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Der Neoliberalismus bestimmt spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges alle Gesellschaften der westlichen Welt. Aber was ist Neoliberalismus? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown zeigt in ihrem scharfsinnigen Buch, dass Neoliberalismus mehr ist als eine Wirtschaftspolitik, eine Ideologie oder eine Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft. Vielmehr handelt es sich um eine Neuordnung des gesamten Denkens, die alle Bereiche des Lebens einem ökonomischen Bild entsprechend verändert – mit fatalen Folgen für die Demokratie.

 Alle Sphären der Existenz werden im Neoliberalismus wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterworfen und entsprechend vermessen: die Politik, das Recht, die Kultur, die Bildung, die Familie, die Geschlechterrollen. Das alte europäische Ideal des homo politicus, der sich für das Gemeinwesen engagiert, wird ersetzt durch das des homo oeconomicus, der sich als Humankapital verstehen und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern soll. Damit wird das Volk als Zusammenschluss der Bürgerinnen und Bürger und Grundlage der Demokratie abgeschafft und in der Konsequenz sie selbst. Trotz aller Wirtschafts- und Finanzkrisen setzt sich diese schleichende neoliberale Aushöhlung unserer Gesellschaften scheinbar unaufhaltsam fort, wie Brown an einer Reihe von Fallbeispielen, etwa der neoliberalen Umstellung des Rechts oder des Bildungssystems, zeigt. Ist die Demokratie überhaupt noch zu retten? Ein radikales, ein aufwühlendes Buch.

 Wendy Brown, geboren 1955, ist Professor of Political Science an der University of California in Berkeley und eine der streitbarsten öffentlichen Intellektuellen der USA. Ihre Werke sind in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

 

 

Wendy Brown

Die schleichende Revolution

Wie der Neoliberalismus
die Demokratie zerstört

Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Undoing the Demos: Neoliberalism's Stealth Revolution bei ZONE BOOKS

 

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2015

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© 2015 Wendy Brown

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-74188-7

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört

 

 

Neoliberale Vernunft und politisches Leben

 

I Die Zerstörung der Demokratie: Die neoliberale Erneuerung von Staat und Subjekt

 

II Foucaults Vorlesungen zur Geburt der Biopolitik: Die Vermessung der neoliberalen politischen Rationalität

 

III Foucault revidieren: Homo politicus und Homo oeconomicus

 

 

Die Ausbreitung der neoliberalen Vernunft

 

IV Politische Rationalität und Governance

 

V Gesetzgebung und gesetzgeberische Vernunft

 

VI Die Ausbildung des Humankapitals

 

Nachwort: Der Verlust der nackten Demokratie und die Umkehrung von Freiheit in Aufopferung

 

Anmerkungen

 

Register

Vorwort:
Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört

In einem Jahrhundert reich an politischen Ironien war vielleicht keine größer als diese: Am Ende des Kalten Krieges, als der Mainstream der Experten den globalen Triumph der Demokratie bejubelte, wurde in der euroatlantischen Welt eine neue Form der staatlichen Vernunft entfesselt, die die begriffliche Auflösung und substantielle Aushöhlung der Demokratie eröffnen sollte. Innerhalb von dreißig Jahren sollte die Demokratie ausgemergelt und zu einem Gespenst werden, während ihre Zukunft immer schwieriger und unwahrscheinlicher erschien.

Über die bloße Imprägnierung der Bedeutung oder des Inhalts von Demokratie mit Marktwerten hinaus greift der Neoliberalismus die Prinzipien, Praktiken, Kulturen, Subjekte und Institutionen der Demokratie im Sinne der Herrschaft durch das Volk an. Und über das bloße Wegschneiden des Fleisches der liberalen Demokratie hinaus ätzt der Neoliberalismus auch noch die radikaleren Ausdrucksformen der Demokratie weg, jene, die sich hie und da in der gesamten euroatlantischen Moderne Geltung verschaffen und mit robusteren Auffassungen von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft des Volkes für ihre Zukunft kämpfen, als es die liberale Ausgestaltung der Demokratie zu tun vermag.

Die Behauptung, daß der Neoliberalismus für das Wesen und die Zukunft der Demokratie in jeglicher Form grundlegend zerstörerisch ist, beruht auf einem Verständnis des Neoliberalismus, das ihn als etwas anderes als eine Menge wirtschaftspolitischer Verfahren, eine Ideologie oder eine Umgestaltung der Beziehung zwischen Staat und Wirtschaft versteht. In dem Maße, wie sich eine normative Ordnung der Vernunft über drei Jahrzehnte hinweg zu einer weit und tief verbreiteten Regierungsrationalität entwickelte, verwandelt der Neoliberalismus jeden Bereich und jedes Unterfangen des Menschen gemeinsam mit den Menschen selbst gemäß einem bestimmten Bild des Ökonomischen. Jedes Verhalten ist ökonomisches Verhalten; alle Bereiche des Lebens werden in ökonomischen Begriffen und Metriken erfaßt und gemessen, auch wenn diese Bereiche nicht direkt monetarisiert werden. Innerhalb der neoliberalen Vernunft und in den Bereichen, die von ihr beherrscht werden, sind wir bloß noch und überall Exemplare des Homo oeconomicus, der selbst eine historisch spezifische Form hat. Weit entfernt von Adam Smith' Geschöpf, das von dem natürlichen Drang, zu »handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen« angetrieben wird, ist der heutige Homo oeconomicus ein sorgfältig konstruiertes und geregeltes Stück Humankapital, das die Aufgabe hat, seine Position im Wettbewerb zu verbessern und wirksam einzusetzen sowie seinen (monetären und nichtmonetären) Bestandswert über all seine Bemühungen und Schauplätze hinweg zu fördern. Das sind zugleich auch die Aufträge und daher die Orientierungen, die den Projekten von neoliberalen Staaten, Großkonzernen, Kleinunternehmen, gemeinnützigen Gesellschaften, Schulen, Beratungsdiensten, Museen, Ländern, Gelehrten, Künstlern, öffentlichen Trägern, Studenten, Websites, Athleten, Sportteams, Magisterstudiengängen, Gesundheitsdienstleistern, Banken und globalen Rechts- und Finanzinstitutionen Kontur geben.

Was geschieht, wenn die Grundsätze und Prinzipien der Demokratie durch diese Ordnung der Vernunft und Governance neu gestaltet werden? Wenn die Verpflichtung zur individuellen und kollektiven Selbstbestimmung und die Institutionen, die diese Selbstherrschaft unterstützen, überwältigt und dann durch das Loblied auf die Förderung des Kapitalwerts, auf Positionierung im Wettbewerb und Bonitätseinstufungen verdrängt werden? Was geschieht, wenn die Praktiken und Prinzipien von freier Rede, Deliberation, Recht, Volkssouveränität, Partizipation, Bildung, öffentlichen Gütern und geteilter Macht, die aus der Herrschaft durch das Volk folgen, der Ökonomisierung unterzogen werden? Das sind die Fragen, die dieses Buch motivieren.

Wenn man diese Fragen stellt, zieht man bereits die weitverbreitete Vorstellung in Zweifel, daß die Demokratie eine dauerhafte Errungenschaft des Westens ist und daher nicht verlorengehen kann; daß sie nur aus Rechten, bürgerlichen Freiheiten und Wahlen besteht; daß sie durch Verfassungen in Kombination mit ungestörten Märkten gesichert wird; oder daß sie sich auf ein politisches System zurückführen läßt, das die Freiheit des einzelnen in einem Umfeld von staatlich garantierter Ordnung und Sicherheit maximiert. Diese Fragen ziehen auch die westlich-liberale, demokratische Einbildung in Zweifel, daß Menschen ein natürliches und beständiges Begehren nach Demokratie haben. Statt dessen nehmen sie an, daß die demokratische Selbstbestimmung von einem Volk, das versucht, sie zu praktizieren, bewußt wertgeschätzt, gepflegt und gehegt werden muß und daß sie mit Wachsamkeit unzähligen ökonomischen, sozialen und politischen Kräften widerstehen muß, die sie zu deformieren oder zu beinträchtigen drohen. Sie nehmen die Notwendigkeit der Bildung der vielen für die Demokratie an, eine Aufgabe, die in dem Maße wächst, wie die Machtverhältnisse und zu bewältigenden Probleme an Komplexität zunehmen. Schließlich setzen diese Fragen voraus, daß das Versprechen gemeinsamer Herrschaft durch das Volk die Sache wert ist, daß diese Herrschaft sowohl ein Zweck an sich als auch ein potentielles, aber unsicheres Mittel für andere mögliche Güter ist, die vom Gedeihen der Menschen bis zur Nachhaltigkeit unseres Planeten reichen. Auch wenn sie kaum der einzige hervorstechende politische Wert und auch nicht gegen düstere Entwicklungsbahnen abgesichert ist, kann doch die Demokratie für eine lebensfähige Zukunft entscheidender sein, als in Programmen der Linken anerkannt wird, die sich auf Global Governance, Herrschaft durch Experten, Menschenrechte, Anarchismus oder undemokratische Varianten des Kommunismus konzentrieren.

Keine dieser anfechtbaren Annahmen hat eine göttliche, natürliche oder philosophische Grundlage, und keine kann durch abstrakte Überlegungen oder empirische Belege begründet werden. Vielmehr handelt es sich um Überzeugungen, die durch ein Gefühl der Verbundenheit, die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte und der Gegenwart sowie durch Argumente motiviert werden und sonst nichts.

 

Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört wurde in vielen Hinsichten von Kollegen, Studenten, Forschungsassistenten, geliebten Personen und Fremden ermöglicht, von denen ich hier nur wenige namentlich erwähnen kann. Antonio Vasquez-Arroyo stachelte mich vor Jahren dazu an, den Neoliberalismus genauer zu bestimmen, und beharrte in jüngerer Vergangenheit darauf, daß ich dieses Buch schreiben solle anstatt das über Marx, das noch unvollendet ist. Viele der Ideen in diesem Buch stammen von Michel Feher; mit anderen stimmt er zwar nicht überein, sie wurden durch seine Kritik und Lesevorschläge jedoch sehr verbessert. Robert Meister und Michael MacDonald waren für mich unschätzbare Quellen und Gesprächspartner zum Thema des Neoliberalismus. Das Projekt »Den Kapitalismus neu durchdenken« der Bruce-Initiative, die von Meister geleitet wurde, war für mein Denken ebenfalls fruchtbar.

Die Ideen dieses Buches wurden jedes Mal verbessert, wenn ich sie dem Tageslicht aussetzen mußte, und ich bin Gastgebern und Zuhörern an den vielen Orten zu Dank verpflichtet, an denen diese Aussetzung stattfand. Julia Elyachar gab mir einen ausgezeichneten Kommentar zu dem Aufsatz, der mein ursprünglicher Vorstoß in dieses Vorhaben war. Steve Shiffrin reagierte auf eine Fassung von Kapitel 5 großzügig mit einem Bündel hervorragender Kritiken und Literaturhinweise. Außerdem bin ich Studenten in zwei Kursen dankbar, in denen ich einige der Argumente im Keim entwickelte, zuerst anläßlich des Birkbeck-Ferienkurses zur Kritischen Theorie und dann in einem zauberhaften Hauptseminar, das 2012 in Berkeley stattfand und wo wir vierzehn üppige Wochen lang Marx und Foucault lasen. Verschiedene Kapitelentwürfe wurden außerdem intensiv von Teilnehmern eines Workshops diskutiert, der von Mark Devenny an der Universität Brighton veranstaltet wurde.

Das Buch profitierte ungemein von einem kleinen Aufgebot an Forschungsassistenten und anderen, die sich mit ihrer Arbeit beteiligten. Schon in einem frühen Stadium machte Jack Jackson Quellen ausfindig und unterwies mich durch seine eigene bemerkenswerte Arbeit und sein Denken. In den späteren Stadien gingen Nina Hagel und William Calison weit über die gewöhnlichen Bibliotheksgänge und die Vervollständigung der Anmerkungen hinaus. Ihre detaillierten Korrekturen, Rückfragen und Vorschläge zur Umformulierung waren großartig, und ihre Geduld, Gunst und Zuvorkommenheit machten die Zusammenarbeit mit ihnen zu einer wunderbaren Erfahrung. Nina erstellte auch das Register. Derin McCleod bot freundlicherweise seine Sprachkompetenz des Lateinischen für die Aufgabe an, ein weibliches Gegenstück zu Homo oeconomicus zu erfinden. Sundar Sharma, ein talentierter ehemaliger Bachelorstudent aus Berkeley, und Jason Koenig, ein ehemaliger Student im Aufbaustudium mit einer Leidenschaft für Demokratie ohne deren Verschränkung mit dem Kapitalismus, machte Quellen für Aufsätze ausfindig, die die Vorläufer von Kapitel 6 waren. Bei Zone Books hatte ich den großen Luxus, mit Meighan Gale zusammenzuarbeiten, die den Weg zur Herstellung an jeder Ecke glättete, Ramona Nadaff, die das endgültige Typoskript mit ihrem Expertenauge las und mir mit großzügigen Ratschlägen zu vielen anderen Aspekten des Buches zur Seite stand, Julie Fry, deren Designs brillant sind, und Bud Bynack, einem außergewöhnlichen Lektor. Außer daß er einen davor bewahrt, im Druck als Narr zu erscheinen, kanalisiert Bud seine Beherrschung der Kunst und Wissenschaft der Redaktion in eine umgängliche, häufig unterhaltsame und immer lehrreiche Übung für den Autor.

Zu Hause verkörpert Judith Butler all die reichhaltige Innerlichkeit, Poesie, Großzügigkeit und die Verpflichtung zur Weltverbesserung, die von der neoliberalen Vernunft beiseite geschoben werden. Außerdem ist sie eine geschätzte Gesprächspartnerin und Kritikerin. Isaacs feinsinniger Geist, seine außergewöhnliche Musik und seine überschwängliche Offenheit gegenüber dem Leben bilden ein Gegengewicht zu meiner Verzweiflung an der Zukunft. Das erweiterte »Wolfsrudel« gibt uns allen Auftrieb; ich bin unserem Dutzend gegenüber dankbar für die bestärkende alternative Verwandtschaftsform, die wir ins Leben gerufen haben.

Schließlich hatte ich das Glück, institutionelle Unterstützung vom Class of 1936 First Chair an der University of California, Berkeley, zu erhalten und von der Gesellschaft für Geisteswissenschaften an der Cornell-Universität. Besonderen Dank schulde ich Tim Murray dafür, daß er mich eingeladen hat, und Brett de Bray dafür, daß er mein Gastgeber im A. D. White House von Cornell war, wo ich einen herrlichen Herbst in Ithaca verbrachte und einen Entwurf des Buches abschloß.

Neoliberale Vernunft und politisches Leben