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Berauscht euch! Nur berauscht
läßt sich dies Leben leben –
berauscht von Geist und Blut und Reben,
berauscht von Licht und Dunkelheit!
Sauft doch das Leben –
das Leben selbst ist Wein!

Wolfgang Borchert

Leinen los

Am Anfang war das Abenteuer. 1840, mit gerade mal einundzwanzig Jahren, heuerte Herman Melville auf dem Segelschiff »Acushnet« an und fuhr als tranjagender Walfänger durch den Pazifik – in einer Zeit, in der die Männer auf See reihenweise an Skorbut und Seuchen starben, von den Kapitänen wegen Kleinigkeiten ausgepeitscht und nicht selten im Sturm über Bord gespült wurden. Vier Jahre war Melville unterwegs. Er umrundete mehrfach Kap Hoorn, kletterte immer wieder in die wankenden Rahen und saß selbst in den kleinen Fangbooten, von denen aus die Harpuniere die Meeresriesen in der blutschäumenden See erlegten. Erst danach begann er zu schreiben.

Der Rest ist Geschichte. Herman Melvilles Roman Moby Dick* [* Titel von Büchern und Erzählungen werden im folgenden, wo es uns sinnvoll erschien, auf deutsch angegeben, auch wenn die Werke oft erst wesentlich später in Übersetzung erschienen.] ging in die Weltliteratur ein, ein urgewaltiges Werk, das mehrfach verfilmt wurde und bis heute von Millionen fasziniert gelesen wird. Dabei ist kaum bekannt, daß Melville lediglich aufschrieb, was er selbst erlebt hatte, seine Abenteuer jedoch durch sein ganz eigenes Temperament zu hoher Kunst verdichtete. Und damit einen Mythos schuf.

Nicht nur Melville schöpfte seinen Stoff aus dem prallen Leben. Joseph Conrad landete als Fünfjähriger in der russischen Verbannung. Später fuhr er als Kapitän über die Weltmeere, erfuhr das Grauen am Kongo und verfaßte anschließend Bücher, die heute zu den Klassikern der englischsprachigen Literatur zählen. Der geheimnisvolle B. Traven, der mit seinen spannenden Werken in der Weimarer Zeit zur Sensation wurde, versteckte sich in Mexiko – bis heute weiß man von ihm nicht, woher er stammte, dafür aber, daß er 1919 in der Münchner Revolution nur knapp der Hinrichtung entging. Stephen Crane, der Hemingways Vorbild war, überlebte einen Schiffsuntergang, besetzte im spanisch-amerikanischen Krieg 1898 im Alleingang eine Stadt und starb schon mit achtundzwanzig Jahren. Und Ernest Hemingway, der löwentötende Nobelpreisträger, der in mehreren Kriegen Kopf und Kragen riskierte? Jack London, der Austernpirat war, Tramp und Knastinsasse, bevor er in Kanadas Norden nach Gold schürfte? Sie waren schon zu Lebzeiten Legenden.

Nur wer schwitze, nur wer leide, nur wer um sein Leben bange, würde jenen Schatz an Erfahrung finden, jenen Saft, aus dem große Bücher entstünden. So zumindest sah es Ernest Hemingway, und dem notorischen Trinker, der mit seinem Schiff auf U-Boot-Jagd ging und mit dem Flugzeug im afrikanischen Busch abstürzte, war das Kitzeln im Magen oft wichtiger als das Schreiben selbst. Von Bildung und Theorie hielt er nichts. »Wissen« sei, was ein Schriftsteller benötige. Ein Wissen wohlgemerkt, das einem nicht im Elfenbeinturm zufliege, sondern das man sich in der Wirklichkeit holen müsse.

Was verbindet diese sechs Literaten? Vor allem, daß sie Kraft hatten für zweierlei: für ein außergewöhnliches Leben und für außergewöhnlich gute Bücher. Erst das Leben, dann das Schreiben, dies schien ihr Rezept. Allein Crane sticht heraus: Er ersann sich seine Dramen und lebte ihnen dann hinterher.

Bei der Recherche fiel uns auch auf: Fast alle verloren früh ihre Väter, brachen zeitig aus der Geborgenheit der Familie aus und ließen sich auf Erlebnisse ein, die den meisten vorenthalten blieben. Keiner von ihnen besaß eine akademische Ausbildung, keiner hatte Literatur studiert. Ihre Hochschule war einzig das Leben.

Der Club der wilden Dichter. Sechs Männer, von denen manche noch heute zu den berühmtesten Schriftstellern zählen, andere nahezu vergessen sind – deren Biographien sich aber ebenso lesen wie Abenteuerromane.

Doch warum gerade sie? Unsere Auswahl ist zugegeben subjektiv, geprägt durch unsere Vorlieben. Sie wird Fragen aufwerfen, vielleicht sogar leise Empörung. Gut so. Ihnen hätte das gefallen. Für sie gehörte Leidenschaft zur Literatur.

Die Geschichten der Alten sind nicht nur wundervoll fein geschrieben – sie bersten auch vor Kraft. Zudem brachen diese Männer Konventionen, als dies noch keine Modeerscheinung war. Und sie nahmen das Schreiben ernst. Fanatisch ernst. So ernst, daß sie mitunter jahrzehntelang an einem Werk feilten, um jedes Wort kämpften, an manchen Büchern verzweifelten und bis zur Erschöpfung vor den Manuskripten saßen, häufig ohne zu wissen, ob sie jemals Erfolg haben würden. Sie konnten nicht anders. Sie mußten schreiben.

Natürlich griffe es zu kurz, die Autoren nur zu fabulierenden Haudegen zu stilisieren. Zum Teil blickten sie auf einen harten Lebensweg zurück, in dem die Schriftstellerei vielleicht die einzige Fluchtchance bot. Zudem trieb Menschen wie Melville, London oder Hemingway eine kaum zu sättigende Neugier voran, dazu eine hemmungslose, nicht selten selbstzerstörerische Lese- und Schreibwut. Hinter ihrem mutigen Auftreten verbargen sich feinfühlige Seelen, die stets den Wunsch hatten, nicht nur hinter die Kulissen der Welt zu blicken, sondern sie mit aller Macht beiseite zu schieben. Keine Frage, sie wollten Bestseller zu Papier bringen, ihr Lebensstil verschlang oft viel Geld, vor allem aber versuchten sie, auf den Grund der Dinge zu gelangen. »Ein Buch ist gut«, pflegte Hemingway zu sagen, »wenn es zehnmal wahrer ist als die Wirklichkeit.«

Was waren das also für Männer, die so deftig lebten und doch so tiefgründig schrieben? Waren es Spinner, Selbstdarsteller, Ausnahmetalente? Waren es »hypersensible Käuze«, wie Bekannte Joseph Conrad nannten? Meister des Bluffs, wie B. Traven? Oder verwirrte Eremiten, als welcher Herman Melville am Ende galt? Fest steht: Ihre Lebensgeschichten zu lesen ist tragisch, rührend, manchmal herzzerreißend, gelegentlich auch abstoßend und schockierend – immer aber höchst unterhaltsam.

Könnte man diese sechs Herren heute in einem Kaminzimmer versammeln, sie müßten sich ob ihrer Biographien verblüfft in die Augen sehen. Jede Wette, es würde hoch hergehen.

Wilde Dichter wie sie gibt es heute nicht mehr. Im Zeitalter von GPS und Goretex sind Abenteuer vergleichsweise austauschbar geworden. Sie haben ihren größten Reiz verloren: den des Fremden, des Unbekannten, der niemals erzählten Geschichten.

Danken möchten wir den wichtigsten Biographen, die diese ungewöhnlichen, manchmal komplizierten Lebenswege rekonstruiert haben. Ohne ihre aufwendige jahrelange Recherche wären viele Anekdoten nie ans Tageslicht gekommen, und auch dieses Buch wäre nicht möglich gewesen.

Danken freilich wollen wir auch den Wilden Dichtern selbst. Ihr Ruf ist bis heute zu hören.

 

 

Hamburg, im Mai 2005

Rüdiger Barth,

Marc Bielefeld

Herman Melville

In Lee erschienen hohe Fontänen am Horizont, und zwei Boote, Stubbs und Flasks, wurden zur Verfolgung ausgesetzt. Sie pullten und pullten, bis sie vom Topp aus kaum noch zu erkennen waren. Dann wurde in der Ferne ein Schwall sprudelnd weißes Wasser ausgemacht ... Es dauerte noch einige Zeit, dann waren sie wieder deutlich in Sicht, im Schlepp eines Wals.

Herman Melville

Abbildung: Bettmann/CORBIS

 

»Was ich wirklich schreiben will, ist verdammt,

alle meine Bücher sind für die Katz.«

»Es ist der Höhepunkt einer verrückten, durchgrübelten Nacht, wenn sich das Blut in Brandy verwandelt.«

»Ein Buch aus dem Hirn zu befördern ist vergleichbar mit dem kitzligen und gefährlichen Unterfangen, ein altes Bild aus seinem Rahmen zu schneiden. Man muß seinen ganzen Kopf auskratzen, um sicher dranzukommen, und selbst dann mag das Bild die ganze Mühsal am Ende nicht einmal wert sein.«

»Wir glauben gerne, daß Gott seine Geheimnisse nicht alle erklären kann, aber wir Sterblichen verwundern Ihn so sehr wie Er uns.«

Zitate von Herman Melville

 

»Die, die nur seine Bücher gelesen haben, kennen den Mann. Die, die nur den Mann kennen, haben nur eine vage Vorstellung von seinen Büchern.«

Der Autor N. P. Willis über Herman Melville

 

In den letzten Jahren bleibt die Tür zu seinem Arbeitszimmer meistens geschlossen. Wochenlang, manchmal monatelang. Ein beklemmender Anblick, für seine Frau, die Familie. Nur noch ganz selten kommt er heraus. Die Tür befindet sich im zweiten Stock eines kleinen Hauses in der East 26th Street, Manhattan, New York. Der Enkelin Eleanor ist unheimlich zumute, wenn sie die Großeltern gelegentlich besucht und an der Tür vorbeikommt. Dahinter verbirgt sich ein düsteres Reich, das Refugium ihres Opas, Herman Melville, wortkarg, versunken, längst ein alter Mann. »Sein Zimmer war für mich ein Ort des Staunens und der Rätsel, niemals ging ich dort hinein, wenn er mich nicht dazu einlud«, erinnerte sie sich später.

Sonderbare Gipsköpfe stehen in dem Zimmer hinter der Tür. Von einem Regal starren sie mit ihren pupillenlosen Augen in ein Nichts. In der Ecke ein schmales Bett mit dunkler Tagesdecke. Hunderte Bücher füllen die Borde und Simse. Auf einem kleinen Tisch liegen Notizen und eine Tüte mit Feigen, an der Wand steht ein massiver Schreibtisch aus Mahagoni. Darüber klebt ein Zettel: »Bleibe treu den Träumen deiner Jugend.«

Herman Melville ist jetzt bald siebzig Jahre alt, trägt einen gewaltigen Vollbart, silbergrau, viereckig endend, als hätte ihn jemand abgehackt, und dabei so lang, daß das drahtige Haar schon auf die bis zum Kinn zugeknöpfte blaue Jacke stößt. Ein großer, würdiger Mann mit aufrechtem Gang, dessen Augen verraten, daß er »ferne und seltsame Dinge wußte«, wie seine Enkelin Jahre später sagen würde. Bis in die Nächte sitzt Melville hinter seiner geschlossenen Tür, lautlos, beinahe wie ein Geist, und beschreibt stapelweise Seiten. Darunter Gedichte wie dieses: Buddah.

Denn was ist das Leben? Es ist

nichts als ein Dunstschleier, der kurze Zeit

auftaucht und dann verschwindet.

Ohnmächtig treiben, schwimmen und schwinden,

Begierig, den Weg ins Nichts zu finden!

Unter Leiden, Tränen, Seufzern der Welt

Ziehen wortlose Dulder hinaus –

Nirwana! Nimm uns auf in Dein Firmament

Lösche uns in Dir aus.

Nachbarn haben vermutet, Melville sei geistesgestört. Ein Fall fürs Irrenhaus. Rätselhafte Dinge sollen es sein, mit denen er sich beschäftigt. Er zeigt sich selten, und wenn, entfahren ihm bizarre Bemerkungen. »Ich selbst, ich bin der Feind von allem. O Herr, befreie mich von mir selbst«, hatte er in einem seiner Werke geschrieben. Kein Wunder, daß er vielen Sterblichen als Sonderling gilt. Doch Melville hat mit seinen Mitmenschen nicht mehr viel zu schaffen. Er ist bei Buddha, bei der Metaphysik, er ist bei den großen Fragen des Daseins angelangt. Wo steht der Mensch zwischen Gut und Böse? Welcher Natur sind die Mächte, die die Welt in Schach halten? Melville quält sich mit unsichtbaren Dämonen. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich nun mit der Poesie. Die Gedichte helfen ihm. Ihre Form, ihre Kraft, ihre Weigerung, sich leicht deuten zu lassen. Sie sind seine Navigationshilfen auf seinem letzten Abenteuer – der Sinnsuche im Schreiben.

Herman Melville, der Seefahrer, der große Erzähler der Südsee, der Schöpfer von Moby Dick; jener Mann, der nach erstem Ruhm als Zollinspektor in der Versenkung enden und erst Jahrzehnte nach seinem Tod als einer der größten Autoren der Weltliteratur entdeckt werden wird, ist nun endgültig hinabgestiegen in die Katakomben des Geistes. Der Dichter der Tiefe befaßt sich in seinen letzten Jahren mit den Religionen, mit den Rätseln der Kunst und Philosophie. Den Gelehrten und Lesern ist er längst entschwunden. In der Zeit um 1890 wirkt Melville wie verschollen in einem Labyrinth der Abstraktion.

Wohin hatte ihn seine Schreiberei verschlagen? Er hatte Jahre auf den Ozeanen verbracht, Wale gejagt, auf fernen Pazifikinseln unter Wilden gelebt und später bei der Kriegsmarine angeheuert. Dies nun war das Ende einer langen Reise.

»Einer der genialsten Köpfe, die New York je beherbergt hat. Zur Zeit ist er eine Art Einsiedler, aber vielleicht können wir ihn hervorlocken.« 1890, ein Jahr vor seinem Tod, wird er mit diesen Worten als Ehrenmitglied für den Author’s Club, einen bekannten Literatenzirkel, vorgeschlagen. Doch Melville ist ein für allemal abgetaucht in seine Innenwelten. Schon Jahrzehnte zuvor, Melville war Anfang Dreißig und arbeitete an seinem Meisterwerk Moby Dick, hatte er eine Entscheidung getroffen – und sich rar gemacht. Nie mehr den Forderungen der Verleger nachgeben. Sich nie mehr am Geschmack der Leser orientieren. Nur sich selbst vertrauen. Kaum einer vermißte ihn. Kaum einer ahnte, welch großen Geist die Welt da ziehen ließ. Obwohl er oft genug am finanziellen Abgrund stand und wußte, daß er mit seinen unverständlichen Büchern kein Geld verdienen würde, dichtete er sich geradenwegs in die Verachtung. Seinem Literatenfreund Nathaniel Hawthorne sagte er: »Das, was ich wirklich schreiben will, ist verdammt, es wird kein Geld einbringen. Und dennoch, etwas anderes kann ich nicht schreiben.«

Zuletzt nimmt Melville nicht einmal mehr Einladungen in literarische Runden an, »meine Nerven können größere Gesellschaften nicht mehr ertragen«. Immerhin, in England regen sich erste Stimmen, die Melville zu würdigen scheinen. Einige Verehrer jenseits des Atlantiks vergleichen Moby Dick mit der Sprachgewalt der berühmten elisabethanischen Dramatiker, etwa mit Shakespeare. Der Bewunderer Clark Russel nennt ihn gar »das größte Genie, das Amerika bisher hervorgebracht hat«. Doch das Lob erreicht ihn kaum.

Es schien, als wühlte Melville am Ende einsam und verlassen am Grund der Tiefsee. Seine Werke waren immer komplizierter geworden, hochsymbolisch, gespickt mit verstecktem, verklausuliertem Wissen. Kaum einer vermochte mehr nachzuvollziehen, was dieser Mann in seinen teils abstrusen, teils wunderschönen Versen und Geschichten zur Sprache brachte. Erst Jahrzehnte später würde man über ihn sagen, daß er mit seiner Stilvielfalt und seinem Mut, Lesegewohnheiten zu brechen, die moderne Literatur erfunden habe.

Melville sollte einen derartigen Dschungel an Gedanken und schriftstellerischem Neuland hinterlassen, daß sich Professoren und Literaturstrategen bis heute die Haare raufen. Welche Bedeutung hatte er seinem weißen Moby Dick wirklich zugeschrieben? Was wollte er uns mit seiner verwirrenden Symbolik, seinen Naturbeschreibungen und Hunderten von lyrischen Fingerzeigen sagen? In Vorworten, Essays, Kommentaren und Literaturlexika – heute zieht Melville dort selbst die Spur eines Wals. Kaum einem anderen amerikanischen Schriftsteller wird so viel Platz eingeräumt wie ihm und seinen Büchern.

Kein Wunder, Melville hatte sich einiges vorgenommen. »Tiefer, tiefer und immer tiefer müssen wir uns begeben, wenn wir das Menschenherz ergründen wollen, eine Wendeltreppe hinabsteigend in einen Schacht ohne Ende, in dem die Endlosigkeit nur vertuscht wird durch das Gewinde der Stufen und die Schwärze des Schachts.«

Was er in dem Roman Pierre oder Die Doppeldeutigkeit der Dinge formulierte, war sein eigenes Motiv: Melville verschrieb sich bald einer entrückten Wahrheitsfindung. 1859 bekam er auf seiner Farm Arrowhead bei New York Besuch von einem Studenten, Titus Munson Coan. Der Student bewunderte Melvilles frühe Südseeromane und wollte mehr erfahren über dessen Leben. Melville soll zu einem ehrfurchteinflößenden Monolog angehoben haben, in dem er seine Philosophien ausbreitete. Der Student, gleichermaßen beeindruckt wie irritiert, schilderte seiner Mutter die Begegnung mit den Worten: »Der Schatten des Aristoteles erhob sich wie kalter Nebel.«

Wie der Autor zu dieser Zeit lebte, ist kaum bekannt. Aber er muß auf die Menschen eine nachhaltige Wirkung ausgeübt haben. Der Publizist Ferris Greenslet erzählte Jahre später, wie Melville eines Tages in einen Frisörladen geprescht kam. »Ein Einspänner kam mit rasanter Fahrt auf uns zu und hielt vor dem Laden, und nachdem der Fahrer sein Pferd angebunden hatte, kam er herein, um sich seinen Bart trimmen zu lassen. Er trug einen blauen Zweireiher, der an einen Seemannsmantel erinnerte, und war so um die Siebzig, mit voller Haartracht und einem stark ergrauten Bart. In mehr als fünfzig Jahren habe ich niemanden erlebt, der einen solchen Eindruck auf mich machte.«

Dabei waren es wohl vor allem seine packenden Geschichten aus der Südsee, die er noch immer erzählte und mit denen er die Leute in seinen Bann zog. Ob es im Pazifik auch Mädchen gegeben habe, soll ihn der Frisör gefragt haben. Darauf Melville, beschwörerisch: »Bei Gott, das will ich meinen!«

Doch Melville war nicht nur ein guter Storyteller. Er wußte viel. Vielleicht zu viel. Er kannte sich in den Glaubenslehren aus, beschäftigte sich mit dem Christentum, Judentum, der Bibel, dem Islam, mit den häretischen Lehren. Selbst mit den fernöstlichen Weisheiten befaßte er sich, riß jedes Buch, dessen er habhaft werden konnte, jedes Zipfelchen an Wissen an sich. Hinduismus, Buddhismus, Parsismus, Gnosis, die römische und griechische Mythologie, die Allegorien in den Werken der Antike, Shakespeare, Goethe, Schiller, Balzac, von dessen Menschlicher Komödie er fünfzehn Bände besaß – nichts, was ihn nicht interessierte. Kaum etwas, aus dem er nicht schöpfte. Sein Gehirn muß einer überquellenden Bibliothek geglichen haben. Zum Schluß forschte er in der Genesis des Alten Testaments, um mit den letzten Geheimnissen zu ringen: Was ist Gott? Worin liegt des Menschen Schicksal, zerrissen zwischen Hoffnung und Untergang?

Melville trieb in einem Meer von Fragen. Meistens schrieb er nach dem Aufstehen. Er aß wenig, oft erst abends. Schweres Essen lehnte er ab. Er könne danach nicht schlafen und sei morgens nicht in der Verfassung, zu dichten. Siebzig Jahre alt, brachte er letzte Gedichte zu Papier, sie trugen Titel wie Weeds and Wieldings, Chiefly: with a Rose or Two. Seinem Bruder erzählte er sarkastisch, daß er seine Manuskripte für zehn Cent an einen Reisekistenhersteller verhökert habe, der die beschriebenen Seiten für Innenverkleidungen nutzen wolle. Ein böser Scherz, doch die Wirklichkeit sah keine Spur besser aus. Seine letzten Schriften ließ der verkannte Poet auf eigene Kosten drucken. Lächerliche fünfundzwanzig broschierte Exemplare, die er an Freunde verteilte. Seine Frau Elizabeth Shaw sorgte sich. Das Schreiben, glaubte sie, würde ihn umbringen. »Doch für praktische Dinge war er kaum zu gebrauchen.«

Statt dessen klammerte er sich an die Worte seines letzten gedanklichen Weggefährten, Schopenhauer: »Im perfekten Einklang kann der Mensch mit niemand anderem als sich selbst sein. Wahrer, tiefer Seelenfrieden kann nur in der Einsamkeit erlangt werden.« Mit diesen Leitsätzen war Melville endgültig verschollen hinter seiner Tür.

Was hatte ihn so weit getragen? Viele haben nach einer Antwort gesucht, sie jedoch nie wirklich gefunden. Auch der Schriftsteller Richard Henry Stoddard nicht, der Jahre nach Melvilles Tod bemerkte: »Oft hat mich die Frage beschäftigt, ob irgendein Leser die eigentliche Triebkraft seines Geistes verstand, ja, ob Melville sie selber verstand.« Vielleicht waren die Bücher sein Anker, sein einziger Halt im Ungewissen. Das Schreiben als geistiges Rettungsboot, um die Welt zu erdulden. Denn Melville blickte auf ein enorm hartes Leben zurück, voller Unsicherheit, voller Schicksalsschläge und derber Abenteuer. Ein Leben, das sich oft liest wie eine seiner tragischen Erzählungen.

In der Furcht des Todes

Es ist kalt und dunkel in Manhattan. Ein Sturm vom Atlantik peitscht durch den Hafen, die Wellen schlagen wie schwarze Kisten gegen die Kaimauern. An diesem späten Abend im Oktober 1830 hocken der elfjährige Herman und sein Vater Allan Melville unten an den Docks der Cortlandt Street und warten auf die Fähre in den Vorort Albany. Der kleine Herman hat schon viele Fahrten auf den Zubringerbooten New Yorks erlebt, doch die heutige soll eine besondere werden. Eine symbolische Passage in ein Leben, das urplötzlich kompliziert werden wird, unberechenbar.

Sein Vater, der neben ihm sitzt, ist ein gebrochener Mann, bankrott und verschuldet. Die Gerichte wollen Geld von ihm. Er hat sein Textiliengeschäft verloren, muß das Zuhause am Broadway räumen und seine Frau und die anderen Kinder nach Albany vorschicken, damit sie bei Verwandten Zuflucht finden. Hermans Mutter erleidet einen Nervenzusammenbruch, die Familie stürzt von einem einst geregelten Dasein in den Abgrund. Es ist die Initiation für den jungen Herman, die jähe Reise von einer heilen in die böse Welt. Als er und sein Vater auf dem schaukelnden Schiff in die Nacht fahren, hat Herman die glücklichsten Jahres seines Lebens hinter sich.

Im Oktober 1831 muß Melville, zwölf Jahre alt, die Schule verlassen, weil die Familie kein Geld mehr hat, um Bücher und die Gebühren zu bezahlen. Die hohen Schulden und die Angst, seine Familie nicht länger ernähren zu können, setzen den Vater immer mehr unter Druck. Allan Melville ist erschöpft, Panik und Schuldgefühle plagen ihn. Während der Winter hereinbricht, baut er zusehends ab. Die Familie und sein angereister Bruder Thomas sehen, wie der Vater plötzlich merkwürdige Fieberanfälle bekommt. Sein Bruder sprach später von dem »traurigen Schauspiel eines Wahnsinnigen«. Am 28. Januar 1832 schließlich stirbt Allan Melville. Er hinterläßt seine Frau, acht Kinder und einen Berg von Schulden. Und was der junge Herman Melville hier noch nicht ahnen kann: Dies ist nur der Beginn einer fürchterlichen Reihe von Unglücksfällen, die ihn im Laufe seines Lebens heimsuchen werden.

Doch schon der Tod des Papas muß den Buben für immer getroffen haben. In einem der Bücher, die er als Junge besaß, unterstrich er eine Zeile: »Mein Herz ängstigt sich in meinem Leibe, und des Todes Furcht ist auf mich gefallen.« Was war geschehen? Als Herman Melville am 1. August 1819 in New York geboren wurde, schien eine rosige Zukunft vor ihm zu liegen. Er erblickte als drittältestes Kind das Licht der Welt und verbrachte seine ersten Jahre im Luxus.

Die Familie war wohlhabend, sein Großvater ein hochdekorierter General, Allan als Händler weitgereist und erfolgreich. Doch schon bald gingen des Vaters Geschäfte den Bach runter, Allan Melville war kein guter Geschäftsmann und traf krasse Fehlentscheidungen. Hinzu kamen die Wirtschaftskrisen, die New York zwischen 1820 und 1823 schwer zusetzten. Dennoch: Die Melvilles bekamen in den nächsten Jahren immer mehr Kinder und bezogen stets größere Häuser. In seinen Zwängen schien Allan Melville das drohende Unheil zu verdrängen – bis Gläubiger ihm auf den Pelz rückten, die Dinge schließlich ihren Lauf nahmen und er starb.

Herman Melville ist kaum in der Pubertät, als er mit seinem älteren Bruder die Verantwortung für die Familie übernehmen muß. Wie soll es weitergehen?

Die Lösung ist schnell zur Hand. Herman muß arbeiten, die Familie braucht Geld. Er ackert bald als Hilfsbursche in einer Bank, bei der Heuernte, und hilft im Laden seines Bruders aus. Ein ordentlicher Job ist kaum zu kriegen. Es folgen lange Jahre frustrierender Arbeitssuche, erneute Wirtschaftskrisen, in denen Herman jeden Cent umdrehen muß. Erst mit achtzehn bekommt er endlich eine Anstellung als Dorfschullehrer. Immerhin, er kann wenigstens lesen und schreiben und kommt bei einer Bauernfamilie unter.

In der Freizeit liest er, was immer er in die Finger bekommt – und keinesfalls seichte Sonntagslektüren. Laut Biographen soll er Burtons Anatomy of Melancholy gekannt haben, den Dichter Coleridge, Gullivers Reisen von Jonathan Swift, Shakespeare und selbst so komplexe Schriften wie Ovids Metamorphosen. Beharrlich versucht er hinzuzulernen, besucht eine Lateinklasse und wird Mitglied in einem der Debattierclubs. Doch noch etwas ganz anderes regt sich in ihm, ein gewisses Fernweh, der Traum, etwas ganz anderes zu erleben. Schon sein Vater hatte ihm von seinen vielen Reisen vorgeschwärmt, von klein auf hatte er die Abenteuer von Krusenstern, Captain Cook und Mungo Park in den Ohren. Und schließlich waren da die für einen Jungen unglaublichen Geschichten, die sich die Matrosen unten an den Docks von New York erzählten, als er sich im Hafen zwischen den Schiffen rumtrieb.

Aber selbst den Ausbruch wagen? Noch ist er nicht soweit.

Unterdessen spitzt sich die Lage zu. Die Schule kann ihn nicht mehr beschäftigen, und auch bei der weiteren Jobsuche wehen ihm nur Absagebriefe ins Haus. Herman Melville ist jetzt neunzehn Jahre alt, sein Vater lange tot, und seine Mutter und sieben Geschwister wissen kaum, wie sie sich über Wasser halten sollen.

Um so erstaunlicher: Im Mai 1839 publiziert Herman Melville wie aus heiterem Himmel seinen ersten literarischen Versuch. Der Text heißt Fragments from a Writing Desk und erscheint bei der »Democratic Press« unter dem kuriosen Synonym L.A.V. Das Manuskript ist eine Art Kreuzung zwischen Brief und Parodie, in der Melville wortgewaltig und ölig die schönen Dorfmädchen von Lansingburgh besingt. Talentiert, aber unbeholfen.

Wie kam der junge Melville plötzlich dazu, so etwas zu schreiben? Man sollte meinen, daß er weiß Gott andere Dinge im Kopf hatte, als sich an großer Literatur zu versuchen. Doch wie er später einmal sagte, wurde er gelegentlich wie von einem Sturm gepackt, als zöge ihn eine unsichtbare Macht in die Welt der Buchstaben. Bücher müssen ihn schon früh fasziniert haben, trotz seiner schwierigen Situation – oder vielleicht gerade ihretwegen. Bis er selbst ernsthaft zur Feder griff, würde noch einige Zeit vergehen. Zunächst sollte ihm sein Temperament Erlebnisse ganz anderer Natur bescheren. Da draußen wartete das Meer. Die Welt der Seemänner, Kap Hoorn, der noch kaum entdeckte Südpazifik – und die erste Begegnung mit dem Leviathan. Dem großen Wal.

Zwischen Flüchen und Huren

Ein flaues Gefühl im Magen, das hatte er gewiß. In strömendem Regen trifft Melville, von Albany kommend, in New York ein. Er soll geflickte Hosen und eine Jägerjacke getragen und keinen Penny in der Tasche gehabt haben . Das einzige, was er besitzt, ist eine Vogelflinte, die ihm sein Bruder mit auf den Weg gegeben hat und die er verkaufen soll, um an ein paar Dollar zu kommen. Die letzte Nacht verbringt er bei einem Freund seines Bruders, um am nächsten Tag runter ins Hafenviertel zu gehen, wo er die Schiffe abklappert und mit Seeleuten und Kapitänen spricht. Nach einigen Stunden kommt tatsächlich eine Offerte: Melville heuert als »Boy«, als einfacher Schiffsjunge, auf einem der Segelschiffe an, die hochmastig und von Seemöwen umkreist an den Piers dümpeln.

Als er am 5. Juni 1839, neunzehn Jahre alt, an Bord des englischen Paketschiffs »St. Lawrence« geht, betritt er eine fremde Welt. Kisten werden verstaut, Kommandos gebrüllt, Matrosen spleißen Taue, Bootsmänner zimmern Holzplanken. Seegeruch hängt in der Luft, schmatzend hebt und senkt sich das Meer an den muschelverkrusteten Dalben. Was drängte Melville dazu, zur See zu fahren? Abenteurerblut soll in seinen Adern geflossen sein. Andere behaupten, er wollte dem Fluch seiner Familie und der emotionalen Bindung zu seiner Mutter entgehen. Wieder andere glauben, und dies ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß es schiere Geldnot war, die ihn trieb. Melville selbst äußerte sich nur einmal zu seinen Beweggründen: »Bittere Enttäuschung bei mehreren Plänen, die ich mir für die Zukunft zurechtgelegt hatte, die Notwendigkeit, etwas für mich selbst zu tun, und ein von Natur aus rebellisches Temperament hatten sich jetzt in mir verschworen und schickten mich als Matrosen zur See.« Über drei Monate sollte er auf seiner ersten Seereise unterwegs sein. Und dieser Trip führte ihn noch nicht in die Weiten des Südpazifiks, sondern als »Green Hand«, als blutigen Anfänger, über den Atlantik nach Liverpool.

Ohne eine Ahnung von Seefahrt, wird ihm der unterste Posten in der Mannschaftshierarchie verpaßt. Er muß niedrigste Tätigkeiten ausführen und bekommt dafür höchstens fünfundvierzig Dollar für drei Monate, ein karger Lohn, von dem noch einiges abgezogen wird: Kosten für Eßgeschirr, Seestiefel, Kleidung und Ausfälle wegen Seekrankheit. Tagebücher oder Briefe aus dieser Zeit sind nicht bekannt, doch kann man davon ausgehen, daß sein zehn Jahre später erschienenes Buch Redburn die Reise in hohem Maße authentisch schildert. Leser und Verleger verlangten damals wahrheitsgetreue, wenngleich stark romantisierende Geschichten, und in Redburn kam Melville diesem Wunsch noch nach.

Mit schwerem Herzen und tränennassen Augen nahm meine arme Mutter von mir Abschied, vielleicht hielt sie mich für einen mißratenen und halsstarrigen Jungen, und vielleicht war ich’s auch; aber wenn es so war, so hatten mich eine hartherzige Welt und harte Zeiten dazu gemacht. Ich hatte vor der Zeit gelernt, mir viele und bittere Gedanken zu machen, all meine hochfliegenden Träume von Ruhm und Ehre waren verflogen, und ich war in diesen Jahren schon so abgestumpft wie ein Mann von sechzig Jahren. Erzählt mir nichts von der Bitternis der mittleren oder späten Jahre; ein Junge kann all das schon fühlen, und noch viel mehr, wenn sich der Mehltau auf seine junge Seele gelegt hat.

Nach der Abfahrt glitt die »St. Lawrence« den East River hinaus auf den Atlantik. Bis zu vierzig Mann arbeiteten an Bord der Schiffe, die Wachen lösten sich alle vier Stunden ab. Als einfacher Matrose mußte Melville das Deck schrubben, Taue bedienen, Leinen aufschießen und sich als Bursche für alles nützlich machen. Dicht an dicht lagen die Seeleute in den engen, düsteren Mannschaftsquartieren im Bug. Das Essen war dürftig und nicht gerade abwechslungsreich. Schiffszwieback, getrocknetes Gemüse, zähes Pökelfleisch, dazu ab und an das sogenannte »Burgoo«, ein mit Melasse gesüßter Maisbrei. Die meisten Seeleute waren schlichter Natur, sie kamen aus den Fischerdörfern der Ostküste und fuhren in der Regel schon lange zur See. Ihre rauhen Finger, zerfurchten Gesichter, die dreckigen Witze und Flüche – Melville, mit seinem runden Kinn und seinen Lehrerhänden, dürfte sich in den ersten Tagen gefühlt haben wie ein Zierfisch unter Haien.

Hängematten, Gestank und wildes Gefluche: Die Zustände im Vorderschiff erinnerten eher an eine Strafanstalt, von der vermeintlichen Romantik an Bord eines Seglers keine Spur. Drohungen, Gewalt, selbst sexuelle Übergriffe waren üblich. Hinzu kam, daß Melville sich überhaupt nicht auskannte. Nautische Begriffe umschwirrten ihn, abergläubisches Gemurmel und Seglerlatein, von dem er noch nie etwas gehört hatte. Was wußte er schon, was ein Großmarsleesegelhals, ein Vorstengenstagsegelfall oder ein Kreuz-Royal ist? In Redburn schrieb er später: »Es gibt eine so endlose Anzahl von völlig neuen Namen für neue Dinge zu lernen, daß es mir zunächst unmöglich erschien, sie alle zu beherrschen. Wenn du je ein Schiff gesehen hast, hast du zweifellos bemerkt, was es dort für ein Dickicht an Tauen gibt.« Das Leben an Bord war harter Tobak. Doch Melville besaß eine gesunde Portion Humor, so daß er sich unter den Brutalitäten der seegehenden Misanthropen bald zurechtfand.

Die Überquerung des Atlantik dauerte mehrere Wochen, und die Mannschaft mußte oft erhebliche Risiken eingehen. Bis zu fünfundzwanzig Meter hoch über Deck, sich an schwankende Rahen klammernd, mußten die Männer in die Takelage klettern, um die Segel auszubringen oder zu reffen, wobei es es keinesfalls ungewöhnlich war, daß eine arme Seele den Halt verlor, sich auf Deck das Genick brach oder in der See ertrank. Die Matrosen und Offiziere müssen Melville so manche Belehrung an den Kopf geschmettert haben, als der Novize mit großen Augen vor den Fallen stand, die sich wie Lianenstränge die Masten hochzogen, und verängstigt zu den schlagenden Segeln emporblickte, die sich bald riesenhaft aufblähten. Aber kneifen? Hier? Keine Chance. Es galt harte Disziplin, Prügelstrafen waren so üblich wie das tägliche Gebet. Hinzu kam: Alles knatschte, das Boot gierte und rollte. Man kann sich unschwer vorstellen, wie Melville zumute war, um sich herum nichts als Rabauken und weites Meer.

Nach einem knappen Monat auf See zeichnen sich endlich die Kaianlagen und Kirchtürme von Liverpool am Horizont ab. Mehrere Wochen bleibt die »St. Lawrence« im Hafen, um auf Fracht zu warten: genug Zeit für die Seeleute, sich an Land umzutun. Und was Melville hier sieht, muß ihm nach dem puritanischen Neuengland wie eine dunkle Unterwelt vorkommen. Liverpool war zu jener Zeit einer der größten Häfen Europas, über zweitausend Spelunken reihten sich in den Gassen aneinander: Tanzbars, Bordelle, Kneipen, Seemannsheime und dubiose Wettkeller. Fast dreitausend Dirnen, darunter etliche Minderjährige, lehnten an den Mauern und verschwanden mit den Männern in dunklen Stiegen. Tausende Auswanderer drängelten sich an den Piers, um ein Schiff nach Amerika zu erwischen, dazwischen Besoffene, Bettler, Diebe, Kranke. Kaum ein Tag, an dem nicht eine Messerstecherei, ein Mord geschah. Und immer wieder Bilder verzweifelter Armut. In Redburn wird eine Mutter beschrieben, die mit ihren drei Kindern in einem schäbigen Hinterhof in Lancelott’s-Hey liegt, alle vier tot. Das Liverpool von 1839 bietet ein Szenario wie aus einem Schauerroman.

Die Laderäume der »St. Lawrence« sind mit Eisen, Textilien und Salz gefüllt, als der Segler die Stadt nach vier Wochen wieder verläßt und sich auf den langen Weg zurück über den Atlantik macht. Nach drei Monaten kehrt Melville im Herbst 1839 wohlbehalten in die Neue Welt zurück. Er hat sich seine ersten Sporen auf See verdient – aber noch ahnt er nicht, daß diese erste Begegnung mit dem Meer höchstens ein Witz war gegen das, was ihm auf den Walfängern noch bevorstand.

Blutendes Meer

In Amerika hat sich nichts verändert. Melville muß erneut Arbeit suchen, um seine Mutter zu unterstützen, wobei er sich auf langen Fußmärschen zwischen Lansingburgh, Albany und Greenbush ein paar Cent hinzuverdient, indem er als Briefträger Sendungen verteilt. Das Land darbt in der Krise. Bald bricht Melville auf, bis in den Mittleren Westen, es muss doch einen Job geben! Bis zum Mississippi verschlägt es ihn, nach Buffalo und Chicago, bis er ohne festes Auskommen schon bald wieder in New York landet.

Und nun bahnt sich jene Reise an, die sein Leben verändern würde. Eine Reise, die zum Mythos wurde und einige der schillerndsten Figuren und Szenen der Literatur hervorbringen sollte. Schon der erste Absatz aus Moby Dick ist legendär, und aus den Worten spricht das ganze Fernweh, das Melville lange vor dem Schreiben seines Buches getrieben hat. Zeilen, die so manchem noch heute aus der Seele sprechen.

Nennt mich meinethalben Ismael … als eines Tages mein Beutel leer war und an Land mich nichts mehr hielt, kam mir der Gedanke, mich ein wenig auf See umzutun … das ist so meine Art, mich wieder zur Raison zu bringen … wenn mir der Mißmut am Mundwinkel zerrt und nieselnder November in die Seele einzieht … ich mir Gewalt antun muß, um nicht auf die Straße hinunterzulaufen und jedem, der mir begegnet, kalten Blutes den Hut herunterzuschlagen …

Melville konnte von seinem eigenen Leben abschreiben: Denn tatsächlich hatte er sich Jahre zuvor entschlossen, auf einem Walfänger anzuheuern. Seine Mutter schrieb einer Verwandten: »Herman ist zu einer langen Reise in den Pazifik aufgebrochen, mit dem Gefühl äußerster Zufriedenheit. Gansevoort (sein Bruder) ist bis zuletzt bei ihm geblieben und sagt, er habe ihn noch nie so vollkommen glücklich gesehen.«

Sich ein wenig auf See umtun. Welch eine Untertreibung für das, was ihn in Wirklichkeit erwartete. Brutale Entbehrungen, Hunger, Enge und endloses Meer – fast vier Jahre Abenteuer lagen vor Melville, es war eine Fahrt ins Ungewisse, der Abschied dramatisch. Die Reisen dauerten so lange, bis die Schiffe genügend Wale gefangen hatten, oft bis zu fünf Jahren. Zudem waren es Vorstöße ins Blaue, der Pazifik war noch kaum kartographiert. Horrorgeschichten von Kannibalen machten die Runde, und viele Seeleute kamen nie wieder. Bis zu einem Drittel der Männer wurde von Seuchen und Skorbut dahingerafft, und so manchen riß der Sturm über Bord. Auf der bekannten Walfängerinsel Nantucket sah man reihenweise in Schwarz gehüllte Damen, fast ein Viertel aller Ehefrauen hatte die See zu Witwen gemacht.

Doch Melville soll eine »tiefe, fast mystische Sehnsucht« nach dem Meer empfunden haben, wie Biographen schreiben. Und es mag noch einen weiteren Grund für seine Walreise gegeben haben. Denn letztlich war es das »Monster«, der Leviathan, das wie ein Magnet wirkte. Melville schrieb später »von der überwältigenden Vorstellung eines Wals selbst«, die ihn neugierig machte und auf die Ozeane lockte. Die riesigen Meeressäuger beflügelten die Phantasie der Menschen damals in ungeheurem Maße, der Wal als mächtiges Symbol, Quell unerhörter Geschichten – ein Geschöpf, das viele wenigstens einmal im Leben zu Gesicht bekommen wollten.

Alte Kupferstiche, Zeichnungen und Ölgemälde zeugen von der mythologischen Dimension, die der Walfang einnahm. Auf dramatisch überzogenen Darstellungen sind tobende Pottwale zu sehen, die sich mit mahlenden Kiefern aus den Fluten schrauben; dazwischen, von Gischt und Sturm umtost, todesbleiche Seeleute, die in den Fangbooten um ihr Leben ringen. Für die Menschen an Land unvorstellbar: Was erlebten die Männer da draußen – jahrelang auf See, bis sie eines Tages wieder in die Heimathäfen einfielen? Der Walfang bot reichlich Stoff für Seemannsgarn und phantastische Legenden. Von grausigen Unfällen war die Rede, im Aberglauben erzählten sich die Männer haarsträubende Geschichten von Seeungeheuern und den Mächten der Tiefe.

Kein Märchen, sondern schaurige Realität hingegen war der Untergang des Walfangbootes »Essex«, das 1820 von einem berüchtigten Wal gerammt wurde. Eine Handvoll Seeleute konnte sich retten und trieb in winzigen Booten monatelang auf dem offenen Pazifik – bis sich die ausgehungerten Männer am Ende gegenseitig fraßen, samt Leber, Herz und Knochenmark. Die Geschichte des Unglücks war zu Melvilles Zeiten so bekannt wie heute große Kriminalfälle. Kaum jemand, der nicht mit Schrecken jeder neuen Einzelheit lauschte. Die Seeleute interessierten sich vor allem für jenen Wal, der angeblich »weiß wie Schafswolle« war und vor den Küsten Südamerikas blindwütig sein Unwesen trieb. Die, die ihn zu Gesicht bekommen hatten, schrieben ihm unheimliche Eigenschaften zu, ein Tier mit bösem Verstand und haßerfülltem Wesen. Dreißig Seemänner soll er auf dem Gewissen gehabt haben, und der Untergang der »Essex« war es, der Melville zu dem dramatischen Schluß von Moby Dick inspirierte.

Abbildung: Bettmann/CORBIS

Tod den Lebenden!

Es leben die Schlächter!

Viel Erfolg den Seemannsfrauen!

Und öliges Glück allen Walfängern!

Mit solchen Trinksprüchen und ähnlichen Gesängen ziehen die Männer auf die Schiffe, die im Hafen von New Bedford liegen. Es ist Weihnachten 1840, als Melville an Bord des Walfängers »Acushnet« geht. Melville heuert als »Foremasthand« an, als einfacher Matrose, er ist einundzwanzig Jahre alt. Sein »Lay«, der Lohn, wird im voraus festgelegt, es ist der klägliche hundertfünfundsiebzigste Anteil am Gewinn, den das Schiff auf seiner langen Reise einfahren wird. Doch keiner der Männer weiß, wie lange sie auf See sein werden. Keiner kann vorhersagen, wohin es sie verschlagen wird auf der Jagd nach den Walen.

Die Schufterei beginnt schon lange vor dem Auslaufen. Hunderte von Bodenfässern müssen die Männer an Bord schleppen, um sie in den untersten Laderäumen knapp über dem Kiel zu verstauen, schwere, mit Eisen beschlagene Behälter für bis zu zweihundertachtzig Gallonen Walöl. Dann werden Trinkwasserfässer über die Reling gehievt, dazu Stapel an Feuerholz und Tausende gebündelte Faßdauben, aus denen der Schiffsküfer im Laufe der Reise weitere Ölfässer fertigt. Auf die untersten Schichten der Ladung wird schließlich der Proviant gehäuft: Schiffszwieback, Tonnen an Fleisch und Brot. Es ist die Nahrung, die notfalls für über zwei Jahre reichen muß. Zuletzt wuchtet die Besatzung die kostbare Ausrüstung zum Fangen der Wale aufs Schiff: Harpunen, Lanzen, Leinen, dazu Seekarten, Arzneimittel, Wollpullis, Lederzeug und Rum und Gin.

Vier, fünf Tage herrscht lautes Durcheinander, bis jedes Faß, jeder Nagel seinen Platz auf dem Schiff gefunden hat. Ein letztes Mal dürfen die Seeleute an Land, und am 3. Januar 1841 schließlich läuft die »Acushnet« in den Atlantik aus. Melville waren die ersten Tage auf See nun schon vertraut. Den Umgangston der derben Blaujacken kannte er von seinem ersten Törn, und auch über Navigation und Seemannschaft hatte er bereits einiges gelernt. Dennoch: Ein ganz neues Gefühl, eine Mischung aus Euphorie und Angst, muß ihn ergriffen haben. Denn diesmal ging es nicht um drei, vier Monate. Die Schicksalsgemeinschaft, die hier langsam gen Osten segelte, würde Jahre miteinander auskommen müssen. Es war eine Reise auf Gedeih und Verderb.

Bis auf einen einzigen kurzen Brief aus Peru wird Melville in den nächsten vier Jahren nichts von sich hören lassen. Keine Post, kein Lebenszeichen, nicht einmal eine mündlich übermittelte Nachricht durch einen heimkehrenden Walfänger. Selbst eine Suchanzeige, die die Familie in einer Missionszeitung aufgibt, bleibt unbeantwortet. Es schien, als wollte Melville seinem bisherigen Leben für immer entkommen.

Kapitän Pease nimmt zunächst Kurs auf die Kapverdischen Inseln vor der Westküste Afrikas. Die Stimmung ist in den ersten Wochen auf See gedrückt, denn die Männer wissen, daß die Walbestände im Atlantik bereits stark dezimiert sind. Tagelang liegt nur die leere graue Wasserwüste vor ihnen. Doch von Müßiggang kann keine Rede sein. Das Deck muß sauber, jedes Teil des vierhundert Tonnen schweren Schiffs in Schuß gehalten werden. Alle drei Stunden hangeln sich zwei Männer in den Ausguck, um aus zwanzig Meter Höhe das Meer zu bewachen, falls doch ein Wal auftauchen sollte.

Die Arbeit an Bord eines Walfängers galt zu jener Zeit als einer der härtesten Jobs überhaupt. Kaum eine Tätigkeit, so stand es später in den Seefahrtsjournalen, mußte unter widrigeren, unwürdigeren Umständen verrichtet werden. Der Dienstplan war penibel einzuhalten, und wenn einer der dreißig Mann Besatzung nicht spurte, reagierten die beinharten Kapitäne mit drakonischen Strafen, die nicht selten in Mißhandlungen ausarteten. Dokumente in The Maritime History of Massachusetts belegen, daß Brutalitäten der Offiziere gegenüber der Mannschaft an der Tagesordnung waren. Viele Kapitäne verwandelten sich auf See zu »kaltblütigen Menschenschindern«. Und wehe dem, der seekrank wurde! Er mußte ein Stück Schweinespeck hinunterschlucken – welches allerdings an einem langen Faden befestigt war und schließlich wieder aus dem Magen herausgezogen wurde. Das angeblich magenbesänftigende Auf und Ab in der Speiseröhre wurde so lange wiederholt, bis die Seekrankheit verflogen war. Oder der Leidende halb erstickt an Deck zusammenbrach.

Unterwegs zu den Kapverden wird das Wasser immer blauer. An Deck stinkt es nach Blut, noch von früheren Fahrten drängt der Geruch von Kautabak, Teer, Salz und Rauch aus den Ritzen und kriecht bald aus jedem Kleidungsstück. Nach dem Passieren der Kapverdischen Inseln arbeitet sich die »Acushnet« immer weiter südwarts durch die Windstillen der Äquatorzone vor Südamerika. Zweieinhalb Monate nach Verlassen von Amerikas Ostküste läuft das Boot am 13. März in Rio de Janeiro ein, um seine erste Ladung zu löschen. Gerade mal zwei Tage verbringt Captain Pease im Hafen, dann befiehlt er, erneut in See zu stechen. Die Kapitäne standen unter enormem Druck. Die Reeder daheim verlangten Beute, und je schneller die Kapitäne wieder zu Hause waren, desto höher war die Chance, bald ein größeres, besseres Schiff zu erhalten.

Wenige Wochen später kommt schließlich Kap Hoorn in Sicht. Dreimal in seinem Leben umschiffte Melville die berüchtigte Spitze Südamerikas, jenes felsige, menschenleere Stück Welt, das mit seinen hohen Wellen und oft wochenlang anhaltenden Stürmen schon viele Boote in die Tiefe geschickt hatte. In seinen Seegeschichten beschreibt Melville oft das Wüten der See, orgelnde Winde, die die Segel reißen und das ganze Schiff erzittern lassen. Und zweifelsohne durchfuhr er viele Stürme selbst. Vierzig Tage soll die »Acushnet« gegen die starken Westwinde angekämpft haben, bevor die Mannschaft im Juni die Weiten des Stillen Ozeans erreicht. Doch mit der Aussicht, bald in den Walgründen des Pazifiks zu sein, hebt sich die Stimmung an Bord. Die »Acushnet« dreht ab und segelt Richtung Galapagosinseln, weit im Norden. Keine Sekunde vergeht, in der die Männer jetzt nicht den Horizont in der Hoffnung absuchen, Walherden zu erspähen.

In Moby Dick schildert Melville die Jagd auf die Tiere in der präzisen Sprache der Seeleute. Er wußte, wovon er schrieb. Auf seinen Fahrten war er den Walen oft so nah gekommen, daß er sie mit den bloßen Händen berühren konnte, und wenn nicht als Harpunier, so muß er zumindest als Rudergänger selbst in die kleinen Fangboote geklettert sein.

In Lee erschienen hohe Fontänen am Horizont, und zwei Boote, Stubbs und Flasks, wurden zur Verfolgung ausgesetzt. Sie pullten und pullten, bis sie vom Topp aus kaum noch zu erkennen waren. Dann wurde in der Ferne ein Schwall sprudelnd weißes Wasser ausgemacht … Es dauerte noch einige Zeit, dann waren sie wieder deutlich in Sicht, im Schlepp eines Wals.

Und Melville beschreibt die Verfolgung weiter: Sie hatten reichlich Leine in den Baljen, und der Wal tauchte nicht sehr rasch. Sie ließen ein ganzes Ende auslaufen und pullten zugleich aus Leibeskräften … Die Boote drohten zu kentern … Zugleich kam am anderen Ende der Wal zum Vorschein … der Riese war ermattet. Unterdessen holten sie nach und nach die Leinen ein, bis sie den Wal zu beiden Seiten flankierten und Stubb und Flask mit ihren Lanzen zum Wurf kamen. Rund um die »Pequod« tobte bald die Schlacht. Vom toten Pottwal stürzten die Haie in Scharen herbei, sie rochen das frische Blut und tranken gierig an jeder neuen Wunde wie das Volk Israel in der Wüste an jedem frischen Quell …

Die Jagdszenen in Moby Dick sind dramatisch ausgemalt, doch keineswegs übertrieben. Ähnliche Situationen waren auf See durchaus üblich, das Ringen mit den Riesen war ein blutiges Geschäft, bei dem die Männer viel riskierten. Augenzeugenberichte, die Melvilles Aktionen bestätigen, gibt es zwar nicht, doch sind die damaligen Fangmethoden in allen Details bekannt, so daß man leicht rekonstruieren kann, was der spätere Literat in dieser Zeit auf See erlebte.

Kaum war ein Wal gesichtet, wurden die fünf bis sechs Meter langen Fangboote zu Wasser gelassen, und während ihrer Aufholjagd entfernten sich die Rudergasten und Harpuniers oft mehrere Meilen von ihrem Mutterschiff. Schnelle Rettung war somit nicht mehr in Sicht – im Wissen, daß ein sechzig Tonnen schwerer Pottwal die Boote mit einem einzigen Flukenschlag zertrümmern konnte, ein nicht gerade beruhigender Gedanke. Das Wasser in den südlichen Breiten hatte zudem oft nicht mehr als vier, fünf Grad, schon nach wenigen Minuten Schwimmen drohte Unterkühlung und bald der Tod.

Sobald die Säuger auftauchten und ihre krustige Schnauze zum Greifen nah kam, stießen die Harpuniere ihre Lanzen mit aller Kraft in die enormen Leiber. Nicht selten sprangen die Tiere ob des Schmerzes aus dem Wasser, schlugen wild um sich, um dann die Flucht zu ergreifen. Die Harpunen jedoch waren per Fangleine mit den Booten verbunden, so daß die davonziehenden Wale die Schaluppen manchmal in schwindelerregendem Tempo hinter sich her zogen. Es waren aufreibende Momente – vor sich ein Riesenbuckel, der tauchte und dann urplötzlich wieder durch die Fluten pflügte, während der kleine Bug des Fangbootes mit bis zu zwanzig Knoten durch das aufgebrachte Meer schnitt. Eine nicht ungefährliche Spritztour, die die Seeleute nach dem berühmten Walfängerhafen »Nantucketer Schlittenfahrt« nannten. Es konnte jetzt Stunden dauern, bis der Wal müde wurde und nur noch an der Oberfläche dümpelte. Und dann stachen die Harpuniere erneut zu. Sie stocherten so lange im Herzen, in den Arterien und in der Lunge herum, bis der Wal an seinem eigenen Blut erstickte und langsam verendete. Ihre Siegesschreie aber stießen die Fänger erst aus, wenn sie am Ende den »brennenden Kamin« sahen, die Blutfontäne, die aus dem Atemloch spritzte.