Ally Carter
Meisterklasse
Roman
Aus dem Amerikanischen von Alice Jakubeit
Fischer e-books
Ally Carter ist Autorin erfolgreicher Jugendbuchserien, deren Bände regelmäßig auf den Bestsellerlisten der ›New York Times‹ und von ›USA Today‹ erscheinen. Ally Carter lebt und arbeitet in Oklahoma.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: bürosüd, München
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Heist Society‹ bei Disney- Hyperion, New York.
Copyright © by Ally Carter 2010.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402708-1
Für meine Familie
Niemand wusste, wann genau es mit den Problemen im Colgan-Internat angefangen hatte. Einige Mitglieder der Ehemaligen-Vereinigung gaben der Entscheidung, auch Mädchen aufzunehmen, die Schuld daran. Andere schoben es auf neumodische liberale Ideen und einen weltweiten Verfall des Respekts vor Älteren. Doch unabhängig von der jeweiligen Theorie ließ sich nicht leugnen, dass das Leben im Colgan-Internat sich verändert hatte.
Sicher, das Gelände war nach wie vor makellos gepflegt. Drei Viertel der Abschlussklasse waren bereits auf dem besten Wege, frühzeitig an einer der Eliteuniversitäten der Ivy League angenommen zu werden. Fotos von Präsidenten, Senatoren und Konzernchefs säumten noch immer den mit dunklem Holz getäfelten Korridor vor dem Büro des Schulleiters.
Aber in der guten alten Zeit hätte niemand die Aufnahme ins Colgan einen Tag vor Unterrichtsbeginn ausgeschlagen und damit die Verwaltung gezwungen, in letzter Minute händeringend nach Ersatz zu suchen. Früher hätte es für jeden freien Platz eine ellenlange Warteliste gegeben, doch in diesem Jahr gab es aus irgendeinem Grund nur noch einen Anwärter.
Vor allem aber: Es hatte eine Zeit gegeben, in der Ehre im Colgan-Internat etwas bedeutet hatte, als Schuleigentum respektiert und der Lehrkörper verehrt worden war – und der makellose 1958er Porsche Speedster des Schulleiters niemals an einem ungewöhnlich warmen Novemberabend auf dem Brunnen im Innenhof gelandet wäre, wo Wasser aus seinen Scheinwerfern sprudelte.
Es hatte eine Zeit gegeben, da das Mädchen, das dafür verantwortlich war – just die Glückliche, die erst wenige Monate zuvor den frei gewordenen Platz ergattert hatte –, den Anstand besessen hätte, die Tat einzugestehen und still und leise die Schule zu verlassen. Unglücklicherweise jedoch war diese Ära – ähnlich wie die Zeit des Schulleiter-Porsches – zu Ende.
Zwei Tage nach Porsche-Gate, wie der Vorfall bei den Schülern bald hieß, besaß das fragliche Mädchen die Unverfrorenheit, erhobenen Hauptes im Korridor des Verwaltungsgebäudes unter den strengen Schwarzweißfoto-Blicken dreier Senatoren, zweier Präsidenten und eines Richters am Obersten Bundesgericht zu sitzen, als hätte sie nichts Unrechtes getan.
An diesem Tag liefen mehr Schüler als gewöhnlich durch den Korridor, um einen Blick auf das Mädchen zu erhaschen und hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln.
»Das ist sie.«
»Das ist die, von der ich dir erzählt habe.«
»Was glaubst du, wie sie es gemacht hat?«
Jeder andere Schüler hätte, derart ins Rampenlicht gerückt, den Kopf eingezogen, aber aus Katarina Bishop wurde man nicht schlau. Manche sagten, sie sei deshalb in letzter Minute aufgenommen worden, weil ihr Vater, der ein unglaublich reicher europäischer Geschäftsmann sei, der Schule eine sehr großzügige Schenkung gemacht habe. Andere betrachteten ihre tadellose Haltung und ihre gelassene Art, ließen sich den Vornamen auf der Zunge zergehen und nahmen an, sie stamme aus dem russischen Zarengeschlecht – eine der letzten Romanows.
Für manche war sie eine Heldin, für andere ein Freak.
Jeder hatte eine andere Geschichte gehört, doch die Wahrheit ahnte niemand: dass Kat in Wirklichkeit zwar ihre Kindheit in ganz Europa verbracht hatte, aber keine reiche Erbin war. Dass sie tatsächlich ein Fabergé-Ei besaß, aber keine Romanow war. Kat selbst hätte noch Tausende von Gerüchten beisteuern können, doch sie schwieg, denn sie wusste, das Einzige, was ihr niemand abnehmen würde, wäre die Wahrheit.
»Katarina?«, rief die Sekretärin des Schulleiters. »Das Ehrengericht möchte Sie jetzt sehen.«
Kat erhob sich gelassen, doch als sie auf die offene Tür neben dem Büro des Schulleiters zuging, hörte sie ihre Schuhe quietschen. In ihren Händen kribbelte es, und sämtliche Nerven waren zum Zerreißen gespannt: Sie erkannte, dass sie in den vergangenen drei Monaten irgendwie zu einer Person geworden war, die quietschende Schuhe trug.
Man würde sie kommen hören, ob es ihr nun gefiel oder nicht.
Kat war es gewohnt, auf den ersten Blick sämtliche Winkel eines Raums zu erfassen, aber einen Raum wie diesen hatte sie noch nie gesehen.
Der Korridor war lang und gerade, dieses Zimmer jedoch war rund. Dunkles Holz umgab sie; die Lampen an der niedrigen Decke gaben nur ein trübes Licht. Kat wäre sich wie in einer Höhle vorgekommen, wäre da nicht das eine hohe schmale Fenster gewesen, durch das ein Sonnenstrahl hereinfiel. Kat merkte, dass sie die Hände danach ausstreckte, doch da räusperte sich jemand. Ein Bleistift rollte über einen Schreibtisch, Kats Schuhe quietschten erneut und holten sie zurück in die Gegenwart.
»Sie dürfen sich setzen.«
Die Stimme kam aus dem hinteren Teil des Raums, und zunächst konnte Kat sie nicht zuordnen. Die Stimme war ihr nicht vertraut, ebenso wenig wie die Gesichter vor ihr: Die zwölf zu ihrer Rechten waren faltenfrei und jung – Schüler wie sie (oder jedenfalls ihr so ähnlich, wie das bei Colgan-Schülern möglich war). Bei den zwölf Personen zu ihrer Linken waren die Haare ein wenig dünner oder das Make-up ein wenig dicker aufgetragen. Unabhängig vom jeweiligen Alter trugen alle Angehörigen des Colgan-Ehrengerichts die gleichen schwarzen Gewänder und beobachteten mit gleichermaßen ausdrucksloser Miene, wie Kat in die Mitte des runden Zimmers ging.
»Setzen Sie sich, Ms Bishop«, sagte Direktor Franklin, der in der ersten Reihe saß. Das dunkle Gewand machte ihn ausgesprochen blass. Sein Gesicht war zu pausbäckig, das Haar zu penibel frisiert. Kat vermutete, dass er die Sorte Mann war, die sich wünschte, ebenso schnell und sportlich zu sein wie ihr Auto. Und dabei musste sie trotz allem grinsen: Sie stellte sich vor, wie der Direktor selbst auf dem Brunnen im Hof hockte und Wasser spie.
Nachdem Kat sich gesetzt hatte, erhob sich der Oberstufenschüler neben dem Direktor und verkündete: »Ich bitte um Ruhe im Ehrengericht des Colgan-Internats.« Seine Stimme füllte den ganzen Raum. »Wer zu sprechen wünscht, wird angehört werden. Wer bereit ist, dem Licht zu folgen, wird sehen. Wer Gerechtigkeit sucht, wird die Wahrheit finden. Ehre für einen«, schloss der Junge, und ehe Kat recht verarbeiten konnte, was sie da gehört hatte, antworteten vierundzwanzig Stimmen im Chor: »Ehre für alle.«
Der Junge setzte sich wieder und blätterte in einem alten ledergebundenen Buch, bis der Direktor ihn ansprach: »Jason …«
»Oh. Natürlich.« Jason hob das schwere Buch. »Das Ehrengericht des Colgan-Internats wird über den Fall der Katarina Bishop, Schülerin im zweiten Jahr, befinden. Wir werden Beweismaterial sehen, demzufolge Ms Bishop am zehnten November vorsätzlich … ähm … persönliches Eigentum gestohlen hat.« Jason wählte seine Worte mit Bedacht. Ein Mädchen in der zweiten Reihe unterdrückte ein Lachen.
»Demzufolge sie, da sie die Tat um zwei Uhr morgens beging, außerdem gegen die vorgeschriebene Nachtruhe verstoßen hat. Und demzufolge Ms Bishop vorsätzlich Schuleigentum zerstört hat.« Jason ließ das Buch sinken und hielt inne – ein wenig zu dramatisch, fand Kat. Dann fügte er hinzu: »Nach dem Ehrenkodex des Colgan-Internats sind diese Vergehen durch Schulausschluss zu ahnden. Verstehen Sie die Vorwürfe, die Ihnen soeben verlesen wurden?«
Kat begriff nicht sogleich, dass das Schulgericht wirklich eine Antwort von ihr erwartete. Dann sagte sie: »Ich habe es nicht getan.«
»Die Vorwürfe.« Direktor Franklin beugte sich vor. »Die Frage, Ms Bishop, lautete, ob Sie die Vorwürfe verstehen.«
»Ja.« Kat spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. »Ich bin bloß nicht damit einverstanden.«
»Ich –«, setzte der Direktor erneut an, doch eine Frau zu seiner Rechten berührte ihn sachte am Arm.
Sie lächelte Kat an und sagte: »Herr Direktor, ich meine, mich zu erinnern, dass in Angelegenheiten wie dieser üblicherweise die gesamte Schullaufbahn eines Schülers in Betracht gezogen wird. Vielleicht sollten wir mit einer Prüfung von Ms Bishops Akte beginnen?«
»Oh.« Der Direktor sah aus, als hätte man ihm die Luft herausgelassen. »Nun, Sie haben ganz recht, Ms Connors, aber da Ms Bishop erst seit wenigen Monaten bei uns ist, haben wir keine nennenswerte Akte über sie.«
»Aber dies ist doch gewiss nicht die erste Schule, die diese junge Frau besucht?«, fragte Ms Connors, und Kat unterdrückte ein nervöses Lachen.
»Nun, das stimmt«, räumte der Direktor widerwillig ein. »Sicher. Wir haben ja auch versucht, Kontakt mit diesen Schulen aufzunehmen, aber an der Trinity gab es einen Brand, bei dem das gesamte Sekretariat und die meisten Unterlagen vernichtet wurden. Und das Institut Berne hatte letzten Sommer einen furchtbaren Computerabsturz, von daher war es ausgesprochen schwierig … etwas zu erfahren.«
Der Direktor sah Kat an, als würden die Katastrophen ihr auf Schritt und Tritt folgen. Ms Connors hingegen schien beeindruckt zu sein. »Das sind zwei der angesehensten Schulen Europas.«
»Ja, Ma’am. Mein Vater, er … arbeitet oft dort.«
»Was machen deine Eltern eigentlich?«
Kat suchte die zweite Reihe nach dem Mädchen ab, das diese Frage gestellt hatte. Was hatten die Berufe ihrer Eltern eigentlich hiermit zu tun? Doch dann fiel Kat wieder ein, dass das Colgan die Sorte Schule war, an der Wohnort und Beruf der Eltern offenbar immer eine Rolle spielten.
»Meine Mutter starb, als ich sechs war.«
Einige Anwesende seufzten daraufhin mitleidig, aber Direktor Franklin ließ sich nicht beirren. »Und Ihr Vater?«, fragte er, nicht willens, zuzulassen, dass eine praktischerweise verstorbene Mutter Kat irgendwelche Sympathiestimmen eintrug. »Was macht der?«
»Kunst«, sagte Kat schlicht und vorsichtig. »Er macht alles Mögliche, aber sein Fachgebiet ist Kunst.«
Der Leiter des Fachbereichs Kunst merkte auf. »Sammler?«
Wieder musste Kat sich das Lächeln verkneifen. »Eher … Vertrieb.«
»Das ist ja alles höchst interessant«, fuhr Direktor Franklin dazwischen, »aber es hat nichts mit … der vorliegenden Angelegenheit zu tun.« Kat hätte schwören können, dass er um ein Haar gesagt hätte: mit meinem Cabriolet.
Darauf sagte niemand etwas. Das Einzige, was sich regte, war der Staub, der noch immer in dem schmalen Lichtstreifen tanzte. Schließlich beugte Direktor Franklin sich vor, kniff die Augen zusammen und durchbohrte Kat mit seinem Blick. »Ms Bishop, wo waren Sie am Abend des zehnten November?«, fuhr er sie an.
»In meinem Zimmer. Ich habe gelernt.«
»An einem Freitagabend? Da haben Sie gelernt?« Der Direktor warf seinen Kollegen einen empörten Blick zu, als wäre das die dreisteste Lüge, die ein Colgan-Schüler jemals vorzubringen gewagt hatte.
»Na ja, das Colgan ist wirklich eine außergewöhnlich anspruchsvolle Schule. Ich muss lernen.«
»Und Sie haben niemanden gesehen?«, fragte Jason.
»Nein, ich –«
»Oh, aber jemand hat Sie gesehen, nicht wahr, Ms Bishop?«, warf Direktor Franklin mit eiskalter, schneidender Stimme ein. »Wir haben hier Kameras, die das Gelände überwachen. Wussten Sie das etwa nicht?«, fragte er und gluckste.
Aber natürlich wusste Kat von den Kameras. Sie wusste vermutlich mehr über sämtliche Aspekte der Sicherheitsvorkehrungen des Colgan als der Schulleiter, doch das behielt sie im Augenblick lieber für sich. Es gab zu viele Zeugen. Zu viel stand auf dem Spiel. Außerdem nahm der Direktor jetzt mit einem triumphierenden Lächeln eine Fernbedienung und dämpfte das Licht im Raum noch mehr. Kat musste sich auf ihrem Stuhl umdrehen, denn hinter ihr glitt ein Teil der runden Wand beiseite und gab den Blick frei auf einen großen Fernsehschirm.
»Diese junge Dame weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit Ihnen auf, finden Sie nicht, Ms Bishop?« Als Kat das körnige Schwarzweißvideo anschaute, erkannte sie selbstverständlich den Innenhof, doch die Person im schwarzen Kapuzenshirt, die da quer über den Hof rannte, hatte sie noch nie gesehen.
»Das bin ich nicht.«
»Aber die Türen zum Schülerwohngebäude wurden in dieser Nacht nur ein einziges Mal geöffnet – um zwei Uhr siebenundzwanzig morgens –, und zwar mit einem Schülerausweis. Mit diesem Schülerausweis.« Kats Magen zog sich zusammen: Auf dem Bildschirm erschien das allerschlechteste Foto, das sie je gemacht hatte. »Dies ist Ihr Colgan-Schülerausweis, nicht wahr, Ms Bishop?«
»Ja, schon, aber –«
»Und das hier«, Direktor Franklin griff unter seinen Stuhl, »wurde bei einer Durchsuchung Ihrer persönlichen Habe gefunden.« Als er das personalisierte Nummernschild – COLGAN-1 – hoch hielt, schien es förmlich zu leuchten.
Kat hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Mit Anschuldigungen kannte sie sich ja aus, aber ungerechtfertigte Anschuldigungen waren Neuland für sie.
»Katarina?«, fragte Ms Connors, als flehte sie Kat an, zu beweisen, dass sie sich irrten.
»Ich weiß, das sieht nach sehr vielen, sehr überzeugenden Beweisen aus«, sagte Kat und dachte fieberhaft nach. »Aber sind es nicht vielleicht zu viele Beweise? Ich meine, hätte ich wirklich meinen eigenen Ausweis benutzt, wenn ich es getan hätte?«
»Sie meinen, da es Beweise dafür gibt, dass Sie es getan haben, beweist das, dass Sie es nicht getan haben?« Selbst Ms Connors klang skeptisch.
»Na ja«, sagte Kat, »ich bin doch nicht dumm.«
Der Schulleiter lachte. »Na dann – wie hätten Sie es denn gemacht?« Er machte sich über sie lustig – warf ihr einen Köder hin –, doch Kat überlegte unwillkürlich, wie die Antwort lauten könnte:
Es gab eine Abkürzung hinter Warren Hall. Dieser Weg war kürzer und dunkler und völlig frei von Kameras …
Man brauchte keinen Ausweis, um die Türen zu öffnen, wenn man genügend Kaugummi dabeihatte, um den Sensor auf dem Weg hinaus zuzukleben …
Einen solchen Streich würde man nicht ausgerechnet dann spielen, wenn das Servicepersonal am nächsten Morgen lange vor den Schülern auf sein würde …
Direktor Franklin lächelte selbstgefällig und weidete sich an ihrem Schweigen, als wäre er wer weiß wie schlau.
Aber Kat hatte bereits gelernt, dass die Leute am Colgan sich häufig irrten – zum Beispiel hatte ihr Italienischlehrer behauptet, mit ihrem Akzent würde Kat auf den Straßen Roms sofort auffallen. (Obwohl Kat bei einem besonders schwierigen Job in der Vatikanstadt schon als Franziskanernonne durchgegangen war.) Sie dachte daran, wie albern ihre Kunstgeschichtslehrerin geklungen hatte, als sie über den Anblick der Mona Lisa ins Schwärmen geraten war. (Dabei wusste Kat zufällig, dass das Original im Louvre 1862 durch eine Fälschung ersetzt worden war.)
Kat hatte vieles gelernt, ehe sie sich im Colgan-Internat angemeldet hatte – und eines wusste sie genau: Das Colgan war ein Ort, an dem sie niemals darüber reden konnte.
»Ich weiß ja nicht, wie das an der Trinity oder am Institut Berne oder an sonst einer dieser europäischen Schulen gehandhabt wird, junge Dame, aber hier im Colgan-Internat befolgen wir die Regeln.« Donnernd schlug die Faust des Direktors auf den Tisch. »Wir respektieren das Eigentum anderer. Wir halten uns an den Ehrenkodex dieser Einrichtung und an die Gesetze dieses Landes.«
Aber mit Ehre kannte Kat sich selbst aus. Sie war mit ihrem eigenen Satz Regeln aufgewachsen. Und die erste Regel in Katarina Bishops Familie lautete schlicht und ergreifend: Lass dich nicht erwischen.
»Katarina«, sagte Ms Connors, »haben Sie irgendetwas hinzuzufügen, was das alles erklären könnte?«
Kat hätte sagen können: Das bin ich nicht, oder: Da muss ein Irrtum vorliegen. Die bittere Ironie lag darin, dass sie sich ohne weiteres mit einer Lüge hätte herausreden können – wenn sie denn wirklich etwas angestellt hätte. Aber die Wahrheit sagen? Darin war sie nicht so gut.
Ihr Schülerausweis war kopiert worden. Das Nummernschild war in ihrem Zimmer platziert worden. Irgendjemand hatte sich genau wie sie gekleidet und dafür gesorgt, dass die Kameras ihn aufnahmen.
Sie war hereingelegt worden. Und Kat wagte nicht auszusprechen, was sie insgeheim dachte: dass derjenige sehr, sehr gut war.
Kats Taschen waren in zwanzig Minuten gepackt. Sie hätte vielleicht noch herumgetrödelt, sich verabschiedet, doch da war niemand, von dem sie sich hätte verabschieden können. Und so fragte Kat sich nach drei Monaten auf dem Colgan unwillkürlich, ob der Tag, an dem sie vom Internat verwiesen wurde, womöglich der stolzeste Augenblick in der langen und schillernden Geschichte ihrer Familie werden würde. Sie malte sich aus, wie sie in einigen Jahren alle um Onkel Eddies Küchentisch herum sitzen und davon erzählen würden, wie die kleine Katarina einmal ein ganzes fremdes Leben gestohlen hatte und dann wieder daraus verschwunden war, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Na ja, fast, dachte Kat, als sie ihre Taschen am ehemals makellosen Rasen vorbeitrug. Tiefe Furchen verliefen immer noch vom Rand zum verstümmelten Brunnen in der Mitte des Innenhofs: eine schlammige Erinnerung, die zweifellos bis zum Frühjahr zu sehen sein würde.
Hinter sich hörte sie Gelächter und drehte sich um. Eine Gruppe Achtklässler stand flüsternd zusammen. Schließlich war einer so mutig, sich ihr zu nähern.
»Ähm …«, setzte er an. Er warf einen Blick zurück zu seinen Freunden und nahm seinen Mut zusammen. »Wir haben uns gefragt … ähm … Wie hast du das gemacht?«
Eine Stretchlimousine fuhr durchs reichverzierte Tor und hielt am Bordstein. Der Kofferraum klappte auf. Während der Fahrer nach ihren Taschen griff, sah Kat die Jungen an und warf dann einen letzten Blick auf das Colgan. »Das ist eine ausgezeichnete Frage.«
Es klingelte. Schüler eilten über den Innenhof zur nächsten Unterrichtsstunde. Als Kat auf den Rücksitz der Limousine kletterte, wurde sie unwillkürlich ein bisschen traurig oder jedenfalls so traurig, wie man sein konnte, wenn man etwas verloren hatte, was einem von Anfang an nicht rechtmäßig zugestanden hatte. Sie lehnte sich zurück und seufzte. »Tja, das war’s dann wohl.«
Und das wäre es auch gewesen … wenn nicht eine andere Stimme gesagt hätte: »Genau genommen fängt es gerade erst an.«
Kat fuhr zusammen. Im Halbdunkel hatte sie die Gestalt am anderen Ende der Rückbank gar nicht bemerkt.
»Hale?«, fragte sie, als könnte er ein Hochstapler sein. »Hale, was machst du denn hier?«
»Ich dachte, du brauchst vielleicht eine Mitfahrgelegenheit.«
»Das Büro des Direktors hat mir einen Wagen bestellt.«
Er zuckte die Achseln, ungerührt, aber doch amüsiert. »Und wofür hältst du das hier? Ein U-Boot?«
Als die Limousine die kreisförmige Auffahrt der Schule hinunterfuhr, drehte Hale sich um und sah aus dem Fenster. Kat beobachtete, wie er das Gelände mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen betrachtete, als gäbe es für ihn keinen Ort auf Erden, an dem er unbedingt sein musste. Manchmal fragte Kat sich, ob diese Art Selbstsicherheit etwas war, was man nur mit sehr altem Reichtum erwarb. Dann wieder fragte sie sich, ob es etwas war, was man stehlen konnte.
Als das Tor zum Colgan-Internat in der Ferne verschwand, winkte Hale. »Auf Wiedersehen, Colgan!« Dann wandte er sich ihr zu. »Hallo, Kitty Kat.«
»Hale, woher wusstest du, wo ich –« Kat brach ab.
Unvermittelt saß sie nicht mehr auf der Rückbank einer Limousine – sie saß wieder auf einem harten Stuhl und starrte auf das Schwarzweißüberwachungsvideo, in dem jemand in einem Kapuzensweatshirt quer über den Innenhof lief. Sie betrachtete das vergrößerte Abbild ihres eigenen Schülerausweises auf einem Bildschirm. Sie beobachtete Direktor Franklin, der ein verbeultes personalisiertes Nummernschild über den Kopf hielt, damit alle es sehen konnten.
»Hale.« Kat seufzte. »Das Auto des Direktors? Echt? Ist dir das nicht zu abgedroschen?«
»Was soll ich sagen?« Er zuckte die Achseln. »Ich bin eben ein altmodischer Typ. Außerdem ist das aus gutem Grund ein Klassiker.« Er lehnte den Kopf ans Fenster. »Schön, dich zu sehen, Kat.«
Kat wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Ich freue mich auch? Danke, dass ich wegen dir von der Schule geflogen bin? Kann es sein, dass du noch schärfer aussiehst als früher? Kann es sein, dass ich dich doch vermisst habe?
Stattdessen entschied sie sich für: »Hat mein Vater dich dazu angestiftet?«
Hale lachte auf und schüttelte den Kopf. »Seit Barcelona ruft er mich nicht mehr zurück.« Er beugte sich zu ihr und flüsterte: »Ich denke, möglicherweise ist er immer noch sauer auf mich.«
»Tja, da sind wir schon zu zweit.«
»Hey«, fuhr Hale auf. »Wir waren uns damals alle einig, dass der Affe hervorragend dressiert zu sein schien.«
Kat schüttelte nur den Kopf. »Du hast dafür gesorgt, dass sie mich rausschmeißen, Hale.«
Er grinste und verbeugte sich gemessen. »Gern geschehen.«
»Du hast das Auto des Direktors demoliert.«
»W. W. Hale der Vierte hat Direktor Franklin dieses Auto überhaupt erst gekauft – oder haben sie das nicht erwähnt? Zugegeben, das war als Wiedergutmachung für einen Brand, den W. W. Hale der Fünfte angeblich in der achten Klasse verursacht hatte – bevor sie uns nahelegten, dass alle gegenwärtigen und künftigen W. W. Hales ihre Schulbildung anderswo erwerben. Was bisher gut funktioniert, denn ich bin jetzt auf dem Knightsbury Institute.«
»Von dem habe ich noch nie gehört.«
»Mein Vater hat erst letzte Woche einen Brief erhalten, in dem es heißt, ich sei ein vorbildlicher Schüler.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Kate, die das bezweifelte.
»Tja, nun, ich bin der einzige Schüler.« Er grinste – ein typisches Hale-Grinsen. »Der Haken an einer fiktiven Schule ist natürlich die miserable Lacrosse-Mannschaft. Jedenfalls habe ich genau genommen mein eigenes Auto demoliert.«
Sie musterte W. W. Hale den Fünften. Er sah älter aus als sechzehn, hatte zerzauste hellbraune Haare sowie eine bronzefarbene Haut und dazu einen Vornamen, den Kat trotz zweijähriger Bemühungen noch nicht herausbekommen hatte.
»Ich glaube nicht, dass sie das auch so sehen, Wesley«, riet sie.
Hale lächelte. »Nicht. Einmal. Lauwarm.«
Bisher hatte Kat sämtliche Vornamen mit »Wa« durchprobiert, die ihr einfielen, doch Hale hatte sich weder zu Walter noch zu Ward oder Washington bekannt. Sowohl Warren als auch Waverly hatte er entschieden von sich gewiesen. Watson hatte ihn auf dem Weg nach Edinburgh, Schottland, zu einer sehr schlechten Sherlock-Holmes-Imitation veranlasst, die einen Gutteil ihrer Zugfahrt gedauert hatte. Und Wayne erschien ihr so abwegig, dass sie es nicht einmal probiert hatte.
Hale war Hale. Und der Umstand, dass Kat nicht wusste, wofür die beiden Ws standen, erinnerte sie immer wieder daran, dass man manche Dinge im Leben nicht stehlen kann. Sie müssen einem geschenkt werden.
Selbstverständlich hielt sie das nicht davon ab, es immer wieder zu versuchen.
»Und? Wie lange hat es gedauert, bis du ins Schulsekretariat eingebrochen bist?«, fragte Hale. »Eine Woche?« Kat spürte, wie ihre Wangen rot wurden. »Aber du hast nichts über mich gefunden, hab ich recht?« Er hob eine Augenbraue. »Kat«, sagte er seufzend. »Das ist so süß. Und treuherzig. Naivität steht dir gut.«
»Gewöhn dich lieber nicht daran.«
Er schüttelte den Kopf. »Ach, keine Sorge.«
Mit leise schnurrendem Motor glitt der Wagen dahin.
»Warum hast du das getan, Hale?«
»Du gehörst da nicht hin.«
»Warum hast du das getan?«, fragte sie erneut. Allmählich verlor sie die Geduld. »Es ist mir ernst, Hale.«
»Mir auch, Kat.«
»Du hast –«
»Einen Job für dich«, sagte Hale. »Und zwar nur für dich«, fügte er hinzu, ehe sie widersprechen konnte.
Die Hügel wurden steiler. Der Wind wirbelte Blätter auf, und in der Ferne glitzerte die Sonne auf einem See. Doch Kat wandte den Blick nicht von Hale ab. »Ich will keinen Job.«
»Den hier willst du garantiert.«
»Ich bin raus aus dem Familienunternehmen. Oder hast du das noch nicht mitbekommen?«
»Okay.« Hale verschränkte die Arme und rutschte auf dem Sitz ein Stück tiefer. Er lehnte den Kopf an und schloss die Augen. Kat hätte schwören können, dass er schon halb schlief, als er fragte: »Aber bist du auch raus aus deiner Familie?«
W. W. Hales des Fünften Favorit unter all den Häusern und Wohnungen, die seine Familie besaß, war weder das Penthouse an der Park Avenue (zu protzig) noch die Wohnung in Hongkong (zu laut) und auch nicht der Landsitz auf Martha’s Vineyard (viel zu viel Sand). Nein, richtig wohl fühlte der jüngste Spross der Hales sich nur auf dem alten, zweihundertvierzig Hektar großen Anwesen im ländlichen New York. Jedenfalls war dies der einzige Ort, an dem Kat ihn je hatte sagen hören:
»Wir sind zu Hause.«
Die Eingangshalle, die vor ihnen lag, war zwei Stockwerke hoch und mindestens neun Meter tief. Hale ging voran und eilte am Monet in der Halle vorüber, als wollte er so verhindern, dass Kat ihn bemerkte – oder stahl. Er deutete auf die Treppe. »Marcus hat dich im blauen Zimmer untergebracht. Du kannst nach oben gehen, wenn du magst. Oder wir können uns raus auf die Terrasse setzen und uns von Marcus irgendetwas zu essen bringen lassen. Hast du Hunger? Fällt mir jetzt erst ein. Möchtest du –«
»Ich möchte, dass du mir sagst, was los ist.«
Stundenlang hatte sie Hales Schnarchen gelauscht, die Landschaft Neuenglands an sich vorbeiziehen sehen und sich dabei den Kopf darüber zerbrochen, wie sie ihr Internatsleben zurückbekommen könnte. Nun gab sie auf. Ihr waren die Ideen ausgegangen, daher besann sie sich auf die älteste, am besten erprobte Methode jedes Diebs, um zu bekommen, was er wollte: Sie bat höflich darum.
»Bitte, Hale.«
Doch er gab keine Antwort. Stattdessen führte er Kat durch die Eingangshalle in ein Zimmer, das sie noch nie gesehen hatte. Mondlicht fiel in Kaskaden durch die Fenster, die eine Wand des Zimmers säumten. Es gab Bücherregale, Ledersofas und Brandykaraffen, und die Luft roch abgestanden nach alten Zigarren und noch älterem Reichtum. Kat war sofort klar, dass dieser Raum eine besondere Bedeutung hatte. Für bedeutende Männer bestimmt war. Dennoch eilte sie, ohne zu zögern, an Hale vorbei … bis sie das Gemälde erblickte.
Sie trat darauf zu, als näherte sie sich einem Fenster in ein anderes Land, ein anderes Jahrhundert. Ehrfürchtig betrachtete sie die satten Farben und kraftvollen Pinselstriche. »Es ist wunderschön«, flüsterte sie und konnte sich gar nicht sattsehen an diesem in Mondlicht getauchten Werk eines alten Meisters.
»Das ist ein Vermeer.«
Kat wandte sich zu Hale um, der an der Tür zurückgeblieben war. »Es ist gestohlen.«
»Was soll ich sagen?« Hale trat sachte hinter sie und betrachtete das Gemälde über ihre Schulter hinweg. »Ich traf einen sehr netten Mann, der mit mir wettete, er hätte das beste Sicherheitssystem in Istanbul.« Sein Atem streifte warm ihren Nacken. »Er hat sich geirrt.«
Kat stand ganz still. Hale ging zum Schreibtisch in der hinteren Ecke des riesigen Raums, nahm einen Telefonhörer ab und sagte: »Marcus, wir sind zu Hause. Könnten Sie uns ein bisschen – genau. In die Bibliothek.« Er deckte die Sprechmuschel mit der Hand ab. »Magst du Corned Beef?« Kat funkelte ihn wütend an, doch er lächelte nur. »Ja, sie liebt es!«, rief er. Dann legte er auf und ließ sich auf eines der Ledersofas fallen, als ob das Haus ihm gehörte, was, wie Kat sich in Erinnerung rief, ja auch der Fall war.
»Also«, fragte Hale mit einem trägen, lässigen Grinsen, »hast du mich vermisst?«
Ein guter Dieb ist immer auch ein ausgezeichneter Lügner. Das gehört zu den Grundkompetenzen, zum Werkzeug, zum Handwerk. Umso mehr fühlte Kat sich in ihrer Entscheidung, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, bestärkt, denn als sie mit einem Nein antwortete, lächelte Hale nur umso breiter.
»Es ist wirklich schön, dich zu sehen, Kat.«
»Vielleicht erinnerst du dich erst mal daran, wer ich bin, bevor du versuchst, mich einzuwickeln.«
»Nein.« Hale schüttelte den Kopf. »Vielleicht erinnerst du dich erst mal daran. Du willst zurück aufs Colgan, ja? Nachdem ich dich von dort gerettet habe?«
»Das Colgan war gar nicht so übel. Auf dem Colgan hätte ich normal sein können.«
Hale lachte. »Glaub mir: Du wärst auf dem Colgan niemals normal gewesen.«
»Auf dem Colgan hätte ich glücklich sein können.«
»Sie haben dich rausgeschmissen, Kat.«
»Weil du mich reingelegt hast!«
Hale zuckte die Achseln. »Stimmt.« Er breitete die Arme aus und legte sie auf die Rückenlehne des Sofas. »Ich hab dich da rausgeholt, weil ich eine Nachricht für dich habe.«
»Gehört deiner Familie nicht ein Mobilfunkunternehmen?«
»Nur ein kleines.« Zur Veranschaulichung hielt er Daumen und Zeigefinger zwei Zentimeter auseinander. »Außerdem ist es die Sorte Nachrichten, die man besser persönlich überbringt.«
»Ich dachte, mein Vater spricht nicht mit …« Sie verstummte. Hale schüttelte den Kopf. Und plötzlich verstand Kat alles ein bisschen besser. Sie ließ sich auf die Couch ihm gegenüber fallen und fragte: »Und wie geht’s Onkel Eddie?«
»Gut.« Hale nickte. »Er lässt dich ganz lieb grüßen. Er sagt, das Colgan-Internat wird dir die Seele rauben.« Sie wollte schon widersprechen, doch Hale hob die Hand. »Aber das ist nicht die Nachricht.«
»Hale.« Entnervt stieß sie den Atem aus.
»Kat«, ahmte Hale sie nach. »Willst du jetzt Onkel Eddies Nachricht hören oder nicht?«
»Ja.«
»Er sagt, er muss sie zurückgeben.«
»Was?« Kat fragte sich, ob sie sich verhört hatte. »Onkel Eddie muss was zurückgeben?«
»Nein. Das ist die Nachricht. Ich zitiere: ›Er muss sie zurückgeben.‹«
Kat schüttelte den Kopf. »Verstehe ich nicht.«
»Da war ein Job, Kat. Vor einer Woche. In Italien.«
»Ich weiß nichts von einem Job.« Doch dann fiel Kat wieder ein, dass sie diese Welt ja hinter sich gelassen hatte. Den Kreis der Eingeweihten. Dieses Leben. Den täglichen Speiseplan auf dem Colgan kannte sie für den ganzen Monat, aber dies …
»Private Sammlung«, fuhr Hale fort. »Sehr hochwertige Gemälde. Sehr hochwertige Sicherheitsanlage. Sehr hohes Risiko. Zwei – vielleicht drei – Crews auf der Welt hätten das tun können, und –«
»Mein Vater steht ganz oben auf der Liste?«
Hale schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Liste. Da ist nur –«
»Mein Vater.« Kat dachte kurz nach, dann seufzte sie. »Und?«, fragte sie. Plötzlich kam ihr das alles absurd vor. »Na, und? Das ist nun mal das, was er macht, Hale. Das ist das, was wir alle machen. Was ist daran diesmal anders?«
Sie stand auf und ging auf die Tür zu, doch blitzschnell war Hale neben ihr, und seine Hand umschloss ihr Handgelenk.
»Es ist anders, weil es anders ist, Kat. Dieser Typ – dieser Typ mit den Gemälden – das ist ein ganz übler Bursche.«
»Ich bin Bobby Bishops Tochter, Hale. Ich kenne jede Menge üble Burschen.«
Sie versuchte sich loszumachen, doch Hale stand so dicht vor ihr, dass seine Brust an ihre stieß. Seine Hände lagen warm auf ihrer Haut. Mit einer Dringlichkeit, die neu an ihm war, flüsterte er: »Hör mir zu, Kat. Das ist kein übler Bursche, so wie dein Vater und Onkel Eddie üble Burschen sind.« Er atmete tief durch. »So wie ich ein übler Bursche bin. Dieser Kerl heißt Arturo Taccone und ist auf eine ganz andere Art böse.«
In den zwei Jahren, die Kat Hale nun kannte, hatte sie viele verschiedene Gesichtsausdrücke bei ihm gesehen: neckisch, neugierig, gelangweilt … Doch sie hatte ihn noch nie verängstigt gesehen, und dies vor allem ließ sie erschaudern.
»Er will seine Gemälde zurück.« Hales Stimme klang nun sanfter. Er war nicht mehr ganz so angespannt. An die Stelle der Anspannung war etwas anderes getreten. »Wenn er sie nicht in zwei Wochen zurückhat, dann …« Hale wollte offensichtlich nicht aussprechen, was dann geschehen würde, aber das war Kat nur recht. Sie wollte es gar nicht hören.
Kat ließ sich wieder aufs Sofa plumpsen. Sie wusste nicht, wann sie zum letzten Mal sprachlos gewesen war. Allerdings wusste sie auch nicht, wann man ihr zum letzten Mal etwas untergeschoben hatte, das sie gar nicht getan hatte, so dass sie am Ende des Internats verwiesen worden war, nachdem sie drei Monate darauf verwendet hatte, sich die Aufnahme dort zu ergaunern. Und dann war sie obendrein von einem Typen gekidnappt worden – wenn man es genau nahm –, der sich einen Monet leisten, aber trotzdem nicht widerstehen konnte, einen Vermeer zu stehlen. Unter diesen Umständen kam ihr Sprachlosigkeit wie eine ganz passable Reaktion vor.
»Früher war mein Vater vorsichtiger«, sagte sie leise.
»Früher hatte dein Vater dich.«
Kat aß ihr Corned-Beef-Sandwich. Sie trank ein wenig Limonade. Ihr war vage bewusst, dass Hale sie beobachtete, doch das lag nur daran, dass das Mädchen in ihr nicht ignorieren konnte, dass es allein mit ihm in einem Raum war. Ansonsten war sie mucksmäuschenstill. Ihre Familie wäre stolz auf sie gewesen.
Eine Stunde später führte Marcus Kat die weitläufige Treppe hinauf. Kat starrte auf seinen Rücken und versuchte zu erraten, ob er altersmäßig eher Richtung fünfzig oder Richtung achtzig tendierte. Sie hörte genau zu, wie er sprach, und versuchte zu bestimmen, ob sein Akzent eher schottisch oder doch eher walisisch war. Aber vor allem fragte Kat sich, warum Marcus der einzige Bedienstete war, den sie je im Orbit des Planeten Hale gesehen hatte.
»Ich war so frei, Sie in Mrs Hales Zimmer unterzubringen, Miss.«
Marcus öffnete eine breite Flügeltür, und Kat setzte zum Protest an – schließlich verfügte das Anwesen über vierzehn Schlafzimmer. Doch dann machte Marcus Licht, und Kat atmete die abgestandene Luft eines Zimmers ein, das sauber, aber vernachlässigt war. Es verfügte über ein riesiges Bett, eine Chaiselongue sowie mindestens zwanzig seidenbezogene Kissen in verschiedenen Blautönen. Es war wunderschön, aber auch traurig anzusehen, dachte Kat. Dieses Zimmer musste wieder einmal ein Herz schlagen spüren.
»Wenn Sie irgendetwas brauchen, Miss«, sagte Marcus von der Tür aus, »ich habe Nummer sieben im Haustelefon.«
»Nein«, murmelte Kat. »Ich meine, ja. Ich meine … ich brauche nichts. Danke.«
»Sehr wohl, Miss«, sagte er und griff nach den Türflügeln.
»Marcus?«, hielt sie ihn auf. »Haben Hales Eltern … ich meine, Mr und Mrs Hale … Wie lange werden sie fort sein?« Kat fragte sich, was trauriger war: Eltern zu haben, die gestorben waren, oder solche, die einfach davongezogen waren?
»Die Dame des Hauses wird dieses Zimmer nicht brauchen, Miss.«
»Werden Sie mich jemals Kat nennen, Marcus?«
»Nicht heute, Miss.« Er wiederholte es leise: »Nicht heute.«
Dann schloss er die Tür, und Kat lauschte seinen Schritten, die sich über den langen Korridor entfernten. Sie legte sich auf das leere Bett von Hales Mutter – das Federbett fühlte sich kalt an auf ihrer Haut – und kam sich sehr allein vor in diesem großen Zimmer. Ihre Gedanken drehten sich um ihren Vater und Onkel Eddie, um Porsche Speedsters und Monet.
Stunden vergingen. Ihre Gedanken gingen ineinander über, bis sie wie ein impressionistisches Gemälde waren, und da wusste Kat, dass sie zu nah dran war, um wirklich etwas zu erkennen. Sie dachte über das Verbrechen nach, wie so oft in ihren fünfzehn Lebensjahren – wie so oft seit jenem Tag, an dem ihr Vater ihr versprochen hatte, ihr ein Eis zu kaufen, wenn sie so lange schrie, bis eine der Wachen vor dem Londoner Tower ihren Posten verließe, um nachzusehen, was da los war.
Früher hatte dein Vater dich, schossen ihr Hales Worte durch den Kopf.
Kat sprang aus dem Bett und wühlte in ihren Taschen, bis sie ihren Pass fand. Sie schlug ihn auf und las den Namen Melanie O’Hara neben einem Foto von sich selbst mit einer roten Perücke auf dem Kopf. Sie suchte weiter, schlug einen anderen Pass auf: Erica Sampson, eine schmale Blondine. Drei weitere Pässe beschworen drei weitere Erinnerungen herauf. Schließlich fand Kat … sich selbst.
Jene anderen Mädchen verstaute sie wieder. Bis auf weiteres. Dann nahm sie den Telefonhörer ab und wählte. »Marcus?«
»Ja, Miss«, antwortete er und klang viel zu wach für vier Uhr morgens, fand Kat.
»Ich glaube, ich muss abreisen.«
»Selbstverständlich, Miss. Wenn Sie einen Blick neben das Telefon werfen, werden Sie sehen, dass ich bereits so frei war …«
Da entdeckte Kat den Umschlag. Ein Flugticket. Acht Uhr morgens, erster Klasse nach Paris.
Früher hatte Kat Paris geliebt. Sie erinnerte sich an einen Besuch dort mit ihren Eltern – sie hatte Croissants gegessen, eine Pyramide besichtigt und sechs rote Luftballons bekommen. Erst Jahre später wurde ihr klar, dass das kein lustiger Familienausflug gewesen war – dass sie damals in Wirklichkeit den Louvre ausgekundschaftet hatten. Dennoch musste sie bei diesen Erinnerungen lächeln, als sie nun im Lieblingscafé ihres Vaters ein Stück Gebäck kaufte und damit nach draußen in den kalten Wind zurückging. Sie zitterte und wünschte, sie hätte einen wärmeren Mantel mitgenommen. Auf der anderen Seite des belebten Platzes sah sie das Geschäft, in dem ihre Mutter ihr zu Weihnachten ein Paar rote Lacklederschuhe gekauft hatte. Sie wünschte sich so vieles.
»Ich weiß, Onkel Eddie sagt, mein Vater ist in Paris, aber es könnte ein, zwei Tage dauern, bis ich ihn finde«, hatte sie Marcus gesagt, als er sie am Flughafen abgesetzt hatte.
»Selbstverständlich, Miss«, hatte Marcus in einem Tonfall erwidert, der besagte, er wisse es besser; und irgendwie behielt Marcus – wie immer – recht.
Bobby Bishops Name, Adresse und Telefonnummer mochten sich ständig ändern, aber Kat kannte ihren Vater, und wie sich erwies, genügte das, um ihn aufzustöbern.
Als sie ihn erspähte, war er einen halben Straßenzug entfernt. In seinen dunklen Haaren zeigte sich ein Anflug von Grau, doch sie waren nach wie vor dicht und leicht gewellt. Den Kragen seines dunklen Kaschmirmantels zum Schutz gegen den kalten Wind hochgeschlagen, ging er mit großen Schritten – nicht zu langsam, nicht zu schnell – durch die Menge.