Für alle Virginias

In störrischem, unregelmäßigem Rhythmus jagte der Zug dahin. Er mußte häufiger an kleineren Bahnhöfen halten, wo er ungeduldig wartete, bevor er sich wieder in die Prärie fraß, aber von einem Vorankommen war kaum etwas zu merken. Die Prärie wellte sich wie eine große, rötlichbraune Decke, die nachlässig geschüttelt wird. Je schneller der Zug fuhr, desto lebhafter und kecker die Wellen.

Guy löste den Blick vom Fenster und schob sich im Sitz zurecht.

Bestenfalls, dachte er, würde Miriam die Scheidung hinauszögern. Vielleicht wollte sie nicht einmal die Scheidung, sondern nur Geld. Würde er die Scheidung von ihr überhaupt je erreichen?

Er merkte, daß der Haß sein Denken trübte und die Wege, die ihm in New York die Logik gewiesen hatte, in Sackgassen verwandelte. Er spürte Miriam, die ihn erwartete – nicht mehr allzu fern, rosig und sommersprossig –, und eine ungesunde Hitze ging von ihr aus wie von der Prärie vor dem Zugfenster: mürrisch und grausam.

Automatisch griff er nach einer Zigarette, erinnerte sich zum x-ten Mal an das Rauchverbot im Pullmanwagen und nahm sie trotzdem. Er klopfte sie zweimal gegen das

Daß Miriam schwanger war, konnte er sich nicht vorstellen, es sei denn, sie wollte es. Was hieße, daß ihr Liebhaber sie heiraten wollte. Aber warum wollte sie ihn sehen? Um die Scheidung zu bekommen, brauchte sie ihn nicht. Und warum mühte er sich wieder mit den gleichen fruchtlosen Gedanken ab wie vor vier Tagen, als er ihren Brief erhalten hatte? Die fünf, sechs Zeilen in Miriams Schülerschrift hatten nur besagt, daß sie ein Kind erwartete und ihn sehen wollte. Ihre Schwangerschaft bedeutete die

Es gab so vieles, auf das er sich freuen konnte: seine Scheidung, die Arbeit in Florida – es war so gut wie sicher, daß der Ausschuß seine Entwürfe annehmen würde, und er würde es im Lauf der Woche erfahren – und Anne. Er und Anne konnten nun endlich Pläne schmieden. Über ein Jahr lang hatte er unter Bangen darauf gewartet, daß etwas geschah – daß dies geschah –, was ihn befreite. Ein starkes, herrliches Glücksgefühl durchströmte ihn mit einemmal, und er lehnte sich entspannt in dem Plüschsitz zurück. Er hatte tatsächlich die letzten drei Jahre darauf gewartet, daß so etwas geschah. Gewiß, er hätte sich freikaufen können, aber selbst dazu fehlte ihm das Geld. Als selbständiger junger Architekt zu überleben war nicht einfach gewesen, und es war auch jetzt noch nicht einfach. Miriam hatte ihn nie um regelmäßige Unterhaltszahlungen angegangen, aber sie hatte ihm auf andere Weise das Leben schwergemacht, indem sie in Metcalf über ihn sprach, als hätten sie noch immer das denkbar beste Verhältnis zueinander, als wäre er nur nach New York gegangen, um eine Stelle zu finden und sie später nachzuholen. Bisweilen bat sie ihn um Geld, kleine, aber ärgerliche Beträge, die er immer schickte, weil

Ein großgewachsener, blonder junger Mann in einem rostfarbenen Anzug ließ sich auf den Sitz gegenüber fallen, machte es sich in der Ecke bequem und setzte ein unverbindlich freundliches Lächeln auf. Guy warf einen Blick auf das blasse, unentwickelte Gesicht. Mitten auf der Stirn prangte ein riesiger Pickel. Guy sah wieder aus dem Fenster.

Der junge Mann gegenüber schien unentschlossen, ob er ein Gespräch anfangen oder schlafen sollte. Sein Ellbogen rutschte immer wieder die Fensterbank entlang, und jedesmal wenn die kurzen Wimpern sich öffneten, sahen die grauen, blutunterlaufenen Augen Guy an, und das weiche Lächeln kehrte zurück. Vielleicht war der Mann leicht angetrunken.

Guy schlug sein Buch auf, aber nach einer halben Seite schweiften seine Gedanken ab. Er sah auf, als die weiß leuchtenden Deckenlichter eines nach dem anderen eingeschaltet wurden; sein Blick wanderte zu der unangezündeten Zigarre, mit der eine knochige Hand im Gespräch hinter dem Rücken eines Sitzes heftig gestikulierte, und zu dem Monogramm, das an einem dünnen Goldkettchen auf der Krawatte des jungen Manns im Sitz gegenüber zitterte. Das Monogramm lautete CAB, und die handbemalte Krawatte aus grüner Seide zierten geschmacklos grellorangene Palmen. Der lange rostfarbene Körper war nun ausgestreckt, verletzlich, mit zurückgelehntem Kopf, so daß der große Pickel oder Furunkel auf der Stirn aussah wie der Krater eines Vulkans. Es war ein interessantes Gesicht, ohne daß Guy hätte sagen können, warum, weder jung

Guy nahm sein Buch wieder auf. Die Worte wurden verständlich und beruhigten ihn. Aber was nützt Platon gegen Miriam, fragte ihn eine innere Stimme. Sie hatte ihn das schon in New York gefragt, aber er hatte das Buch trotzdem mitgenommen, ein altes Lehrbuch aus einem Philosophieseminar, vielleicht zum Ausgleich dafür, daß er die Reise zu Miriam unternehmen mußte. Er sah aus dem Fenster, erblickte darin sein Spiegelbild und zupfte seinen Kragen zurecht. Das tat sonst immer Anne für ihn. Mit einemmal kam er sich ohne sie hilflos vor. Er bewegte sich, stieß dabei versehentlich an den Fuß des schlafenden jungen Mannes und beobachtete fasziniert, wie dessen Lider zuckten und sich öffneten. Die blutunterlaufenen Augen sahen aus, als hätten sie ihn vielleicht schon vorher durch die halbgeschlossenen Lider beäugt.

»Tschuldigung«, murmelte Guy.

»Schon gut«, sagte sein Gegenüber. Er setzte sich auf und schüttelte heftig den Kopf. »Wo sind wir?«

»Bald in Texas.«

Der blonde junge Mann holte einen Flachmann mit goldener Flüssigkeit aus der Innentasche seines Jacketts, schraubte ihn auf und hielt ihn Guy hin.

»Wohin geht die Reise?« Das Lächeln war jetzt ein schmaler, feuchter Halbmond.

»Metcalf«, sagte Guy.

»Oh, nette Stadt, Metcalf. Geschäftlich unterwegs?« Er blinzelte höflich mit seinen entzündeten Augen.

»Ja.«

»Und in was für Geschäften?«

Guy sah unwillig von seinem Buch auf. »Ich bin Architekt.«

»Oh.« Mit versonnener Neugier. »Häuser und so?«

»Ja.«

»Habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er erhob sich halb vom Sitz. »Bruno. Charles Anthony Bruno.«

Guy reichte ihm kurz die Hand. »Guy Haines.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen. Leben Sie in New York?« Die heisere Baritonstimme klang falsch, als redete er, um sich wachzurütteln.

»Ja.«

»Ich wohne auf Long Island. Fahre nach Santa Fe, um ein bißchen auszuspannen. Waren Sie schon mal in Santa Fe?«

Guy schüttelte den Kopf.

»Tolle Stadt zum Ausspannen.« Er lächelte und enthüllte dabei schlechte Zähne. »Hauptsächlich Indianerarchitektur, vermute ich.«

Bruno lehnte sich besitzergreifend in seinen Sitz. »Privatabteil im nächsten Wagen.«

»Nummer drei?«

»Vermutlich.«

Der Schaffner ging weiter.

»Idiot!« murmelte Bruno. Er lehnte sich vor und sah belustigt aus dem Fenster.

Guy wandte sich wieder seinem Buch zu, doch die unübersehbare Langeweile seines Reisegefährten, das Gefühl, der andere werde gleich etwas sagen, erschwerte ihm die Konzentration. Guy überlegte, ob er in den Speisewagen gehen sollte, blieb aber aus einem unerklärlichen Grund sitzen. Der Zug drosselte erneut das Tempo. Als Bruno abermals Anstalten machte, ein Gespräch anzufangen, stand Guy auf, ging in den nächsten Wagen und sprang die Stufen zum knirschenden Boden hinab, bevor der Zug richtig zum Stillstand gekommen war.

Die lebendige Luft draußen voller Nachtgerüche senkte sich wie ein erstickendes Kissen auf ihn. Es roch nach staubigem, sonnengewärmtem Kies, nach Öl und heißem Stahl. Er war hungrig und hielt sich in Speisewagennähe, wo er mit den Händen in den Taschen langsam auf- und abging und tief einatmete, obwohl ihm die Luft nicht zusagte. Rote, grüne und weiße Lichter blinkten südlich am Himmel. Gestern, dachte er, hätte Anne auf dem Weg nach Mexiko hier entlangkommen können. Er hätte bei ihr sein können. Sie hätte sich gefreut, wenn er bis Metcalf mitgefahren wäre. Wäre nicht Miriam gewesen oder auch trotz

Der Schaffner rief vernehmlich, aber Guy wanderte weiter auf und ab und sprang dann im letzten Moment auf den Wagen hinter dem Speisewagen auf.

Er hatte gerade seine Bestellung aufgegeben, als der junge blonde Mann schwankend im Eingang zum Wagen erschien; mit dem Zigarettenstummel im Mund sah er geradezu verwegen aus. Guy hatte ihn erfolgreich aus seinen Gedanken verdrängt, und nun mußte die große, rostbraune Gestalt sich wie eine unerfreuliche Erinnerung wieder aufdrängen. Guy sah, daß er lächelte, als er ihn erblickte.

»Dachte schon, Sie hätten den Zug verpaßt«, sagte Bruno fröhlich und zog sich einen Stuhl heran.

»Ich will nicht unhöflich sein, Mr. Bruno, aber ich wäre jetzt gerne allein. Ich muß über verschiedenes nachdenken.«

Bruno drückte die Zigarette aus, die seine Finger ansengte, und starrte Guy ausdruckslos an. Er war noch betrunkener als vorhin. Sein Gesicht war verschmiert und verquollen. »Wir können es uns in meinem Abteil allein gemütlich machen. Wir können uns das Essen dorthin bringen lassen. Was sagen Sie dazu?«

»Vielen Dank. Ich bleibe lieber hier.«

Guy saß unschlüssig da; dann stand er auf und ging mit. Was machte es schon aus? Und war er der eigenen Gesellschaft nicht ohnehin unendlich überdrüssig?

Die zwei Scotch wurden nicht gebraucht, verhalfen ihnen aber zu Gläsern und Eis. Die vier Scotchflaschen mit gelbem Etikett, die auf einem Krokodillederkoffer aufgereiht standen, waren das einzig Ordentliche in dem kleinen Abteil. Mit Ausnahme eines zickzackförmigen Wegs war der ganze Raum mit Taschen und Koffern verstellt, von Sportkleidung und Sportutensilien bedeckt – Tennisschläger, eine Tasche mit Golfschlägern, Kameras, ein Weidenkorb mit Wein und Obst, schön mit fuchsienrotem Papier ausgeschlagen. Eine Auswahl neuer Zeitschriften, Comics und Romane war auf dem Sitz am Fenster verstreut, eine Pralinenschachtel mit roter Schleife auf dem Deckel lag herum.

»Sieht ein bißchen sehr sportlich aus hier, fürchte ich«, sagte Bruno fast entschuldigend.

»Mich stört es nicht.« Guy lächelte versonnen. Der Anblick des Raums amüsierte ihn und flößte ihm ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit ein. Als er lächelte, löste sich die Spannung seiner dunklen Brauen, was sein Aussehen völlig veränderte. Seine Augen sahen jetzt wach und interessiert aus. Er bewegte sich gewandt zwischen den Koffern und betrachtete alles wie eine neugierige Katze.

Aber keiner der beiden setzte sich oder zog seinen Mantel aus. Unbehagliche Minuten traten ein, in denen beide nichts zu sagen wußten. Guy nahm einen Schluck seines Highballs, der wie reiner Whisky schmeckte, und sah auf den Fußboden, der über und über mit Kleidungsstücken bedeckt war. Bruno hatte sonderbare Füße, fiel ihm auf, aber vielleicht lag es auch an den Schuhen: kleine, zierliche hellbraune Schuhe, deren längliche glatte Kappe an Brunos eckiges Kinn erinnerten. Sonderbar altmodische Füße. Und Bruno war keineswegs so schmächtig, wie er gedacht hatte; die langen Beine waren massig, der Körper wirkte eher ungeschlacht.

»Hoffe, es hat Sie nicht gestört«, begann Bruno vorsichtig, »daß ich vorhin in den Speisewagen gekommen bin.«

»Nein, nein.«

»Ich fühlte mich einsam. Sie wissen schon.«

Guy sagte etwas darüber, wie einsam man war, wenn man allein in einem Salonabteil reiste, und wäre dabei fast auf den Riemen einer Rolleiflex getreten. Unten an ihrem Ledergehäuse war ein frischer weißlicher Kratzer zu sehen.

»Was bauen Sie in Metcalf?«

»Nichts«, sagte Guy. »Meine Mutter wohnt dort.«

»Oh«, sagte Bruno interessiert. »Zu Besuch? Kommen Sie von dort?«

»Ja. Ich bin dort geboren.«

»Sie sehen gar nicht aus wie ein Texaner.« Bruno spritzte Ketchup über das ganze Steak und über die Pommes frites, und dann spießte er die Petersilie elegant auf und hielt sie in der Luft. »Wann waren Sie das letztemal da?«

»Vor etwa zwei Jahren.«

»Lebt Ihr Vater auch dort?«

»Mein Vater ist tot.«

»Oh. Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Mutter?«

Guy bejahte. Obwohl er Scotch nicht besonders mochte, spürte er ihn jetzt gern auf der Zunge, weil er ihn an Anne erinnerte. Wenn sie Alkohol trank, dann trank sie am liebsten Scotch, und er paßte zu ihr – golden, voller Licht, mit Sorgfalt und Kunstfertigkeit hergestellt. »Und wo wohnen Sie auf Long Island?«

»Great Neck.«

Anne wohnte um einiges weiter draußen.

Guy sah nun nur die schmale, spärlich behaarte Schädeloberfläche und den hervorstehenden Pickel. Er hatte nicht mehr auf den Pickel geachtet, seit er Bruno im Schlaf beobachtet hatte, und als er ihm nun wieder auffiel, erschien er wie etwas Monströses, Schockierendes und absorbierte seine ganze Aufmerksamkeit. »Warum?« fragte Guy.

»Wegen meines Vaters. Dreckskerl. Aber mit meiner Mutter verstehe ich mich gut, so wie Sie. Meine Mutter kommt in ein paar Tagen auch nach Santa Fe.«

»Ach, wie nett.«

»Allerdings«, sagte Bruno, als müsse er ihm widersprechen. »Wir amüsieren uns immer prächtig, wir unterhalten uns und spielen Golf und gehen sogar zusammen aus.« Er lachte, halb stolz, halb verschämt, und wirkte plötzlich unsicher und jung. »Finden Sie das komisch?«

»Nein«, sagte Guy.

»Wenn ich nur endlich eigenes Geld hätte. Verstehen Sie, ab diesem Jahr wäre das eigentlich fällig gewesen, aber mein Vater denkt nicht dran, sondern leitet das Geld in seine eigene Kasse. Sie werden es nicht glauben, aber ich habe jetzt kein bißchen mehr Geld, als ich in der Schule hatte, wo alles für mich bezahlt wurde. Wenn ich ab und zu einen Hunderter brauche, muß ich meine Mutter drum bitten.« Er lächelte zaghaft.

»Auf gar keinen Fall!« protestierte Bruno. »Ich will nur sagen, wie unmöglich das ist, finden Sie nicht auch, wenn der eigene Vater einem die Hand in die Tasche steckt. Es ist nicht einmal sein Geld, meine Mutter hat es geerbt.« Er schwieg und erwartete eine Reaktion von Guy.

»Hat Ihre Mutter nichts mitzureden?«

»Mein Vater hat sich alles überschreiben lassen, als ich noch klein war!« schrie Bruno mit heiserer Stimme.

»Ach so.« Guy fragte sich, wie viele Zufallsbekanntschaften wohl schon von Bruno angesprochen, eingeladen und mit diesen Enthüllungen über seinen Vater konfrontiert worden sein mochten. »Warum hat er das getan?«

Bruno hob hilflos die Hände und vergrub sie dann achselzuckend in den Hosentaschen. »Ich hab doch gesagt, daß er ein Dreckskerl ist, oder? Er legt jeden rein, wenn er kann. Neuestens behauptet er, ich würde das Geld nicht kriegen, weil ich nichts tue, aber das ist gelogen. Er denkt nämlich, meine Mutter und ich hätten es zu gut. Er versucht immer, anderen den Spaß zu verderben.«

Guy konnte sich Bruno mit seiner Mutter vorstellen, einer jugendlichen, zu stark geschminkten Long-Island-Society-Type, ab und zu – wie ihr Sohn – mit einem Faible für Kreise, die nicht die feinsten waren. »Auf welchem College waren Sie?«

»Harvard. Im zweiten Jahr rausgeflogen. Alkohol und Karten.« Er zuckte die schmalen Schultern, als würde er sich winden. »Anders als Sie, was? Ich bin eben ein verkommenes Subjekt – na und?« Er goß beiden Scotch nach.

»Wer behauptet das?«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich nett und brav bin?«

»Ich meine damit, daß Sie vernünftig sind und einen Beruf haben – Architekt. Ich hab einfach keine Lust zum Arbeiten. Ich hab’s nicht nötig, verstehen Sie? Ich bin kein Schriftsteller und kein Maler oder Musiker, und warum soll man arbeiten, wenn man nicht unbedingt muß? Ich hol mir meine Magengeschwüre lieber auf die gemütliche Tour. Mein Vater hat Magengeschwüre. Haha! Er glaubt noch immer, daß ich irgendwann in seine Haushaltswarenfirma eintrete. Ich sage immer, daß seine Geschäfte wie alle Geschäfte nichts anderes sind als legalisiertes Halsabschneidertum, so wie das Heiraten legalisierte Unzucht ist. Stimmt’s?«

Guy sah ihn mit gerunzelter Stirn an und salzte die Pommes frites auf seiner Gabel. Er aß langsam und genoß das Essen, genoß sogar auf eine merkwürdige Weise Bruno, so wie man eine Darbietung auf der Bühne genießt. In Wirklichkeit dachte er an Anne. Manchmal kam ihm der schwache, ununterbrochene Traum von ihr realer vor als die Außenwelt, die nur in Bruchstücken zu ihm durchdrang, wie der Kratzer auf dem Kameragehäuse, die angerauchte Zigarette, die Bruno in der Butter auf seinem Teller ausgedrückt hatte, der splitternde Glasrahmen des Fotos von Brunos Vater, das Bruno in der Geschichte, die er gerade zum besten gab, auf den Dielenboden geworfen hatte. Guy war gerade eingefallen, daß ihm zwischen der Unterredung mit Miriam und seiner Fahrt nach Florida vielleicht noch genug Zeit blieb, Anne in Mexiko zu besuchen. Wenn er die Sache mit Miriam schnell hinter sich brachte, konnte er

»Können Sie sich eine größere Gemeinheit vorstellen? Die Garage abzuschließen, in der mein Wagen steht?« Brunos Stimme überschlug sich, er kreischte fast.

»Warum?« fragte Guy.

»Nur weil er wußte, daß ich es an besagtem Abend dringend brauchte! Schließlich haben mich dann meine Freunde mitgenommen – was hat es ihm also genützt?«

Guy wußte nicht, was er darauf sagen sollte. »Er hat die Garagenschlüssel?«

»Er hat mir meine Schlüssel weggenommen! Aus meinem Zimmer! Deshalb hatte er Angst vor mir. Er hat sich nicht getraut, zu Hause zu bleiben, solche Angst hatte er!« Bruno hatte sich auf seinem Stuhl halb umgedreht; er atmete schwer und kaute an einem Fingernagel. Einzelne schweißdunkle Haarsträhnen wippten wie Fühler vor seiner Stirn. »Meine Mutter war nicht da, sonst wäre so was nie passiert, nie.«

»Natürlich nicht«, stimmte Guy unwillkürlich zu. Das ganze Gespräch, nahm er an, hatte auf diese Geschichte abgezielt, die er nur halb mitbekommen hatte. Eine der vielen Geschichten von Haß und Ungerechtigkeit, die sich hinter den blutunterlaufenen Augen verbarg, die ihn im Pullmanwagen angeblickt hatten, hinter dem wehmütigen Lächeln. »Und Sie haben sein Foto in der Diele auf den Boden geworfen?« fragte Guy zusammenhanglos.

»Ich habe es rausgeschmissen, aus dem Zimmer meiner

»Aber was hat er gegen Sie?«

»Nicht nur gegen mich, auch gegen meine Mutter! Er ist anders als wir, anders als andere Menschen! Er kann niemanden leiden. Er kann überhaupt nichts leiden außer Geld. Und Geld verdient der alte Halsabschneider genug, natürlich. Sicher, er ist clever, keine Frage! Aber ich wette, daß er längst mächtig Gewissensbisse hat, und deshalb will er, daß ich in seine Firma einsteige und genauso ein Halsabschneider werde wie er, damit es mir dann genauso dreckig geht wie ihm!« Bruno schloß die starr ausgestreckte Hand, dann den Mund, dann die Augen.

Guy dachte, er würde gleich zu weinen beginnen, doch die geschwollenen Lider öffneten sich, und das Lächeln kehrte zaghaft zurück.

»Langweilig, was? Ich wollte nur erklären, warum ich gefahren bin, bevor meine Mutter wiederkam. Sie haben keine Ahnung, was für ein lustiger Kumpan ich in Wirklichkeit bin! Ehrlich!«

»Können Sie nicht zu Hause ausziehen?«

Bruno schien die Frage zuerst nicht zu verstehen; dann antwortete er ruhig: »Doch, natürlich, aber ich bin gerne mit meiner Mutter zusammen.«

Und die Mutter blieb um des Geldes willen, vermutete Guy. »Zigarette?«

Bruno nahm eine und lächelte. »Verstehen Sie, als er damals nicht zu Hause bleiben wollte, war es das erste Mal

»Nein.«

»Ich schon. Manchmal hätte ich wirklich Lust, meinen Vater umzubringen.« Mit einem benebelten Lächeln sah er auf seinen Teller. »Wissen Sie, was mein Vater für ein Hobby hat? Raten Sie mal!«

Guy hatte keine Lust zu raten. Das Ganze langweilte ihn plötzlich; er wollte allein sein.

»Er sammelt Keksformen!« Bruno kicherte wiehernd. »Keksformen, ehrlich! Er hat eine ganze Sammlung – Pennsylvania Dutch, bayerische, englische, französische, jede Menge ungarische, wo man hinsieht. Eingerahmte Dinger in Tierform über seinem Schreibtisch – Sie wissen schon, die Kekse, die man Kindern kauft. Er hat die Keksfirma angeschrieben, und sie haben ihm einen ganzen Satz Formen geschickt. Und das im Maschinenzeitalter!« Bruno lachte und zog den Kopf ein.

Guy starrte ihn an. Bruno selbst war komischer als das, was er sagte. »Benutzt er sie auch?«

»Was?«

»Backt er damit Plätzchen?«

Bruno juchzte vor Begeisterung. Er wand sich aus seinem Jackett und warf es auf einen der Koffer. Er wirkte kurze Zeit zu erregt, um sprechen zu können, sagte dann aber unerwartet ruhig: »Meine Mutter sagt immer zu ihm, er soll sich um seine Keksformen kümmern.« Schweiß

»O ja, sehr«, sagte Guy aufrichtig.

»Schon mal von der Bruno Transforming Company, Long Island, gehört? Stellt Elektrokleingeräte her.«

»Ich glaube nicht.«

»Warum sollten Sie auch? Aber die Firma macht Geld wie Heu. Sind Sie am Geldverdienen interessiert?«

»Nicht besonders.«

»Darf ich fragen, wie alt Sie sind?«

»Neunundzwanzig.«

»Tatsächlich? Ich hätte auf älter getippt. Für wie alt halten Sie mich?«

Guy betrachtete ihn höflich. »Etwa vier- oder fünfundzwanzig«, sagte er im Wunsch, Bruno zu schmeicheln, der jünger aussah.

»Ja, bin ich. Fünfundzwanzig. Wollen Sie sagen, daß ich wie fünfundzwanzig aussehe mit – mit diesem Ding mitten auf dem Kopf?« Bruno nagte mit den Zähnen an seiner Unterlippe. Ein mißtrauisches Glitzern trat in seine Augen, und unvermittelt hielt er die Hand voll schmerzlicher Scham vor die Stirn. Er sprang auf und trat vor den Spiegel. »Ich wollte was drübertun.«

Guy sagte etwas Beruhigendes, aber Bruno betrachtete sich weiter von allen Seiten im Spiegel und litt dabei Folterqualen. »Das kann unmöglich ein Pickel sein«, sagte er näselnd. »Es muß ein Furunkel sein, ein Geschwür. Alles, was ich hasse und was in mir hochkommt! Eine wahre Geißel Gottes!«

»Montag abend nach dem Streit, da fing es an, und es ist immer schlimmer geworden. Ich wette, das gibt eine Narbe.«

»Nein, sicher nicht.«

»Doch, ganz sicher. Schön werde ich damit in Santa Fe aussehen!« Jetzt saß er mit geballten Fäusten auf seinem Stuhl, ein Bein schwerfällig ausgestreckt, in einer Pose finsteren Brütens.

Guy ging im Abteil umher und schlug eines der Bücher auf dem Fenstersitz auf. Es war ein Kriminalroman, wie die anderen Bücher auch. Als er ein paar Zeilen lesen wollte, verschwammen die Buchstaben vor seinen Augen, und er schloß das Buch. Er mußte ganz schön viel getrunken haben, dachte er. Aber an diesem Abend war ihm das letztlich egal.

»In Santa Fe«, sagte Bruno, »geh ich in die vollen. Wein, Weib und Gesang, hoho!«

»Und was wollen Sie wirklich?«

»Irgendwas.« Brunos Mund verzog sich zu einer häßlichen Grimasse der Sorglosigkeit. »Alles. Ich habe eine Theorie, daß man im Leben alles ausprobieren soll, was möglich ist, und vielleicht sogar den Tod finden sollte, weil man das wirklich Unmögliche versucht.«

Etwas in Guy reagierte ungestüm und zog sich dann vorsichtig zurück. Er fragte behutsam: »Wie was?«

»Zum Beispiel eine Mondfahrt mit einer Rakete. Oder ein Geschwindigkeitsrekord im Autofahren – mit verbundenen Augen. Das hab ich selbst mal gemacht. Keinen Rekord aufgestellt, aber hundertsechzig Sachen bin ich gefahren.«

»Und eingebrochen bin ich einmal.« Bruno stierte Guy unverwandt an. »Wie ein Profi. In ein Apartment.«

Auf Guys Lippen begann sich ein ungläubiges Lächeln abzuzeichnen, obwohl er Bruno glaubte. Bruno konnte gewalttätig sein. Und er konnte unzurechnungsfähig sein. Verzweiflung, dachte Guy, nicht Unzurechnungsfähigkeit. Die aus Langeweile geborene Verzweiflung der Reichen, wie er oft zu Anne sagte, die den Wunsch nach Zerstörung statt nach Erschaffen erzeugte und die so gut wie Mangel zum Verbrechen führen konnte.

»Nicht um irgendwas zu stehlen«, sprach Bruno weiter. »Was ich mitgenommen habe, wollte ich gar nicht. Ich habe extra lauter Sachen genommen, die ich nicht haben wollte.«

»Was haben Sie mitgenommen?«

Bruno zuckte die Achseln. »Ein Tischfeuerzeug. Und eine Statue vom Kaminsims. Farbiges Glas. Und noch was.« Erneutes Achselzucken. »Außer Ihnen weiß niemand davon. Ich bin nicht redselig. Wette, Sie denken das Gegenteil.« Er lächelte.

Guy zog an seiner Zigarette. »Wie haben Sie das gemacht?«

»Das Apartmenthaus in Astoria beobachtet, bis die Luft rein war, und dann bin ich durch das Fenster eingestiegen. Von der Feuerleiter aus. Ganz einfach. Eine Sache, die ich von meiner Liste streichen kann, Gott sei Dank.«

»Warum ›Gott sei Dank‹?«

Bruno grinste schüchtern. »Ich weiß auch nicht, warum ich das gesagt habe.« Er schenkte erst sich, dann Guy nach.

Guy sah auf die ungelenken, zitternden Hände mit den

»Erzählen Sie mir was von sich«, bat Bruno freundlich.

»Da gibt es nichts zu erzählen.« Guy holte eine Pfeife aus seiner Jackettasche, klopfte sie an seinem Absatz aus, bemerkte die Asche auf dem Teppich und vergaß sie. Der Alkohol verbreitete einen wohligen Schauder in seinem ganzen Körper. Er dachte, wenn der Palm-Beach-Auftrag klappte, würden die zwei Wochen bis zum Arbeitsbeginn schnell vergehen. Eine Scheidung würde nicht zuviel Zeit beanspruchen. Die Anordnung der niedrigen weißen Häuser auf dem grünen Rasen seines Entwurfs war seinem Geist in allen Einzelheiten vertraut, ohne daß er es herbeibeschwören mußte. Er fühlte sich undeutlich geschmeichelt, auf unerklärliche Weise sicher und vom Schicksal begünstigt.

»Was für Häuser bauen Sie?« fragte Bruno.

»Ach, was man so modern nennt. Ich habe bis jetzt ein paar Ladengeschäfte und ein kleineres Bürogebäude entworfen.« Guy lächelte; er empfand nichts von der Unlust, dem leisen Groll, die ihn sonst überkamen, wenn man ihn über seine Arbeit befragte.

»Nein. Das heißt, ja. Getrennt.«

»Oh, warum?«

»Wir passen nicht zueinander«, erwiderte Guy.

»Wie lange sind Sie getrennt?«

»Seit drei Jahren.«

»Wollen Sie sich scheiden lassen?«

Guy zögerte und runzelte die Stirn.

»Lebt sie in Texas?«

»Ja.«

»Besuchen Sie sie jetzt?«

»Ich besuche sie. Wir wollen uns scheiden lassen.« Er biß sich auf die Lippen. Warum hatte er das gesagt?

Bruno feixte. »Was für Mädchen findet man denn in Texas?«

»Sehr hübsche Mädchen«, antwortete Guy. »Manche zumindest.«

»Aber nicht die Hellsten, was?«

»Manche schon.« Er lächelte inwendig. Miriam war die Art von Mädchen, auf die Bruno anzuspielen schien.

»Und zu welcher Sorte gehört Ihre Frau?«

»Sie ist ziemlich hübsch«, sagte Guy bedächtig. »Rothaarig. Etwas füllig.«

»Und wie heißt sie?«

»Miriam. Miriam Joyce.«

»Hm, hm. Clever oder dämlich?«

»Sie ist keine Intellektuelle. Ich wollte keine Intellektuelle heiraten.«

»Und Sie waren wie irre in sie verliebt, was?«

Warum? War ihm das anzumerken? Brunos Augen

»Sie sind ein anständiger Kerl. Sie machen nichts halb. Sie machen sich’s auch mit den Frauen nicht leicht, stimmt’s?«

»Was verstehen Sie darunter?« wehrte er ab, aber er spürte auf der Stelle Zuneigung zu Bruno, weil dieser gesagt hatte, was er von ihm dachte. Guy wußte, daß die meisten nicht sagten, was sie von ihm dachten.

Bruno hob hilflos die Hände und seufzte.

»Was meinen Sie damit?« wiederholte Guy.

»Mit Haut und Haar und den höchsten Erwartungen. Und dann erleben Sie Ihr blaues Wunder. Stimmt’s?«

»Nicht ganz.« Trotzdem saß ihm ein Kloß von Selbstmitleid in der Kehle, und er stand auf und nahm sein Glas. In dem engen Abteil konnte man sich nicht bewegen. Das Schlingern des Zugs machte sogar das Stehen schwierig.

Und Bruno starrte ihn unverwandt an, schaukelte mit einem seiner altmodischen Füße, ein Bein über das andere geschlagen, und klopfte immer wieder gegen die Zigarette, die er über seinen Teller hielt. Das angegessene rosigschwärzliche Steak wurde allmählich unter dem Ascheregen begraben. Guy argwöhnte, daß Bruno weniger freundlich wirkte, seit er erfahren hatte, daß Guy verheiratet war. Und neugieriger.

»Wie war das mit Ihrer Frau? Hat sie sich mit anderen Kerlen eingelassen?«

»Aber Sie sind immer noch mit ihr verheiratet. War die Scheidung vorher nicht möglich?«

Guy empfand sofort Scham. »Ich habe mich bisher nicht besonders dafür interessiert.«

»Und was ist passiert?«

»Sie ist plötzlich der Ansicht, daß sie sich scheiden lassen will. Ich glaube, sie erwartet ein Kind.«

»Oho. Guter Zeitpunkt, was? Treibt sich seit drei Jahren mit Männern rum und hat es endlich geschafft, einen festzunageln?«

Natürlich war genau das geschehen, und wahrscheinlich wäre es ihr ohne die Schwangerschaft nicht gelungen. Wie kam es, daß Bruno das wußte? Guy hatte den Eindruck, daß Bruno die Haßgefühle, die er jemandem entgegenbrachte, den er kannte, und das, was er von dieser Person wußte, auf Miriam übertrug. Guy sah zum Fenster, das ihm nichts als das eigene Gesicht zeigte. Er spürte, daß sein Herzschlag seinen Körper erschütterte, nachhaltiger als die Vibrationen des Zugs. Vielleicht, dachte er, klopfte sein Herz so, weil er noch nie jemandem so viel von Miriam erzählt hatte. Er hatte Anne nie soviel erzählt, wie Bruno inzwischen wußte. Aber Miriam war einmal anders gewesen – reizend, loyal, einsam, und sie hatte ihn so dringend gebraucht wie die Freiheit von ihrer Familie. Morgen würde er Miriam sehen, sie berühren können, indem er die Hand ausstreckte. Der Gedanke, ihr allzu weiches Fleisch, das er einst geliebt hatte, zu berühren, war ihm unerträglich. Plötzlich überwältigte ihn ein Gefühl des Versagens.

»Achtzehn.«

»Hat sie Sie von Anfang an betrogen?«

Guy zuckte zusammen, als hätte er Miriams Schuld auf sich zu nehmen. »Das ist nicht das einzige, was Frauen tun können.«

»Aber sie hat es getan, oder?«

Angewidert und gleichzeitig fasziniert wandte Guy den Blick ab. »Ja.« Wie scheußlich das kleine Wort klang, das in seinen Ohren hallte!

»Ich kenne die Rothaarigen aus dem Süden«, sagte Bruno, der in seinem Apfelkuchen stocherte.

Wieder war Guy sich eines schmerzlichen und völlig sinnlosen Schamgefühls bewußt. Sinnlos, weil nichts, was Miriam getan oder gesagt haben mochte, Bruno überraschen oder in Verlegenheit bringen würde. Bruno schien keine Überraschung zu kennen, nur zunehmendes Interesse.

Bruno sah mit diskreter Belustigung auf seinen Teller. Seine Augen wurden groß und strahlten, so gut sie es trotz der Augenringe und der blutigen Äderchen vermochten. »Die Ehe«, seufzte er.

Auch das Wort »Ehe« hallte Guy in den Ohren. Für ihn war es ein feierliches, ein ernstes Wort, so gewichtig wie die Wörter heilig, Liebe oder Sünde. Ehe, das war Miriams runder, terrakottaroter Mund, der sagte: »Warum soll ich mir deinetwegen das Leben schwermachen?« Und Annes Augen, wenn sie sich die Haare aus dem Gesicht strich und vom Rasen ihres Hauses, wo sie Krokusse pflanzte, zu ihm

»Ich meine es ernst«, sagte Brunos Stimme wie aus der Ferne. »Was ist passiert? Es macht Ihnen doch nichts aus, mir davon zu erzählen? Es interessiert mich wirklich.«

Steve war passiert. Guy nahm sein Glas in die Hand. Er sah den Nachmittag in Chicago, von der Türeinfassung gerahmt, ein Bild, das inzwischen grau und schwarz wie eine Fotografie war. Der Nachmittag, an dem er sie in dem Apartment überrascht hatte, der keinem anderen Nachmittag gleich war, mit seiner eigenen Farbe, seinem eigenen Geschmack und Ton, seiner eigenen Welt, als wäre er ein abscheuliches kleines Kunstwerk. Wie ein historisches Datum mit seinem festen Platz in der Zeit. Oder verhielt es sich genau umgekehrt, und das Geschehene war immer bei ihm? Denn hier war es, so deutlich wie je zuvor. Und was das schlimmste war, er spürte den Wunsch, alles Bruno zu erzählen, dem Fremden im Zug, der zuhören, bedauern

»Ich habe sie überfordert«, sagte Guy obenhin, »und das war mein Fehler. Sie war eben geltungssüchtig. Vermutlich wird sie bis ins Grab flirten, egal, mit wem.«

»Verstehe, die ewige High-School-Biene.« Bruno wedelte mit der Hand. »Kann nicht einmal auch nur so tun, als könnte sie treu sein.«

Guy sah ihn an. Früher einmal hatte Miriam so getan.

Unvermittelt gab er den Gedanken auf, Bruno alles zu erzählen, und schämte sich, daß er es fast getan hätte. Bruno wirkte inzwischen eher desinteressiert; er hockte zusammengesackt auf seinem Stuhl und malte mit einem Streichholz Muster in die Sauce auf seinem Teller. Die im Profil sichtbare herabgezogene Mundhälfte verkroch sich wie bei einem alten Mann zwischen Nase und Kinn. Der Mund schien zu sagen, daß die Geschichte ihm egal sei, daß er nicht länger Lust habe, sie anzuhören.

»Solche Frauen«, brummte Bruno, »ziehen die Männer an, wie ein Mülleimer Fliegen anzieht.«

Brunos Worte bewirkten einen Schock; Guy fühlte sich wie in zwei Hälften gespalten. »Sie haben wohl selbst schon unangenehme Erfahrungen gemacht«, bemerkte er, doch es fiel ihm schwer, sich einen Bruno vorzustellen, der unter Frauengeschichten litt.

»Ach, mein Vater hatte eine von der Sorte. Eine Rothaarige. Hieß Carlotta.« Er blickte auf; der Haß auf seinen Vater durchdrang seine Benebeltheit wie ein Stachel. »Nett, nicht wahr? Männer wie er sind schuld daran, daß es solche Frauen gibt.«

Carlotta. Jetzt, dachte Guy, begriff er, warum Bruno Miriam verabscheute. Dies war der Schlüssel zu Brunos Persönlichkeit, zu seinem Haß auf den Vater und zu seiner verspäteten Entwicklung.

»Es gibt zwei Sorten Männer!« brüllte Bruno und hielt inne.

Guy erblickte sich selbst in einem schmalen Stück Spiegel. Seine Augen sahen erschrocken aus, fand er, und sein Mund war verkniffen; er zwang sich zu einer entspannteren Haltung. Ein Golfschläger drückte sich in seinen Rücken. Er befühlte mit den Fingerspitzen die kühle lackierte Oberfläche. Das Metall im dunklen Holz erinnerte ihn an das Kompaßhäuschen auf Annes Segelboot.

»Und was ist mit Frauen wie Ihrer Mutter?«

»Es gibt keine zweite Frau wie meine Mutter«, verkündete Bruno. »Keine andere Frau hat soviel ertragen. Und obendrein sieht sie blendend aus, hat jede Menge Freunde, aber würde sich nie mit einem von denen einlassen.«

Schweigen.

Guy klopfte eine Zigarette gegen seine Uhr und sah dabei, daß es halb elf war. Er mußte gehen.

»Wie sind Sie Ihrer Frau auf die Schliche gekommen?« Bruno schielte zu ihm hoch.

Guy ließ sich beim Anzünden seiner Zigarette Zeit.

»Wie viele andere gab es?«

»Einige. Bevor ich es merkte.« Und gerade als er sich einredete, daß es ihm überhaupt nichts ausmachte, jetzt darüber zu sprechen, begann ihn ein Gefühl wie ein kleiner Strudel zu verstören. Undeutlich, aber wahrer als die Erinnerung, weil er darüber gesprochen hatte. War es Stolz? Haß? Oder nur Ärger über sich selbst, daß er sich Gefühlen hingab, die so sinnlos waren? Er lenkte das Gespräch von sich ab. »Erzählen Sie mir, was Sie noch im Leben vorhaben.«

»Noch im Leben vorhaben? Ich will doch nicht sterben! Ich hab ein paar todsichere Sachen auf Lager. Ich könnte jederzeit in Chicago oder New York ganz groß einsteigen oder einfach meine Ideen verkaufen. Und außerdem habe ich eine Menge Ideen für perfekte Morde.« Bruno blickte wieder mit dem starren Blick auf, der zu Widerspruch herauszufordern schien.

»Menschenskind, Sie mag ich doch, Guy! Ehrlich!«

Das wehmütige Gesicht flehte Guy an zu sagen, auch er möge den anderen. Diese Einsamkeit in den kleinen, gequälten Augen! Guy sah beschämt auf seine Hände. »Denken Sie oft solche Dinge?«

»Wo denken Sie hin! Ich habe nur manchmal Lust, Dinge zu tun wie – nun ja, einfach jemandem tausend Dollar geben, einem Bettler. Wenn ich über mein eigenes Geld verfügen kann, will ich das als erstes tun. Aber hatten Sie noch nie den Wunsch, irgendwas zu stehlen oder jemanden umzubringen? Das kann doch gar nicht sein. Jeder denkt so was irgendwann. Glauben Sie nicht, daß manche Leute es spannend finden, im Krieg andere umzubringen?«

»Nein«, sagte Guy.

Bruno überlegte. »Na ja, zugeben würde das sicher niemand, aber nur aus Angst! Aber Sie haben sicher Leute gekannt, die Sie am liebsten zum Teufel geschickt hätten, oder?«

»Nein.« Steve schon, fiel ihm plötzlich ein. Er hatte sogar daran gedacht, ihn zu ermorden.

Bruno legte den Kopf schief. »Klar haben Sie das. Kann ich doch sehen. Warum wollen Sie’s abstreiten?«

»Mag sein, daß ich solche Gedanken hatte, aber ich hätte sie nie in die Tat umgesetzt. So einer bin ich nicht.«

»Und genau da täuschen Sie sich! Jeder kann einen Mord begehen. Das hängt nur von den Umständen ab, hat rein gar nichts mit Temperament oder Veranlagung zu tun. Man kommt an einen bestimmten Punkt, und dann braucht es

»Ich kann Ihre Ansichten leider nicht teilen«, sagte Guy mit zusammengebissenen Zähnen.

»Ich schwöre Ihnen, daß ich schon tausendmal kurz davor war, meinen Vater zu ermorden! Wen hätten Sie am liebsten ermordet? Die Kerle, mit denen Ihre Frau rumzieht?«

»Einen davon«, flüsterte Guy.

»Und wie weit ging das?«

»Überhaupt nicht weit. Es war nur ein Gedanke.« Er erinnerte sich an die schlaflosen Nächte, Hunderte schlafloser Nächte, daran, daß er gedacht hatte, er würde keinen Seelenfrieden finden, bevor er sich nicht gerächt hätte. War er damals kurz davor gewesen, ein Verbrechen zu begehen? Er hörte Brunos Stimme, die flüsterte: »Sie waren viel näher dran, als Sie glauben, das kann ich Ihnen verraten.« Guy sah ihn verblüfft an. Bruno sah so ungesund und übernächtigt aus wie ein Croupier, wie er mit aufgestützten Ellbogen und hängendem Kopf am Tisch lümmelte. »Sie lesen zu viele Kriminalromane«, sagte Guy und fragte sich, wer die Worte gesagt hatte, als er sie hörte.

»Prima Bücher. Beweisen, daß jeder einen Mord begehen kann.«

»Das ist der Grund, weshalb ich diese Bücher schon immer schlecht fand.«

»Völliger Irrtum!« sagte Bruno ungehalten. »Wissen Sie, welcher Prozentsatz aller Morde publik wird?«

»Nein, und es interessiert mich auch nicht.«

»Ein Zwölftel. Ein Zwölftel! Stellen Sie sich das mal vor!

Bruno drehte sich grinsend um, die neue Flasche in der Hand. »Kommen Sie doch mit nach Santa Fe, um ein paar Tage auszuspannen.«

»Vielen Dank, das kann ich nicht.«

»Ich hab genug Kohle dabei. Sie sind mein Gast, einverstanden?« Er verschüttete Scotch auf dem Tisch.

»Danke«, sagte Guy. Er nahm an, daß Bruno aus seiner Kleidung schloß, er habe nicht viel Geld. Die graue Flanellhose war seine Lieblingshose. Er wollte sie in Metcalf tragen und auch in Palm Beach, falls es nicht zu warm war. Er lehnte sich zurück, steckte die Hände in die Hosentaschen und entdeckte in der rechten Tasche ein Loch.

»Warum nicht?« Bruno reichte ihm sein gefülltes Glas. »Ich kann Sie wirklich gut leiden, Guy.«

»Warum?«

»Weil Sie in Ordnung sind. Ich meine, anständig und

»Ich kann Sie auch gut leiden«, sagte Guy.

»Also kommen Sie mit? Ich habe nichts Besonderes vor, bis meine Mutter kommt, in ein paar Tagen. Wir können tun und lassen, was wir wollen.«

»Suchen Sie sich jemand anders als Begleitung.«