Zum Autor

Wilhelm Schmid, geboren 1953 in Billenhausen (Bayerisch-Schwaben), lebt als freier Philosoph in Berlin und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger Professor an der Universität Erfurt. Zahlreiche Buchpublikationen.
www.lebenskunstphilosophie.de

Zur Illustratorin

Caroline List, geboren 1979 in Marburg, ist Illustratorin und freie Künstlerin. Sie lebt und arbeitet in Edinburgh und wurde 2011 mit der Goldmedaille der Association of Illustrators in London ausgezeichnet.
www.collagecomposer.com

Wilhelm Schmid

Vom Nutzen der Feindschaft

Mit Illustrationen von Caroline List

Insel Verlag

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eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe der Insel-Bücherei 2509.

© Insel Verlag Berlin 2015

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Umschlaggestaltung: Caroline List

eISBN 978-3-458-74360-6

www.suhrkamp.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1. Von der Bewahrung der Feindschaft: Was Feinde nützen können

2. Von der Notwendigkeit der Feindschaft: Bedürfen Menschen des Bösen?

3. Von den Freuden der Bosheit: Die Kunst, sich Feinde zu machen

4. Von der Sinnlosigkeit, siegen zu wollen

5. Von der Kunst, das Weite zu suchen

Textnachweis

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Vorwort

Die meisten Menschen mögen sie nicht, aber nicht immer ist sie zu verhindern: Feindschaft ist kein populäres Thema, und doch hat jede und jeder irgendwann damit zu tun. Aus Freundschaft kann Feindschaft werden. Ausgerechnet dort, wo Kollegialität erwünscht und sinnvoll wäre, ist plötzlich Feindschaft da und niemand weiß, woher und warum. Selbst die besten Familien sind nicht davor gefeit, und auch ehemals Liebende werden davon befallen wie von einem Virus, gegen den kein Remedium etwas auszurichten scheint.

Muss es Feindschaft geben? Die Frage ist müßig: Es gibt sie, alle Anfeindungen gegen sie bekräftigen nur ihre Existenz. Auch wenn ein Mensch sich selbst davor bewahren kann, einer Versuchung zur Feindschaft nachzugeben, kann doch niemand nach Belieben Andere daran hindern. Warum hält sich das Phänomen der Feindschaft so hartnäckig? Ist es ein Element der Gegensatzstruktur des Lebens? Die Welt kann nicht nur aus Freunden bestehen, selbstverständlich, aber kann auch Feinden irgendwelche Bedeutung zukommen?

Davon soll in diesem Buch die Rede sein. Womöglich ist auch Feinden etwas zu verdanken. Nicht auszuschließen, dass auch einer Feindschaft Sinn abzugewinnen ist. Erfreuliche Folgeerscheinungen lassen sich am eigenen Selbst beobachten: Anfeindungen durch Andere verhelfen zu einer größeren Wertschätzung anderer Arten von Beziehung. Angenehme Erfahrungen von Verständnis, Freundschaft und Liebe treten durch unangenehme Erfahrungen von Ärger, Zorn und manchmal Hass stärker hervor. Eine Feindschaft sorgt außerdem für Kontinuität im Leben, vielleicht sogar mehr als andere Beziehungen, und sie stellt einen Fixpunkt dar, der Halt und Orientierung bietet. Nicht zuletzt spornen Feinde zu großen Dingen an, die ansonsten wohl eher schwerfallen würden: Jedem ist schon mal der heimliche Schwur in den Sinn gekommen, »es denen zu zeigen«.

Wenn Feindschaft solche Bedeutung haben kann, sollte sie nicht einfach abgetan werden. Vielmehr würde sie es verdienen, besser ins Leben integriert zu werden. Das ist freilich keine Kleinigkeit, sondern eine große Herausforderung für jede Art von Lebenskunst, denn einiges steht auf dem Spiel: Es handelt sich bei einer Feindschaft nicht nur um eine simple Antipathie oder einen Mangel an Sympathie, auch nicht nur um eine sportliche Gegnerschaft. Der Feind beabsichtigt vielmehr, sein Gegenüber empfindlich zu treffen, und es ist noch ein Glück, wenn es sich nicht um eine Todfeindschaft handelt, die darauf abzielen würde, den Betroffenen zu vernichten, sei es psychisch oder sozial oder sogar physisch.

So gravierend können die Folgen sein, dass sich die Erfindungskraft von Menschen im Laufe der Geschichte nicht mehr nur auf immer gemeinere Methoden zur Vertiefung von Feindschaft richtete, sondern auch auf weitaus anspruchsvollere Möglichkeiten zu ihrer Überwindung. Die Liebe zu Feinden sollte dazu verhelfen, endlose Spiralen der Vergeltung zu beenden und von jeglicher Rache und Gewaltanwendung abzulassen, auch wenn noch so viele Gründe dafür sprechen sollten. Einem unversöhnlichen Hass gesteht die Feindesliebe keinen Raum mehr zu, einen Ausschluss des Feindes aus dem Kreis der Menschen will sie nicht mehr zulassen und streckt die Hand zur Versöhnung aus, ohne jede Vorbedingung, allein im Vertrauen darauf, dass die Liebe stärker ist als aller Hass. Mit der Liebe zu Feinden geht ein Mensch in Vorleistung, ohne dies von einer Gegenleistung abhängig zu machen, und das verändert jedes feindschaftliche Verhältnis, jedenfalls der Theorie nach.

Im westlichen Kulturkreis handelte es sich bei der Feindesliebe ursprünglich um eine Idee der christlichen Kultur, die von der weltlichen Bewegung des Humanismus übernommen wurde. Aus christlicher Sicht ist die Feindesliebe eigentlich nichts Besonderes: Der Feind ist einfach nur ein Sonderfall des Nächsten, der unter das Gebot der Nächstenliebe fällt, ein weiteres Geschöpf Gottes, dem Liebe zukommt. Es mag sich um einen widerwärtigen Typ handeln, als Mensch ist er jedoch, wie jeder Mensch, ein Kind Gottes. Theologisch wird der Feind als solcher gleichsam ignoriert, er wird lediglich aus der Universalität der Nächstenliebe nicht ausgeschlossen, so erklärte dies einst der Kirchenlehrer Thomas von Aquin.

Vorausgesetzt, dass ein Mensch dazu fähig ist, diese Idee in die Praxis umzusetzen. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass dies nicht allen gelingt. Die Feindesliebe steht nicht umstandslos zu Gebote, sie resultiert erst aus der langwierigen Auseinandersetzung eines Menschen mit sich selbst, der in sich selbst außer hellen, erfreulichen, auch dunkle, bedenkliche Seiten entdeckt, die unter ungünstigen Umständen selbst den Schöngeist noch zum Gewalttäter machen können, wie die endlos lange und nicht enden wollende Kriminalgeschichte zeigt. Die Selbstklärung macht verständlich und verzeihlich, dass dunkle Seiten ebenso in Anderen zu finden sind, ohne dass damit ein Verzicht auf die Verantwortung des jeweiligen Menschen für sich selbst begründet werden soll, denn wer sonst sollte diese Verantwortung übernehmen? In Abwandlung des christlichen Liebesgebots, den Nächsten ebenso zu lieben wie sich selbst, könnte die Forderung also lauten: Liebe den äußeren Feind wie deinen inneren.

Die Voraussetzung für die erforderliche Selbstliebe ist jedoch, dass ein Mensch ein Interesse daran hat, mit sich und seinem Leben besser zurechtzukommen. Ansonsten bleibt die Versuchung groß, sich von inneren Auseinandersetzungen dadurch zu befreien, dass die Rolle des inneren Feindes äußeren Anderen zugewiesen wird, die dann heldenhaft bekämpft werden, ohne dass sie etwas von den wahren Gründen für diesen Kampf ahnen könnten. Jedem Hass auf Feinde geht ein Selbsthass voraus. Wer sich der Anstrengung zur inneren Befriedung entzieht, läuft daher Gefahr, den äußeren Feind wie den inneren zu hassen.

Und doch kann auch das noch nicht alles sein: Ein ungeklärtes Problem des christlichen Liebesgebots und seiner Übernahme durch die humanistische Philanthropie war immer schon die Frage, ob Menschen denn beim besten Willen dazu in der Lage sind, ihre Mitmenschen unentwegt zu lieben. Wird es nicht vielmehr zur unerträglichen Belastung für sie, immerzu lieben zu sollen, auch noch im Falle von Feindschaft, um schließlich unter der Last unterdrückter Schuldgefühle zusammenzubrechen, wenn es nicht gelingen sollte? Das größte Hindernis auf dem angeblich einzig richtigen Weg, Feindesliebe zu verwirklichen, bestand immer schon darin, dass viele sie propagieren, nur wenige sie aber wirklich praktizieren können.

Daher hier der Vorschlag zu einem anderen Weg, der dem Bedürfnis nach Abwendung und Abneigung, nach Gleichgültigkeit und Hass Rechnung trägt, dem Menschen offenkundig nicht so ohne Weiteres entkommen können. Mit der anderen Feindesliebe wird eine Art der Zuwendung und Zuneigung möglich, die im alltäglichen Leben realisierbar ist, ohne hohen moralischen Ansprüchen genügen zu müssen. Die erste Option der Feindesliebe ist und bleibt die Überwindung von Feindschaft mit Mitteln der Liebe und unter Einsatz des eigenen Selbst. Bei der zweiten Option bindet sich ein Mensch ebenfalls an den Wert der Feindesliebe, aber auf eine Weise, bei der sie ergänzend zu ihrer herkömmlichen Bedeutung noch eine weitere Bedeutung hinzugewinnt: Anstelle der Überwindung die Bewahrung von Feindschaft, mit dem Vorsatz, dieses Verhältnis für alle Beteiligten verträglich zu gestalten, und mit der Hoffnung, damit wirkungsvoller als bisher einen überbordenden Hass eindämmen zu können.

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1.
Von der Bewahrung der Feindschaft: Was Feinde nützen können

Schon Thomas von Aquin zog diese zweite Option im 13. Jahrhundert in Betracht, hielt es jedoch für »pervers«, Feinde nicht als Nächste, sondern als Feinde zu lieben und somit das Böse, das er ihnen schlicht unterstellte, nicht mehr überwinden zu wollen (Summa theologiaeKultur der Feindschaft