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Pippa Bolle, ganz persönlich

An mir selbst gefällt mir besonders …

… meine Spürnase

Die seltsamste Sache, die ich je erlebt habe …

… ist, dass ich erfunden wurde

Mein Lieblingssport ist …

… Power-Lesen, und zwar als Profi in der Champions League

Welche Fähigkeiten hätten Sie gern?

… Ein fotografisches Gedächtnis

Mein bisher unerfüllter Traum ist es …

… von den Damen Auerbach & Keller nach Italien ­geschickt zu werden

Drei Dinge, die ich auf eine einsame Insel mitnehme:

ein Boot, eine Hängematte und Shakespeares gesammelte Werke – erst lesen, dann gemütlich wieder nach Hause schippern

Welche Lehre ziehen Sie aus Ihren bisherigen Fällen?

… Mörder sind ganz normale Menschen – das macht sie so unberechenbar … und gefährlich

Mir fehlt im Leben …

… die Möglichkeit, ein Haustier zu halten – mein anhänglicher Bruder ist einfach kein Ersatz

Von den Autorinnen sind in unserem Hause bereits erschienen:

Unter allen Beeten ist Ruh

Dinner for one, murder for two

Tote Fische beißen nicht

Auerbach & Keller

Ins Gras gebissen

Ein neuer Fall für Pippa Bolle

List Taschenbuch

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Originalausgabe im List Taschenbuch


ISBN 978-3-8437-0479-3


© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Titelabbildung: © Illustration von Gerhard Glück


Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.


eBook: LVD GmbH, Berlin

Für

Berti und Fritz,

Hilda und Erich

und alle unsere Freunde und Verwandten

in der Altmark, besonders, wenn sie Wegner heißen:

Dank euch scheint immer die Sonne,

auch durch die Wolken.

Pippa Bolle

fährt in Zukunft doppelgleisig und lässt sich auch von Morden nicht aus der Bahn werfen.

Sven Wittig

Pippas Webmaster, geht lieber auf Reisen.

Tatjana Remmertshausen

gelingt es hervorragend, Pippa zu vertreten.

Freddy Bolle

verliebter kleiner Bruder

Hetty Wilcox

Pippas Großmutter, weiß stets gu­ten Rat.

Karin Wittig

Pippas beste Freundin, hat immer ein offenes Ohr.

Ede Glassbrenner

Pippas Nachbar, hält selten den Mund.

Christabel Gerstenknecht

ist älter als ihr Gartenzwerg­impe­­rium und läuft und läuft und läuft.

Severin Lüttmann jr.

Christabels Stiefsohn, liebt Hunde mehr als (fast) alles andere.

Melitta Wiek

Christabels Haushälterin, versteckt sich hinter dem Mond.

Florian Wiek

Melittas Sohn, hat gute Lungen und ein schlechtes Gewissen.

Unayok

Melittas Sohn, hat gute Lungen und ein schlechtes Gewissen.

Tuktu und Tuwawi

vierbeinige Lebens- und Seelenretter, wollen nur spielen …

Julius Leneke

ewiges Kind, vom Leben gebeutelt

Dr. med. Maik Wegner

junger Landarzt mit großem »All­gemeinwissen«

Harry Bornwasser

Gerichtsvollzieher, kriegte den Hals nie voll.

Der alte Heinrich

Spökenkieker, weiß alles, spricht aber in Rätseln.

Waltraut Heslich

hat Karten gespielt und haushoch verloren.

Vitus Lohmeyer

Gartenzwergkonstrukteur, inspiriert

Olaf Bartels

Gartenzwergdesigner, meist uninspiriert

Maximilian Hollweg

Betriebsleiter der Zwerge und mit Zipfelmütze ein Riese

Mandy Elise Klöppel

vielgeliebte Heimarbeiterin, flexibel einsetzbar

Lucie Klöppel

Mandys Tochter, Pilz auf zwei Beinen

Zacharias Biberberg

Bürgermeister von Storchen­tramm, willensstark und sehr von sich überzeugt

Thaddäus Biberberg

Bürgermeister von Storchhen­ningen, überzeugt, dass die Willenskraft seines Bruders auch ihn stärkt.

Gabriele Pallkötter

Jugendamtsleiterin und selbst­ernannte moralische Instanz

Hilda Krause

Koryphäe für den richtigen Dreh von Baumkuchenwalzen

Josef Krause

hinterlässt nicht nur in Storchwinkel Spuren.

Prof. Gregor Meissner

fädelt ein, bleibt aber im Hintergrund.

Daria Dornbier

extravagante Alibiverwandte der Bürgermeister-Brüder

Timo Albrecht

fährt Bücherbus und kennt die Gerüchteküche.

Anett Wisswedel

findet den größten Gartenzwerg der Welt.

Sebastian Brusche

investigativer Lokal-Paparazzo

Paul-Friedrich Seeger

Der Kommissar und sein letzter Fall

Christian Hartung

Der Kommissar und sein erster Fall

Severin Lüttmann sen.

Christabels verstorbener Gatte und Firmengründer

Eva Lüttmann

Christabels Vorgängerin, starb vor vielen Jahren und spielt noch immer eine Rolle.

Martha Subroweit

Storchwinkels dörfliches Rückgrat

Ernie Wisswedel, Beate Leising, Erich, Hermann
und viele andere

Prolog

Mit weit geöffnetem Mund lag der Tote unter dem Zapfhahn des größten Bierfasses, aus dem immer noch Reste des Inhalts tröpfelten. Das Bier lief ihm übers Gesicht und vereinigte sich auf der Wange mit Blut aus einer hässlichen Stirnwunde. Das Rinnsal suchte sich den Weg auf den Steinfußboden und bildete dort eine übelriechende Pfütze aus ­Alkohol und Schmutz. Irgendwo in dem Labyrinth aus Getränkekisten, Gerümpel und weiteren Fässern fiel ein steter Tropfen auf blankes Blech und spielte zur düsteren Szenerie eine nervtötende Melodie.

Kriminalhauptkommissar Paul-Friedrich Seeger sah hin­­ab auf die Bescherung zu seinen Füßen.

Wunderbar, dachte er, nur noch einen Monat bis zu meiner Pensionierung, und ich stehe im verdreckten Keller eines Dorfkrugs vor einer Leiche – und nicht nur vor irgendeiner Leiche, sondern vor der von Gerichtsvollzieher Harry Bornwasser, Storchwinkels persönlicher Heimsuchung.

Seeger blickte sich nach seinem Kollegen um. Kriminaloberkommissar Christian Hartung sprang geschickt über die stinkende Lache aus Blut und Bier, sorgfältig darauf bedacht, sich weder die blankpolierten Schuhe noch die Aufschläge seiner Anzughose zu beschmutzen. Im Sturmschritt lief er zur Kellertreppe.

Dem ist es ernst mit der Beförderung, dachte Seeger.

Christian Hartung schob zwei Personen die Stufen hinauf: einen etwas linkischen Mann um die vierzig, der es eilig hatte, vom Ort des Geschehens wegzukommen, und eine an­genehm weiblich wirkende Frau gleichen Alters, die den Kel­ler­raum sichtlich ungern verließ. Oben an der Kellertür dräng­ten sich Neugierige und versperrten ihnen den Weg. Hartung warf Seeger einen ratlosen Blick zu, aber dieser zuckte nur mit den Schultern.

Er wandte sich von der Leiche ab und ging mitten durch die Brühe auf eine alte Dame zu, die so elegant auf einem Stapel Bierkisten neben der Treppe thronte, als säße sie auf einem Sessel in der Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels. Sie trug Jeans und einen Kaschmirpullover, der farblich auf ihre Handschuhe und den Seidenschal abgestimmt war. Eine stabile Gehhilfe mit vier Gummifüßen lag über ihren Knien. Wie eine Sphinx ruhte neben ihr ein mächtiger Malamut, den der Kommissar eher vor einem Schlitten in Alaska als in einer Dorfschänke mitten in der Altmark erwartet hätte. Herrin und Hund sahen den Kommissar gelassen an, beide aus eisblauen Augen von exakt derselben Farbe.

Als könnte sie Seegers Gedanken lesen, sagte die alte Dame plötzlich: »Niemand hat ihn angerührt.« Ihr Blick wanderte zum tropfenden Hahn im Spundloch des Fasses. »Wir haben nicht einmal den Hahn zugedreht. Wäre ohnehin zu spät gewesen. Bornwasser war schon tot.«

»Sie haben den Toten gefunden, Frau Gerstenknecht?«, fragte Seeger freundlich und zückte sein Notizbuch.

Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Das war Severin. Mein Stiefsohn, Severin Lüttmann.«

Sie hob ihre vierfüßige Gehhilfe und stieß sie gegen die Wade des Mannes auf der Treppe, der noch immer versuchte, sich an den Gaffern vorbeizudrängen. »Severin, komm her. Und Sie auch, Melitta!«

Christabel Gerstenknecht machte eine ungeduldige Hand­bewegung, und ihr Stiefsohn und die Frau in seiner Begleitung kamen die Stufen wieder herunter. Christian Hartung wollte sie aufhalten, aber ein Blick Seegers stoppte ihn.

Selbst im Halbdunkel des Kellers wirkte Severin Lüttmann kreidebleich. Er vermied es angestrengt, der Leiche zu nahe zu kommen oder in ihre Richtung zu blicken.

»Severin, berichte!«, befahl die alte Dame in einem Ton, der jeden Widerspruch ausschloss. »Aber der Reihe nach. Und verständlich.« Sie begann, ihre langen Handschuhe sorgfältig und konzentriert glattzuziehen, bis sie zu den Ellbogen reichten.

Feinstes Ziegenleder, dachte Seeger, handgenäht. Die sitzen wie eine zweite Haut – aber wieso trägt sie die im Haus? Als Schutz vor Druckstellen durch die Gehhilfe?

»Ich kam runter, die Kellertreppe, meine ich.« Severin Lüttmann stellte sich neben die alte Dame. Er sprach mehr zu ihr als zu Seeger. »Und da lag er. Harry Bornwasser, meine ich. Ich dachte noch, wo will der denn den Kuckuck hinkleben? Unter das Fass? Aber dann habe ich gesehen, dass der Kuckuck schon neben dem Zapfhahn klebte und dass der Bornwasser ein bisschen zu ruhig dalag. Und da bin ich ganz schnell wieder nach oben und …«

»Wir waren mit Gerichtsvollzieher Bornwasser in der Schankstube verabredet«, fiel Christabel Gerstenknecht ihrem Stiefsohn ins Wort. »Wir wollten ihm ins Gewissen reden. Für den Fall, dass er sich nicht verhandlungsbereit zeigte, wollten wir die Fässer auslösen.«

Seeger zog die Augenbrauen hoch, und wieder beantwortete Christabel seine Frage, bevor er sie stellen konnte.

»Ganz richtig«, sagte sie. »Wir wollten die Schulden des Wirts bezahlen.«

Seeger wusste, dass er sein »Wieso das denn?« nicht aussprechen musste, tat es aber, um sich das Zepter nicht völlig aus der Hand nehmen zu lassen.

»Ich bin schuld an seiner misslichen Lage«, sagte Christabel, und Seeger registrierte den Stolz in ihrer Stimme. Ehe er auf ihre Auskunft reagieren konnte, kam Christian Hartung die Kellertreppe herunter. Er hatte es endlich geschafft, die Tür zu schließen und die Neugierigen auszusperren.

Breitbeinig und mit vor der Brust verschränkten Armen baute er sich vor der alten Dame auf, blitzte sie aus schmalen Augen an und schnarrte: »Ach ja? Sie sind schuld? Und wieso das?«

Christabel Gerstenknecht zuckte nicht mit der Wimper, als sie eisig erwiderte: »Wenn der Kuchen redet, haben die Krümel Pause, junger Mann.« Sie wandte sich der Frau zu, die hinter Severin Lüttmann stand. »Melitta, helfen Sie mir hoch. Ich möchte gehen.«

Sowohl die Angesprochene als auch Severin Lüttmann bemühten sich sofort um Christabel. Auch Seeger und Hartung machten instinktiv einen Schritt auf sie zu. Weiter kamen sie nicht, denn der Hund sprang auf und fixierte sie so drohend, dass die Beamten zu Salzsäulen erstarrten.

»Unayok. Ruhig«, sagte die alte Dame leise.

Das Tier setzte sich wieder, blieb aber aufmerksam.

Phantastisch abgerichtet, dachte Seeger beeindruckt, und das gilt nicht nur für den Hund. Die menschlichen Satelliten der Lady wissen genau, was ihnen blüht, wenn sie ohne Erlaubnis ihre Umlaufbahn verlassen. Wie hat sie das geschafft? Und ließe sich diese Methode auch auf Kollegen wie Hartung anwenden?

»Bevor Sie gehen, Frau Gerstenknecht, dürfen Sie uns noch unsere Frage beantworten«, erinnerte Seeger freundlich. »Sie wollten die Fässer also aufkaufen, weil Sie ein schlechtes Gewissen haben. Wieso?«

Christabel Gerstenknecht lächelte anerkennend, als würde ein alter Hase den anderen als ebenbürtig akzeptieren. »Ich lasse mir von meinen Mitarbeitern unterschreiben, dass sie vierundzwanzig Stunden vor Arbeitsbeginn keinen Alkohol mehr trinken. Ich will nicht, dass sie in die Maschinen oder die Brennöfen geraten. Und beim Malen brauchen sie eine absolut ruhige Hand. Für die Arbeit bei Lüttmanns Lütte Lüd muss man einen klaren Kopf haben«, erklärte sie selbstbewusst.

»Diese Vereinbarung lässt höchstens noch ein paar Bierchen am Samstagabend zu. Wer seinen Arbeitsplatz behalten will, hält sich daran. Das hat den Umsatz des Storchenkrugs mehr als halbiert«, fügte Severin Lüttmann hinzu. »Von der Tränke der gesamten Nachbarschaft zum Trockendock der Region, so etwas kann auch der beste Wirt nicht wegstecken.« Er zuckte zusammen, als ihn der Blick seiner Stiefmutter wie eine Speerspitze traf, und sah verlegen zu Boden.

»Arbeiten denn alle Leute der Umgebung für Sie?«, fragte Christian Hartung erstaunt.

»Es gibt weit und breit keine andere Fabrik als Lüttmanns Lütte Lüd«, sagte Christabel. »Fast jeder im Storchendreieck arbeitet für mich. Als Heimarbeiter oder im Werk.«

Sie weiß, sie ist der Chef im Ring, dachte Seeger, und das merkt man ihr auch an. Aber in welcher Fabrik lassen sich Mitarbeiter auf eine solche Regelung ein? Er zuckte leicht zusammen, als die zierliche, aber unbeugsame Frau erneut seine Gedanken las und beantwortete.

»Wir fertigen Gartenzwerge«, sagte Christabel, »unser Schlager sind Nachbildungen stolzer Gartenbesitzer. Maßstabsgetreu und lebensecht.« Sie warf Hartung einen amüsierten Blick zu. »Gern auch für den Schreibtisch. Unauffälliger als Spiegel.«

Seeger verkniff sich ein Grinsen, als er die Gesichtszüge seines Kollegen entgleisen sah. Dann fragte er die alte Dame: »Wer wusste, dass Sie die Schulden des Storchenkrugs tilgen wollten?«

»Nur Melitta, mein Stiefsohn, der Wirt und ich.«

Christian Hartung hatte sich wieder gefasst und beschloss, polizeiliche Professionalität zu demonstrieren. Er deutete auf den toten Gerichtsvollzieher und resümierte: »Damit ist der Wirt von jedem Verdacht entlastet. Er hatte kein Motiv, den Gerichtsvollzieher zu töten; er wäre am Ende des Tages schuldenfrei gewesen.«

Christabel Gerstenknecht signalisierte ihr Einverständnis zu Hartungs Ausführungen mit einem huldvollen Nicken. Paul-Friedrich Seeger ließ seinen Kollegen weiterreden, behielt dabei aber die drei anwesenden Dorfbewohner aufmerksam im Blick.

»Wir haben es also mit einem höchst bizarren Unglücksfall zu tun«, fuhr Hartung fort. »Der Mann hat sich unter das Fass gelegt, um das Bier zu probieren, das er beschlagnahmen wollte. Leider überschätzte er sein … Fassungsvermögen. Betrunken, wie er war, wollte er wieder hochkommen, stieß mit der Stirn gegen den eisernen Zapfhahn, prallte zurück und fiel mit dem Kopf auf den Steinfußboden. Bewusstlos lag er da, wie ein Käfer auf dem Rücken. Das Bier ist immer weiter in seinen offenen Mund gelaufen, und so ist er schlicht … ertrunken. Das nenne ich mal einen ungewöhnlichen Abgang. So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.«

»Unsinn, junger Mann!« Christabel Gerstenknecht sah Christian Hartung an, als wäre er ein Grundschüler und hätte entscheidende Teile des Abc nicht begriffen. »Sie sollten Ihre politische Bildung verfeinern. Wichtig in Ihrem Job. Was hier passiert ist, nennt sich Water…«, Christabel Gerstenknecht hielt einen Moment inne, »Beerboarding – in diesem Falle selbstverschuldet.« Sie machte eine Pause, strich noch einmal ihre Handschuhe glatt und sah dann wie Seeger und Hartung auf den Toten hinunter. »Bei diesem Kerl kein Wunder – er konnte den Hals nie vollkriegen.«

164313.jpg Kapitel 1 164343.jpg

Und? Wie soll dein Baby heißen?« Hetty Wilcox lehnte sich vor und sah ihre Enkelin gespannt an.

»Wenn ich das wüsste! Ich finde einfach nichts Passendes!«

Pippa Bolle blieb auf ihrem ziellosen Rundgang vom Fenster zum Schreibtisch und retour vor einem vollgestopften Bücherregal stehen und starrte auf die Buchrücken, als suchte sie dort nach Erleuchtung.

»Bolle«, murmelte sie und drehte sich zu ihrer Großmutter um. »Alles in Kombination mit meinem Nachnamen klingt so … so … berlinerisch

Hetty Wilcox schüttelte amüsiert den Kopf. »Und natürlich willst du etwas Internationales, nicht wahr? Etwas, das in vielen Sprachen gut klingt.«

»Ganz genau. Es soll sofort in Erinnerung bleiben. Einfach, aber einprägsam«, bestätigte Pippa. »Karin, hast du keine Idee?«

»Du fragst meine Mutter?«, fragte Sven Wittig entsetzt. »Na klasse, dann kann das hier ja dauern.« Er blickte vom Computer auf, an dem er gerade arbeitete. »Ich hab nicht ewig Zeit. Ich muss noch Mathe üben.«

»O ja? Mit wem denn diesmal? Blond oder braun?«, gab Karin Wittig zurück.

»Mutti!« Sven runzelte empört die Stirn und wandte sich wieder dem Monitor zu. Pippa sah über seine Schulter hinweg zu, wie er verschiedene Graphiken und Farbzusammenstellungen ausprobierte. »Hast du Abel schon mal gefragt, Dear?«, fragte Hetty. »Er hat doch immer so gute Ideen.«

»Und wenn ich das richtig sehe, würden wir ohne ihn gar nicht hier sitzen«, sagte Karin. »Immerhin hat er dich ermun­tert …«

»Aber ich bin es, die mit der Entscheidung leben muss – nicht Abel«, unterbrach Pippa ihre beste Freundin.

Sven wandte sich erstaunt zu Pippa um. »Ich dachte, er ist mit von der Partie.«

»Schon, aber nicht vor dem Herbst. Den ganzen Sommer ist im Freibad der Teufel los, da hat ein Bademeister keine Zeit für Extratouren«, antwortete Pippa. »Er macht mit, sobald er eine Überbrückung bis zur nächsten Saison braucht.«

»Du hast so einen schönen Vornamen, Pippa«, schaltete Hetty sich wieder ein. »Einfach und doch unverwechselbar. Nimm doch einfach den.«

»Es muss noch nichts Endgültiges sein«, erklärte Sven ungeduldig und schielte auf seine Armbanduhr. »Ich habe jetzt das Grundgerüst deiner Homepage erstellt und setze für den Namen erst einmal einen Platzhalter ein. Wir können ihn ändern, sobald ihr euch entschieden habt. Wie wäre es mit www.pippas-haushüter-dienste.de? Oder kurz und knackig: www.p-h-d.com

Hetty kicherte. »Das lockt zumindest jede Menge englischsprachige Intellektuelle an.«

»Wieso das denn?« Sven sah die alte Dame fragend an.

»Weil PhD in meiner Heimat die Bezeichnung für den wissenschaftlichen Doktorgrad ist«, erklärte Hetty.

»Nicht schlecht. Das macht einen seriösen Eindruck – und Tante Pippa kann gleich etwas mehr Geld verlangen«, bemerkte Sven anerkennend und pflegte den Namen in die Homepage ein. »Das Wichtigste ist jetzt, dass du Informatio­nen zusammenträgst, die du auf deiner Seite präsentieren willst. Wie sieht dein Service aus, was bietest du an, was kosten deine Dienstleistungen? Und auf deiner Vorstellungsseite solltest du unbedingt erwähnen, dass du Übersetzerin bist und nicht nur Deutsch, sondern auch fließend Englisch und Italienisch sprichst. Es ist wichtig, dass …«

Ohrenbetäubender Lärm aus dem Hinterhof unterbrach ihn.

»Irgendwann nehme ich ihm diese verdammte Vuvuzela weg und schmeiße sie in den Müll«, fauchte Karin. »Wie kann ein Mensch nur so faul sein? Auch wenn ihr bisher Tür an Tür gewohnt habt: Dein Bruder sollte sich allmählich dar­­an gewöhnen, ein paar Treppen zu steigen, wenn er etwas von dir will, Pippa. Der dritte Stock ist schließlich nicht der Fernsehturm.«

Pippa lachte. »Freddy ist eben ein Gewohnheitstier. Aber wenn er wüsste, dass wir hier oben Tee und Kuchen haben …«

Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus.

Freddy Bolle stand unten und schwenkte einen großen braunen Umschlag. »Post für dich, Schwesterherz! Lag in meinem Briefkasten«, brüllte er. »Lass mal den Korb herunter!«

Ein älterer Mann, der den Hof kehrte, unterbrach seine Tätigkeit und ging zu Freddy hinüber. Ohne einen Versuch zu machen, seine Neugier zu verbergen, studierte er eingehend das Kuvert.

»Korb kommt!«, rief Pippa Freddy zu und wandte sich dann an den Mann, der sich schwer auf seinen Besen stützte. »Noch Fragen zu meiner Post, Herr Glassbrenner? Vielleicht darf ich Sie bei dieser Gelegenheit bitten, Freddys Vuvuzela zu konfiszieren? Für immer!«

Sie drehte sich ins Zimmer um. »Auf diesen Brief habe ich gewartet«, sagte sie erfreut, »Professor Meissner hat einen Übersetzungsauftrag für mich.«

»Der Ornithologe mit den Haubentauchern?«, fragte Hetty. »Ich dachte, von denen hättest du die Nase voll.«

»Von den Haubentauchern – ja. Aber nicht von Professor Meissner und seinen lukrativen Aufträgen«, antwortete Pippa. Sie griff nach dem stabilen Einkaufskorb, der neben ihr auf dem Fußboden stand. »Diesmal werde ich mich in das Flug- und Brutverhalten von Störchen einarbeiten und ih­nen einen italienischen Schliff verpassen.« Sie lächelte. »Was Sie schon immer über den Klapperstorch wissen wollten …«

Sie beugte sich wieder aus dem Fenster und ließ den Korb langsam an einem Seil hinunter.

Freddy hob die Arme, um ihn in Empfang zu nehmen, als sich die Tür zum Flur des Vorderhauses öffnete. Eine Frau in den Dreißigern betrat den Hof und sah sich suchend um. Freddy fror mitten in der Bewegung ein, als würde er mit einer Pistole bedroht, und staunte die attraktive Blondine wie verzaubert an. Ede Glassbrenner, ganz Kavalier alter Schule, machte vor der Schönheit eine schwungvolle Verbeugung, verschätzte sich allerdings und stieß mit dem Kinn unsanft gegen das Ende des Besenstiels.

Pippa schaffte es gerade noch, sich lautes Lachen zu verkneifen. »Tatjana! Hier oben! Dritter Stock Hinterhaus!«, rief sie und winkte mit der freien Hand. »Leider ohne Fahrstuhl!«

»Das sollte ich schaffen!«, rief Tatjana Remmertshausen fröhlich zurück.

»Det ist die Frau, die uff ältere Männer steht?«, entfuhr es Ede Glassbrenner. »Also nich nur schön, ooch kluch. Det haste selten.« Fatalerweise unterschätzte er die Akustik eines von hohen Mauern umschlossenen Berliner Hinter­hofes: Seine Worte erreichten mühelos nicht nur Tatjana, die mit einem amüsierten Grinsen reagierte, sondern sogar Pippa im dritten Stock.

Freddy Bolle erwachte schlagartig aus seiner Betäubung und eilte zu Tatjana, wobei er beinahe über seine eigenen Füße stolperte. »Freddy Bolle. Ich begleite Sie gerne nach oben. Die Treppe ist überaus steil«, sagte er, als wäre der Aufgang der Transvaalstraße ein Kamin im Hochgebirge und er Bergführer mit Verantwortung für eine Seilschaft. »Hier entlang, bitte.«

Tatjana musterte Freddy und streckte ihm die Hand hin. »Sie sind also Pippas Bruder. Tatjana Remmertshausen. Nett, dass Sie mir den Aufstieg erleichtern wollen.« Sie zwinkerte ihm zu. »Falls wir unterwegs ein Basislager aufschlagen müssen, bin ich wenigstens nicht ganz alleine.«

Karin war neben Pippa ans Fenster getreten und verfolgte die Szene im Hof aufmerksam. »Das ist die legendäre Tatjana Remmertshausen?« Leise pfiff sie durch die Zähne. »Neben ihr wird jedes Topmodel zum Mauerblümchen. Wenn die sich euren Auftraggebern vorstellt, bleiben die glatt zu Hause, um ihr beim Haushüten zuzusehen. Und die will wirklich bei dir arbeiten?«

»Tatjana sucht eine Beschäftigung, die sie auf andere Gedanken bringt«, sagte Pippa. »Da sind häufige Ortswechsel durch das Haushüten genau das Richtige. Auf das Geld ist sie nicht angewiesen.«

Karin verstand. Sie wusste, dass Pippa seit ihrer Rückkehr nach Berlin vor zwei Jahren vergeblich um eine solide Existenz als Übersetzerin kämpfte. Der Haushüterservice sollte zu ihrer finanziellen Absicherung beitragen. Sieben lange Jahre hatte Freundin Pippa in Florenz gelebt, sich dann aber von ihrem untreuen italienischen Ehemann Leo getrennt und war zur Freude aller im Haus wieder in die Transvaalstraße 55 gezogen.

Karin lächelte vergnügt. »Das wird spannend. Diese Schön­heit wird unseren Kiez ganz schön aufmischen. Freddy hat die Grazien aus dem zweiten Stock in diesem Moment vergessen.«

Pippa lachte über Karins Anspielung auf die Wohngemeinschaft aus ständig wechselnden Schauspielschülerinnen, in die ihr Bruder sich immer wieder glücklos verliebte, und schloss das Fenster.

Karin Wittig warf noch einen Blick in den Hof, aus dem Tatjana und Freddy inzwischen verschwunden waren. »Wo bleibt Abel? Wollte er heute nicht auch kommen? Er macht sich ganz schön rar, dafür, dass er dein …«

»Ein sehr guter Freund ist«, fiel Pippa Karin ins Wort. »Nicht mehr und nicht weniger. Wie oft muss ich das noch erklären?«

»Ich mag den Mann, er hat Grips.« Hetty Wilcox lächelte unergründlich. »Er hat dich dazu gebracht, diese Haushüteragentur zu gründen. Er würde sich gut eignen, auch dein Haus zu hüten, Dear.«

Pippa stöhnte genervt. »Wollt ihr mich ärgern, oder kennt ihr die Bedeutung des Begriffes Freund wirklich nicht?«

»O doch, die kennen wir.« Karin zwinkerte der alten Dame zu. »Was uns stört, ist der Zusatz guter

Pippa schüttelte den Kopf und ging zur Wohnungstür, um ihre zukünftige Kollegin und ihren Bruder hereinzulassen.

Freddy hatte einen hochroten Kopf und japste wie nach ­einem Marathonlauf, während Tatjana frisch wie ein Frühlingsmorgen wirkte. Pippa begrüßte die beiden und führte sie in ihr Arbeitszimmer.

»Grandma, Karin, Sven – das ist Tatjana Remmertshausen. Wir haben uns im letzten Sommer in Frankreich kennengelernt. Sie wird mir in meiner neuen Agentur helfen …«

»… hat aber zwei linke Hände«, vervollständigte Tatjana entwaffnend ehrlich den Satz und fügte hinzu: »Leider hat sie auch nichts Ordentliches gelernt und keinerlei Erfahrungen in was auch immer, außer darin, sich hübsch zurechtzumachen.«

»Das würde mir als Qualifikation vollkommen reichen«, hauchte Freddy.

Pippa überhörte die Bemerkung ihres Bruders. »Tatjana – das sind meine englische Großmutter, Hetty Wilcox, meine Freundin Karin und dort, am Computer, ihr Sohn Sven.«

Tatjana gab allen die Hand. Sven versuchte, lässig zu wirken, konnte sie aber nur stumm anhimmeln.

»Vielen Dank, Freddy«, fuhr Pippa fort und machte Anstalten, ihren Bruder aus der Tür zu schieben. »Du langweilst dich hier bestimmt.«

Aber dieser hatte bereits Platz genommen. Hungrig machte er sich über die Kuchen her und zeigte so, dass selbst eine Schönheit wie Tatjana seine Prioritätenliste nicht nachhaltig veränderte.

Während Pippa allen Tee einschenkte, sagte Hetty: »Ich finde es wunderbar, dass Sie meine Enkelin unterstützen wollen, Tatjana. Wenn sich erst einmal herumspricht, dass man beruhigt in den Urlaub oder auf Geschäftsreise fahren kann, während ihr Haus, Tiere und Pflanzen betreut, wird es sicher viele Anfragen geben.«

»Das hoffe ich sehr. Bedarf besteht ja auch in anderen Fällen«, erwiderte Tatjana. »Was ist zum Beispiel, wenn Sie allein leben und ins Krankenhaus oder zur Kur müssen? Nicht immer stehen Nachbarn zur Verfügung. Ich möchte Pippa unterstützen, sobald sie Anfragen bekommt, die sich zeitlich überlappen.«

»In der Anfangszeit Einsätze abzulehnen, wäre wirklich keine gute Werbung«, sagte Pippa. »Durch die Zeitungs­annoncen sind bisher allerdings nur Kurzaufträge hereingekommen.« Sie deutete auf Sven am Schreibtisch. »Aber mein talentierter Patensohn wird uns einen Internetauftritt ins Netz stellen, der die Besucher unserer Homepage dazu bringt, umgehend einen Urlaub zu buchen und sämtliches Inventar vertrauensvoll in unsere Hände zu legen.«

Als Tatjana ihm ein anerkennendes Lächeln schenkte, errötete Sven und wehrte verlegen ab. »Aber das ist doch nichts, ich mache doch nur …«

»Nur?«, fiel Pippa ihm ins Wort. »Ohne deine Kreativität wäre ich verloren. Stell dein Licht nicht unter den Scheffel.« Sie wandte sich an Freddy, der mit vollen Backen kaute. »Hattest du nicht etwas für mich?«

»Hmpf«, machte Freddy und zeigte auf den Tisch.

Pippa öffnete das Kuvert. Neben der erwarteten Abhandlung über Weißstörche fand sich darin zu ihrem Erstaunen ein zweiter Umschlag, an dem ein Anschreiben des Professors festgeklammert war.

»Das gibt’s doch nicht«, murmelte Pippa kopfschüttelnd, während sie die Zeilen des Ornithologen überflog.

»Schlechte Nachrichten?«, fragte Hetty Wilcox besorgt.

Pippa sah auf. »Ganz im Gegenteil! Hört euch das an: Ich war so frei, Ihre Adresse an Christabel Gerstenknecht weiterzugeben, eine mir seit langem gut bekannte Dame. Frau Gerstenknecht ist 99 Jahre alt, geistig rege, aber ungern allein. Unglücklicherweise steht ihr das aber zum ersten Mal bevor, da sowohl ihre Haushälterin als auch ihr Stiefsohn demnächst gleichzeitig abwesend sein werden. Aus diesem Grund benötigt sie eine seriöse Gesellschafterin mit guten Manieren und Bildung. Natürlich dachte ich sofort an Sie, sehr verehrte Frau Bolle. Sollten Sie sich entscheiden, die Betreuung der alten Dame zu übernehmen, lassen Sie sich mit meinem Aufsatz ruhig Zeit, bis Sie zurück in Berlin sind.«

»Sehr verehrte Frau Bolle!«, prustete Freddy und spuckte dabei ein paar Kuchenkrümel in den Raum.

Hetty warf ihm einen tadelnden Blick zu und sagte dann: »Wie reizend vom Herrn Professor, Pippa.«

»In dem zweiten Umschlag ist ein Schreiben von dieser Christabel Gerstenknecht an mich.« Pippa öffnete das schwere Bütten-Kuvert und zog einen eng beschriebenen Bogen heraus.

Wieder las sie zuerst für sich, bevor sie den anderen vorlas: »Sehr geehrte Frau Bolle, auf Empfehlung meines guten Freundes Gregor Meissner wende ich mich mit einem Anliegen in persönlicher Sache an Sie. Ich benötige jemanden, der mich für zwei Wochen in meinem straffen Tagesplan unterstützt. Da mein Stiefsohn Severin verreisen wird, obliegt es mir, in meiner Manufaktur nach dem Rechten zu sehen. Dabei werden Sie mich begleiten. Ich wünsche zudem, dass Sie mir täglich vorlesen. Diese Aufgabe übernimmt normalerweise meine Haushälterin, die allerdings im gleichen Zeitraum ebenfalls nicht zur Verfügung steht. Des Weiteren lege ich Wert auf niveauvolle Konversation über aktuelle Themen. Von Gregor weiß ich um Ihr literarisches Interesse und Ihre tadellose Reputation, deshalb habe ich Sie ausgewählt. Sie finden anbei einen Scheck, der Ihnen die Zusage erleichtern wird, außerdem eine Zugfahrkarte, selbstverständlich erster Klasse, sowie alle nötigen Daten wie Termin und Adresse. Am Tag Ihrer Anreise werden Sie im Detail erfahren, worin Ihre Aufgaben bestehen. Ich freue mich, Sie in meinem Haus begrüßen zu dürfen, hochachtungsvoll … Christabel Gerstenknecht

Als Pippa geendet hatte, herrschte unter den Gästen in ihrem Arbeitszimmer einen Moment Schweigen. Dann sagte Karin perplex: »Diese Frau ist gewöhnt zu bekommen, was sie verlangt. Eine Absage zieht sie gar nicht in Betracht. Alle Achtung. Wo soll es denn hingehen?«

Pippa zog einen zweiten Bogen aus dem Kuvert. »Professor Meissner soll mich am Bahnhof in Wolfsburg abholen und zu Frau Gerstenknecht mitnehmen. Der Ort heißt Storch­winkel – nie gehört.«

»Aber ich!«, sagte Karin. »Das liegt in Sachsen-Anhalt, unweit der niedersächsischen Grenze. Storchwinkel ist ein Rundlingsdorf mitten in der Altmark.« Karin geriet ins Schwärmen. »Die Landschaft ist Erholung für die Seele: Caspar-David-Friedrich-Himmel über weiten Feldern, blitzblanke Dörfer und uralte Feldsteinkirchen.«

»Woher kennst du denn die Gegend?«, fragte Pippa.

Karin war in ihrem Element. »Wir haben da ein paarmal Urlaub gemacht: am Arendsee und im Naturpark Drömling – und irgendwo dazwischen liegt auch Storchwinkel. Übrigens auf Empfehlung eines Kleingartennachbarn auf Schreberwerder.«

Ehe Pippa nachfragen konnte, meldete Sven sich zu Wort: »Mama hat uns da mal auf eine Vogelstimmenwanderung gehetzt«, erzählte er und grinste. »Natürlich haben wir uns verlaufen. Meine Schwester war noch ganz klein und hat es nicht geschafft, über einen der unzähligen Wassergräben zu springen, als wir querfeldein zurück zur Straße wollten.«

»Ein Alptraum. Lisa war klatschnass und brüllte wie am Spieß.« Karin stöhnte in Erinnerung daran.

»Sie stank wie toter Fisch, und ihr ganzer Körper war mit diesem komischen grünen Algenzeugs überzogen«, erzählte Sven mit sichtlichem Vergnügen. »Sie wollte keinen Schritt mehr laufen. Wir haben am Straßenrand gehockt und gewartet, bis Papa uns mit dem Auto abgeholt hat.«

»Welche kulinarischen Spezialitäten gibt es denn in der Altmark?«, meldete Freddy sich mit seinem Lieblingsthema zu Wort. »Mir fällt nur Altmärkische Hochzeitssuppe ein. Und Tiegelbraten. Ein bisschen mager für so einen langen Aufenthalt. Ich würde den Auftrag ablehnen, Pippa.«

Aber Pippa hörte ihm nicht zu, denn sie hatte den Scheck gefunden. Fassungslos starrte sie auf die eingetragene Summe, dann blickte sie die anderen an. »Zweitausend Euro. Sie zahlt mir zweitausend Euro für zwei Wochen. Für ein bisschen Lesen und Konversation!«

»Dafür würde ich reden wie ein Wasserfall und mir einen eigenen Koch leisten«, rief Freddy begeistert. »Du nimmst natürlich an!«

»Natürlich nimmt sie an«, sagte Tatjana, »ich kann mich hier um alles andere kümmern.«

»Geht leider nicht.« Enttäuschung zeigte sich in Pippas Gesicht, als sie das gewünschte Anreisedatum entdeckte. »Ich soll am Mittwoch vor Ostern in Storchwinkel anfangen. Grandma – das ist genau die Zeit, in der ich dich und deine Seniorengruppe nach Paris begleite. Ich muss der alten Dame absagen.«

»Unsinn, du machst das«, widersprach Hetty Wilcox. »Die Reise schaffe ich auch allein. Viktor wird mir zur Seite stehen.«

»Mein Vater war zwar noch nie dort«, sagte Karin, »aber er kann wunderbar so tun, als ob.«

Tatjana hob die Hand wie für eine Wortmeldung in der Schule. »Paris? Da war ich schon oft, da kenne ich mich aus. Darf ich für dich einspringen? Ich bin sicher, ich verstehe mich super mit den älteren Herrschaften!«

»Eine wunderbare Idee, meine Liebe!« Hetty lächelte erfreut. »Ich nehme Ihr Angebot gerne an!«

Tatjana wickelt wirklich jeden um den Finger, dachte Pippa, nicht nur Sven und Freddy.

»Gibt es ein Mindestalter für diese Reise?«, erkundigte Freddy sich prompt.

Pippa zögerte, Tatjanas Vorschlag zuzustimmen. »Ich hätte die Gruppe umsonst begleitet, Tatjana, nur gegen Fahrtkosten und Verpflegung.«

»Immerhin, das ist doch schon etwas«, erwiderte Tatjana. »Mach dir keine Gedanken. Das wird mir Spaß machen.«

»Dann ist es beschlossene Sache«, sagte Hetty. »Tatjana begleitet uns nach Paris, und du fährst zu der hilflosen alten Dame, Pippa. Sie braucht dich viel nötiger als wir.«

»Ich fasse es nicht!«, rief Sven plötzlich. »Das müsst ihr euch angucken!«

Die anderen umringten ihn und schauten auf den Monitor, der die Homepage einer Firma namens Lüttmanns Lütte Lüd zeigte. Inhaberin: Christabel Gerstenknecht.

»Wisst ihr, was die herstellen? Und wen Tante Pippa jeden Tag besuchen darf? Das ratet ihr nie!« Sven klickte den Online-Shop an. »Gartenzwerge! Tausende von Gartenzwergen!«

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Pippa fröstelte und sah ungeduldig auf ihre Armbanduhr. Elf Uhr achtunddreißig. Seit zwanzig Minuten stand sie auf dem Vorplatz des Wolfsburger Bahnhofs und wartete auf Professor Gregor Meissner. Bei jedem Wagen, der vorfuhr, hoffte Pippa auf ihren Abholer, aber es waren immer andere, die aus der unangenehmen Märzkälte in ein warmes Auto steigen durften.

Pippa schauderte. Zum wiederholten Mal beschlich sie das Gefühl, jemand starre sie an. Sie fuhr herum, konnte aber niemanden entdecken, der in ihre Richtung sah.

Wirklich, dachte Pippa und schüttelte über sich selbst den Kopf, ich werde noch paranoid. Wer sollte mich beobachten? Ich kenne hier niemanden – und niemand kennt mich.

Eine kalte Windböe fegte über den Bahnhofsvorplatz, und der Regen wurde stärker. Pippa zog ihre leichte Jacke enger um sich, merkte aber rasch, dass ihr dieses Kleidungsstück keinen Schutz gegen Kälte, Wind und Regen bot.

Das habe ich davon, dass ich beim ersten Treffen mit Madame Gerstenknecht schick aussehen wollte, dachte sie ärgerlich. Wo bleibt bloß mein Vogelprofessor?

Vor Kälte zitternd schleppte Pippa ihre beiden Stoffkoffer und die sperrige Hutschachtel unter das schützende Vordach des Bahnhofs. Kurz entschlossen zog sie den Reißverschluss des größeren Koffers auf.

»Elegant, aber leider an einer Lungenentzündung gestorben«, murmelte sie, während sie einen dicken, grobgestrickten Pullover heraussuchte. »Nicht mit mir!«

Sie verstaute die Jacke im Koffer und schlüpfte in das bunt geringelte Kleidungsstück, das ihr beinahe bis zu den Knien reichte. Dann öffnete sie die Hutschachtel und begutachtete kritisch die mitgebrachten Möglichkeiten, ihre roten Haare gegen das schlechte Wetter zu schützen. Pippa entschied sich für ein eng am Kopf anliegendes Modell aus rostrotem Filz, das sie tief in die Stirn zog. Zufrieden betrachtete sie ihr Spiegelbild in der gläsernen Eingangstür des Bahnhofs.

»Hiermit wurde der ehrenwerte Versuch der Verwandlung in eine elegante Gesellschafterin aufgrund höherer Gewalt und zugunsten der eigenen Gesundheit abgebrochen. Wir kehren zu wettergerechten und bequemen Pippawurzeln zurück«, sagte sie laut, und eine auffällig gekleidete Frau, die gerade vorbeiging, sah sie abschätzend an. Zu einem lackschwarzen Regenmantel trug sie Gummistiefel mit hohen Absätzen und einen Regenschirm mit Rüschen – beides in Leopardenmuster.

Spontan wollte Pippa sie auf die außergewöhnlichen Stiefel ansprechen, aber die junge Frau beschleunigte ihre Schritte. Menschen, die lautstarke Selbstgespräche führten, waren ihr offenbar suspekt.

Elf Uhr fünfzig. Pippa zog den Brief ihrer Auftraggeberin aus der Umhängetasche. Hatte sie sich vielleicht in der Zeit geirrt? Oder im Treffpunkt? Nein, da stand es: Professor Meiss­­ner sollte sie gegen halb zwölf am Haupteingang des Bahnhofs abholen und nach Storchwinkel chauffieren. Musste sie sich Sorgen machen, ob ihm etwas zugestoßen war? Unvermittelt war da wieder dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Sie fuhr herum und sah sich selbst in die Augen.

Pippa, du wirst schrullig, dachte sie, aber bei einer Vorgeschichte von drei Aufträgen mit mörderischer Zugabe ist das wohl kein Wunder.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche und wählte noch einmal die Nummer des Professors, und diesmal hob er ab. Bevor sie sich melden konnte, drang donnerndes Niesen aus dem Hörer.

»Frau Bolle, schön, von Ihnen zu hören«, sagte Meissner schniefend. »Wie geht es Ihnen?«

Pippa verschlug es für einen Moment die Sprache. Dann antwortete sie beherrscht: »Nicht so gut, Professor Meissner. Ich werde gerade von einem weltweit anerkannten Vogelforscher versetzt.«

Wieder nieste Meissner heftig. »Versetzt? Ich verstehe nicht. Sie warten auf mich? Haben Sie denn meine Nachricht nicht bekommen? Ich habe Ihnen gestern auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass ich unsere Verabredung nicht einhalten kann.«

Verdammt, dachte Pippa, ich hätte das blinkende rote Licht auf meinem Privatanschluss doch nicht ignorieren sollen. Sie war automatisch davon ausgegangen, dass es sich um Freddy handelte, der sich die Vorräte aus ihrem Kühlschrank sichern wollte.

»Ich habe im Havelländischen Luch Großtrappen gezählt«, fuhr Meissner fort mit einer Stimme, die auf eine ­total verstopfte Nase schließen ließ. »Wundervolle Tiere. Wissen Sie, wir gehen jetzt von einer realistischen Überlebenschance für diese …«

Pippa unterbrach seinen Redeschwall mit einem dezenten Räuspern, auf das er sofort reagierte.

»Um es kurz zu machen: Wir waren Tag und Nacht draußen. Leider hat es ununterbrochen geregnet …«

Was Sie nicht sagen, dachte Pippa mit einem Blick auf den immer stärker werdenden Regen direkt vor ihrer Nase.

»… und es gibt dort bei weitem nicht so viele überdachte Schutzhütten und Beobachtungsstände wie in …«, er nieste mehrmals hintereinander, »…winkel. Ich habe mir eine dicke Erkältung geholt und hüte das Bett. Es tut mir wirklich sehr leid, Frau Bolle.«

»Und mir erst«, murmelte Pippa. Lauter sagte sie: »Wie komme ich denn jetzt nach Storchwinkel? Sie haben selbst gesagt, gegen die Erreichbarkeit des Dorfes mit öffentlichen Verkehrsmitteln sei das Ende der Welt eine Durchgangsstraße!«

Meissner seufzte. »Ja, es ist ein Kreuz. Busse und Bahnen fahren immer seltener. Heutzutage hat eben Hinz und Kunz ein Auto.«

»Dann sagen Sie mir doch bitte, wo ich die beiden finde und dazu bringe, mich zu chauffieren«, sagte Pippa, schon wieder einigermaßen versöhnt.

Das Lachen des Professors verwandelte sich in bellenden Husten. Er rang nach Luft und sagte: »Alles schon geregelt. Sie steigen in den nächsten Zug nach Oebisfelde. Frau Wiek, Christabels Haushälterin, hat mich informiert, dass er um 12.50 Uhr von Gleis 8 abfährt. Die Fahrt dauert knappe zehn Minuten. In Oebisfelde werden Sie dann abgeholt.«

»Von Frau Wiek?«

»Entweder von ihr oder von Severin Lüttmann, nehme ich an. Christabels Stiefsohn.«

Mist, dachte Pippa, das durchkreuzt meinen schönen Plan, den Professor während der Fahrt nach Storchwinkel auszufragen. Ich will Frau Gerstenknecht eigentlich nicht unvorbereitet gegenübertreten. »Professor, ich hatte bei meinem ersten Auftrag als Profi-Haushüterin mit Ihrer moralischen Unterstützung gerechnet. Können Sie mir nicht noch ein paar Tipps geben? Was erwartet Frau Gerstenknecht von mir? Worauf muss ich achten? Wie soll ich mich verhalten?«

Wieder lachte Meissner. »Seien Sie einfach Sie selbst – und lassen Sie sich um Gottes willen nicht davon abbringen, was immer Christabel auch tut!«

Pippa verdrehte die Augen. Das war definitiv nicht die Art Tipp, die sie sich erhofft hatte.

»Schätze, dass ich noch ein paar Tage im Bett liege. Sobald ich fit genug bin, komme ich nach Storchwinkel«, versicherte der Professor. »Hoffentlich noch zu Ostern. Ich muss in meinem Ferienhaus ohnehin nach dem Rechten sehen. Halten Sie auf jeden Fall durch, bis ich da bin. Ich möchte nicht, dass Christabel auch nur einen Tag allein im Haus ist.«

Halten Sie durch?, dachte Pippa alarmiert. Was soll das denn bitte heißen?

»Moment noch, nicht auflegen, Professor!«, rief Pippa. »Woran erkenne ich denn in Oebisfelde meinen Abholer?«

»Keine Sorge, man wird Sie erkennen. Die Anzahl der Menschen, die dort aussteigen, wird übersichtlich sein – und ich habe Sie beschrieben.«

Trotz ihrer Anspannung musste Pippa lachen. »Verstehe: Mein Abholer sucht einfach nach dem Vogel mit dem buntesten Gefieder!«

Bis zur Abfahrt des Zuges blieb Pippa noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Auf dem Bahnsteig entdeckte sie einen Wartesaal, dessen Außenwände schwarz gekachelt waren. Sie ging hinein und fühlte sich spontan in die Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts zurückversetzt, Stichwort: Inter­zonenbahnhof. Triste Wände und zweckmäßige Bestuhlung in Zweiergruppen. Kleine, quadratische Fenster gewährten Ausblick auf leere Bahnsteige. Im Vergleich zum aufwendig und modern renovierten Gebäudekomplex des Hauptbahnhofs war dieser Wartesaal der reine Anachronismus.

Immerhin trocken und einigermaßen warm, dachte Pippa und ließ sich auf einen Sitz fallen.

Bis auf eine ältere Dame ihr gegenüber war der Warteraum leer. Die Frau saß mit sehr geradem Rücken da, eine steife Handtasche, die sie fest umklammert hielt, auf den zusammengepressten Knien. Ihre Frisur wirkte wie betoniert. Sie bemühte sich nicht, ihre Neugier zu verbergen, und starrte Pippa offen an.

Wenn mich vorhin tatsächlich jemand beobachtet hat, dachte Pippa, kann sie es nicht gewesen sein. Diese Lady hätte sich nicht versteckt.

Pippa bemühte sich nach Kräften, den strengen Blick ihres Gegenübers zu ignorieren, zumal die Frau nicht den Eindruck machte, als sei ihr nach Konversation. Da Pippas Magen knurrte, beschloss sie, sich die Wartezeit mit einem Picknick zu verkürzen. Familie und Freunde hatten ihr ein Überraschungs-Proviantpaket mit auf die Reise gegeben, das sie jetzt aus einem der Koffer holte und öffnete.

Erfreut entdeckte sie mehrere liebevoll beschriftete Plastikdosen: ein paar würzig duftende Frikadellen und eine Tube Senf von Karin, einige Riegel Shortbread mit Karamell und Schokoladenglasur von Freddy, bei deren Anblick Pippa der Verdacht beschlich, es könnten ursprünglich erheblich mehr gewesen sein. In Abels Dose fand sie Spreewaldgurken aus seinem Heimatdorf und lächelte erfreut, weil er sich ihre Vorliebe gemerkt hatte. In einer luxuriös ausgestatteten Papp­schachtel von Tatjana entdeckte Pippa belgische Trüffel­pralinen – handgerolltes Hüftgold. Ihre Großmutter Hetty hatte selbstgemachte Scones eingepackt, dazu sahnige Butter und ein Töpfchen bittere Orangenmarmelade, selbst ein Messer fehlte nicht. Der Beitrag ihrer Eltern bestand aus deftigen Schmalzstullen und zwei Flaschen Bier.

Das reicht ja locker für zwei Tagesreisen, dachte Pippa gerührt, und alles delikat aufeinander abgestimmt. Sie packte die letzte Gabe aus: ein Buch von Sven, Homepage basteln für Anfänger.

Pippa hatte die Köstlichkeiten auf dem Stuhl neben sich ausgebreitet und bemerkte, dass die Dame gegenüber jede ihrer Gesten interessiert verfolgte.

»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte Pippa freundlich. »Für mich allein ist das viel zu viel. Meine Familie und Freunde scheinen zu glauben, dass ich an meinem Reiseziel nichts zu essen und zu trinken bekomme.«

»Wohin geht es denn?«

»In einen winzigen Ort: Storchwinkel.«

Die Dame kräuselte ihre schmalen Lippen. »Dann könnten sie recht haben.«

Pippa, die gerade versuchte, sich zwischen Frikadelle und Scones als erstem Gang zu entscheiden, blickte erstaunt auf. »Wie meinen Sie das? Kennen Sie Storchwinkel?«

Pippas Gegenüber verengte die Augen und stieß ein schnaubendes Geräusch aus. »Jeder Altmärker kennt Storchwinkel! Und jeder weiß, dass im Dorf striktes Alkoholverbot herrscht – jedenfalls in der Öffentlichkeit. Das Dorf hat weder eine Kneipe noch ein Gasthaus oder einen Laden, in dem Alkohol verkauft wird.«

Und ich wette, du bist der Meinung, dass Storchwinkel damit ein leuchtendes Vorbild für die Sodom und Gomorrhas dieser Welt sein sollte, dachte Pippa amüsiert.

»Deshalb pilgern an den Wochenenden sämtliche Storchwinkeler in die Nachbarorte«, fuhr die Dame unterdessen fort und schüttelte pikiert den Kopf. »Mit dem unschönen Ergebnis, dass einige der Taugenichtse regelmäßig in den Entwässerungsgräben landen.« Sie warf einen beredten Blick auf die Bierflaschen. »Ich hoffe, Sie selbst haben in Storchwinkel Besseres vor?« Es klang, als würde sie vom Gegenteil ausgehen.

Überrumpelt antwortete Pippa: »Ich will dort arbeiten.«

»In der Gartenzwergfabrik?«

»Nein, im Haus der Besitzerin.«