»Im folgenden möchte ich eine Verwunderungsübung durchführen, bei der es darum gehen wird, der abgründigen Erstaunlichkeit zeitgenössischer Lebensformen etwas besser gerecht zu werden.«

In seinem neuen Buch skizziert Peter Sloterdijk die Entstehung der Freiheit aus dem Geist der Revolte, die Funktion von Streß für die Integration von Gesellschaften und die Bedeutung der Rousseauschen Träumerei am Bieler See, um das Konzept der Liberalität neu zu formulieren.

Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und deren Rektor. Zuletzt erschienen von ihm im Suhrkamp Verlag Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993–2012 (st 4564), Der ästhetische Imperativ. Schriften zur Kunst (st 4529) Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2014).

Peter Sloterdijk

Streß und Freiheit

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des Sonderdrucks in der edition suhrkamp 2011.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2011

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-76990-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

1
Politische Großkörper als Streßkommunen

2
Lucretias Revolte, Rousseaus Rückzug

3
Streß und Freiheit

4
Die Reaktion des Realen

5
Von der Quelle der engagierten Freiheit

1
Politische Großkörper als Streßkommunen

Es ist ein altehrwürdiger Gemeinplatz, daß Philosophie und Wissenschaft aus dem Staunen entsprungen seien. So läßt Platon seinen Sokrates sagen, das Staunen oder die Verwunderung sei der einzige Anfang der Philosophie.1 Dem respondiert Aristoteles, indem er an einer eminenten Stelle behauptet: »Es ist dank ihres Staunens, daß Menschen heute wie vormals zu philosophieren beginnen.«2 Ich gebe zu, diese sonoren Sätze kamen mir immer schon ein wenig suspekt vor. Obschon ich seit nahezu fünfzig Jahren mit philosophischer und wissenschaftlicher Literatur umgehe und eine größere Zahl von Autoren diverser Wissensfelder kennengelernt habe – sei es als Leser, sei es in persönlicher Begegnung –, ist mir in all der Zeit, vielleicht bis auf eine Ausnahme, nie eine Person zu Gesicht gekommen, von der man im Ernst hätte behaupten dürfen, der Anfang ihrer geistigen Tätigkeit habe im Staunen gelegen. Im Gegenteil, es scheint, als hätten die organisierte Wissenschaft und die zur Institution geronnene Philosophie die Form eines Feldzugs gegen die Verwunderung angenommen. Die wissenden Personale, die Akteure des Feldzugs, halten sich seit langem hinter der Maske der Unbeeindruckbarkeit verborgen – man nannte das gelegentlich auch »Verblüffungsresistenz«. Im großen und ganzen hat sich die aktuelle Wissenskultur durchweg die Haltung des stoischen nihil admirari angeeignet: Wenn schon die antike Weisheitslehre ihren Adepten die Regel einprägte, sich über gar nichts mehr zu wundern, kommt diese Maxime doch erst in modernen Zeiten ans Ziel. Im 17. Jahrhundert hatte Descartes das estonnement als eine durchaus negative Affektion des Gemüts, eine höchst unangenehme und unwillkommene Verwirrung, charakterisiert, die durch geistige Anstrengung überwunden werden sollte.3 Die Entwicklung unserer Rationalitätskultur hat ihrem Mitbegründer in diesem Punkt beigepflichtet. Sollte sich irgendwo in unserer Zeit noch eine Spur des angeblich ursprünglichen thaumazein, des erstaunten Innehaltens vor einem unerhörten Gegenstand, bemerkbar machen, so darf man sicher sein, daß sie auf eine Stimme aus dem Abseits oder das Wort eines Laien zurückzuführen ist – die Experten zucken die Schultern und gehen zur Tagesordnung über.

Für keine Disziplin gilt das so sehr wie für die Sozialwissenschaften. Ihren internen Standards nach darf man sie als eine resolut verwunderungsfreie Zone beschreiben. Dies ist, wenn man es recht bedenkt, ein bizarrer Befund, denn falls es etwas gibt, was einen bedingungslosen Anspruch auf das Staunen des Laien und auf die Verwunderung der Gelehrten erheben sollte, so ist es die Existenz jener großen politischen Körper, die man früher die Völker nannte und heute aufgrund einer bedenklichen semantischen Konvention als »Gesellschaften« bezeichnet. Gewöhnlich denkt man bei diesem Wort an die Populationen moderner Nationalstaaten, mithin an große und sehr große politische Einheiten mit demographischen Volumen zwischen mehreren Millionen und mehr als einer Milliarde Mitgliedern. Nichts sollte erstaunlicher sein als das Daseinkönnen dieser Millionen- und Milliardenensembles von Menschen in ihren nationalkulturellen Hüllen und ihren vielfältigen inneren Unterteilungen. Wir sollten fassungslos sein angesichts dieser stehenden Heere aus politischen Gruppen, denen es, man weiß nicht wie, immer wieder gelingt, ihre Angehörigen mit der Überzeugung zu versorgen, sie seien jeweils aufgrund einer gemeinsamen Lage und einer gemeinsamen Vorgeschichte aktuell miteinander schicksalhaft verbundene Gesellschafter, somit Rechtsgenossen und Teilnehmer an lokalen Überlebensprojekten. Das Erstaunliche an diesen Objekten überschreitet die Schwelle zur Unbegreiflichkeit, sobald wir uns vergegenwärtigen, daß nicht wenige der politischen Großkörper in neuerer Zeit – sagen wir seit den Anfängen der liberalen Kulturen des Westens im 17. Jahrhundert – von Populationen mit steigenden individualistischen Tendenzen gebildet werden. Als Individualismus bezeichne ich hier die Lebensform, die das Eingefügtsein der einzelnen in die Kollektive lockert und den scheinbar unvordenklichen Absolutismus des Gemeinsamen in Frage stellt, indem sie jedem einzelnen Menschenwesen die Würde eines Absolutum sui generis zuspricht. Nichts ist erstaunlicher als der Bestand von Zivilisationen, deren Mitglieder mehrheitlich von der Überzeugung durchdrungen sind, ihre eigene Existenz sei letztlich um eine Dimension wirklicher als alles, was sie auf der Seite des Kollektivs umgibt.

modus vivendi