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Buchinfo

Inselepisoden, mal kurios, mal dramatisch, mal witzig, aber niemals langweilig!

Von den Erlebnissen einer deutschen Frau, die Hals über Kopf ein Haus auf einer kapverdischen Insel gekauft hat, handelt dieser spannende Roman, unter anderem.

»Es geht um alles, um nichts weniger: um Verrat und tiefe Verletzungen, um die Sehnsucht nach Liebe und Wahrhaftigkeit. Zwei Schwestern, die einander fremd und zugleich unheilvoll miteinander verbunden sind, geraten auf der Suche nach ihren Wurzeln auf die Kapverden. Ein magischer und –
wie sich herausstellt – ein heilsamer Ort. Ursa Koch erweist sich als ebenso kunstvolle wie detailgenaue Erzählerin…

Ein sehr intensiver Roman der leisen Töne, einfühlsam geschrieben und mit großem Respekt vor einer bescheidenen, aber zugleich harmonischen Inselkultur, die ihre Identität (noch) nicht verloren zu haben scheint.«

Silke Arning, Südwestrundfunk

Ursa Koch

war zwanzig Jahre lang als Redakteurin und Korrespondentin im In- und Ausland tätig, bevor sie sich ganz der Schriftstellerei widmete. 2002 hatte sie ihr Debüt als Buchautorin mit »Einmal ein König sein«, Edition Isele. Danach folgten 2009 das Kinderbuch »Kleine weiße Wolke«, Albas Literatur, der Roman »Die Heiligenscheinhändler«, Edition Isele; 2012 eine Erzählung von den Kapverden »Im roten Schein des Nibiru«, 2013 der Roman »Assunta«.

Nach längeren Aufenthalten in Frankreich und Italien lebt sie derzeit auf der Schwäbischen Alb und auf einer kapverdischen Insel.

»Die kleinen Sterne leuchten immer

während die große Sonne untergeht«

Sprichwort aus dem Senegal

Für Gert und Kai

1

Tiefenreise

»Pesch!« Pfeilschnell, wie ein Geschoss, reißt der schrille Ruf schneeweiße Wolken in Fetzen. Und, als wäre es nicht genug, der gleiche Schrei nochmals: »Pesch!« Eine Sequenz höher, lauter, drängender noch, gefolgt von Faustschlägen an die Tür. Der Widerhall schier unerträglich, ein dumpf hämmerndes Echo zwischen den Schläfen. Etwas in mir zuckt zusammen. Es schmerzt. Überall. Ich halte die Augen geschlossen, ganz fest. Höre eine Salve Gewehrschüsse. Ist Krieg? Es gelingt mir nicht, die Gedanken zu ordnen. Da geht die Knallerei in ein gleichmäßiges Geklapper über. Mir dämmert, dass dies Geräusche von Absätzen auf einem Steinboden oder auf Treppenstufen sind. Harmlos, rhythmisch. Klack, klack, klack. Bruchstücke tauchen auf, aus den Tiefen des schwammigen Grunds, wo das Gedächtnis schlummert. Es knarrt laut. Eine Tür ächzt in ihren Angeln. Dann eine Stimme, gedämpft, fast flüsternd, unverständliche Worte. Amelie. Die Nebelschwaden huschen in eine andere Ecke des Gehirns. Das taube Gefühl, diese Ahnung, gelähmt zu sein, lässt nach. Ich wage es zaghaft, die Lider anzuheben, ganz leicht, nur einen kleinen Spalt weit, vor Angst, gleißend helles Licht könnte mich blenden und in eine andere Sphäre tragen. Funkelnde Sterne, Punkte, Kreise blitzen in Lichtgeschwindigkeit auf und brennen in den Augen. Das Pochen zwischen den Schläfen wird zu einem Stechen. Messerscharfe Stiche, die tief in den Kopf eindringen. Vielleicht gibt es doch die Hölle im Jenseits, an die ich nie geglaubt habe. Die Schmerzen und die unsägliche Hitze sprechen dafür. Die Blitze werden schwächer. Kreise und Punkte weichen Konturen, noch undeutlich, verschwommen. Allmählich zeichnen sich die Umrisse scharf ab. Alles sehr begrenzt. Ich versuche, den Kopf zu heben. Es gelingt nicht. Schon die geringsten Muskelanspannungen in Bauch und Nacken tun weh. Ein penetranter Geruch nach rohem Fisch macht sich breit. Er reizt den Magen und dehnt die Augen. Soweit das Blickfeld reicht, ein kleiner, geschlossener Raum. Die Zimmerdecke makellos, in zartem Beige, eine Gardinenstange über dem geöffneten Fenster, hauchdünne, hellgrün gemusterte Vorhänge, die sich seidenleicht im Wind wiegen und das schwache Schattenspiel eines Baums, das graue Muster auf eine altrosa Bordüre zeichnet, alles pastellmatt, rund und weich. Mir wird übel. Die Wahrnehmung verschwimmt.

Geigenmusik und Gitarrenklänge von weit her, Vogelgezwitscher, Meeresrauschen. Amelies Parfüm. Keine himmlische Verheißung. Ich schlage die Augen auf, ganz weit, und erfasse, weshalb auch immer, sekundenschnell meine Lage. Das menschliche Gehirn ist rätselhaft, oder der Instinkt oder beides. So, als wäre ich schon zeitlebens an dieses fremde Bett gefesselt, ist mir augenblicklich klar, wo ich bin, und vor allem, was ich nicht mehr bin und nicht mehr kann. Nicht einmal die Finger lassen sich bewegen und das Gesicht gleicht einer pelzigen Masse. Die agile Franka mit ihrem sportlichen Körper und der flinken Zunge ist begraben, beinahe jedenfalls. Ganz sicher eine lange Weile lang. Langeweile. Das Gehirn scheint zu funktionieren. Bildet schon wieder Wortspielereien. Und der Rest? Ich könnte heulen. Da laufen sie auch schon in Strömen, die Tränen, benetzen das ganze Gesicht, sammeln sich an der Ohrmuschel, kriechen über den Hals in die Nackengegend und bilden dort irgendwo am Haaransatz und auf dem Kissen einen See.

Ein feuchtes Tuch berührt mein Gesicht. Vorsichtig versuche ich den Kopf in Richtung Körper zu drehen, zu der die Hand gehört, die meine Wange ganz sanft streichelt. »Schscht. Ganz ruhig.« Behutsam tupft Amelie meine schweißnasse Stirn ab. In einem ungewohnten Tonfall, so als spräche sie mit einem Kleinkind, das sich gegen eine Untersuchung sträubt, sagt sie: »Schön, dass du aufgewacht bist. Du hast lange geschlafen, Franka. Nach der Untersuchung hattest du kurz das Bewusstsein verloren. Dann haben wir dich hierher gebracht. Erinnerst du dich? Kannst du dich an irgendetwas erinnern?« Dabei beugt sie sich über mein Gesicht und blickt mir so intensiv in die Augen, als fände sie dahinter, auf dem Grund meiner Seele, eine Erklärung. Ich möchte antworten, aber es geht nicht. Mein Kiefer schmerzt. Ich glaube, er ist geschwollen. Auch die Lippen scheinen dick zu sein, wie nach einer Operation beim Zahnarzt. Der rechte Arm, den ich anzuheben versuche, um die Stellen im Gesicht zu betasten, fühlt sich bleiern an. Panik steigt in mir auf, ein Hitzeschwall jagt das Blut durch die Adern, lässt Schweiß aus allen Poren treten.

Meine Schwester versteht. Amelie sieht die stumm schreiende Ohnmacht, die Hilflosigkeit, das Unverständnis in meinem Blick. Sie spürt das Zittern in meinem Innern, fühlt die Angst, kennt die Fragen, die sich nicht aussprechen lassen. Sie lässt sich Zeit, badet das Tuch in Wasser, wringt es aus, sodass es laut plätschert, und wischt die Tränenspur von meinem Hals. »Es fühlt sich schlimmer an, als es ist, Franka. Der Arzt, der dich untersucht hat, konnte Knochenbrüche und innere Verletzungen ausschließen. Es sind heftige Prellungen. Vielleicht auch eine leichte Gehirnerschütterung. Du brauchst jetzt vor allem Ruhe. Es war purer Zufall, dass gerade ein Arzt im Posto Sanitario war. Du hattest großes Glück, alles in allem.« Amelie schiebt ganz vorsichtig ihren Arm unter mein Kopfkissen, hebt es leicht an und versucht, mir einen Strohhalm zwischen die Lippen zu schieben. »Franka, trink etwas. Es sind Enzyme und Pflanzenextrakte. Das wird dir gut tun. Ich habe eine gute Freundin angerufen. Sie ist Heilpraktikerin und kommt so schnell wie möglich von der anderen Seite der Insel. Bis dahin ruh dich aus. Und mach dir keine Gedanken. Schlaf ist der beste Weg zur Heilung. Ich schau immer wieder zu dir rein.«

Leichter gesagt, als getan. Das Denken lässt sich nicht einfach ausschalten wie elektrisches Licht. Schon gar nicht in dieser wehrlosen Lage, völlig hilflos, ausgeliefert, der Bewegung und der Erinnerung beraubt. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Mir fällt nichts dazu ein. Es ist eine Form der Folter, hier zu liegen, mutterseelenallein, zurückgelassen, mit drängenden Fragen. Ich will wissen, wie es um mich bestellt ist, was ich habe, ob ich vollständig gesund werde, ob sichtbare Spuren zurückbleiben und vor allem, was passiert ist. Es ist grauenvoll. Abwarten, Hoffen, Nichtstun, Geduld aufbringen, das alles sind Fähigkeiten, die ich so schlecht beherrsche. Immerhin erkenne ich Amelie und dieses Zimmer hier. Eine Amnesie kann sich auf ein Schockerlebnis beziehen. Die Betroffenen haben lückenlose Erinnerungen an die Zeit vor und nach dem Ereignis, das den Gedächtnisverlust ausgelöst hat. Das schilderte einmal ein Neurologe im Rahmen einer Reportage. Hofer hieß er. Daran kann ich mich genau entsinnen. Vielleicht fällt mir auch wieder ein, was geschehen ist, wenn ich nur weit genug zurückgehe, in die Vergangenheit.

Der Flughafen. Die Abschiedsszene. Viel länger als gewollt. Die Kinder waren dabei. Und Arne. Die Abfertigung in der Abflughalle, professionell und rasch, ohne die üblichen gepäcküberladenen, lästigen Touristenschlangen. Reichlich Zeit nach dem Check-in. Den Jungs wurde es langweilig. Sie wollten hinauf auf die Aussichtsterrasse. Dort standen wir dann kurz darauf im Lärm und Gestank der Fahr- und Flugzeuge. Mick und Ole waren gerade mit dem Zählen der startenden und landenden Maschinen beschäftigt, als Arne mich in den Arm nahm und mir zuflüsterte: »Sei nicht zu hart mit dir.« Behauptete er anschließend. Ich hatte ihr verstanden. Wäre der heftige Windstoß nicht dazwischengefahren, hätte ein einziger, winziger Buchstabe einen Streit entfacht. Dir oder ihr. Lächerlich, eigentlich. Bedenkt man allerdings die Tragweite der Geschichte, lastet auf diesem kleinen d ein enormes Gewicht. Ich frage mich, ob Arne wirklich nachvollziehen kann, was sich zwischen meiner Schwester und mir abspielt. Seit Jahren. Schon immer. Versteht er meine Empfindungen oder sieht er die Einladung von Amelie nach zwei Jahren der absoluten Funkstille wirklich nur als gut gemeinte Idee? Einem Außenstehenden würde ich nicht verübeln, einen Urlaub auf einer zauberhaften Insel mitten im Atlantik als wunderbares Geschenk zu betrachten. Beim eigenen Ehemann ist das anders. Er sollte eigentlich wissen, dass diese versöhnliche Geste, wie er es nannte, einen unkalkulierbaren Konfliktstoff beinhaltet.

Amelie betreibt solch einen Riesenaufwand nicht nur, um ein Missverständnis zu klären, eine Meinungsverschiedenheit aus der Welt zu räumen und über den letzten Willen unserer Mutter zu sprechen. Das war bereits kurz nach der Beisetzung vor zweieinhalb Jahren erledigt. Ich hatte akzeptiert, dass sie als Lieblingstochter bevorzugt wurde. Daran hatte ich mich im Laufe der bald fünfzig Jahre längst gewöhnt. Auch daran, dass Amelie dazu schwieg, kein einziges Wort über das Testament unserer Eltern verlor und nicht einmal einen Hauch von schlechtem Gewissen zu haben schien, als Haupterbin eines beträchtlichen Vermögens, samt Segelyacht und Haus an der Alster.

Seither hatte sie überhaupt keinen Gesprächsbedarf mit mir gehabt. Es gibt also keinen nachvollziehbaren Grund, so weit zu reisen, um sich auszutauschen. Es verbarg sich etwas anderes hinter diesem Ansinnen. Meine Vorstellungskraft reichte nicht aus, eine plausible Erklärung dafür zu finden. Merkwürdig war das alles. Verstörend beinahe, so wie die überraschende Nachricht, die samt Einladung als Brief ins Haus geflattert kam. In wenigen Sätzen hatte sie mitgeteilt, auf der kleinen, unwegsamen kapverdischen Insel ein Haus gekauft zu haben, in dem sie jetzt lebe. Ausgerechnet dort, wo Arne, die Kinder und ich mit unserer Freundin Karen zusammen jenes dramatische, außergewöhnliche Weihnachtsfest erlebt hatten. In diesem einfachen, schwer zugänglichen Fischerdorf, von dem wir so begeistert erzählt hatten. Weshalb musste es gerade dieser Ort sein? Was bezweckte sie damit? Vielleicht war es nur ein neues Hirngespinst einer gelangweilten, verwöhnten Frau, deren Ehemann in seinem Beruf und seinen Hobbys aufging und deren Kinder beide studierten und fern von zu Hause ein selbstständiges Leben führten. Möglich, dass Amelie sich oder anderen mit diesem Schritt, der so ganz und gar nicht zu ihr passte, irgendetwas beweisen wollte. Um das herauszufinden und um meine Empfindungen zu prüfen hatte ich mich entschlossen, zwei Wochen Urlaub zu nehmen und die Reise ins Ungewisse anzutreten. Es waren elementare Fragen, die mich beschäftigten und die tief in die Vergangenheit zurückreichten.

Das hätte Arne eigentlich wissen müssen, dachte ich, als diese heftige Windböe unsere Emotionen und die Wochenzeitung durcheinanderwirbelte. Wie von einer Last befreit, rannte er im Zickzack hinter den umherfliegenden Zeitungsseiten her. Mick und Ole jauchzten vor Vergnügen. Sie waren gerade mit einem jungen pechschwarzen Hund beschäftigt, der heftig an der Leine zerrte und Ole übermütig das Gesicht ableckte, als ihr Vater losspurtete und mit einem zerknüllten Packen Papier zurückkam. Seine schlaksige Art zu gehen, die leichte Andeutung eines Achselzuckens und das jungenhafte Lachen, waren so entwaffnend, dass es unwillkürlich mein Herz kitzelte, wie damals in Südfrankreich am Strand von Gruissan, als der Mistral das Zeitunglesen im Freien zum absurden Unterfangen machte. Diese Szene sah ich plötzlich bildlich vor mir. Es schien, als lösten kreischende Möwen das Geheul der Turbinen ab, als legte sich der Geruch nach Fisch und Algen über den Gestank nach Kerosin, sodass die Augen ganz feucht wurden vom Salz und den feinen Sandpartikeln, die der Wind mit sich trug.

Ob er sich noch daran erinnert? An unseren ersten gemeinsamen Sommer, dem viele folgen sollten. An jene unbeschwerten Tage und Nächte, in der solch begrenzende Worte wie die Zeit le temps für uns bedeutungslos waren. Das ist lange her und gleichzeitig so präsent, als wäre es gestern gewesen. Vielleicht empfindet er ähnlich. Gut möglich, dass er manchmal die Augen schließt und die Gegenwart für eine Weile ausblendet. Vielleicht lässt er dann die Bilder von damals aufleben und denkt dabei an diese besonderen Momente, die so wertvoll sind, weil sie im Leben viel zu selten vorkommen. Ob er noch weiß, wie wir ganze Haufen voller Unrat in den Stunden der Dämmerung zusammentrugen, eifrig und selbstvergessen wie Kinder, auf der Suche nach dem geheimnisvollsten Strandgut, dessen Herkunft wilde Spekulationen entfachte, und das wir dann kunstvoll zu bizarren Gebilden auftürmten, damit die Kinder am nächsten Tag etwas zu lachen hätten. Ich kann den kühlen Sand noch fühlen, die salzige Abendbrise riechen, das Geschrei der Möwen hören und unseren Hunger nach Unsinn spüren. Meist endeten diese warmen Sommernächte mit erfundenen Geschichten und Phantastereien, mit Gedankenspielen und Reimen ohne Sinn und Zweck, unter dem sternenbestückten Firmament, das in nichts dem heimischen zu gleichen schien, und wo es so naheliegend war über das Universum, das Woher und Wohin, das Karma, den Zufall, dass wir uns begegnet waren, nachzudenken.

Irgendwann in jenem Jahr oder im folgenden Spätsommer hatten wir nur wenige Kilometer von Narbonne Plage entfernt, wo sich Heerscharen von Einheimischen und Touristen tummelten, hinter den Dünen unseren menschenleeren Lieblingsplatz entdeckt, der viel zu unwegsam und steinig für den Massengeschmack war. Einmal, ohne darauf zu achten, dass sich hinter uns schwere, dunkle Wolken über den Bergen auftürmten, saßen wir wieder dort auf einem dieser mannshohen Felsbrocken, der aussah wie ein umgedrehter, zerbeulter Kochtopf von Obelix, beobachteten die Fische oder was wir sonst unter den Schaumkronen vermuteten, tranken herben Rotwein aus der Flasche und kauten trockenes Baguette, als der Platschregen von einer Sekunde auf die andere über uns hereinbrach. Laut lachend flüchteten wir vor den heftig prasselnden Tropfen unter das kleine Vordach einer windschiefen Fischerhütte. Es war plötzlich kühl geworden und wir fröstelten in unseren klammen Sachen auf den morschen, vergrauten Holzplanken. Ein Wimpernschlag genügte und die Hitze kam zurück. Das war einer dieser innigen, einzigartigen Momente der absoluten Übereinstimmung, in denen der Körper mit Glücksgefühlen überschwemmt und der Geist beflügelt wird. Warme Wellen, nicht berechenbar, diese Flut der Emotionen.

Dort, in dieser verträumten, maroden Gegend, nahe der Muschelbänke und Sümpfe, wo sich die Flamingos ihre rote Farbe holten, saßen wir auch stundenlang in Straßencafés und dunklen Kneipen, hatten nichts mehr mit unserem früheren Leben zu tun, fühlten uns als Teil dieses Mikrokosmos, irgendwie dazugehörig, fanden zwischen dem Gebimmel der Spielautomaten selbst schnulzige Chansons nicht mehr kitschig, scherzten mit Fischern, Arbeitern und Tagträumern und freuten uns über ein vertrautes »Salut« oder eine geschenkte Gauloise aus einer zerknitterten Schachtel. In einer der schummerigen Bars, »Chez Ninette«, gab es die für die Region so typischen fetten Eintöpfe aus Bohnen, undefinierbarem Gemüse, Fisch oder Schwein, nach denen mir regelmäßig schlecht wurde und ich reichlich Pastis trinken musste, weil es kein besseres Magenmittel als Anisschnaps gab, und dessen Geruch nüchtern betrachtet eigentlich abscheulich war.

Die Sartre-Zeit, wie Arne sie nannte, war eine ganz besondere, prägend, sich einprägend. Ungezählte Tage, an denen wir uns intellektuell gaben und die Köpfe über die Werke der großen Romanciers und Philosophen heiß redeten, aufgewühlte Nächte, in denen keine Sekunde zum Schlafen blieb. Erschöpft und gleichzeitig merkwürdig aufgedreht, beinahe beflügelt, schlichen wir leise, um keinen zu wecken, aus dem schmalen, hohen Altstadthaus, das durch seinen architektonischen Charme den fehlenden Herbergsstandard wettmachte, flanierten als erste Besucher durch die herrschaftliche Markthalle von Narbonne, kauften bei Michel, dem Fischhändler so viel ein, als gelte es eine Großfamilie zu versorgen, und wunderten uns über das Durchhaltevermögen der ergrauten, stoppelbärtigen Stammkunden, die sich bereits an den Theken auf ein Gläschen Rosé oder Vin Rouge trafen oder mit einem klaren Eau de vie Last und Laster des Lebens für kurze Zeit loszuwerden versuchten.

Den betörend herben Geruch der Garriguekräuter und Piniennadeln der Hochebene von La Clape noch in der Nase, genossen wir es wenig später, eindrückliche Spuren zu hinterlassen. Barfuß liefen wir über den kalten, harten Sandstrand, dessen obere Schicht sich anfühlte wie eine Betondecke, die zu dünn aufgetragen worden war und manchmal einbrach, oder auch nicht, je nachdem, wie hart man auftrat. Akrobaten gleich balancierten wir zwischen Glasscherben, Muscheln und stacheligen, silbern glänzenden Pflanzen hindurch, frühstückten an unserer steinigen Bucht, und schwammen mit Meeresfrüchten, Croissants und einem wohligen Prickeln im Bauch nackt ganz weit hinaus. Dieses Glück in seiner reinsten Form, dieses Gefühl von Freiheit und Freude, war durch nichts zu ersetzen gewesen.

Wenn die Sonne dann ihre wärmenden Strahlen übers Meer gleiten ließ und das vertraute Bild in ein anderes Licht rückte, küssten wir uns das trockene Salz von der Haut, unersättlich, mit dem Heißhunger der Verliebten. Um diese Zeit tauchte dann meistens Barbe auf. Der Voyeur. Saß plötzlich da. Hatte uns wieder genau beobachtet. Mit seinen treuen, sehnsüchtigen Augen zugesehen, was jungen Menschenpärchen so einfällt, und stumm gewartet. Er kannte ihn genau, den entscheidenden Moment, wusste, wann das Herz weich wird und die Menschenseele sich öffnet, bereit, alles herzugeben, selbst die letzten, zuckersüßen Kuchenstücke. Barbe, der Bärtige, der Stolze, der wunderbare Charakter, unser Charmeur, wie wir ihn liebevoll nannten. Was wohl aus ihm geworden ist, aus dem hageren Strandhund mit dem zielstrebigen Gang, dem zerzausten, räudigen schwarzen Fell und diesem unvergleichlich rührenden Blick, den man auf der Stelle ins Herz schließen musste, und nach dem wir noch Jahre später vergeblich suchten.

»Barbe«, sagte ich. Nur dieses eine Wort. Arne hatte es nicht vergessen. Er lächelte, zog mich an sich. Wir küssten uns wie schon lange nicht mehr, beinahe wie früher, und plötzlich war die Welt in Ordnung, vollkommen. Am liebsten hätte ich die Zeit angehalten. Dieser Abschied war so ungewöhnlich. Wie alles in diesen Tagen.

Die unsanfte Landung auf dem Boden der Tatsachen traf mich schon vor dem Abflug mit der wiederkehrenden Erkenntnis, nicht normal zu sein. Alle plappern, quasseln, lachen, während ich sichtlich in mir zusammenschrumpfe. Es raubt mir die Luft zum Atmen und erfordert ein hohes Maß an Konzentration, die Antennen einzufahren, das Gemüt auf immun zu schalten und zu ignorieren, wie Menschenmassen auf engem Raum sich anfühlen. Nicht nur im Shuttle, auch im Bauch der Boeing stets dasselbe. Es wird gequetscht und gedrückt, manche rücksichtslos und rigoros gegen menschliche Weichteile oder fragile Gepäckstücke, als ginge es um einen Wettlauf. Handgepäck, so ausladend wie mein ganzes Reiseutensil für zwei Wochen, muss in die Ablagefächer, wenn nötig mit Gewalt. Vielleicht leide ich an Klaustrophobie und erwarte zu viel, keine Sonderbehandlung, nur ein bisschen Gelassenheit und Rücksichtnahme.

Ich schnappte nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen, und schluckte leer. Die unausweichliche Tatsache, die folgenden Stunden als Sardine in Menschengestalt verbringen zu müssen, waren schwer zu verdauen. Das bemüht eifrige Bordpersonal konnte daran auch nichts ändern. Eingeklemmt zwischen all diesen fremden Leuten, Plastiktischchen, nestelnden Damen und raschelnden Herren, quengelnden Kindern und überlagert von Gerüchen, deren Palette ein reiches Repertoire zu bieten hatte, von Crème,- Deo- und Parfumwolken über Essensdämpfe aus heißen Aluschalen, bis hin zu allerlei aufdringlichen Duftproben, die Frauenzeitschriften entsprangen, von Angstschweiß und sonstigen menschlichen Ausscheidungen ganz zu schweigen, war mir der Appetit ohnehin längst vergangen.

So ganz anders meine Nachbarin, die mit beleidigter All-inclusive-Miene die Stewardess beschäftigte. Überlaut meinte sie: »A Glaserl Sekt zum Dessert bräucht i schon no« und kauend setzte sie in gedämpftem Tonfall hinzu: »Dann bezahl i des halt, wenn des hier alles extra kostet.« Unzufrieden stopfte sie nach der süßen Creme oder was immer sich in dem Plastikbecher verbarg einen Schokoriegel und Kekse in sich hinein, damit der üppige Umfang während des Flugs nicht zu leiden hatte. Stumm wie ein Fisch, starr ausharrend, mehr tot als lebendig, den Blick stur geradeaus gerichtet, um möglichst nicht angesprochen zu werden – »Ist Ihnen nicht gut?« oder »Sind Sie zum ersten Mal auf den Kanaren?« – legte ich mir schon mal eine Antwort auf Französisch zurecht, für den Fall der Fälle, denn Fremdsprachen traute ich den Damen rechts und links von mir nicht zu. Dann redete ich mir still und beharrlich ein: »Stell dich nicht so an, es gibt Schlimmeres.«

Und das gab es, tatsächlich. Der Zwischenstopp auf Las Palmas, mittlerweile zur Drehscheibe internationaler und nationaler Airlines geworden, potenzierte das alles um ein Vielfaches. Wer aus einem Landstrich, reich an Natur und arm an Kommerz kam, musste hier einen gewaltigen Kulturschock erleiden. Ich sehe sie deutlich vor mir, die glitzernden Verlockungen neben den Anzeigetafeln und Rolltreppen, die tausenderlei Angebote, gewaltig wie eine Flutwelle, der man nicht entweichen kann, und die Menschenmenge, die stets durch die Abfertigungshallen flaniert, um mit übervollen Gepäckwägen in die unzähligen Shops zu drängen, auf der Suche nach dem ultimativen Reisemitbringsel oder dem absoluten Schnäppchen im Duty-free-Bereich, eingehüllt in Glanz und Glamour, be-
rauscht von einer enormen Geräuschkulisse. Hektische, laut scheppernde Durchsagen in spanischer und englischer Sprache, verschiedene Musikstilrichtungen, klingelnde und summende Handys, lachende, rufende, weinende Menschen und quietschvergnügte Werbesprüche und Songs aus Lautsprechern der Großbildleinwände überlagerten sich. Ein einziges Gewimmel und Getöse.

Keine zwei Stunden später dann der radikale Wechsel. Ein Stillleben, beinahe. Mir kamen naturalistische Gemälde in den Sinn, die Arbeiten von bekannten Malern. Künstler müsste dies inspirieren: Dieser Anblick des azurblauen Ozeans aus der Vogelperspektive, die wüstenartig anmutende Insel tief unten, Berge und Täler, die farbige, gelbrote Erde, die Küste mit der kräftigen Brandung, die aussah, als hätte sich der liebe Gott einen Spaß erlaubt und dieses kleine Eiland, tausend Kilometer westlich von Afrika, mit einem Zuckerguss aus Schnee und Eis verziert. Naturgewaltig. Bis auf die Geräusche der Turbinen, die so gleichmäßig surrten, dass man sie kaum noch wahrnahm, absolute Ruhe. Wie klein wir doch sind und wie unwichtig, dachte ich.

Hundegebell lässt die Gedanken erwachen oder es ist der Druck auf der Blase, der mich zurückholt in die Realität oder in das, was ich dafür halte. Ist das die Realität? Woher kann ich wissen, was real ist? Was weiß ich überhaupt? Wer über Erkenntnistheorien nachdenkt, muss bereits auf dem Weg der Besserung sein, überlege ich und versuche, das Glöckchen auf dem niedrigen Nachttisch, den Amelie ganz nah ans Bett gerückt hat, zu erwischen und den wunderschönen großen Bergkristall dabei nicht hinunterzuschubsen. Mit einiger Anstrengung gelingt es. Meine linke Körperhälfte scheint weniger betroffen zu sein. Amelies Absätze kündigen ihr Kommen an. Sie nähert sich milde lächelnd, sichtlich bemüht, meinen Wunsch oder besser mein Bedürfnis zu verstehen. So habe ich sie noch nie zuvor erlebt. Sie wirkt weicher, liebenswürdiger als früher und scheint aufrichtig besorgt um mich zu sein. Vorsichtig und dennoch mit viel Krafteinsatz hilft sie mir beim Aufrichten. Wie hart und körperlich belastend muss es wohl sein, als Alten- oder Krankenpflegerin zu arbeiten, wenn wir schon allergrößte Mühe haben, mein Fliegengewicht von weniger als fünfzig Kilo auf die Beine zu bringen. Amelie scheint sich selbst auch Mut zu machen, denn die Worte purzeln nur so aus ihr heraus: »Es wird alles gut. Das heilt ganz rasch. Du wirst sehen.«

Irgendwie schaffen wir es auf die Toilette und ins Badezimmer. Dort erhasche ich einen Blick in den großen Wandspiegel. Meine Knie werden weich. Ein Glück, dass Amelie mich stützt. Das, was mir da entgegenblickt, hat nichts mehr mit meinem früheren Gesicht zu tun. Es gleicht einer hässlichen Fratze, so verquollen und entstellt, als hätte mich Wladimir Klitschko herausgefordert. Bestenfalls in einem Horrorfilm könnte ich künftig als gruseliger Geist ein gutes Bild abgeben, vielleicht auch an Fastnacht, als Hexe, wegen der roten, widerspenstig abstehenden Haare und dem blassen Teint, dafür müsste nicht einmal die grün-blau-gelbe Färbung meines geschwollenen Kiefers zurückgehen. Man könnte sich den Maskenbildner sparen. Schaurige Vorstellung. Auch die Abhängigkeit von Amelie erleichtert meinen Gemütszustand nicht gerade. Wie viel Anstrengung und Zeit es kostet, nur ein paar Meter auf einem ebenen Boden zurückzulegen, hätte ich nie für möglich gehalten. Dabei schwirren seltsame Gedanken durch mein Gehirn, die schon wieder auf die Tränendrüse drücken. Auf Hilfe angewiesen und dankbar sein zu müssen, gerade ihr gegenüber, meiner Schwester, ist so erbärmlich und erniedrigend, dass nur ein einziger Ausweg bleibt, denn es nützt nichts, in Selbstmitleid zu zerfließen. Ich muss üben. Körper und Geist trainieren. Mich an jedes Detail erinnern. Und positiv denken. Das hatte ich doch immer vertreten. Nicht dass am Ende all meine klugen Ratschläge nur anderen galten. Wo war ich stehen geblieben? Richtig, am Schalter der staatlichen, kapverdischen Fluglinie.

»Was heißt, cancelled?« Ungläubig hatte ich der Dame im adretten Kostüm und der unbeweglichen Miene klar zu machen versucht, dass der Flug von Sal zur nächsten Insel rechtzeitig rückbestätigt worden war. Sechs Stunden später geht ja noch eine Maschine, wo ist also das Problem, schien sie mit dem lapidaren Satz zu meinen: »You get another flight, a bit later, but today.« Um keinen Zweifel daran zu lassen, dass die lästige Diskussion mit einer nörgelnden Touristin für sie damit beendet war, klappte sie eine Mappe mit Unterlagen zu, erhob sich von ihrem Stuhl und schritt hoch erhobenen Hauptes davon. »Das Problem ist, dass ich dann erst spät nachts in Mindelo ankomme und den ganzen Tag hier herumsitzen muss«, maulte ich mürrisch auf Deutsch hinter ihr her. Zwecklos. Ich packte meine Siebensachen zusammen und ergab mich meinem Schicksal. Es gab keine Möglichkeit der Gepäckaufbewahrung. Nach Schließfächern suchte man hier ebenfalls vergebens. Also wurde nichts aus der spontanen Idee, den Nachmittag am nahe gelegenen Meer zu verbringen. Mit dem schicken Koffer und dem Hightech-Rucksack, der Markentüte mit den Geschenken und dem ganzen Bargeld in der Tasche, in einer von Armut geprägten Gegend zu sitzen, würde jegliche, noch so tief schlummernde kriminelle Energie geradezu heraufbeschwören, zumindest wäre es eine Provokation. Und auf Hotelanlagen oder bewachte Strandabschnitte hatte ich sowieso keine Lust. Vielleicht stimmt es ja, und die Kriminalität ist auf diesen Inseln geringer, als in den meisten deutschen Großstädten. Dennoch bin ich mir meines Status als Gast sehr wohl bewusst. Die gut gemeinten Bemühungen so mancher Touristen durch schlabberige Outfits, ausgelatschte Sandalen, den Verzicht auf Schmuck und Markenartikel, machen da keinen großen Unterschied, obwohl diese durchaus sympathisch sind. Tourist bleibt Tourist. Die zahlreichen Auslandsreisen durch die Slums dieser Welt haben mit meinen früheren Illusionen gründlich aufgeräumt. Allein die Tatsache, dass man sich eine Reise hierher leisten kann, stempelt jeden Gast als wandelnde Geldbörse, ob er sich das eingesteht oder nicht. Hautfarbe und Herkunft lassen sich eben kaum leugnen.

Mit diesen Gedanken schlenderte ich durch die licht- und luftdurchflutete Halle, bestaunte die reiche Auswahl an CDs mit kapverdischer Musik in einem der beiden Läden und freute mich an der Schlichtheit dieses kleinen Airports. In nichts mit den Flughäfen internationaler Metropolen zu vergleichen, die alle überladen und dennoch steril wirken. Überall gab es die gleichen Shops, den gleichen Kaffee, die gleich teuren, einfallslosen Snacks. Und überall wurden die lästigen Stunden des sinnlosen Wartens auf harten Plastikstühlen, den Blick gesenkt oder auf ratternde Anzeigentafeln gerichtet, zu einer lähmenden Kraftprobe. Das war anders an diesem Ort.

Ich sehe alles deutlich vor mir. Die gähnend leere Café-Bar mit dem gelangweilt dreinschauenden Personal, das vergeblich auf Gäste wartete. Sie befand sich im ersten Stock. Eine weitere Bar mit der eindeutig besseren Lage gab es ebenerdig. Und diesen hellen, freundlichen Raum, wo etliche Einheimische zu Mittag aßen oder sich zwischendurch ein Baffa gönnten, denn eine süße oder herzhafte Kleinigkeit konnte man fast immer essen, steuerte ich nach meinem Rundgang an. Das war eine gute Option, dachte ich, mich vom deutschen Denken schleunigst zu befreien. Man hatte stets mehr Zeit für die Reise einzukalkulieren, das wusste ich, denn darüber wurde jeder Tourist hinlänglich informiert. Zwei von vier Maschinen waren wegen Wartungsarbeiten ausgefallen. Das ist ein gutes Zeichen, sagte ich zu mir selbst, die Leute nehmen ihre Verantwortung ernst und kontrollieren die Flugzeuge auf deren technisch einwandfreien Zustand, besser jedenfalls, als aus kommerziellen Gründen ein Risiko einzugehen. Meine Laune stieg mit jedem Schluck Bier und jedem weiteren Bissen in die himmlischen pastéis, jene gefüllten Teigtäschchen, die mir schon beim letzten Besuch hier so gut schmeckten. Nur beim Bier war ich mir nicht mehr sicher. War nun das Strela die einheimische Marke oder das Super Bock? Gefühlsmäßig hatte ich Strela bestellt, was eindeutig schöner klang. Für den Kellner offenbar nicht, denn er brachte Super Bock. Es schmeckte so gut, dass es in zwei, drei Schlucken weg war. Eine zweite eiskalte Miniflasche aus dem Eisschrank wurde serviert. Ich versuchte gerade das Kleingedruckte auf dem Etikett zu entziffern, als sich ein gut gekleideter Mann, Mitte, Ende dreißig, meinem Bistrotisch näherte.

»Darf ich?«, fragte er und setzte sich bereits, ohne eine Antwort abzuwarten. »Fernando«, meinte er und streckte mir seine Hand entgegen, als wären wir verabredet gewesen. »Hallo«, gab ich knapp zurück und las weiter. Keine Chance. Auf Fernando schien meine abweisende Haltung keinen Eindruck zu machen. »Sind Sie zum ersten Mal hier auf den Kapverden?« »Nein. Sie?«, konterte ich. Wir mussten lachen. Die kakaobraune Hautfarbe meines Tischnachbarn ließ andere Schlüsse zu. Meine Skepsis ihm gegenüber schwand in den ersten Minuten der folgenden Stunden, in denen ich nicht nur über Glaubensfragen zu Geschmack und Qualität von einheimisch produzierten Waren wie Strela Bier und zahlreicher beliebter Importartikel aufgeklärt wurde. Fernando, der von einer der Inseln stammte, hatte zunächst in Lissabon, dann in Berlin studiert, wo er eine gut dotierte Stelle in der Forschungsabteilung irgendeiner renommierten, international tätigen Firma gefunden hatte. Dort hatte er auch seine deutsche Frau kennengelernt, mit der er zwei Kinder hat, erfuhr ich. Jetzt war er gerade auf dem Weg in seine Heimat. »Auf Urlaub. Meine große Familie besuchen«, strahlte er. Er fühlte sich beiden Kulturen verbunden. »Nur aus starken Wurzeln lässt sich Kraft schöpfen für ein weitverzweigtes System, das Früchte trägt«, meinte er und gab Eindrücke seiner vielen geschäftlichen und privaten Auslandsreisen wieder. Ein Weltenbummler, im sprichwörtlichen Sinn. Ich hätte es nicht besser treffen können. Fernando, nicht unattraktiv mit seiner markanten Nase, den rehbraunen Augen und schlanken Händen, war an Erzählkunst und Hilfsbereitschaft nicht zu übertreffen. So erfuhr ich von typischen Merkmalen der unterschiedlichen Inseln und deren Bewohnern, von Auswirkungen der problematischen Geschichte dieses Archipels, aber auch vom Pragmatismus, der Gleichmut und Lebensfreude der Insulaner, lachte über manche Episode aus seinem früheren Leben und erhielt obendrein noch wichtige Tipps, Telefonnummern und Anregungen für meine weitere Reise. Die Wartezeit entwickelte sich durch Fernando, der in eine andere Richtung weitermusste, zu einem kurzweiligen, fabelhaften Nachmittag und Abend. Ich dachte über das alles nach, auch über mein seltsames Gefühl von Wehmut, das mich beschlich, wegen der tiefen, familiären Bande, die er zu haben schien und die ich mit zunehmendem Alter hie und da vermisste. Dann tröstete ich mich damit, dass es nur kurze Augenblicke sind, in denen ich durch die romantische Brille auf den Reiz der scheinbar intakten Großfamilien blicke. Wäre ich in eine solche Familie hi-
neingeboren worden, hätte ich mich längst aus dem Korsett der Erwartungen und Verpflichtungen befreit. So gab ich mich der Freude über diese Begegnung und mein bescheidenes, aber selbstbestimmtes Dasein hin und saß kurz darauf gut gelaunt in dem kleinen Passagierflugzeug, bereit für die nächste Etappe. Als die Maschine zum Start in den sternenklaren, blauschwarzen Nachthimmel ansetzte, kam mir der verblüffende Wahrheitsgehalt des Spruchs in den Sinn: »Geht ein Türchen zu, öffnet sich ein anderes, manchmal sogar ein viel besseres.«