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»Reif sein ist alles.«

William Shakespeare
König Lear

 

Wider Peter Pan

»Über die Unmöglichkeit, mit Würde erwachsen zu werden.« Im Juli 2013 stand dieser Satz schwarz auf weiß in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Für SIE und für IHN brachte er das Fass zum Überlaufen. Der deutsche Feuilletonist Claudius Seidl, damals 54 Jahre alt, schrieb es der Nation mal wieder ins Stammbuch: »Wer nicht jung ist, ist alt. Traurig. Wahr.«

Unser Buch möchte gegen diese Art Gehirnwäsche rebellieren. Wir halten die Aussage, wer nicht jung ist, sei alt, für eklatant unwahr, die darin aufgestellte Dichotomie für grundfalsch und albern, weil sie die Mitte, den Hauptteil unseres Lebens, verleugnet und Leidenschaft mit Jugend verwechselt. Auch finden wir es keineswegs traurig, älter zu werden oder alt zu sein – insbesondere, wenn man die Alternative bedenkt. Wir möchten daran erinnern, dass jede Gesellschaft seit der Morgendämmerung menschlicher Zivilisation Weisheit bei ihren Alten und Unvernunft bei ihren Jungen verortete. Wir glauben, eine Gesellschaft, die dieses Prinzip auf den Kopf stellt, handelt töricht.

Im Deutschland der Gegenwart ist der erwachsene, reife Mensch aus dem kollektiven Bewusstsein und seiner medialen Repräsentanz so gut wie verschwunden. Statt seiner führen Spaßmichl und Animationsseppl, Klatschtraudln und Castingnudeln das Zepter. Stefan Raab moderiert das Kanzlerduell. Ein 27-jähriger YouTube-Kanalarbeiter zappelt sich durch ein Interview mit Angela Merkel wie ein Kindergartenkind im Ritalin-Flash. Die überwältigende Mehrheit der Deutschen vermutet in Günther Jauch den Gipfel an Bildungs- und Kulturkompetenz. Und Daniela Katzenberger formuliert im Titel ihrer als 25-Jähriger veröffentlichten Autobiographie Sei schlau, stell dich doof das Grundgesetz des Privatfernsehens. Es ist, als hätte Hanswurst alle anderen Figuren von der Bühne der Öffentlichkeit vertrieben. Die Infantilisierung der Welt scheint unaufhaltbar voranzuschreiten. Das Banale wird zum Wichtigen erklärt. Simulation ersetzt Substanz. Wer immer nur vom »Abholen« von Lesern, Hörern, Zuschauern spricht, verpasst darüber irgendwann den Zug. Das ständige Absenken vermeintlicher Schwellen führt zum Niveau-Limbo. Der Aufmacher des Kulturressorts besteht dann eben aus der Vermeldung der »Tatort«-Quote.

Nichts liegt IHR und IHM ferner, als in die wohlbekannte Klage wider die Spaßgesellschaft einzustimmen. Unser Unbehagen resultiert nicht aus Ressentiment. Eine Spaßgesellschaft hat es auf deutschem Boden leider nie gegeben. Aber erfreulicherweise hat sich die jedem statistisch in Aussicht gestellte Lebensspanne in Westeuropa in den letzten zwei Jahrhunderten mehr als verdoppelt. Außer in der Rentendebatte und der Diskussion um höhere Krankheitskosten wird dieses factum brutum in der gesellschaftlichen Diskussion in nahezu allen Kontexten meist ausgeblendet.

»In Nimmerland gibt es die Redensart«, schreibt J. M. Barrie 1904 in Peter Pan, »dass mit jedem Atemzug, den man macht, ein Erwachsener stirbt.« Peter Pans Lebensphilosophie ist in vielen Milieus heute die herrschende. Doch wer aus Furcht vor dem Tod, der Verdrängung des natürlichen Alterns und aus Angst, die vielbeschworene werberelevante Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen zu verprellen, die Hälfte der Bevölkerung aus dem Blick verliert, hat nicht nur Scheuklappen auf. Solches Denken selbst einäugig zu nennen wäre noch ein verfehltes Kompliment. Es ist schiere Blindheit vor den gesellschaftlichen Gegebenheiten. SIE und IHN erinnert es an intellektuelle Selbstkastration von der Sorte, die in den achtziger und neunziger Jahren das Einwanderungsland Bundesrepublik negierte und eine Debatte über Leitlinien einer vernünftigen Integrationspolitik verunmöglichte. Gesellschaftlich zahlen wir dafür einen hohen Preis.

SIE und ER sind vor kurzem beide fünfzig geworden. Wir halten uns weder für jung, noch zählen wir uns zu den Alten – was angesichts der statistischen Lebenserwartung in der Bundesrepublik Deutschland, die IHM knapp drei, IHR jedoch fast vier weitere Jahrzehnte in Aussicht stellt, auch absurd wäre. Die Werbung beginnt diesen neuen Markt gerade zu entdecken. Best Ager oder neuerdings Downager lautet das Schlagwort der Trendforscher für Menschen über fünfzig, die sich nicht so verhalten, wie man das in vergangenen Jahrhunderten von Menschen über fünfzig erwartet hat.

Wir haben den allgegenwärtigen Jugendkult genauso satt wie die Selbstinfantilisierung der Generation unserer Eltern und unserer eigenen. Wir möchten keine Artikel mehr lesen, die danach fragen, ob Schwerkraft, Wackelpeter oder Schnittblumen »noch zeitgemäß« sind oder nicht. Wir glauben, dass die Ausdehnung des Prinzips Pop auf sämtliche Lebensbereiche unserer Wirklichkeit zu einer dramatischen Einbuße an Qualität, einer Minderung des allgemeinen Reflektionsniveaus und zu einem Verlust an Würde geführt hat. Selten wurde IHR und IHM das so schlagend vor Augen geführt wie in jenem insbesondere von Apple-, Google- und Facebook-Angestellten frequentierten In-Lokal in San Francisco, das seine nach strengen Prinzipien von Regionalität und Saisonalität geführte Küche mit betont jugendlichem Flair kredenzte und dabei auf die wohl hässlichste Tischdekoration verfiel, seit sich Salome vor rund zweitausend Jahren den Kopf von Johannes dem Täufer wünschte: die Jeansserviette.

 

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Jeansserviette, San Francisco 2014

Wir bezweifeln, ob Kindergartenmöbel geeignete Einrichtungsgegenstände für Aufenthaltsorte Erwachsener sind und wären dankbar, wenn sich das unter den Designern von Imbissbuden, Bars, Lounges und Restaurants herumspräche – auch wenn solche auf Kinderdimensionen angelegten Hocker, Bänke und Sitzsäcke eine Flächennutzung ermöglichen, die im Kapitalismus verlockend erscheint und belohnt wird. Auch halten wir die Körpersprache der Protagonisten von Sendungen wie »Dingsda«, »1, 2 oder 3« oder »Wissen macht Ah!« für Menschen über zwanzig nicht für erstrebenswert. »Von Klugscheißern für Klugscheißer« heißt der Untertitel der in ihren Beiträgen übrigens nicht schlecht gemachten letztgenannten Kindersendung. Wer so an der Vulgaritätsspirale dreht, darf sich nicht wundern, wenn sich der Respekt vor Lehrern allmählich dem von Schuhverkäufern nähert.

Wir bedauern, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Schönheitsoperation mit der größten Wachstumsrate das Aufspritzen der Schamlippen mit Hyaluronsäure oder Eigenfett ist, um die Vulva einer erwachsenen Frau wie die eines pubertierenden Mädchens aussehen zu lassen. Mussten vor Jahren schon mal Sprecher von Fernsehnachrichtensendungen zum Hörfunk wechseln, weil ihre Schönheits-OPs schiefliefen, sind starre Botox-Gesichter heute auch bei männlichen Moderatoren von Kultursendungen eher die Regel als die Ausnahme, und Ängste vor Altersrassismus Gegenstand von Kantinengesprächen. SIE und ER glauben, manche unserer kulturellen Navigatoren haben nicht nur ihren Kompass verloren, sondern ihr Schiff. Wir haben erlebt, wie es zu einer Fetischisierung und Gleichsetzung von Jugend mit Idealismus, Frische und Innovationskraft gekommen ist, wo dieses Lebensalter doch vielfach von Konsumismus, Konformismus und krassem Egoismus bestimmt wird. Insbesondere die Projektion aller Übel auf die vorangegangenen Generationen erscheint uns intellektuell allzu bequem und unlauter – im Grunde die Fortsetzung einer Klischee-Psychoanalyse mit anderen Mitteln: An allem sind unsere Mütter und Väter schuld, und sei es nur, weil Muttis Geburtskanal einfach zu eng für uns war.

 

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Erwachsene Menschen in einer
deutschen Großstadt essen auf Kisten.

SIE und ER wissen, dass wir Zwerge auf den Schultern von Riesen sind. So haben wir ganz sicher enorm davon profitiert, dass die Achtundsechziger-Generation gegen den Muff unter den Talaren rebellierte und die sozialliberale Koalition der siebziger Jahre Menschen wie IHR und IHM Bildungschancen eröffnete, von denen die Vorgängergenerationen kaum träumen durften. Wir denken jedoch, dass es in der Folgezeit zu einer institutionellen Verkrustung des Generationenaufstands gekommen ist, zu einer falschen Romantisierung der Jugend und einer missbräuchlichen Aneignung ihrer Attribute.

Dieser falsche Jugendkult lässt sich insbesondere an den Protagonisten des Kulturbetriebs studieren, wo im Wechsel der Zeiten mal Palästinensertücher, mal Tatoos oder Freundschaftsbänder zum tribalistischen Erkennungszeichen an den Uniformen der Forever-young-Sekte geworden sind. Fast erinnert der Jugendkult in Deutschland heute in seiner bornierten Selbstgewissheit an die »Partei der institutionalisierten Revolution« Mexikos, deren Name und Programm ihrer jahrzehntelangen Kongruenz mit dem Establishment Hohn spricht.

Erfahrung schließt Kreativität und Spontaneität nicht aus. Diese allein bei den Jungen zu verorten widerspricht jeder Kenntnis unserer Wirklichkeit.

Wir halten den grassierenden Altersrassismus in unserer Gesellschaft für erbärmlich und unwürdig. Wir empfinden es als eine Schande, dass sich Margarethe von Trotta und Wim Wenders, Günter Grass, Martin Walser und Friederike Mayröcker dafür rechtfertigen mussten und müssen, auch im Alter noch produktiv zu sein. Wir halten weder die Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn, Wolfgang Joop noch Silvio Berlusconi, Nena, Dieter Bohlen, Donatella Versace, Melanie Griffith, Mickey Rourke, Frauke Ludowig, Ute und Chiara Ohoven oder Jürgen Drews für Vorbilder in der Kunst des Alterns. Im Gegenteil: Viele dieser Figuren erinnern uns an die von den Furien der plastischen Chirurgie bis zum Sarg verfolgte Mutter in Terry Gilliams filmischen Meisterwerk »Brazil«. Wir sind weder gerontophil, noch empfinden wir übermäßige Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren. Aber wir sind der Überzeugung, dass sich unsere Gesellschaft mit ihrer Vorstellung von Reife auseinandersetzen muss.

In unseren Medien hat sich ein Klischee festgesetzt, wonach Jugend gleichzusetzen sei mit Enthusiasmus, Reinheit und Frische, Alter hingegen mit Abgezocktheit, kalkulierendem Zynismus und Sünde. Wir halten dieses Stereotyp der Coming-of-Age-Geschichte für überholt und renovierungsbedürftig. Überprüft die Strickmuster eurer Erzählungen! Hinterfragt das Lebensmodell Peter Pans! Entwickelt eine Grammatik und ein Vokabular der Reife. Es ist höchste Zeit, erwachsen zu werden.

Kapitel 1

»Hier spricht der Dichter!«

Über griechische Schulden, den ersten Dichterstreit der Welt und Solons Vermächtnis

Wenn Dichter streiten, fliegen die Fetzen. Kein Wunder, sind die Beteiligten an solchen Händeln schließlich Profis, was das Wägen von Argumenten, das Ausbaldowern von Strategien und die Wahl ihrer rhetorischen Waffen angeht. Viele Schriftsteller wissen genau, wann der richtige Moment gekommen ist, zu Florett, Degen oder Säbel zu greifen – und wann zum Stilett. Aber anders als beim Zickenkrieg oder beim Zores um den Maschendrahtzaun, das täglich Brot keineswegs nur von Minderbemitteltenmedien wie RTL, SAT 1 oder BILD (»Das ›N‹ im Namen steht für Niveau …«), lässt sich, wenn Schriftsteller streiten, meist etwas lernen. Durchaus nicht, weil es dabei immer »um die Sache«, der Güter Höchstes oder sonstige ewige Werte und Wahrheiten ginge – Ehrpussel, Knicker und Egoschweller aller Art nehmen unter den Akteuren im literarischen Leben wahrlich keinen kleineren Raum ein als in unserem Alltag.

Streit, ausgelöst durch ein schlagendes Beispiel menschlicher Unreife, steht am Anfang der abendländischen Literatur. Homer besingt den Zorn Achills und lässt die Achaier vor den Toren Trojas in ihrer zehnjährigen Belagerung um ein Haar scheitern, weil der eitle junge Muskelprotz Achill sich ungerecht behandelt fühlt. Aus gekränktem Stolz, Dünkel und kindischem Trotz will Achill lieber untätig und schmollend in seinem Zelt herumsitzen, als zu den Waffen zu greifen und die Entscheidung zu suchen. Quasi der Prototyp für die allen Eltern bekannte Verhaltensweise: Ist mir doch egal, wenn meine Finger erfrieren, hätte mir Mutti eben Handschuhe einpacken müssen. Wenn nicht vieles täuscht, wird Streit, die Inszenierung von Gegnerschaft und der Test auf die menschliche Reife auch einst am hoffentlich fernen Ende der Literatur stehen. An Gefahren zu wachsen, um Erkenntnisse zu ringen und mit Wahrheiten zu kämpfen, sind Teil jenes Reifeprozesses, der den Stoff liefert, von dem alles Erzählen lebt: Drama. Doch gibt es nichts Wichtigeres als einen Streit unter Dichtern und Denkern?

Wer den Blick auch nur hundert Jahre in die Vergangenheit richtet und einige der zentralen Dispute unter Intellektuellen Revue passieren lässt, wird rasch erkennen, wie produktiv diese für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft waren. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg zoffen sich die Brüder Heinrich und Thomas Mann über die Rolle des Intellektuellen im Wilhelminischen Kaiserreich. Während der Weimarer Republik streitet Kurt Tucholsky gegen die Dunkelmänner der Reaktion. Nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in Deutschland bringen sich junge Intellektuelle wie Alfred Andersch gegen die alten Nazi-Barden in Position. Hans Magnus Enzensberger geißelt die Sprache von FAZ und Spiegel und befindet den »Neckermann«-Katalog für rezensionswürdig. Der junge Peter Handke wirft Ende der sechziger Jahre in einem genialen Selbstmarketingcoup seinen altvorderen Gruppe-47-Kollegen »Beschreibungsimpotenz« vor und geht in den Neunzigern mit der Haltung des Westens zu Serbien im Jugoslawienkrieg ins Gericht. Heinrich Böll wird mit seinen Interventionen gegen den vom Terrorismus der RAF herausgeforderten Staat zum Gewissen der Nation. Der US-amerikanische Literaturnobelpreisträger Saul Bellow drischt in den siebziger Jahren auf Günter Grass ein, weil dieser ihm die Beschönigung der sozialen Wirklichkeit in den USA vorwirft. Die Auszeichnung Ernst Jüngers mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt zieht den Hass einer denkfaulen Linken auf sich, die nicht lesen mag. Im Historikerstreit um Ernst Nolte einigt sich die Zunft auf die Singularität des Holocausts. Botho Strauss reflektiert im Anschwellenden Bocksgesang über Potenziale des Konservativen. Elfriede Jelinek legt Machtstrukturen patriarchalisch verfasster Gesellschaften frei und spürt der unaufgearbeiteten Nazi-Vergangenheit Österreichs nach. W. G. Sebald fragt, warum der Luftkrieg kein Echo in der deutschen Literatur fand. Martin Walser warnt in der Paulskirche vor der Instrumentalisierung des Holocausts und wehrt sich im Anschluss gegen die skandalöse Fehlinterpretation seiner Friedenspreisrede. Charlotte Roche ficht mit Alice Schwarzer über Schamgrenzen und Feminismus. Sibylle Lewitscharoff denkt in Dresden über unser ungetröstetes Sterben in der Moderne nach und gerät mit einigen en passant eingeflochtenen Nebenbemerkungen über künstliche Befruchtung in gefährliches Fahrwasser. Selbst noch aus den kalkulierten Attacken eines Maxim Biller gegen deutschsprachige Autoren mit Migrationshintergrund, die sich in seinen Augen willfährig dem Kulturbetrieb und seinem kulturellen Mainstream anpassten, statt sich von ihrer Biographie ihre Themen vorschreiben zu lassen, oder aus den politischen Amokläufen einer Karen Duve lässt sich viel über die Verfasstheit unserer schönen Bundesrepublik erfahren.

Aus zeitlichem Abstand erkennen wir die Bedeutung vieler historischer Ereignisse für unsere Gegenwart besser – sie springen uns regelrecht ins Auge, während vieles ins Konturlose verschwimmt, je näher es an uns heranrückt. Und vielleicht erkennen wir auch klarer die Relevanz und die Implikationen mancher von uns zunächst nur als üblichen Radau im Literaturzirkus eingestufter Kontroversen unter Autoren. Mitunter können die Rituale des Meinungsbetriebs ganz schön ermüden. Dieses permanente Durchröntgen aller Aussagen auf »Stoff«, das heißt aus Ungeschicklichkeit, Insensibilität oder Dummheit, oft auch aus einer Mischung aus allen dreien, politisch inkorrekt Formuliertem. Diese eingeübten Aufschreie. Diese Gebetsmühlen mit ihrem ewigen Leierton nach Rücknahme, Entschuldigung und Rücktritt. Diese schalen Empörungsroutinen. Dieses Insistieren auf Verbeugungen vor irgendwelchen Gesslerhüten der Saison.

SIE und ER empfinden diese abgepressten Lippenbekenntnisse, diese unerbittliche Sanktionierung jeder Abweichung vom gesellschaftlichen Konsens, und sei es nur um ein Iota, ganz schön zermürbend. So etwas löst in IHR und IHM regelrechten Ekel vor der Gegenwart aus. Ein Ekel, der durch Ärger bei der Arbeit, Verdruss am Frühstückstisch oder vielleicht auch einfach durch zu viel Blabla über Krankenversicherungen und Dosenpfand ausgelöst werden mag. Da wandert dann der Blick zum Bücherregal, und man denkt sich: Das kann’s doch nicht gewesen sein. Dafür sind wir doch nicht auf der Welt. Genau. Bloß: Wozu, bitte schön, sind wir denn eigentlich auf der Welt? Was macht ein Menschenleben aus? Wie lange soll es dauern? Welche Erfahrungen umfassen? An welchen Erlebnissen reifen? Durch welche Zäsuren geprägt sein?

Just darum dreht sich der erste Dichterstreit der Welt vor rund zweieinhalbtausend Jahren. Geführt haben ihn der Athener Dichter und Politiker Solon und sein Kollege Mimnermos aus Smyrna in Kleinasien, und schon damals kamen in der polemischen Rede und Gegenrede ihrer Gedichte alle Mittel aus der Trickkiste der Rhetorik zum Einsatz. Entzündet hatte sich ihr Streit an einer einfachen Frage: Welchen Wert hat das Leben, wenn der erste Glanz der Jugend verblasst und wir an sexueller Attraktivität einbüßen? Ist das Älterwerden des Menschen eine einzige Verfallsgeschichte? Eine unaufhaltbare Schussfahrt über eine Rutschbahn in den Tod? Oder gewinnen wir neben Erfahrung auch etwas durch unser Altern?

Cicero sagt, ein Narr sei, wer nur den Bächen nachläuft und darüber die Quellen aus den Augen verliert. Mit solchen Fragen gehen SIE und ER daher gern ad fontes, zu den Quellen, und das heißt zu den Anfängen des Nachdenkens des Menschen über sich selbst. An dieser Stelle können SIE und ER sich und ihren Lesern ein wenig Bildungsmühe nicht ersparen.

Antworten auf die sogenannten Letzten Fragen finden SIE und ER nicht unbedingt in den Heiligen Schriften, eher bei jenen ersten Denkern des Abendlands, für die sich der etwas unglückliche Begriff »Vorsokratiker« eingebürgert hat. So nennt man die griechischen Philosophen vor Sokrates, die etwa zwischen 650 und 400 vor unserer Zeitrechnung lebten und deren Werke nur in Form von Fragmenten und Zitatschnipseln bei jüngeren Autoren erhalten sind. In dieser Bezeichnung »Vorsokratiker« schwingt aber in den Ohren von IHR und IHM auch etwas leicht Herabstufendes mit, als handelte es sich bei diesen Denkern um eine bloße Vorgruppe der headliner der Philosophie. Dabei wird man in der gesamten Geistesgeschichte kaum auf radikalere Gedanken ohne jede Rücksicht auf unsere derzeit herrschende Moral oder irgendeinen sonstigen verbindlichen Wertekanon stoßen als bei den Vorsokratikern.

Die Antworten der Vorsokratiker sind oft alles andere als bequem. Es sind Antworten, die aus der Anfangszeit des Nachdenkens des Menschen über sich selbst stammen. Man kann sich, Friedrich Nietzsche hat es vorexerziert, an den Texten der Vorsokratiker regelrecht gesund lesen – oder über ihnen den Verstand verlieren. In jedem Fall lernt man aus ihnen wieder, über scheinbar Selbstverständliches wie Sonne und Mond, Wolken und Sterne, Regenbogen und Kometen, Blitz und Donner, Hagel und Schnee wie ein Kind zu staunen und ganz neu nachzudenken.

Eigentlich waren die Vorsokratiker eher Denker als Philosophen. Anaxagoras, Heraklit oder Demokrit passen in keine Kästchen, beschäftigen sich mit Medizin und Meteorologie genauso wie mit Astronomie, Poesie oder Politik. Man kann in ihren Texten Zaubersprüche finden und dann wieder über profunde Einsichten und echte Weisheiten stolpern. »Die Armut in der Demokratie ist dem so genannten Glück bei den Fürsten um soviel mehr vorzuziehen wie die Freiheit der Sklaverei«, schreibt etwa Demokrit. Derselbe Denker äußert dann aber auch Ansichten, die heute nicht nur unpopulär, sondern unakzeptabel erscheinen und viele bis zur Weißglut reizen werden. Darüber, dass das Schweigen der Schmuck der Frauen sei zum Beispiel. SIE und ER verbuchen so was achselzuckend unter Schwachsinn und lesen einfach weiter.

Das fällt schon weniger leicht, wenn Demokrit schreibt: »Es scheint mir nicht erforderlich, sich Kinder anzuschaffen«, um dies wie folgt zu begründen: »Denn ich sehe im Besitz von Kindern viele große Gefahren und viel Kummer, aber wenig Glückseligkeit, und auch diese ist nur gering und schwach.« Hier trennen sich die Wege von IHR und IHM. IHR erscheint ein Leben ohne Kinder gleichermaßen arm an Sinn wie arm an Freude. ER sieht in Demokrits Sätzen die wahre Emanzipation des Menschen vom Fortpflanzungsdiktat der Evolution. Außerdem klingen sie ihm angenehm in den Ohren in einer Zeit, in der die Obrigkeit einen durch Steuervergünstigungen ständig zur Fortpflanzung zum angeblichen Wohl von Rentenkassen, der Wirtschaft und des Staatswesens insgesamt motivieren möchte. Dabei hat selbst der Papst neuerdings eingesehen, dass sich Katholiken nicht wie Karnickel vermehren sollten. Gleichzeitig schwant IHM, dass SIE recht hat. Für solche unauflösbaren Gemengelagen des Denkens kann man die Vorsokratiker lieben und hassen zugleich. In jedem Fall wird man sich über sie ärgern. Aber man muss sie lesen.

Die Vorsokratiker sind ein verlässlicher Kompass, eine Art Polarstern am Firmament menschlichen Denkens. Für viele Themen sind sie die erste Quelle, einfach weil wir heutige Leser in ihren Texten Menschen beim Grübeln über Fragen verfolgen können, die uns jetzt noch just genauso unter den Nägeln brennen wie diesen Menschen vor rund zweieinhalbtausend Jahren: Fragen nach Gerechtigkeit und Sinn, nach dem richtigen Maß, nach Ursprung und Ziel unserer Existenz. Solon von Athen ist die wohl ungewöhnlichste Erscheinung unter diesen Pionieren abendländischen Denkens: Politiker und Dichter, eine Mischung aus Theodor Heuss, Jürgen Habermas und Helmut Schmidt auf der Schwelle vom sechsten zum fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Schon das klassische antike Griechenland hat Solon als visionären Verfassungsvater und Lyriker verehrt, rechnete ihn zu den Sieben Weisen und schrieb ihm die im Vorraum des Apollon-Tempels zu Delphi angebrachten Maximen »Erkenne dich selbst« und »Alles in Maßen« zu. Ein anderer Leitspruch Solons lautet: »Allen gefallen ist schwer, geht es um wichtige Tat«, was in den Ohren von IHR und IHM wie eine antike Vorwegnahme von Franz Josef Strauß’ berühmtem Diktum »Everybody’s darling is everody’s Arschloch« klingt. Solon ist Philosoph und Staatsmann, ja der große Versöhner seiner Vaterstadt Athen zu einer Zeit, als diese kurz vor dem Bürgerkrieg stand und in sich in unversöhnlichem Hass verzehrende Fraktionen zerfallen war. Solon verkörpert an sich Unvereinbares in seiner Person: Er war kühl kalkulierender Realpolitiker und zugleich Idealist, der in seinem politischen Handeln der Ethik eine entscheidende Rolle zusprach, gleichermaßen kühner Reformer wie sorgend bewahrender Konservativer.

Ein Mann wie Solon in Griechenland heute würde zum Helden und zur Leitfigur moderner kapitalismuskritischer Bewegungen taugen. Selbst die Guy-Fawkes-Maske des Occupy-Movements stünde Solon nicht schlecht. Denn viele der Probleme, mit denen er während seiner Lebenszeit rang, weisen verblüffende Ähnlichkeit mit denen unserer Gegenwart auf. Die große Konfliktlinie in Solons Athen verlief zwischen einer immer reicher werdenden Aristokratie, die wiederum in mehrere regionale Parteiungen zerfallen war, und einem von Schuldknechtschaft bedrohten Kleinbauerntum, welches das Gros der Bürgerschaft stellte. Diese kleinen Landpächter besaßen zwar das Athener Bürgerrecht, darüber hinaus aber wenig mehr; zudem ermöglichte ihnen das Subsistenzwirtschaftssystem und vielfache Handelsbeschränkungen auch innerhalb der Polis kaum die Erwirtschaftung des Lebensnotwendigsten.

Durch Missernten oder Krankheit gerieten diese Bauern über Jahre leicht in eine Armutsspirale, der sie durch Kredite bei den vermögenden Landbesitzern zu entkommen trachteten. Da sie diese Kredite aber nicht durch ihr unveräußerbares Land, sondern nur durch ihre eigenen Körper und die ihrer Familien absichern konnten, drohte ihnen bei Nichterfüllung ihrer Schuldnerpflicht der Verkauf mitsamt ihren Nachkommen in die Sklaverei. Genau dieses grausame Schicksal wiederholte sich zu Lebzeiten Solons massenhaft und führte zu sozialen Unruhen, wie sie Athen noch nie erlebt hatte. Nach seiner Amtszeit als Archon, also im höchsten Athener Staatsamt, zum Schlichter berufen, reagiert Solon auf diese Missstände überaus zeitgenössisch: Er propagiert und praktiziert einen radikalen Schuldenschnitt, die bis heute in Griechenland unvergessene und sprichwörtliche seisachtheia oder »Schuldenabschüttlung«. Solon lässt alle Schulden der Kleinbauern streichen, die bereits in die Sklaverei verkauften Athener auslösen und die aus Angst vor der drohenden Schuldknechtschaft Geflohenen aus der Diaspora zurückholen. Ob er tatsächlich der »erste Streiter für das Volk« war, wie Aristoteles ihn Jahrhunderte später in seiner Athenaion Politeia charakterisiert, muss allerdings fraglich bleiben.

Zwar verbot Solon die Schuldknechtschaft und bannte damit das Schreckgespenst vieler armer Athener, als rechtlose Sklaven zu enden. Auch stärkte er den Handel und erklärte das Olivenöl zum einzig legalen Exportgut Athens, das sich damals kaum selbst ernähren konnte. Er ermutigte den Handwerkerstand und die Ansiedlung von Händlern aus anderen Städten, denen, sofern sie sich mit ihren Familien niederließen, das Bürgerrecht in Aussicht gestellt wurde. Und er vereinheitlichte Maß- und Gewichtseinheiten. Einer echten Bodenreform mit gleicher Landverteilung unter allen Athener Bürgern erteilte Solon jedoch genauso eine Absage wie allen weitergehenden Forderungen nach einer gerechteren Verteilung der Lasten und Pflichten im athenischen Stadtstaat.

Dennoch gelang es ihm durch seine Reformen, den Riss in der in wenige Reiche und zahllose in niemals rückzahlbare Schulden versunkene Arme gespaltene Athener Gesellschaft zu kitten und ihr die Vorform einer Verfassung zu geben. Schon in der Antike wähnten sich die Athener späterer Jahrhunderte noch unter den Solon’schen Gesetzen lebend, obwohl der konkrete Inhalt dieses Regelwerks rasch in Vergessenheit geriet und kaum hundert Jahre nach Solons Tod teilweise aufgehoben, mindestens jedoch vielfach abgeändert und ergänzt worden war. Doch nicht wenige selbst unter den heutigen Griechen sehen Solon noch als den Vater »ihrer« Verfassung. Obwohl selbst der Schicht der Aristokratie entstammend, den sogenannten »Fünfhundertschefflern«, die als Einzige Zugang zum prestigeträchtigsten Amt des Archonten hatten, warnt Solon in seinen zur Gedankenlyrik neigenden Gedichten gleichermaßen vor der Anhäufung von Macht und Kapital. Dabei war Solon weniger ein Verächter des Reichtums, als der er immer wieder dargestellt wird, als vielmehr ein scharfsinniger Analytiker von Wirtschaftssystemen und ein hellsichtiger Visionär dessen, was ungezügelte Geldströme und ungerechte Kapitalanhäufungen in einer Gesellschaft alles anrichten können. Dies kommt auch in Solons Gedichten zum Ausdruck, die sich teilweise erstaunlich modern lesen:

 

Viele Böse sind reich, viele Gute arm:

Wir tauschen unsere Reife nicht gegen ihren Reichtum.

Reife kann uns niemand nehmen,

Geld aber wechselt jeden Tag den Besitzer.

 

πολλοὶ γὰρ πλουτοῦσι κακοί, ἀγαθοὶ δὲ πένονται·

ἀλλ’ ἡμεῖς αὐτοῖσ’ οὐ διαμειψόμεθα

τῆς ἀρετῆς τὸν πλοῦτον, ἐπεὶ τὸ μὲν ἔμπεδον αἰεί,

χρήματα δ’ ἀνθρώπων ἄλλοτε ἄλλος ἔχει.

Der entscheidende Begriff in diesem Gedicht Solons lautet ἀρετῆ, arete. Wie »Heimat« oder »Gemütlichkeit« im Deutschen oder mind im Englischen, zählt arete im Altgriechischen zu jenen Wörtern, die sich nur schwer und sehr unpräzise in eine andere Sprache übersetzen lassen. Dabei ist arete eine der zentralen Kategorien im Denken des antiken Griechenlands. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die alten Griechen regelrecht besessen davon waren. Nur droht der Begriff im heiklen Prozess der Übersetzung doch immer wieder zu entgleiten wie ein glitschiger Fisch, der im letzten Moment dem Kescher entkommt. Ganze Generationen von Philosophieprofessoren und Übersetzern haben sich an der harten Nuss die Zähne ausgebissen.

Landläufig wird arete mit »Güte«, »Trefflichkeit«, »Tugend«, »Wert« oder auch »Tauglichkeit« wiedergegeben, mitunter heute auch mit »Optimum« oder »Qualität«. Weil es aber in der Tat einer der wichtigsten Begriffe in der griechischen Philosophie ist, ein Begriff, der immer verschwommener und unschärfer wird, je mehr man ihm sich nähert, tut man gut daran, seine Etymologie zu betrachten. Wenn Solon in seinem Gedicht von den κακοί spricht, dann schwingt in seiner Unterscheidung zwischen Gut und Böse das bis auf den heutigen Tag in unserer Kindersprache überlebende »kaka« mit – schlecht, böse – und sein Gegenteil gut, griechisch agathón.

Der Superlativ von agathón lautet ariston, aus dessen Wurzel ar- sich nicht nur die uns wohlbekannte Aristokratie herleitet, die Herrschaft der Besten, sondern auch jener rätselhafte Begriff arete, der den Gelehrten über die Jahrhunderte hinweg so viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Aristokraten sind Menschen im Besitz von arete. Der große Gräzist und Homer-Übersetzer Wolfgang Schadewaldt schlug für arete das gewöhnungsbedürftige Wort »Bestheit« vor. SIE und ER möchten arete lieber mit »Reife« übersetzen. Arete, ἀρετῆ, hat allerdings noch einen sprachlichen Zwilling im Altgriechischen, ἀκμή, die akme. Auch akme wird oft mit »Reife« übersetzt, bedeutet aber eigentlich eher »Höhepunkt« oder »Blüte«.

Die Griechen des Altertums waren der Überzeugung, alles unter der Sonne, ob Mensch oder Maus, strebe nach arete und weise in diesem Bemühen eine akme auf. Akme ist ein Moment der Blüte und des Optimums. Ein Höhepunkt der Entwicklung aller Anlagen. Eine Phase der größten Entfaltung aller innewohnenden Potenziale. Eine Phase der idealen Ausgebildetheit aller in einem Lebewesen angelegten Möglichkeiten.

Ursprünglich haben SIE und ER mit diesen Konzepten von akme und arete ein wenig gefremdelt. Dann aber dachten sie an Beispiele aus dem Sport und der Musik, an Schauspieler und Autoren, und schon begannen die Begriffe vertraute Konturen anzunehmen. Aretha Franklin trägt ihre arete schon im Vornamen. Frank Zappa und Prince, Billie Holiday und Vladimir Horowitz, Pelé und Beckenbauer, Maria Callas und Elisabeth Schwarzkopf, Paul Klee und Max Ernst, Heinz Erhardt und Theo Lingen, Laurel und Hardy und die Monty Pythons, Tina Turner und Lady Gaga, Katharine Hepburn und Peter O’Toole, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald, Loriot und Otto, Elvis Presley, die Beatles und die Rolling Stones: Sie alle erlangten im Lauf ihrer Karrieren zweifellos eine akme, einen höchsten Reifegrad.

Wann genau die zu datieren ist, darüber mögen sich die Fans streiten. Im Denken der antiken Griechen erlangte man seine ἀκμή etwa mit vierzig. Fragen wir Heutigen, wenn wir von einer uns unbekannten Künstlerin oder einem uns unbekannten Musiker hören, als Erstes nach dem Was, also was sie geschaffen oder was er komponiert hat, wodurch sie sich auszeichnet oder unterscheidet, so wäre die erste Frage eines antiken Griechen die nach dem Wann dieser Künstlerin oder Musiker gewesen, also wann ihre akme gewesen ist, wann seine Schaffenskraft ihren Höhepunkt erreicht hat. Antike Historiker operieren denn auch ganz selbstverständlich mit diesem Konzept von akme und datieren diese unterstellte Blüte eines Menschenlebens rund um das vierzigste Lebensjahr. Dieser Sprachgebrauch hat sich in der Fachsprache der Historiker über das Lateinische, wo die akme in der Formulierung floruit (wörtlich: Sie oder er blühte) zur Markierung des vierten Lebensjahrzehnts nachwirkt, bis heute lebendig gehalten.

Man kann gar nicht überschätzen, welche alltagsprägende Rolle dieses Konzept der arete und akme für das Leben der antiken Griechen spielte. Insbesondere die Führungsschicht der »guten Menschen«, der αρισäοι, widmete einen Großteil ihres Lebens der Erlangung von arete, der Ausbildung einer akme. In archaischer Zeit bezog sich arete dabei stark auf die Kraft und Tapferkeit eines Mannes. Doch war der Begriff schon in Homers Welt beiden Geschlechtern eigen. Die arete einer Frau wie Penelope liegt in der Entfaltung aller ihrer intellektuellen Möglichkeiten, der Ausschöpfung ihres gesamten menschlichen Potenzials bis hin zu List und Verschlagenheit, um sich der zudringlichen Freier bis zur Heimkehr des Odysseus zu erwehren.

Arete besitzt ein Mensch dann, wenn er von allen seinen Talenten und erworbenen Fertigkeiten bestmöglichen Gebrauch macht. Natürlich personalisierten die mythengläubigen Griechen arete auch als Gestalt der Götterwelt. In einer Erzählung des Prodicus aus dem 5. Jahrhundert vor Christus erscheinen dem jungen Herakles Arete zusammen mit ihrer Gegenspielerin Kakia an einer Weggabelung in Gestalt zweier Jungfrauen. Während Arete Herakles ein Leben der Mühsal und des Kampfs gegen das Böse in Aussicht stellt, bietet ihm Kakia ein Leben voll Reichtum und Vergnügen. Man ahnt, wie die Sache ausgeht – selbstverständlich entscheidet sich der Superheld für den Weg der Arete.

Bereits in der Antike versuchte eine Philosophenschule, die Sophisten, unter denen man sich vielleicht eher eine Art personal coaches vorstellen muss, mit dem arete-Begriff Kasse zu machen. Die Sophisten behaupteten, bei ihnen könne man arete lernen. Tatsächlich verstanden sie darunter im Grunde die Ausbildung zum Redner, sie brachten ihren Schülern Logik, Aufbau und Gliederung von Argumenten und Schlüssen nahe und unterwiesen sie in Tipps und Tricks der Rhetorik. Dieser Anspruch der Sophisten, dass man arete nicht nur ausbilden, sondern lernen konnte, stieß aber schon im klassischen Athen auf heftigen Widerspruch. Die Gegner der Sophisten argumentierten mit erfolglosen Absolventen der Sophistenschulen und verwiesen auf die häufig talentlosen Söhne für ihre arete berühmter Männer.

Solon hat aus dem bislang eher vom Individuum her gedachten Begriff der arete eine Bürgertugend gemacht. Solon ist der Mann der Partizipation. Nur wenn jeder einzelne Bürger mitwirkt an »unserer Polis« – so der von Solon geprägte Neologismus, der schon klarmacht, dass der Stadtstaat eben nicht nur für die Reichen und Mächtigen da ist – und sich nach besten Kräften einbringt, wird das Staatsschiff den richtigen Kurs steuern. Und so, wie der Einzelne nur durch die stetige Entfaltung aller seiner Anlagen zur Reife gelangen kann, vermag auch die Polis nur das Optimum der in ihr angelegten Möglichkeiten zu realisieren, indem sie alle ihre Bürger zu Partizipation und Engagement aktiviert. Mitwirkung ist denn auch das Schlüsselwort für Solons politisches Ideal, das so weit geht, dass er Bürgern, die in einer politisch kritischen Frage unentschieden oder haltungslos bleiben wollen, die drastische Strafe des Verlusts ihrer Bürgerrechte androht, sollten sie sich nicht für die eine oder andere Partei entscheiden.

Solon denkt dieses politische arete-Konzept noch einen ganz entscheidenden Schritt weiter und reflektiert in seinen Gedichten auch, was passiert, wenn individuelles Streben nach Vervollkommnung der Gesellschaft zum Nachteil ausschlägt. Die größten Gefahren sieht er in der unablässigen Akkumulation von Macht und Kapital in den Händen einiger weniger. In einer seiner Elegien warnt er vor einem Unwetter, das er am historischen Horizont der Polis Athen aufziehen sieht:

 

Die Kraft von Schnee und Hagel entstammen einer Wolke,

und Donner grollt aus grellem Blitz.

Eine Stadt wird durch Männer zerstört, die zu groß werden,

das einfache Volk beugt sich aus Unwissenheit unters Joch des Despoten.

Wer sich zu weit vom Land entfernt, dem fällt die Rückkehr in den Hafen schwer.

All dies sollte bedacht sein, ehe es zu spät ist.

 

ἐκ νεφέλης πέλεται χιόνος µένος ἠδὲ χαλάζης,

βροντὴ δ᾽ ἐκ λαμπρῆς γίγνεται ἀστεροπῆς.

ἀνδρῶν δ᾽ ἐκ μεγάλων πόλις ὄλλυται, εἰς δὲ μονάρχου

δῆμος ἀϊδρείῃ δουλοσύνην ἔπεσεν.

λίην δ᾽ ἐξάραντ᾽ οὐ ῥᾴδιόν ἐστι κατασχεῖν

ὕστερον, ἀλλ᾽ ἤδη χρὴ τάδε πάντα νοεῖν.

Gier, so Solons Botschaft, ist der Todfeind eines harmonischen, das heißt für alle erträglichen und einvernehmlichen Lebens im Stadtstaat. In der Gier nach Macht und der Gier nach Geld sieht Solon gleichermaßen große Gefahren, eine potenziell explosive Störung des sozialen Gleichgewichts. Er weiß, wovon er redet: Denn genau eine solche Zeit der durch Gier ausgelösten bürgerkriegsartigen Wirren liegt ja hinter ihm. Sein Ideal: die eunomia, die »Wohlgesetzlichkeit«. Sein Reformwerk, von den Reichen und Mächtigen seiner Zeit vermutlich aus Angst vor einem drohenden Umsturz und vor noch radikaleren Forderungen nach einer isomoina – einer gleichberechtigten Verteilung sämtlicher Ackerbaufläche unter allen Bürgern Athens – unterstützt, sollte ein erster Schritt dazu sein. Doch realisieren kann Solon dieses Ideal eines von eunomia