer Stimme. Ich spürte, dass sie genauso überrascht war wie ich, dass er in diesem Drecksloch lebte.

»Hallo«, sagte er traurig.

Doris taxierte ihn für einen Moment. Dann schweifte ihr Blick rasch zu mir zurück.

»Ali, kannst du mir das Brot raufbringen!« – Ich hatte es völlig vergessen. – »Und komm zum Essen, bevor es kalt wird«, sagte sie in ihrem üblichen schroffen Ton, doch dann wandte sie sich Noodles zu und sagte ganz nett und freundlich: »Und du bist auch herzlich zum Essen eingeladen, mein Lieber.«

 

Während wir aßen, fragte ihn meine Mutter, woher er komme, aber er drückte sich um eine Antwort. Dann kam Jazz, die damals erst sechs war, nahm den Faden von Doris auf und löcherte ihn mit allerlei Fragen.

»Deine Mom kocht nicht?«, fragte sie. Meine Mutter warf ihr einen Blick zu, und ehe Noodles überhaupt eine Chance hatte zu antworten, wechselte Jazz das Thema.

»Ich meine, ich meine«, stotterte sie, während sie aus den Augenwinkeln zu Doris hinübersah, »magst du eigentlich SpongeBob?«

»Jep.« Das erste Mal an diesem Tag, dass er lächelte.

»Dora?« wollte Jazz wissen.

»Yep.«

»Schatten der Leidenschaft?«

»Natürlich«, sagte Noodles seelenruhig. Dann prustete er plötzlich vor Lachen. Natürlich meinte er das nicht ernst, aber Jazz schloss ihn sofort in ihr Herz.

Nach dem Abendessen half er mir beim Abwasch und bedankte sich bei meiner Mutter, dass sie ihn zum Essen eingeladen hatte. Ehe er ging, zog er sein kleines Notizbuch hervor und kritzelte eine Zeichnung von SpongeBob hin, die ihm halbwegs ähnelte, aber aus dem Gedächtnis war sie ganz gut. Jazz war schon weg und wusch sich vor dem Zubettgehen, also sagte er mir, ich solle ihr das Blatt geben. Und sobald es draußen einigermaßen dunkel und ruhig war, huschte er rüber zu sich nach Hause.

Obwohl wir noch keine richtigen Freunde waren, war er der Erste, der mich daheim besuchte und mit mir rumhing. Richtig gute Freunde hab ich in der Nachbarschaft nicht, einfach weil so viele Jungs in der Gegend dermaßen abgedreht sind. Entweder sie dealen, oder sie werfen was ein, und die es nicht machen, tun so als ob, oder sie haben solche Übermütter wie Doris, die nicht wollen, dass ihre Kids mit irgendwem hier rumhängen. Ich hab in der Schule ein paar Kumpels, mit denen ich chille, aber im Sommer seh ich die nicht so häufig, weil die meisten von denen in Harlem wohnen und ich fast nie dort hinkomme. Und die kommen ganz bestimmt nicht nach Brooklyn. Also blieb mir nichts anderes übrig, als auf Freunde zu verzichten – bis Noodles kam.

Am nächsten Morgen sah ich aus dem Fenster, und tatsächlich saß Noodles da draußen auf der Treppe. Es war Sommer, und ich weiß noch, dass ich beobachtete, wie er ab und zu von einem seiner rausgerissenen Comics und dem Notizbuch aufblickte und den Kleinen beim Spielen am Hydranten zusah. Ich zog mich hastig an und ging raus, um zu sehen, was da los war.

Er hörte wohl nicht, dass ich die Haustür aufmachte, weil er mächtig erschrak, als ich »Yo, Mann« sagte.

»Ey, Alter, hast du mich vielleicht erschreckt. Was schleichst du dich auch so an mich ran. Riskierst ’ne Klatsche.« Er lachte nicht, ich schon. Als ich aber merkte, dass er nicht lachte, verstummte ich. Dann lachte er.

»Was ist das?« Ich sah auf den Comic und das kleine linierte Blatt, das mit blauer Tinte bemalt war.

»Oh. Der unglaubliche Hulk«, murmelte er, während er es zusammenfaltete und in sein Notizbuch steckte.

Das mit den Comics war ihm ein wenig peinlich, das spürte ich – vielleicht dachte er, ich würde ihn für eine Art Spinner halten. Mir war nicht klar, was daran so schlimm sein sollte. Wenn du auf Comics stehst, stehst du eben auf Comics. Und obwohl ich mich da nicht auskannte, wusste ich, wer der unglaubliche Hulk war. Wer nicht?

»Aah, Mann, irrer Typ, dieser Bruce Banner«, sagte ich.

Er schlug das Notizbuch auf und reichte es mir.

Es war eine von den Szenen, in denen Bruce sich aufregt und grün anläuft und sich in Hulk verwandelt. Noodles hatte die ganze Chose haargenau nachgemalt, jeden Muskel, jedes Haar. Der einzige Unterschied war, dass er dem Hulk eine Yankees-Kappe verpasst hatte, aber die sah aus, als würde sie da hingehören. Der Junge konnte richtig zeichnen! Das sei einer von seinen Lieblingscomics, meinte er, aber als ich ihm alles zurückgeben wollte, riss er die Seite raus und sagte, ich könne beides haben, den Comic und die Zeichnung.

Von da an war er Tag für Tag auf meiner Treppe, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Noodles war wohl nicht der Freund, den meine Mom für mich ausgesucht hätte, aber sie hatte Mitleid mit ihm, und außerdem mochte Jazz ihn, deshalb sah Mom zu, dass jeden Abend noch was zu essen für ihn da war.

Zum Glück richtete der Typ, dem das Nachbarhaus gehörte, endlich die Fassade her. Neue Haustür und ein paar neue Fenster. Die ganze Nachbarschaft redete davon, dass es im Innern sicher nach wie vor ein Pisspott war, aber zumindest sah es jetzt von außen nicht mehr so übel aus. Wenigstens konnte Noodles jetzt auf seiner eigenen Vortreppe rumhocken, ohne dass es ihm irgendwie peinlich war. Außerdem konnte ich mich dazusetzen, und das war cool, weil ich es allmählich satthatte, ständig auf meiner eigenen Treppe zu sitzen.

 

Ich wette, du fragst dich, wie er eigentlich zu dem Namen Noodles gekommen ist. Also, wenn du ihn selber fragst, wird er sagen, den Namen habe ihm die Nachbarschaft verpasst, einfach weil er immer den harten Typen rauskehrt. Aber in Wahrheit stammt der Name von Jazz, die so was wie die Meisterin der Spitznamen ist. Tatsächlich war sie es, die mich zuallererst Ali genannt hat. Mein richtiger Name ist Allen, aber der hat nichts mit dem Ali zu tun. Jazz hat mir den Ali verpasst nach einer meiner Boxstunden beim alten Malloy, von dem ich später erzählen werde. Ich weiß noch, wie ich von Malloy wegging, den Block entlangrannte, ganz aufgekratzt in unsere Wohnung stürmte und unbedingt Jazz zeigen wollte, was ich gelernt hatte. Ich sprang im Wohnzimmer rum, tänzelnd und, mit den Armen schwingend, boxte ins Leere wie ein völliger Blödmann. Malloy hatte mir wohl gerade den linken Haken beigebracht, und ich war noch nicht so richtig davon runter. Jazz lachte sich einen Ast und meinte, ich sei der kommende Muhammad Ali, solange ich gegen die Luft kämpfe und nicht gegen richtige Typen. Ehrlich gesagt, das tat ein bisschen weh, vor allem weil sie wusste, dass ich irgendwie Angst davor hatte, in echte Kämpfe zu gehen. Aber was soll’s. Von da an nannte sie mich Ali, und alle anderen machten es ihr nach.

Wie Noodles zu seinem Spitznamen kam, ist allerdings die bessere Geschichte. Jazz mochte ihn sehr, besonders nach dem Scherz mit Schatten der Leidenschaft und der Zeichnung von SpongeBob, die sie in ihrem Zimmer an die Wand heftete. Immer wenn sie sich von nun an sahen, und das war so ziemlich an jedem Tag, rissen sie Witze und machten sich übereinander lustig. Eines Tages fand sie die ideale Munition. Vom Fenster aus beobachtete sie Noodles, wie er ein potthässliches Mädchen auf der Treppe küsste – das sind Jazz’ Worte, nicht meine. Zu mir sagte sie, das Mädchen sei doppelt so dick wie Noodles und mache den Eindruck, als wollte sie sein Gesicht aufessen, und sie könne nicht erkennen, ob das Mädchen so alt war wie wir oder eine Oma, die sich wie ein Mädchen kleidete. Noodles hätte so verängstigt ausgesehen, mit gespitzten und rot verschmierten Lippen, dass es aussah, als würde er Spaghetti schlürfen. Das nächste Mal, als Jazz ihn sah, nahm sie ihn wegen dieser Geschichte hart ran und machte eine Schnute wie ein Fisch. Erst wollte Noodles alles abstreiten. Dann sagte er, das sei eine Freundin seiner Mutter und es sei so was wie ein Kuss in der Familie gewesen. Wer es auch war, ich wollte nicht weiter nachfragen. Ich spürte, dass er sich angepisst fühlte, und mir wurde allmählich klar, dass er es nicht sonderlich gut wegsteckte, wenn man ihn in Verlegenheit brachte.

Ich machte mir Sorgen, dass er mit mir nicht mehr cool rumhängen würde. Tatsächlich kannte ich ihn noch nicht so gut, als dass Jazz ihn so böse hätte verarschen dürfen. Aber ich glaube, er hatte eine kleine Schwäche für sie, und wenn nicht für sie, dann für das Abendessen bei uns. Wie auch immer, Jazz machte klar, dass sie nicht lockerlassen würde, nannte ihn »Nudelschlürfer« und solche Sachen, und nach einer Weile kam er dann einfach drüber weg. Und so kam er an den Namen Noodles. Davor war er einfach Roland James gewesen. Das ist nicht annähernd so cool wie Noodles, und obwohl er das meiner kleinen Schwester nie zugutehält, wissen wir alle, dass er heute dankbar ist, auch wenn es eine komische Geschichte war.

Das war also die Sache mit Noodles. Was Needles angeht, so hat der praktisch erst seit einem Jahr seinen Spitznamen weg, und die Geschichte drum herum ist überhaupt nicht so komisch wie bei Noodles und mir, dafür viel interessanter. Aber damit du das verstehst, muss ich es von Anfang an erzählen.

Ich lernte Needles erst drei Monate nach Noodles kennen, was mir merkwürdig vorkam. Immerhin wusste ich, dass Noodles einen Bruder hatte, aber den bekam ich nie zu sehen. Ich fragte mich immer, ob er gezwungen wurde, im Haus zu bleiben, ob er von sich aus zu Hause bleiben wollte oder einfach woanders war, vielleicht bei seinem Vater oder so. Noodles sagte immer nur eins über ihn, nämlich dass er ein wenig durchgeknallt sei, und das ist im Grunde genau das, was alle andauernd über ihre Brüder und Schwestern sagen, also nahm ich das einfach so hin.

Als ich Needles dann endlich mal traf, war er mit Noodles zusammen. Sie gingen den Block lang, waren gerade aus einem Laden an der Ecke gekommen, Noodles riss das Papier von irgendwelchem Süßkram ab und warf es auf den Gehweg. Ich klatschte erst Noodles ab, weil ich ihn schon kannte, und kaum bot ich Needles die Hand an, um mich vorzustellen, fing er an, wie soll ich sagen, mich mit einer Kanonade von Schimpfwörtern zu belegen. Machte mir eine Höllenangst, ich schwör’s. Mir war nicht klar, ob das ein Witz sein sollte oder ob er mich einfach nicht mochte, aber es wollte mir nicht in den Kopf, wieso er mich nicht ausstehen konnte, wenn wir uns doch gar nicht kannten. Doch als er dann mit den ganzen Beschimpfungen fertig war, sagte er: »Was geht, Mann«, und das mit einer total leisen Stimme, als hätte er Angst, wollte es aber nicht zeigen. Außerdem entschuldigte er sich. Das warf mich völlig aus der Bahn. Und dann, zu allem Überfluss, gab ihm Noodles einen Schlag in den Nacken. Das fand ich überhaupt nicht cool, aber ich kannte die beiden nicht gut genug, um Partei für einen zu ergreifen.

Also gut, ich fand Needles ein bisschen merkwürdig, doch als ich meiner Mom davon erzählte, machte sie mir klar, und ich meine so was von klar, dass das Problem von Needles nichts zum Lachen war. Der richtige Name dafür ist Tourette-Syndrom. Also schätze ich, es ist ein Syndrom und keine Krankheit. Sie meinte, er spuckt alle möglichen Wörter aus, wenn sein Gehirn ihm das sagt. Keine normalen Wörter wie »geh« oder »hey«, sondern irgendwelches irres Zeug wie »Arschgesicht« und »Fettsack«. Jetzt schwante mir, was Noodles gemeint hatte, als er sagte, dass Needles »durchgeknallt« sei.

Meine Mutter erzählte mir, sie habe ein Mädchen zu betreuen, das auch daran litt, und sobald sie lernten, damit umzugehen, könnten die meisten Menschen normal damit leben. Aber wenn ich mir ansah, wie Needles sich verhielt, wenn er redete, und dass Noodles ihm eine verpasste, war mir klar, dass das mit dem normal leben schwierig war, vor allem, da es ziemlich peinlich sein musste.

Aus Monaten wurden Jahre, und alle gewöhnten sich einigermaßen an Needles und Noodles, vor allem ich. Wir waren so etwas wie die drei Musketiere oder die drei Amigos, aber das ist so abgenudelt und wurde schon millionenmal gesagt. Meine Mutter meinte, wir seien die drei Stooges, Jazz sagte die drei blinden Mäuse, aber was soll’s. Wichtig ist, wir waren fast immer zusammen. An jedem arbeitsfreien Tag meiner Mutter kamen sie rüber zum Abendessen. An jedem Geburtstag gaben wir uns gegenseitig was auf die Nase (ich teilte immer am härtesten aus). Und an jedem normalen Tag hingen wir einfach auf der Treppe rum. Wenn Schule war, musste ich rein, wenn die Straßenlaternen angingen, aber im Sommer durfte ich bis spät draußen rumhängen, vorausgesetzt, ich blieb vor der Tür. Die beiden hatten nie etwas wie eine Ausgangssperre, also waren sie immer unten, um Scheiß zu bauen. Wir spielten unser Fragespiel »Was tätest du lieber?«, quatschten dumm über Mädchen, ich redete immer gern über Sport, aber keiner von den beiden hatte eine Ahnung, also verbrachte ich viel Zeit damit, ihnen was beizubringen. Noodles las seine Comics und zeichnete in sein Buch, und Needles, der damals noch Ricky genannt wurde, gab immer irgendwelche Freestyle-Raps zum Besten über das, was er gerade auf der Straße mitbekam. Lag da zum Beispiel eine Flasche auf dem Gehweg rum, rappte er über die Flasche. Oder ging ein Mädchen vorbei, dann rappte er über sie. Und ob du es glaubst oder nicht, er war ziemlich gut, selbst bei den gelegentlichen Ausbrüchen, die für mich so normal geworden waren, als ob sie gar nicht mehr passierten. Ein Rap, an den ich mich immer erinnere, ist: »Chill ich auf der Treppe, cool mit meiner Macke, halt mich von der Straße fern, einfach zu viel Hundekacke.« Und dann, aus heiterem Himmel, schrie er: »Arschloch!«

Wir waren irgendwie auch zusammen, wenn wir es nicht waren. Das hört sich komisch an, aber unsere Badezimmer waren nur durch eine Mauer getrennt, und ich weiß nicht, vielleicht wegen eines Wasserschadens oder so, jedenfalls war die Mauer superdünn. Man konnte alles von drüben hören, und wir spionierten uns zwar nicht aus, wenn wir im Bad waren – das wäre uncool –, aber manchmal redeten wir miteinander durch die Mauer, wenn wir uns wuschen. Wenn es Noodles war, sagten wir eigentlich nicht viel, nur bist du da oder so. Ich weiß nicht, warum. Es war einfach immer cool zu wissen, dass da noch einer war, schätze ich. Und ich wusste immer, wenn es Needles war, weil ich ihn dort drüben rappen und alles mögliche Zeugs reden hörte, fluchen und was weiß ich. Immer wenn er rappte, machte ich den Beat dazu, indem ich an die Wand klopfte, bis Doris oder Jazz an die Badezimmertür pochten und mir sagten, ich solle das lassen. Der Punkt ist, wir waren immer, immer, immer zusammen. So war es eben.

Der Großteil unserer Nachbarschaft respektierte Needles so, wie er war. Die Leute ihr Ding machen lassen. Ich meine, wir sind in New York. Ein Mann, angezogen wie Cinderella, geht die Straße lang? Was soll’s. Eine Frau mit einem Pistolen-Tattoo im Gesicht? Wen interessiert’s. Also, was ist schon so aufregend an einem Syndrom? Egal. Es liegt uns im Blut, dass wir das akzeptieren, besonders wenn du einer von uns bist, und damit meine ich, wenn du in unserem Block lebst.

Noodles war der Einzige, der mal wegen Needles ausrastete. Auch wenn er ihm häufig eine austeilte, beschützte er seinen Bruder über die Maßen, und er hatte eine richtige Paranoia, dass die Leute ihn auslachten. Immer schrie er jemanden an und versetzte jedem einen bösen Blick, der vielleicht einen Witz über Needles machen könnte. Vermutlich lebte er nach irgendeiner merkwürdigen Regel, wonach nur er selbst Needles schlecht behandeln durfte und niemand sonst.

Aber eigentlich machte sich nie einer über Needles lustig. Es gab keinen Grund dazu. Needles machte nette Dinge, die normal waren, nur nicht immer normal hier in der Gegend. Er half alten Damen, ihre Einkaufstüten die Treppe hochzutragen, wobei er dauernd rumzuckte und unwillkürlich fluchte, sie mit allerlei Schimpfwörtern belegte, aber es war ihnen egal, weil sich alle dran gewöhnt hatten. Sie wussten, er konnte nichts dafür und dass er in Ordnung war. Manche gaben ihm sogar ein paar Dollar dafür, dass er ihnen half.

Doch es gab Zeiten, da tickte Needles aus, nicht wie Noodles, dem bei allem der Kragen platzte. Needles’ Ausraster waren eher wie kleine Kernschmelzen. Es gehörte wohl zu seinem merkwürdigen Syndrom, dass ihm sein Gehirn sagte, nun tick mal aus, aber nicht, wann er wieder aufhören sollte. Und so drehte er dann einfach hohl, fluchte und schrie, immer wieder, ratterte wie eine Kalaschnikow. Und obwohl die Leute hier locker mit Needles umgingen, waren diese Ausraster dann doch immer wieder der Grund dafür, dass sie ihn ansahen, als ob er, nun ja, eben verrückt wäre. Ich will nicht lügen, das erste Mal, als es passierte, machte es mich fertig, wie Noodles seinen Bruder praktisch ins Haus schleifte und uns den Stinkefinger zeigte, die wir Needles ansahen, als ob er eine Art Tier wäre.

Vor einem Jahr etwa hatte Needles einen dieser Anfälle – einen schlimmen. Es war Sonntag, und meine Mutter stand am Fenster und hörte, dass draußen mächtig was los war. Sie sah raus, und da war Needles, auf der Treppe nebenan, und ging ab wie eine Rakete! Er legte es wirklich drauf an, schrie allen Kids »Fickfresse« und »Arschgesicht« hinterher und was weiß ich. Bis dahin hatte ich ihn schon tausendmal die Kontrolle verlieren sehen, aber es war noch nie so schlimm wie an diesem Tag. Das Schlimmste war, es hatte sich eine ganze Schar von Leuten versammelt, die einfach nur zuhörten und glotzten. Manche grinsten sogar vor sich hin, und diesmal war Noodles nicht da, um das zu stoppen.

Meine Mutter war sauer. Besser gesagt richtig wütend. Sie stürmte nach unten, ich hinterher, und ich sag dir, als diese Tür aufflog, lernten die Leute die übelste Seite von Doris Brooks kennen. Sie rannte auf die Menge zu, als wollte sie im nächsten Moment allen eine wischen, und manche verzogen sich denn auch schnell. Ich musste kurz lachen, weil ich ja wusste, dass sie einem ziemliche Angst einjagen kann, besonders wenn sie meint, jemand wird ungerecht behandelt. Als alle verschwunden waren, ging sie zu Needles, der immer noch wirres Zeug rumschrie. Sie nahm ihn in die Arme. Er sagte ihr mit seiner leisen Stimme Danke und dass er sich aus dem Haus ausgesperrt hatte. Er weinte.

Meine Mutter überlegte, ob sie ihm vielleicht mit irgendwas helfen konnte. Sie ist keine Ärztin, aber sie ist eine Mutter, und das will was heißen. Außerdem ist es als Sozialarbeiterin praktisch ihr Job, etwas über diese verschiedenen Syndrome und solche Dinge zu wissen. Sie sagte zu Needles, er solle sich nicht vom Fleck rühren, und zu mir, ich solle bei ihm bleiben, und rannte nach oben. Mir war nicht so wohl dabei, einfach weil er furchtbar schluchzte, aber ich wusste, ich sollte es tun oder ich würde Ärger mit Doris bekommen. Außerdem war er mein Freund, also blieb ich, auch wenn ich mich fragte, wo Noodles steckte und warum er Needles einfach so hier draußen gelassen hatte.

Als sie zurückkam, hatte sie eine dieser schwarzen Plastiktüten dabei, die man in der Bodega bekommt. Ich dachte mir, ich weiß, dass sie diesem Jungen keinen übrig gebliebenen Schokoriegel oder Chips mitbringt. Und ich hatte recht. Das tat sie nicht. Sie brachte ihm was noch Verrückteres – einen Knäuel Wolle und ein paar Stricknadeln. Was zum Teufel? Ich wollte gerade fragen, was sie vorhatte, aber sie würgte mich mitten im Satz ab.

»Hast du so was schon mal gesehen, Ricky?«, fragte sie und hielt das Wollknäuel mit den durchgesteckten langen silbernen Nadeln in die Höhe.

»Ja, Ma’am«, sagte er verlegen.

»Weißt du, was man damit macht?«, fragte sie. Ich dachte bei mir, natürlich weiß er das nicht. Nicht mal ich weiß es.

»Ähm, nicht so richtig. Ich hab eine alte Frau im Zug gesehen, wie sie was mit Wolle und so gemacht hat, aber ich weiß nicht, was«, sagte er schüchtern.

Dann sprudelte er los. Ich konnte nicht richtig verstehen, was er sagte. Meine Mutter zuckte nicht mal mit der Wimper. Sie versetzte mir einen Blick. Diesen Blick.

»Also gut, ich zeig es dir. Ich glaub, es wird dir helfen. Ist das in Ordnung?«, fragte sie. Sie redete nicht in so einer »langsamen« Art. Sie redete einfach ganz normal, aber stellte eine Menge Fragen. Es schien keine gute Idee, ihn in dieser Situation zu irgendwas zu zwingen.