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Für Hanna

Mit einer Karte

ISBN 978-3-492-97137-9

April 2017

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Redaktion: Matthias Teiting, Dresden

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaasbuchgestaltung.de

Coverabbildung: Archiv Georg Koeniger

Karte: Marlise Kunkel, München

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

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»Der Humor ist nicht resigniert, er ist trotzig, er bedeutet
nicht nur den Triumph des Ichs, sondern auch den des
Lustprinzips, das sich hier gegen die Ungunst der realen
Verhältnisse zu behaupten vermag.«

Sigmund Freud, »Der Humor«

JAKOBSWEG WIDER WILLEN

Schon das Packen ist nicht unproblematisch. Die Gepäcktaschen im Keller sind voll mit Ausrüstungsgegenständen in doppelter Ausführung: zwei Tassen, zwei Messer, zwei Teller, ein Zelt für zwei. Alles nach der letzten Radreise platzsparend verstaut für den nächsten gemeinsamen Trip. Jetzt nehme ich all das auseinander und packe jeweils nur ein Teil ein. Mir ist dabei, als würde ich auseinanderreißen, was eigentlich zusammengehört. Ich meine fast, die zurückgelassene Tasse schreien zu hören: Und was ist mit mir?

Das Zelt aber kommt mit. Es ist zwar über drei Kilo schwer und viel zu groß für mich allein, doch irgendwie gehört es dazu. Es wird mir immer wieder die große Leerstelle in meinem Leben vor Augen führen, die ich seit einem Jahr erlebe.

Die Stimmung am Abend vor der Abreise ist nicht gerade euphorisch. Von Urlaubsvorfreude keine Spur. »Super Show«, schwärmen zwar meine Kabarettkollegen, als wir nach der Vorstellung unsere Requisiten zusammenpacken. Und tatsächlich ist es wie immer ein gutes Gefühl gewesen, vor einem begeisterten Publikum seine Späße auf der Bühne zu machen. Das hat sich auch nach sechsundzwanzig Jahren als Kabarettist nicht geändert. Aber so richtig genießen kann ich es nicht, ich bin nur noch mit halber Kraft dabei, es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Es ist, als wäre meine Seele schon unterwegs auf dem Jakobsweg, während mein Körper noch routiniert die eingeübten Sketche spielt.

Als ich dann mit gepacktem Requisitenkoffer in dem leeren Zuschauerraum stehe, merke ich, wie die Droge Applaus viel schneller an Wirkung verliert als sonst. Morgen, denke ich, wird niemand von diesen Leuten da sein, um mich bei der Abreise zu beklatschen, niemand, der mir mit weißem Taschentuch nachwinkt, niemand, der ein Abschiedsfoto macht, aber auch niemand, der mich zur Eile antreibt, damit wir endlich loskommen. Es interessiert die ganze Welt einen Dreck, was ich morgen mache. Mein Terminkalender ist im Frühjahr 2014 für einen Monat leer. Ich könnte genauso gut einfach hierbleiben. Keiner würde es bemerken.

Dennoch springe ich am nächsten Morgen aus dem Bett, bevor der Wecker sich auch nur rühren kann, stelle mein Espressokännchen auf den Herd und ziehe meine Funktionsklamotten an. Die letzten zwei Jahre waren eine sehr anstrengende Zeit, sowohl psychisch als auch körperlich. Jetzt nehme ich mir vier Wochen Zeit für mich. Die Reiseroute hätte ich mir selbst so nicht ausgesucht, aber trotzdem: Jetzt wird geradelt.

Während ich im Stehen eine Banane esse und meinen Kaffee trinke, fallen mir die Reaktionen meiner Freunde, Kollegen und Verwandten ein, als ich ihnen erzählte, was ich vorhabe. Am besten waren immer ihre Gesichter. Da wurde der Mund aufgerissen, die Luft durch die Zähne eingesogen, da wurden die Augen gerollt, die Backen aufgeblasen. »Was willst du? Von hier nach Santiago de Compostela ... radeln?« Mancher versuchte ein gequältes Lächeln, andere prusteten los, als hätte ich einen Witz gemacht. Dann Stirnrunzeln. »Wie viele Kilometer sind das denn?« Sobald ich »ungefähr zweieinhalbtausend« sagte, erntete ich meist ratloses Kopfschütteln. »Aber du ... äh, machst schon Pausen zwischendurch, oder?«

Die Outdoorfreaks, die es in meinem Freundeskreis gibt, reagierten mit aufmunterndem Nicken, anerkennendem Pfeifen, spöttisch angehobenen Augenbrauen oder offenem Neid. »Du fährst echt viereinhalb Wochen mit dem Rad durch Europa, während ich hier täglich in mein Büro trotte?«, fragte mich ein Bekannter ungläubig in der Kletterhalle. »Du hast es ja so was von gut. Wollen wir tauschen?«

So weit ist es schon wieder, dachte ich verwundert, dass jemand mit mir tauschen möchte. Ein Jahr vorher wäre wohl niemand auf die Idee gekommen.

»Frau Dr. Schröpel?«

Es klang immer ein bisschen seltsam in meinen Ohren, wenn jemand Andrea mit »Doktor« anredete, obwohl sie den Titel schon fast zwanzig Jahre innehatte. Als Neurobiologin wird einem der Namenszusatz nicht nachgeschmissen, die Promotion hatte Andrea vier Jahre harte Arbeit gekostet, und trotzdem hat sie nie viel Wert auf die ausdrückliche Erwähnung des Titels gelegt. Schon gar nicht nachdem sie ihre Karriere als Wissenschaftlerin an den Nagel gehängt und als Heilpraktikerin eine ganz neue Laufbahn eingeschlagen hatte. Wenn ich sie »Frau Doktor« nannte, dann nur um einen Spaß mit ihr zu machen. Aber das hier war nicht lustig.

»Sie können jetzt zum Herrn Professor.«

Wir standen auf und folgten der Sekretärin aus dem Wartezimmer. Mindestens zehn Augenpaare arabischer Herkunft folgten uns. Offensichtlich war eine komplette Familie aus dem Nahen Osten nach Bayern angereist, um eine oder einen Erkrankten zu begleiten. Männer mit großen Bärten, verschleierte Frauen und ein paar Kinder warteten ununterbrochen durcheinanderredend, aber sehr geduldig auf Nachrichten von der Stationsschwester. Auch wenn der Trubel ziemlich anstrengend war, hätten wir dem aufgeregten Geplapper viel lieber noch weiter gelauscht, statt jetzt der Sekretärin durch die freitäglich stillen Gänge ins Chefarztzimmer zu folgen.

»Frau Dr. Schröpel!«, begrüßte der weißhaarige, aber agile Professor sie und sprang aus seinem Stuhl. Er gab erst ihr, dann mir die Hand. Wie die meisten Ärzte behandelte auch er sie betont freundlich, weil er sie offensichtlich für eine Kollegin hielt. Was auch nicht ganz falsch war. »Wie geht es Ihnen?«

Andrea antwortete mit einem unverbindlichen Schnauben. Besonders wenn sie gestresst war oder Angst hatte, konnte sie sehr schroff sein. Und jetzt hatte sie große Angst und war gewaltig im Stress. Keine gute Zeit, um Small Talk zu machen. Sie wollte wissen, was los war.

Monatelang hatte sie unter einem hartnäckigen Husten gelitten, der allem heilpraktischen Bemühen getrotzt und sie immer kurzatmiger hatte werden lassen. Endlich entschloss sie sich, sich in der Asklepios-Klinik in Gauting, im Süden Münchens, von einem Pneumologen untersuchen zu lassen. Der hatte Wasser in der Lunge festgestellt, punktiert und die abgesaugte Flüssigkeit ins Labor geschickt. Es fanden sich maligne Zellen darin.

»Adenokarzinom«, hatte der Arzt nur gemeint, als er uns vor ein paar Tagen das Ergebnis mitteilte.

»Das heißt ein sehr aggressiver Krebs«, hatte Andrea mich angefahren, als ich Luft holte, um nachzufragen, was das konkret bedeute. Normalerweise hätte ich mir so eine Grobheit nicht gefallen lassen. Aber in ihren Augen stand die nackte Panik. Lungenkrebs. Bei einer lebenslangen Nichtraucherin, die immer sportlich und gesund gelebt hatte. Total unbegreiflich. Es folgten zwei Tage voller Tränen, Telefonanrufe, Besuche, Umarmungen, Mut machender E-Mails. Auch ich versuchte, Zuversicht auszustrahlen.

Und nun waren wir wieder in der Klinik. Es galt, das Stadium der Krankheit zu bestimmen. Der Professor kam gleich zur Sache. »Stadium IV«, sagte er sachlich. »Tut mir leid.«

»Was heißt ...?« Weiter kam ich nicht. Andrea presste meine Hand zusammen, um mir zu bedeuten: Bitte nicht schon wieder eine »dumme« Frage. Auch ohne weitere Erläuterungen konnte ich ihrem Gesicht entnehmen, dass die Neuigkeiten katastrophal waren.

Der Professor führte ungefragt aus: »Wir können keinen konkreten Herd, keinen soliden Tumor feststellen. Da die Krebszellen aber im Wasser in der Pleura gefunden wurden, heißt das, sie haben gestreut. Praktisch von Anfang an. Das bedeutet Stadium IV

»Und ...?«, brachte ich heraus, bevor mir ihre Hand fast die Finger zerquetschte.

»Was schlagen Sie vor?« Andrea klang gefasst, aber ich sah ihr an, wie verzweifelt sie war.

»Wir punktieren jetzt noch einmal die Lunge und ziehen etwas Flüssigkeit ab, damit Sie freier atmen können. Und nächste Woche treffen Sie sich dann mit unserem Onkologen.«

Später kam er aus dem Untersuchungszimmer, vor dem ich gewartet hatte und in dem die Punktion durchgeführt worden war. »Sie können jetzt zu Ihrer Frau.«

Allein mit ihm, nutzte ich dann doch die Gelegenheit, eine meiner »dummen« Fragen zu stellen. »Sie haben eben gemeint, Sie könnten nur palliativ arbeiten. Wenn ich das richtig verstehe, heißt das ...«

»Ja«, unterbrach er mich, »wir können in so einem Fall nur lebensverlängernd arbeiten. Eine Heilung gibt es nicht.« Er gab mir die Hand. »Schönes Wochenende.« Und ging den Krankenhausgang hinunter. Sprachlos schaute ich ihm nach.

Im Behandlungszimmer lag Andrea reglos zusammengekrümmt auf der Liege. Die weiße Papierauflage unter ihrem Kopf war völlig nass geweint. Von nebenan klangen die fröhlichen Stimmen der Krankenpfleger herüber. Pläne fürs Wochenende wurden ausgetauscht.

»Hat es wehgetan?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. Meine großartige Frau, die keine Mühe hatte, vor dreihundert Leuten ohne Skript einen Fachvortrag zu halten, die sich vor Hilfe suchenden Menschen nicht retten konnte und als Heilpraktikerin vielen tatsächlich geholfen hatte, meine Frau, deren Mut und unkonventionelle Denkweise ich bewunderte, die immer wusste, wo es langging, diese Frau, die ich liebte, war plötzlich nur noch ein Häufchen Elend.

»Komm, ich fahr dich heim.« Etwas ungeschickt half ich ihr auf. »Da vorne geht’s raus.«

Startklar. Bei bestem Wetter fahre ich aus meiner Heimatstadt Würzburg heraus und nehme zügig die ersten Landstraßenkilometer unter die Räder. Nach einer Stunde strampele ich mich langsam in einen Groove. Die ersten Steigungen, die mich aus dem Maintal hinausführen, sind schnell überwunden. Noch habe ich keine Orientierungsschwierigkeiten, die Gegend ist mir bekannt. Meine Beine sind noch frisch, die Lunge keucht nur mäßig, das Herz pocht noch nicht allzu schnell. Mein schwer beladenes Rad ist natürlich nicht so leicht zu handhaben, mehr als zwanzig Kilogramm Zusatzgewicht machen das ganze System etwas instabil. Aber wir haben uns schnell wieder aneinander gewöhnt, und bald stellt sich die Freude an der Bewegung ein.

Alles im grünen Bereich also, denke ich, während ich durch einen lichten Wald fahre und mich über das Wortspiel freue. Ich gehe davon aus, dass auch in den nächsten Wochen alles nach Plan laufen wird und ich unbeschadet nach Santiago de Compostela komme. Andrea und ich haben so viele Radtouren zusammen gemacht, längere sogar als die, die vor mir liegt. Es gibt keinen Grund, wieso es da nicht auch allein klappen sollte.

Ein bisschen zweckgerichteter Optimismus kann mir nicht schaden. Etwas seltsam fühlen sich diese ersten Kilometer nämlich schon an, das kann ich nicht aus der Welt lächeln. Denn die ganze Reise ist eigentlich nicht meine Idee gewesen. Sie ist eher eine Art traurige Auftragsarbeit.

Der Jakobsweg stand nie sonderlich weit oben auf der Liste meiner persönlichen Traumstrecken. Die Hohe Tatra hätte mich da mehr interessiert. Portugal oder Südamerika. Außerdem gäbe es für mich andere Orte der Besinnung, zu denen sich eine Wallfahrt lohnen würde – ein tibetisches Kloster, der Mauna Kea, der höchste Berg von Hawaii, der Uluru, der heilige Berg der Aborigines in Australien, die kambodschanische Tempelanlage Angkor Wat oder die ägyptischen Pyramiden. Im Vergleich dazu verblasst Santiago de Compostela ein wenig. Der Jakobsweg ist mir nach allem, was ich gehört habe, einfach zu überlaufen – mehr als zweihunderttausend Pilger zieht die Strecke jährlich an –, und die Geschichte, die Santiago zu einem spirituell lohnenden Ziel machen soll, scheint mir zudem reichlich an den Haaren herbeigezogen.

Mal ehrlich: Wie kommt ein Apostel, der im Nahen Osten geboren wurde und dort gewirkt hat, nach seinem Tod nach Spanien? Und wieso entdeckt man sein Grab erst achthundert Jahre später?

Und wenn man sich etwas näher mit dieser Geschichte befasst, wird es erst recht hanebüchen. Gut möglich, dass Santiago de Compostela ein ganz besonderer Ort ist, zu dem es sich zu reisen lohnt. Aber was den Wahrheitsgehalt der Legende um den heiligen Jakob angeht, könnte man genauso gut auch zu Schneewittchens Schloss pilgern oder zur Hütte der sieben Zwerge.

Ein Einsiedler soll eine Lichterscheinung gehabt haben, so geht die Mär, und zwar an dem Ort, wo heute die Hauptstadt von Galicien liegt. Prompt hat man an dieser Stelle Gebeine »entdeckt«. Und der Bischof Theodimir von Padrón soll hingereist sein und bestätigt haben: Ja, das sind die Knochen von Jakob. Aber: Wie hat er das bloß herausgefunden? Jeder Tatortzuschauer weiß: Es bleibt nicht viel übrig von einem toten Menschen nach ein paar Jahren. Wie sieht der Leichnam dann erst nach achthundert Jahren aus? Hat der Bischof ein Team von Forensikern dabeigehabt, die das Gebiss untersucht oder eine DNA-Analyse in Auftrag gegeben haben? Hatte er Leute vom CSI engagiert, der Christian Scene Investigation? Irgendwie hat man auch Karl den Großen mit ins Boot gekriegt, jenen George W. Bush des 8. Jahrhunderts, der gerade auf einem Eroberungszug in der Gegend war. Der habe dreimal von dem Grab geträumt, wird kolportiert.

Es ist schon erstaunlich, dass diese wirklich krude Geschichte auch heute noch in den meisten Reiseführern weitgehend unkommentiert wiedergegeben wird. Aber man muss natürlich anerkennen: Die Legende vom Jakobsweg hat funktioniert. Das war wirklich ein genialer PR-Coup. Jährlich drängeln sich Hunderttausende von Pilgern in die Kathedrale von Santiago. Ich weiß bloß nicht, wie scharf ich darauf bin, mich in die Schlange der Gläubigen einzureihen.

An manchen Tagen glich Andreas Wohnung einem Taubenschlag. Die Hilfsbereitschaft, die uns aus unserer Umgebung entgegenschlug, war herzerwärmend und überwältigend. Freunde schauten vorbei, um Andrea aufzuheitern, Familienmitglieder machten Besorgungen für uns, befreundete Heilpraktiker gaben sich praktisch die Türklinke in die Hand in dem Bemühen, sie wieder auf die Beine zu kriegen. Das Telefon klingelte in einem fort, manchmal wurde auf Handy und Festnetz gleichzeitig gesprochen.

Nach dem ersten Schock, den die vernichtende Diagnose ausgelöst hatte, herrschte bald rege Betriebsamkeit. Die Angst und Verzweiflung der ersten Tage waren einer grimmigen Trotzstimmung gewichen. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht schaffen würden, wenn wir der Schulmedizin nicht ein Schnippchen schlagen könnten.

Auch ich versuchte, alles zu tun, um ihre Heilung zu befördern. Nachdem wir zweiundzwanzig Jahre lang eine glückliche Fernbeziehung geführt hatten, verlegte ich jetzt meinen Lebensmittelpunkt von Würzburg nach München in ihre Wohnung. Vorübergehend, wie ich mir einredete, bis sie wieder gesund wäre.

Denn wenn es jemand schaffen konnte, dann Andrea. Ich war nicht der Einzige, der das dachte. Alle waren sich in dem Punkt einig. Ihr kluger Kopf, gepaart mit ihrem unbeugsamen Kampfeswillen und einer Armada helfender Hände. Da hätte sie zumindest eine Chance, waren wir uns sicher. Auf dem Küchentisch stapelten sich die Bücher über alternative Ansätze zur Krebstherapie. Fast jeder Besucher brachte ein neues mit, und wir deckten uns mit zusätzlichem Material ein.

Besonders stark vertreten in unserer Sammlung waren Bücher über Ernährungskonzepte. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – war es schwierig, den Überblick zu behalten. Je mehr wir lasen, desto weniger klar wurde das Bild. Zu widersprüchlich waren die Ansätze. In einigen Büchern hieß es, man müsse den Krebs aushungern, also sehr nährstoffarm essen. Andere rieten dazu, den Körper mit substanzreichem Essen zu stärken. Das schien eher meine Richtung zu sein, weil ich schon bald merkte, dass Andrea Gewicht verlor. Ich dachte, Makrobiotik ist ja schön und gut, aber das Kind braucht was auf die Knochen, Leute! Wie soll sich denn ihr Körper sonst wehren?

Was sie allerdings genau essen sollte, darüber gab es sehr unterschiedliche Ansichten. Zucker, da war das Urteil ziemlich einhellig, war nicht so gut. Folglich rieten die meisten Ratgeber auch von Kohlehydraten ab. Aber das war’s dann auch mit der Einigkeit. In diversen Büchern wurde zu Proteinen geraten. Das machte in meinen Augen Sinn, Proteine geben Kraft, dachte ich. Doch an anderer Stelle warnte man wieder eindringlich: Proteine würden den Krebs nur weiter füttern. Also sollte man so wenig wie möglich davon zu sich nehmen.

»Fett« war für viele das Wort der Stunde, wenn Proteine schon nicht unproblematisch waren. Auch Smoothies, so hieß es, hätten zahlreichen Patienten geholfen. Das gefiel Andrea. Deshalb atomisierte ich bald mehrmals am Tag für sie verschiedene Gemüsesorten und Salate (weniger Obst wegen des Zuckers), zerkleinerte alles unter ohrenbetäubendem Getöse bis zur Unkenntlichkeit. Andrea trank tapfer den grünlich braunen Schleim.

Und in all dem täglichen Trubel saß eines Tages meine Frau am Küchentisch und fertigte mit großem Ernst eine Collage an. Irgendjemand hatte ihr empfohlen, sich mithilfe dieser Technik klarzumachen, warum es sich lohne, ums Überleben zu kämpfen. Sie solle Dinge ausschneiden, die sie unbedingt noch machen wolle. Das werde sie innerlich stärken.

Zum letzten Mal hatte ich in der Schule gesehen, wie jemand eine Collage machte. Nun blätterte Andrea Frauenzeitschriften durch, schnitt Wörter, ganze Sätze und Fotos aus und arrangierte die Schnipsel auf großem Zeichenblockpapier. Schöne Landschaftsaufnahmen drängelten sich mit Bildern aus Wellnessanzeigen und Überschriften wie: »Das bin ich mir wert« oder »Mehr Zeit für mich«. Und mittendrin klebten zwei ausgeschnittene Wanderschuhe und darüber: »Pilgern nach Santiago de Compostela«.

Mit großem Ernst sah sie mich an. »Das ist mein Ziel: An meinem nächsten Geburtstag bin ich so gesund, dass ich den Jakobsweg nach Santiago wandern kann. Meinst du, das klappt?«

Meine erste Rast mache ich in einem kleinen romantischen Tal dreißig Kilometer südlich von Würzburg. Ich werfe meinen Helm auf eine malerisch platzierte Bank direkt neben dem Radweg und öffne eine Vordertasche. Schon auf den ersten Blick fällt auf: Mir fehlt Andreas ordnende Hand. Drinnen herrscht das reinste Chaos. Ich brauche ewig, um Brot, Käse und Tomaten zu finden und auszupacken.

Nicht, dass ich mir keine Gedanken gemacht hätte, wie alles am sinnvollsten zu verstauen wäre. Aber jetzt, während ich nach einiger Wühlarbeit endlich auf meinem Sandwich herumkaue, überlege ich erneut, ob es nicht noch eine bessere Lösung gäbe – und packe die beiden vorderen Taschen vollständig aus. Gewichtsmäßig sollte alles einigermaßen gleichmäßig verteilt werden, weshalb die Schwergewichte Essen und Werkzeug nicht zusammengehören.

Bei der Reiseapotheke fällt mir die Entscheidung allerdings schwer: Ist sie besser in der Tasche mit dem Kulturbeutel aufgehoben oder in der mit dem Werkzeug? Und wenn Letzteres – gehört die Reiseapotheke über das Werkzeug oder darunter? Was ist wahrscheinlicher? Dass ich mir wehtue? Oder dass etwas am Rad kaputtgeht? Was muss schneller griffbereit sein? Ich entscheide mich für das Werkzeug, aber dann halte ich schon das nächste Problem in meinen Händen. Wo tue ich jetzt das Essen hin? Und die Sonnencreme?

Ratlos schaue ich auf die mit Brot und Käse gefüllte Plastiktüte in meiner linken und die Sprühflasche in meiner rechten Hand. Am Ende werfe ich alles entnervt wieder in die wasserdichten Beutel. Und beim nächsten Stopp muss ich dann alle Taschen durchwühlen, bis ich endlich das Ladekabel fürs Handy gefunden habe, und der Apfel, den ich mir bei der Gelegenheit greife, schmeckt nach Sonnenöl.

Später, in Tauberbischofsheim, treffe ich zum ersten Mal auf die Jakobsmuschel als Wegzeichen. Das Pferd, das das Boot mit Jakobs Leichnam an der spanischen Küste an Land gezogen haben soll, soll, als es wieder aus dem Wasser kam, über und über mit Muscheln bedeckt gewesen sein. Deshalb findet sich dieser Meeresbewohner als Symbol für den Jakobsweg wieder – eigentlich unpassend, wo es sich doch beim Camino um einen ziemlich ausgedehnten Landgang handelt. So früh habe ich jedenfalls noch gar nicht mit der Muschel gerechnet. Es ist ein relativ neu eingerichteter Abschnitt, der Main-Taubertal-Jakobsweg.

Mir scheint, jedes Flusstal, jede Gemeinde mit einer einigermaßen ansehnlichen Kirche will mit aller Macht auf den Pilgerzug aufspringen. Je weiter man weg ist von Santiago, desto mehr Jakobswege findet man. Zwar wird versucht, die neuzeitlichen Pilgerströme entlang der alten überlieferten Strecken zu leiten – die Bezeichnung »Jakobsweg« ist jedoch laut der Deutschen St. Jakobus-Gesellschaft nur für den spanischen Teil des Pilgerwegs von den Pyrenäen über Burgos und León bis nach Santiago gerechtfertigt. Alle anderen Strecken seien alte Handels- und Heerstraßen, die unter anderem auch von Pilgern genutzt wurden, und müssten eigentlich »Wege der Jakobspilger« heißen. Aber das lässt natürlich viel Interpretationsspielraum. Und da haben sich die rührigen Tauberfranken wohl gedacht: »Irgendein gläubiger Wanderer hat sich sicher auch mal in unsere Gegend verirrt«, und daraufhin einen eigenen Jakobsweg aus der Tauber gehoben. Nur: Pilger sind, soweit ich das sehen kann, erst einmal Fehlanzeige.

Und auch ich lasse mich von der verführerischen Muschel nicht dazu verleiten, den Zeichen Richtung Rothenburg zu folgen. Das wäre ein ziemlicher Umweg. Stattdessen ist mein Plan, weiter gen Südwesten zu radeln, quasi Luftlinie nach Spanien, und erst südlich von Speyer wieder auf einen Jakobsweg zu stoßen. Ich habe nicht vor, sklavisch genau auf der vorgegebenen Strecke zu bleiben. Meine Devise lautet eher: »Jeder, der nach Santiago wandert, ist auf dem Jakobsweg.« Und so navigiere ich mich ziemlich vogelwild durch die Landschaft.

Langsam rolle ich auf betonierten Pfaden über die mit Weinbergen übersäten fränkischen Hügel. Jetzt im Frühjahr haben die Weinstöcke gerade erst ausgeschlagen, das Grün der Blätter ist noch recht blass und durchsichtig. Von Trauben können sie zu dieser Jahreszeit nur träumen. Mir fällt ein, wie mir mein Freund und Kollege Philip kurz vor meiner Abreise bei einer unserer Kabarettproben einen Prospekt zuwarf: »Weinführer Jakobsweg« stand da geschrieben.

»Haste dir aber ’ne super Route ausgesucht. Der Jakobsweg geht fast ständig durch irgendwelche Weingegenden«, stellte er fest, während ich den Prospekt durchblätterte. Genüsslich zählte Philipp mir all die Weingebiete auf, die ich auf meinem Weg nach Spanien durchradeln würde. Franken, Mosel, Burgund, Bordeaux, Navarra, La Rioja – und an der Cognacregion gehe der Pilgerstrom auch vorbei. »Kein Wunder, dass die am Ende alle laufen. Irgendwann verliert jeder seinen Führerschein.«

Ich muss laut auflachen. Und bin froh, dass mich niemand hört, hier auf dem einsamen Weinbergpfad. Sieht doch ein bisschen komisch aus, wenn so ein Soloradler vor sich hinkichernd an seinen Zeitgenossen vorbeifährt. Und als Spaßtrip ist das hier sowieso nicht geplant.