»Den perfekten Mord, den gibt es nicht«, sagte Tom zu Reeves. »Man kann sich einen ausdenken, aber das ist nur ein Gesellschaftsspiel. Natürlich kann man sagen, es gebe so viele ungelöste Mordfälle. Doch das ist etwas anderes.« Tom langweilte sich. Er ging vor dem großen Kamin auf und ab, in dem ein kleines Feuer anheimelnd prasselte. Daß er gespreizt und herablassend geklungen hatte, wußte er. Aber er konnte Reeves nun einmal nicht helfen und hatte ihm das auch schon gesagt.

»Ja, klar«, erwiderte Reeves. Er saß in einem der gelbseidenen Sessel, den schlanken Körper vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien verschränkt: ein ausgemergeltes Gesicht, kurzes, hellbraunes Haar und kalte, graue Augen – kein angenehmes Gesicht, aber es könnte gut aussehen, wäre da nicht die zehn Zentimeter lange Narbe, die sich von der rechten Schläfe über die Wange fast bis zu seinem Mund hinabzog. Die Narbe war etwas dunkler gerötet als sein Gesicht; sie wirkte wie eine schlecht oder gar nicht genähte Wunde. Tom hatte nie danach gefragt, aber Reeves hatte einmal von sich aus erklärt: »Das war ein Mädchen, mit ihrer Puderdose. Ist das zu glauben?« (Nicht für Tom.) Er hatte Tom ein kurzes, trauriges Lächeln geschenkt, eines der wenigen, an das sich Tom von ihm

Reeves Minot wollte, daß Tom ihm jemanden nannte oder an die Hand lieferte, der einen oder zwei »einfache Morde« begehen konnte, dazu vielleicht noch einen Diebstahl, ebenfalls einfach und ungefährlich. Er war aus Hamburg nach Villeperce gekommen, um mit Tom darüber zu reden, wollte über Nacht bleiben, morgen in Paris mit noch jemandem sprechen und dann nach Hamburg zurückkehren, wo er wohnte und wo er wohl weiter nachdenken wollte, falls er nichts erreicht hatte. Reeves arbeitete vor allem als Hehler; in letzter Zeit hatte er sich aber in Hamburg in der Halbwelt des illegalen Glücksspiels versucht, und diese wollte er nun schützen. Vor wem? Vor schweren Jungs aus Italien, die ihren Teil vom Kuchen wollten. Reeves vermutete, daß der eine Hamburger Italiener ein Fußsoldat der Mafia war, der als Minenhund vorgeschickt wurde, der andere womöglich ebenfalls, wenn auch für eine andere Familie. Und er hoffte, einen Eindringling oder beide auszuschalten und dadurch die Mafia von weiteren Vorstößen abzuschrecken; außerdem wollte er die Hamburger Polizei auf die Mafia-Gefahr aufmerksam machen und alles weitere, das heißt die Verdrängung der Mafia aus der Stadt, ihr überlassen. »Diese Hamburger sind anständige Jungs«, hatte Reeves beteuert. »Kann sein, daß sie etwas Ungesetzliches tun, wenn sie ein paar private Clubs betreiben, aber die sind an sich nicht illegal, und ihre Gewinne halten sich

Tom schob die Glut mit dem Schürhaken zusammen und legte ein sauber gespaltenes Holzscheit nach. Kurz vor sechs: bald Zeit für einen Drink. »Wie wär’s mit –«

In diesem Moment kam Madame Annette, die Haushälterin der Ripleys, aus dem Flur herein, der zur Küche führte. »Pardon, Messieurs. Monsieur Tomme, hätten Sie jetzt gern Ihre Drinks, da der Herr doch keinen Tee wollte?«

»Vielen Dank, Madame Annette. Gerade hatte ich daran gedacht. Und bitten Sie doch Madame Héloïse dazu, ja?« Sie sollte die Stimmung ein bißchen auflockern. Bevor Tom um drei Uhr nach Orly gefahren war, um Reeves abzuholen, hatte er zu Héloïse gesagt, Reeves habe etwas mit ihm zu bereden; deshalb hatte sie den ganzen Nachmittag über im Garten gearbeitet oder war oben geblieben.

»Und Sie würden die Sache nicht selbst übernehmen?« drängte Reeves mit letzter Hoffnung. »Sehen Sie, da gäbe es keine Verbindung zu uns, genau das wollen wir, Sicherheit. Außerdem ist das Geld auch nicht schlecht: sechsundneunzigtausend Dollar.«

Tom schüttelte den Kopf. »Aber mit Ihnen bin ich gewissermaßen verbunden.« Verdammt, er hatte einige unbedeutende Aufträge für Reeves Minot erledigt, zum Beispiel gestohlene Kleinigkeiten weitergeleitet oder winzige Gegenstände, wie etwa Mikrofilmrollen, aus Zahnpastatuben herausgeklaubt, die Reeves präpariert hatte, ohne daß deren Überbringer etwas ahnten. »Was glauben Sie, wie viele dieser Räuberpistolen ich mir noch leisten kann?

»Ja, und das wäre dann die Verbindung – deutlicher als zu Ihnen. Leider sind die Leute, die ich kenne, sozusagen keine unbeschriebenen Blätter.« Reeves klang traurig, wie ein geprügelter Hund. »Sie dagegen kennen eine Menge angesehener Leute, Tom, Männer mit reiner Weste, die über jeden Verdacht erhaben sind.«

Tom lachte. »Und wie wollen Sie solche Leute für so etwas gewinnen? Manchmal denke ich, Reeves, Sie sind verrückt.«

»Nein, Sie wissen, was ich meine. Jemanden, der es für Geld macht, nur für Geld. Das muß kein Profi sein. Wir bereiten alles vor. Es wäre wie … wie ein Anschlag, in aller Öffentlichkeit. Wir suchen jemanden, der so aussieht, daß man ihm so etwas nie und nimmer zutraut, wenn man ihn verhört.«

Madame Annette schob den Barwagen herein. Der Eiskübel schimmerte silbern, die Räder des Wagens quietschten leise. Seit Wochen hatte Tom sie schon ölen wollen. Er hätte das alberne Hin und Her mit Reeves fortsetzen können, weil Madame Annette, Gott segne sie, kein Englisch verstand. Aber das Thema ödete ihn an, und er freute sich über die Unterbrechung. Madame Annette, eine Frau in den Sechzigern, kam aus der Normandie, hatte ein angenehmes Gesicht, einen kräftigen Körper und war als Haushälterin ein wahres Juwel. Tom konnte sich Belle Ombre ohne sie nicht mehr vorstellen.

Héloïse kam aus dem Garten herein, und Reeves stand auf. Sie trug weit ausgestellte Latzhosen mit rosa- und

»Haben Sie sich nett unterhalten?« fragte Héloïse auf englisch. Anmutig sank sie in das gelbe Sofa.

»Ja, danke«, sagte Reeves.

Sie sprachen auf französisch weiter, weil Héloïse im Englischen nicht so sattelfest war. Reeves konnte kaum Französisch, hielt sich aber ganz gut, zumal sie nur über Belanglosigkeiten redeten: über den Garten, den milden Winter, der schon vorbei schien, weil hier bereits die Osterglocken blühten, und das Anfang März. Tom schenkte Héloïse aus einem der Fläschchen vom Wagen Champagner ein.

»Und wie ist’s in Hambourg?« Héloïse versuchte es noch einmal auf englisch. Ihre Augen funkelten belustigt,

Auch in Hamburg sei es nicht allzu kalt. Außerdem habe er ebenfalls einen Garten, fügte Reeves hinzu, denn seine petite maison liege an der Alster, also am Wasser, an einer Art Bucht, genauer gesagt. Viele Leute besäßen dort Häuser mit Gärten am Wasser und könnten sich also auch ein Segelboot halten, wenn sie das wollten.

Héloïse mochte Reeves Minot nicht und mißtraute ihm. Für sie war er einer der Leute, um die Tom besser einen Bogen machen sollte. Zufrieden dachte Tom, daß er heute abend ehrlich zu ihr sagen konnte, er habe jede Beteiligung an dem Plan abgelehnt, den Reeves vorgeschlagen hatte. Héloïse sorgte sich immer, was ihr Vater wohl sagen würde. Jacques Plisson war ein millionenschwerer Arzneimittelfabrikant, dazu Gaullist und die Verkörperung französischer Rechtschaffenheit. Und er hatte Tom nie gemocht. »Mein Vater sieht sich das nicht mehr lange an!« warnte sie Tom oft, aber ihr lag mehr an seiner Sicherheit als an dem Zuschuß, den ihr der Vater zahlte und, so sagte sie, nicht selten zu streichen drohte. Einmal in der Woche, gewöhnlich freitags, aß sie mit ihren Eltern zu Mittag, bei ihnen zu Hause in Chantilly. Sollte ihr Vater Héloïse je tatsächlich das Geld streichen, würden sie Belle Ombre kaum halten können. Das war klar.

Zum Abendessen gab es médaillons de bœuf, dazu kalte Artischocken mit Madame Annettes selbstkreierter Sauce als Vorspeise. Héloïse trug nun ein schlichtes, blaßblaues Kleid. Sie schien schon zu spüren, daß Reeves nicht bekommen hatte, was er wollte. Bevor sie zu Bett gingen, fragte

»Ich bin froh, daß er morgen abreist. Warum ist er so angespannt?« fragte Héloïse, die sich die Zähne putzte.

»Das ist er immer.« Tom drehte das Wasser ab, trat aus der Dusche und hüllte sich sofort in ein großes, gelbes Handtuch. »Vielleicht ist er deshalb so dünn.« Sie redeten englisch, denn mit Tom hatte Héloïse keine Hemmungen, seine Sprache zu sprechen.

»Wo hast du ihn kennengelernt?«

Er wußte es nicht mehr. Und wann? Vor fünf, sechs Jahren vielleicht. In Rom, oder? Reeves war ein Freund von irgendwem gewesen – nur von wem? Tom war zu müde, weiter nachzudenken, und es war auch nicht wichtig. Er hatte fünf, sechs solcher Bekannten und hätte wohl bei keinem sagen können, wo er ihm erstmals begegnet war.

»Was will er von dir?«

Tom legte seiner Frau den Arm um die Taille, so daß ihr weites Nachthemd eng an den Körper gepreßt wurde, und drückte ihr einen Kuß auf die kühle Wange. »Etwas Unmögliches. Ich habe nein gesagt, wie du gemerkt hast. Er ist enttäuscht.«

In dieser Nacht schrie eine einsame Eule irgendwo in dem Kiefernwäldchen hinter Belle Ombre. Tom lag im Bett, den linken Arm unter Héloïses Nacken, und dachte nach.

Tom mußte blinzeln und nahm im Dunkeln den Kopf zurück, damit seine Wimpern nicht Héloïses Schulter streiften. Er erinnerte sich an einen großen, blonden Engländer, aber nur ungern und widerstrebend, weil dieser Mann in der Küche, in diesem düsteren Raum mit dem abgetretenen Linoleumfußboden und der rauchgeschwärzten Stuckimitatdecke aus dem neunzehnten Jahrhundert, ihm etwas Unangenehmes gesagt hatte. Der Engländer – Trewbridge? Tewksbury? – hatte fast abfällig zu ihm bemerkt: »Ach ja, von Ihnen hab ich schon gehört«, als Tom sich vorstellte: »Tom Ripley, ich wohne in Villeperce« und

Jetzt aber fiel Tom ein, was Gauthier später an jenem Abend gesagt hatte: »Er will nicht unfreundlich sein, er ist nur deprimiert. Hat eine Blutkrankheit – Leukämie, glaube ich. Etwas Ernstes. Und sonst geht es ihm auch nicht besonders, wie Sie am Haus sehen können.« Gauthier hatte ein Glasauge. Die Farbe war merkwürdig: gelbgrün, offenbar ein Versuch, die Farbe des gesunden Auges nachzuahmen. Ein kläglich gescheiterter Versuch. Gauthiers Glasauge erinnerte an das Auge einer toten Katze. Man wollte nicht hinsehen, doch es hielt einen hypnotisch gefangen. Gauthiers düstere Worte in Verbindung mit dem Glasauge hatten Tom stark beeindruckt: Er hatte an den Tod denken müssen und das nicht vergessen.

»Ach ja, von Ihnen hab ich schon gehört.« Machte dieser Trevanny oder wie er auch hieß etwa ihn für den Tod von Bernard Tufts verantwortlich, und auch für den von Dickie Greenleaf damals? Oder war der Engländer bloß wegen seines Leidens verbittert und ließ es jeden spüren? Wie ein Mann mit einem nervösen Magen, der andauernd Bauchschmerzen hatte? Nun erinnerte Tom sich auch wieder an Trevannys Frau: nicht hübsch, aber apart, kastanienbraunes Haar, freundlich und offen. Sie hatte sich viel

Tom überlegte, ob ein Mann wie Trevanny wohl einen Auftrag übernehmen würde, wie er Reeves vorschwebte. Für den Engländer war ihm eine interessante Anbahnungsvariante eingefallen. Sie konnte bei jedem klappen, wenn man den Boden bereitete, was in diesem Fall jedoch schon geschehen war: Trevanny machte sich ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit. Seine Idee war nur ein Scherz, ein übler Scherz, nicht gerade nett, aber der Mann war auch zu ihm nicht nett gewesen. Und es war nur für ein, zwei Tage, bis Trevanny mit seinem Arzt sprechen konnte.

Tom fand Vergnügen an seinen Gedankenspielen. Sachte löste er sich von Héloïse, damit er sie nicht weckte, falls er auf einmal lachen mußte. Angenommen, Trevanny willigte ein und führte Minots Plan tadellos aus, wie ein Soldat einen Befehl? War es einen Versuch wert? Ja, denn er hatte nichts zu verlieren, und Trevanny auch nicht. Der Mann konnte nur gewinnen. Reeves auch, wie er sagte, aber in welcher Hinsicht, das wußte nur er selber. Was Reeves Minot wollte, war Tom genauso unklar wie dessen Mikrofilmschmuggel, bei dem es vermutlich um internationale Spionage ging. Ob die Regierungen wußten, wie verrückt sich manche ihrer Spione aufführten? Spinner, halb Wahnsinnige, die mit Pistolen und Mikrofilmen von Bukarest nach Moskau und Washington hetzten – Männer, die mit der gleichen Begeisterung all ihre Kraft dem internationalen Krieg der Briefmarkensammler oder der Beschaffung geheimer Baupläne von Modelleisenbahnen widmen könnten.

Und so kam es, daß rund zehn Tage später, am 22. März, Jonathan Trevanny, der in der Rue Saint-Merry in Fontainebleau wohnte, einen merkwürdigen Brief von seinem guten Freund Alan McNear erhielt. Alan, der in Paris einen britischen Elektronikkonzern vertrat, hatte den Brief unmittelbar vor dem Abflug zu einem längeren geschäftlichen Aufenthalt in New York geschrieben – seltsamerweise nur einen Tag, nachdem er bei den Trevannys in Fontainebleau zu Besuch gewesen war. Jonathan hätte von Alan höchstens ein Dankeschön für die Abschiedsparty erwartet, die Simone und er für den Freund gegeben hatten, und Alan fand auch einige dankende Worte dafür, doch dann folgte ein Absatz, der Jonathan verstörte:

Jon, was ich über Dein altes Leiden gehört habe, hat mich zutiefst bestürzt. Ich hoffe immer noch, es war falscher Alarm. Man sagte mir, du wüßtest davon, würdest aber Deinen Freunden nichts sagen. Das ehrt Dich, aber wozu sind denn Freunde da? Denk bloß nicht, wir wollten Dir aus dem Weg gehen, weil wir vielleicht meinten, Du wärest uns zu trübsinnig. Deine Freunde (und dazu zähle ich mich) sind immer für Dich da. Aber ich kann nicht in Worte fassen, was ich wirklich sagen will. Das

Was meinte Alan damit? Hatte sein Hausarzt, Dr. Perrier, den Freunden etwas gesagt, das er ihm selber verschwieg? Etwas in der Art, daß er nicht mehr lange zu leben habe? Dr. Perrier war nicht auf der Party für Alan gewesen, doch womöglich hatte er mit jemand anderem darüber gesprochen.

Mit Simone vielleicht? Ob auch sie es vor ihm verschwieg?

Diese Möglichkeiten gingen Jonathan durch den Kopf, als er morgens um halb neun mit erdverschmierten Händen in seinem Garten stand. Trotz des Pullovers fror er. Am besten ging er heute noch zu Dr. Perrier. Simone zu fragen war sinnlos; sie könnte sich verstellen: »Aber Liebling, wie kommst du denn darauf?« Er würde kaum erkennen können, ob sie sich verstellte.

Und Dr. Perrier? Konnte er ihm vertrauen? Der Mann sprühte immerzu vor Optimismus, was gut und schön war, solange man nichts Schlimmes hatte; man fühlte sich gleich viel besser oder sogar schon geheilt. Aber Jonathan wußte, daß er etwas Schlimmes hatte: myeloische Leukämie, das bedeutete, einen Überschuß weißer Blutkörperchen im Knochenmark. In den letzten fünf Jahren hatte er mindestens vier Bluttransfusionen pro Jahr erhalten. Immer wenn er sich schwach fühlte, sollte er seinen Hausarzt aufsuchen oder ins Krankenhaus von Fontainebleau gehen und sich Blut übertragen lassen. Dr. Perrier hatte, genau

Er stellte die Forke in den Geräteschuppen zurück, einen kleinen Backsteinbau, der früher die Außentoilette gewesen war, und ging zur Hintertreppe. Dort blieb er stehen, den Fuß auf die erste Stufe gesetzt, sog tief die frische Morgenluft ein und dachte: »Wie viele Morgen wie diesen werde ich noch erleben?« Dann aber fiel ihm ein, daß er genau das auch schon im letzten Frühling gedacht hatte. Reiß dich zusammen, sagte er sich, schließlich weißt du seit sechs Jahren, daß du womöglich keine fünfunddreißig wirst. Festen Schrittes stieg Jonathan die acht eisernen Stufen hinauf, in Gedanken schon woanders: Es war 8:52 Uhr; spätestens kurz nach 9 mußte er in seinem Laden sein.

Simone brachte Georges gerade in den Kindergarten; das Haus war leer. Jonathan wusch sich die Hände über der Spüle. Er nahm die Gemüsebürste dazu, was Simone gar nicht gefallen hätte, säuberte sie aber anschließend wieder. Im Haus gab es nur noch ein weiteres Waschbecken, oben im Badezimmer. Und kein Telefon. Er würde Dr. Perrier gleich als erstes vom Laden aus anrufen.

Jonathan ging links die Rue de la Paroisse hinunter bis zur Kreuzung und dann weiter über die Rue des Sablons bis zu seinem Geschäft. Dort wählte er Dr. Perriers Nummer. Er wußte sie auswendig.

»Es ist aber dringend. Lange dauert es nicht, eigentlich nur eine Frage, doch ich muß ihn unbedingt sprechen.«

»Fühlen Sie sich schwach, Monsieur Trevanny?«

»Ja«, sagte er sofort.

Er bekam einen Termin für zwölf Uhr. Die Uhrzeit hatte etwas Unheilschwangeres.

Jonathan war Bilderrahmer. Er schnitt Glas und Karton für Passepartouts zurecht, fertigte Rahmen an und wählte aus dem eigenen Vorrat fertige Rahmen für unentschlossene Kunden aus. Ganz selten einmal fand er beim Kauf alter Rahmen auf Auktionen oder bei Altwarenhändlern ein Bild, das ihn zusammen mit dem Rahmen interessierte; das konnte er dann reinigen, in sein Schaufenster stellen und verkaufen. Aber viel Geld war mit dem Geschäft nicht zu verdienen. Er kam gerade so über die Runden. Vor sieben Jahren hatte er mit seinem Partner, einem Engländer wie er, aber aus Manchester, einen Antiquitätenladen in Fontainebleau eröffnet. Sie hatten hauptsächlich alte Möbel aufpoliert und verkauft, doch das Geld hatte für zwei nicht gereicht und Roy war ausgestiegen, um irgendwo bei Paris als Automechaniker zu arbeiten. Kurz darauf hatte ein Pariser Arzt das gleiche zu Jonathan gesagt wie zuvor schon ein Doktor in London: »Sie neigen zu Blutarmut und sollten sich öfters untersuchen lassen. Vermeiden Sie lieber schwere körperliche Arbeit.« Also hatte Jonathan Schränken und Sofas den Rücken gekehrt und sich der Arbeit mit Bilderrahmen und Glas zugewandt. Vor ihrer Heirat hatte er zu Simone gesagt, er habe vielleicht nur

Sollte er jetzt sterben, dachte Jonathan, als er ganz ruhig seinen Tag anging, könnte Simone ein zweites Mal heiraten. Sie half fünf Nachmittage die Woche von halb drei bis halb sieben in einem Schuhgeschäft auf der Avenue Franklin Roosevelt aus, das sie zu Fuß erreichen konnte; allerdings arbeitete sie dort erst seit letztem Jahr, seit Georges alt genug für den französischen Kindergarten war. Simone und er brauchten die zweihundert Franc pro Woche, die sie verdiente, doch Jonathan war nicht wohl bei dem Gedanken an Brezard, ihren Chef – ein Lüstling, der seinen Verkäuferinnen in den Hintern kniff und sicher im Hinterzimmer, das als Lager diente, auch weiter zu gehen versuchte. Simone war verheiratet, wie Brezard sehr wohl wußte; allzu weit konnte er also wohl nicht gehen, doch hielt das einen wie ihn nie davon ab, sein Glück zu versuchen. Simone flirtete nicht, ganz im Gegenteil: Sie wirkte merkwürdig schüchtern, was dafür sprach, daß sie sich nicht für attraktiv hielt. Jonathan liebte diesen Zug an ihr. Er fand sie geradezu umwerfend sexy, sie besaß eine magnetische sexuelle Anziehungskraft, die dem Mann auf der Straße jedoch nicht auffallen mochte, und es ärgerte ihn, daß ausgerechnet Brezard, dieser geile Bock, Simones ganz eigene Attraktivität bemerkt hatte und etwas davon für sich wollte. Nicht daß Simone viel von Brezard erzählte. Ein einziges Mal nur hatte sie erwähnt, daß er seinen weiblichen Angestellten (noch zweien außer ihr) zu nahe kam. Während

»Oh, wie schön! Wunderbar!« Die junge Frau im hellroten Mantel hielt das Aquarell auf Armeslänge von sich.

Ein Lächeln stahl sich über Jonathans langes, ernstes Gesicht, als wäre seine eigene kleine Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und leuchtete in ihm. Die Freude der Frau war so echt! Jonathan kannte sie gar nicht; sie holte nur ein Bild ab, das eine ältere Frau, vielleicht ihre Mutter, ihm gebracht hatte. Eigentlich hätte Jonathan zwanzig Franc mehr verlangen müssen, als ursprünglich genannt, weil der Rahmen ein anderer war als der von der Frau gewählte, den Jonathan nicht mehr auf Lager hatte; aber er erwähnte das gar nicht und nahm die vereinbarten achtzig Franc.

Danach fegte er den Holzfußboden und staubte die paar Bilder in seinem kleinen Schaufenster ab. Sein Laden war regelrecht schäbig, fand er an diesem Morgen: Nirgendwo frische Farben, Rahmen jeder Größe lehnten an den ungestrichenen Wänden, Musterleisten hingen unter der Decke. Da war der Tresen mit einem Auftragsbuch, ein Lineal, Bleistifte. Hinten im Laden stand ein langer Holztisch, an dem Jonathan mit seinen Schneidladen, Sägen und Glasschneidern arbeitete. Auf dem großen Tisch lagerte er auch die gut geschützten Kartonbögen für die Passepartouts, eine dicke Rolle braunes Packpapier, Bindfaden, Draht,

Um fünf nach halb zwölf, als Jonathan zwei kleine Bilder gerahmt und mit den Namen der Kunden versehen hatte, wusch er sich über der Spüle Gesicht und Hände mit kaltem Wasser, kämmte sich und stand für einen Moment kerzengerade, während er sich auf das Schlimmste gefaßt machte. Dr. Perriers Praxis lag ganz in der Nähe in der Rue Grande. Jonathan drehte den OUVERT-Zeiger auf 14:30 Uhr, schloß die Ladentür ab und machte sich auf den Weg.

Bei Dr. Perrier mußte er im Vorzimmer warten, in dem ein verstaubter Lorbeerbaum vor sich hin kränkelte. Die Pflanze hatte noch nie geblüht; sie starb nicht, sie wuchs nicht und blieb, wie sie war. Jonathan fand, sie war wie er selbst. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hinüber, obwohl er versuchte, an etwas anderes zu denken. Auf dem ovalen Tisch lagen alte, eselsohrige Ausgaben von Paris Match, doch die deprimierten Jonathan noch mehr als der Lorbeerbaum. Er mußte sich daran erinnern, daß Dr. Perrier auch noch im großen Krankenhaus von Fontainebleau arbeitete, sonst wäre es ihm absurd vorgekommen, sein Leben in die Hand eines Arztes mit einer so schäbigen

Die Sprechstundenhilfe kam und winkte ihn herein.

»Nun, wie geht’s unserem interessantesten Patienten?« Dr. Perrier rieb sich die Hände, dann streckte er ihm die Rechte entgegen.

Jonathan schüttelte sie. »Danke, ganz gut. Aber was ist mit diesen Tests – ich meine die von vor zwei Monaten? Wenn ich es recht verstehe, sind die Werte nicht so günstig?«

Dr. Perrier sah Jonathan, der ihn nicht aus den Augen ließ, ausdruckslos an. Dann lächelte er und zeigte gelbliche Zähne unter einem ungepflegten Schnurrbart.

»Nicht so günstig? Was meinen Sie damit? Sie haben sie doch gesehen.«

»Ja, aber … Ich bin kein Fachmann. Vielleicht –«

»Ich habe sie Ihnen doch schon erklärt. Was ist denn los? Fühlen Sie sich wieder erschöpft?«

»Nein, eigentlich nicht.« Jonathan spürte, daß der Arzt es eilig hatte, zum Mittagessen zu kommen, also fuhr er hastig fort: »Ehrlich gesagt, ein Freund von mir hat irgendwo gehört, mein … mein Zustand werde sich bald deutlich verschlechtern. Ich hätte vielleicht nicht mehr lange zu leben. Natürlich nahm ich an, diese Nachricht müßte von Ihnen stammen.«

Dr. Perrier schüttelte den Kopf, lachte, hüpfte wie ein Vogel herum und blieb vor einer Buchvitrine stehen, die dünnen Arme leicht auf die gläserne Deckplatte gelegt. »Mein Wertester, zunächst einmal hätte ich, wenn das wahr wäre, niemandem etwas gesagt. Das gebietet schon meine

»Nicht nötig. Was ich wirklich wissen will: Stimmt das auch? Sie würden mir doch nichts verschweigen, oder?« Jonathan lachte. »Nur damit ich mich besser fühle?«

»Ach, Unsinn! Halten Sie mich für so einen Arzt?«

Ja, dachte Jonathan und sah Dr. Perrier in die Augen. In manchen Fällen mochte das ein Segen sein, doch Jonathan fand, daß er es verdiente, die Wahrheit zu hören, weil er ihr ins Gesicht sehen konnte. Er biß sich auf die Lippen. Nun könnte er zum Labor in Paris fahren und darauf bestehen, Moussu, den Facharzt, noch einmal zu sprechen. Außerdem würde er womöglich heute mittag etwas aus Simone herausbekommen.

Dr. Perrier klopfte ihm auf den Arm: »Entweder Ihr Freund irrt sich – ich verkneife mir die Frage, wie er heißt! –, oder er ist in meinen Augen kein sehr guter Freund. Na gut, Hauptsache, Sie sagen es mir, wenn die Müdigkeit wieder auftritt …«

Zwanzig Minuten später stieg Jonathan, einen Apfelkuchen und ein langes Baguette unter dem Arm, die Stufen zu seiner Haustür hinauf. Er schloß auf und ging durch den Flur in die Küche. Der Geruch nach Pommes frites ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die gab es bei Simone stets zum Mittagessen, nie abends, und sie schnitt die Kartoffeln immer in lange, schmale Stifte, nicht in kurze, dicke Stücke, wie in England üblich. Warum hatte er gerade an englische Chips gedacht?

Er legte den Arm um sie und küßte sie auf die Wange. Dann hielt er den Pappkarton hoch und drehte sich zu Georges um, der seinen blonden Kopf über den Tisch beugte und aus einer leeren Cornflakes-Schachtel Teile für ein Mobile ausschnitt.

»Oh, ein Kuchen! Was für einer?« fragte Georges.

»Apfelkuchen.« Jonathan legte den Karton auf den Tisch.

Es gab ein kleines Steak für jeden, die köstlichen Pommes frites und grünen Salat.

»Brezard fängt jetzt mit der Inventur an«, sagte Simone. »Nächste Woche kommt die Sommerware, darum will er am Freitag und Samstag einen Schlußverkauf machen. Heute abend könnte es später werden.«

Sie hatte den Apfelkuchen auf dem Asbest-Teller aufgewärmt. Jonathan wartete ungeduldig darauf, daß Georges ins Wohnzimmer ging, wo er viel von seinem Spielzeug hatte, oder hinaus in den Garten. Als er endlich verschwunden war, sagte Jonathan:

»Heute habe ich einen seltsamen Brief von Alan bekommen.«

»Von Alan? Wieso seltsam?«

»Er hat ihn kurz vor seiner Abreise nach New York geschrieben. Offenbar hatte er gehört …« Sollte er ihr Alans Brief zeigen? Sie konnte Englisch ganz gut lesen. Jonathan entschied sich dagegen. »Irgendwer hat ihm erzählt, daß es mir schlechter geht, daß sich mein Zustand deutlich verschlimmern wird, etwas in der Art. Weißt du was davon?« Jonathan sah ihr in die Augen.

»Eben war ich bei Dr. Perrier. Daher auch die kleine Verspätung. Er sagte, er wüßte nicht, daß sich mein Zustand verändert hätte, aber du kennst ja Perrier!« Jonathan lächelte, beobachtete dabei aber ängstlich Simones Gesicht. »Hier ist der Brief.« Er zog ihn aus der Gesäßtasche und übersetzte den fraglichen Absatz.

»Mon dieu! Woher hat er das bloß?«

»Das ist die Frage. Ich werde ihm schreiben, was meinst du?« Wieder lächelte Jonathan, doch diesmal ungezwungener. Er war sicher, daß Simone nichts davon gewußt hatte.

Mit einer zweiten Tasse Kaffee ging Jonathan in das kleine, quadratische Wohnzimmer hinüber, wo Georges sich mittlerweile mit seinen Schnipseln auf dem Boden ausgebreitet hatte, und setzte sich an den Schreibtisch, an dem er sich immer wie ein Riese vorkam. Es war ein eher zierlicher französischer écritoire, ein Geschenk von Simones Familie. Jonathan achtete darauf, sich nicht zu schwer auf die Schreibplatte zu stützen. Er nahm ein Aerogramm, adressierte es an Alan McNear im Hotel New Yorker und begann den Brief heiter und unverfänglich, um dann im zweiten Absatz fortzufahren:

Ich weiß nicht genau, was Du in Deinem Brief mit dieser bestürzenden Neuigkeit (über mich) gemeint haben kannst. Mir geht es ganz gut, doch habe ich heute morgen mit meinem Hausarzt gesprochen, weil ich wissen wollte, ob er mir auch nichts verschweigt. Er sagt, er

Auf dem Weg zum Laden warf er den Brief in einen gelben Postkasten. Alans Antwort würde wahrscheinlich eine Woche brauchen.

An diesem Nachmittag war Jonathans Hand so ruhig wie immer, als er das Rasiermesser an dem stählernen Lineal entlangzog. Er dachte an seinen Brief, der zum Flughafen von Orly unterwegs war und heute abend, vielleicht morgen früh, dort eintreffen würde. Er dachte an sein Alter – er war vierunddreißig – und daran, wie erbärmlich wenig er erreicht hätte, sollte er in wenigen Monaten sterben. Einen Sohn hatte er gezeugt, immerhin, doch brüsten konnte er sich damit wohl kaum. Simone wäre nicht ausreichend versorgt; wenn überhaupt, hätte er ihren Lebensstandard eher gesenkt. Ihr Vater war zwar nur Kohlenhändler, dennoch hatte sich ihre Familie über die Jahre die eine oder andere Annehmlichkeit anschaffen können, ein Auto zum Beispiel oder anständige Möbel. Im Juni oder Juli machten ihre Eltern Urlaub im Süden, wo sie ein Landhäuschen mieteten, und im letzten Jahr hatten sie einen Monat Miete übernommen, damit Jonathan und Simone mit Georges dort hinfahren konnten. Jonathan war nicht so erfolgreich wie sein Bruder Philip, der zwei Jahre älter war als er, aber körperlich schwächer wirkte und zeit

Der einzige Erfolg seines Lebens, dachte Jonathan, war die Ehe mit Simone. Er hatte von seiner Krankheit im selben Monat erfahren, als er Simone Foussadier kennenlernte. Damals begannen auch diese seltsamen Schwächeanfälle, die er in einer romantischen Anwandlung seiner Verliebtheit zuschrieb. Doch war es durch mehr Ruhe nicht besser geworden; einmal war er in Nemours auf der Straße ohnmächtig geworden. Also war er zu einem Arzt gegangen, zu Dr. Perrier in Fontainebleau. Der hatte eine Veränderung im Blutbild vermutet und ihn an einen Dr. Moussu in Paris überwiesen, einen Facharzt, der nach zweitägigen Untersuchungen bei Jonathan myeloische Leukämie festgestellt und erklärt hatte, ihm blieben noch sechs bis acht, mit Glück zwölf Jahre. Die damit einhergehende Vergrößerung der Milz war bei Jonathan bereits eingetreten, ohne daß er es bemerkt hätte. Insofern war der ungeschickt formulierte Heiratsantrag, den er Simone machte, zugleich eine Liebes- wie eine Todeserklärung. Den meisten jungen Frauen hätte das gereicht, um abzulehnen oder sich zumindest Bedenkzeit auszubitten. Simone aber hatte

Er würde Moussu in Paris noch einmal aufsuchen müssen. Vor drei Jahren hatte Jonathan unter dessen Aufsicht in einem Pariser Krankenhaus einen kompletten Blutaustausch vornehmen lassen. Das Verfahren hieß »Vincainestine«, und die Idee (oder die Hoffnung) ging dahin, daß das ausgetauschte Blut keinen Überschuß an Leukozyten und Granulozyten mehr aufweisen würde. Aber nach ungefähr acht Monaten war wiederum ein Überschuß an weißen Blutkörperchen festgestellt worden.

Bevor er jedoch einen Termin mit Dr. Moussu vereinbarte, wollte er Alan McNears Brief abwarten. Er war sicher, daß Alan sofort zurückschreiben würde. Auf Alan war Verlaß.

Bevor Jonathan seinen Laden verließ, warf er einen

Das war am Mittwoch gewesen. Am Freitag hatte er sich mit einer hartnäckigen Schraube abgemüht, die seit rund hundertfünfzig Jahren in einem Eichenholzrahmen festsaß und keinerlei Anstalten machte, seiner Zange nachzugeben, als er auf einmal das Werkzeug fallen lassen und sich auf eine Holzkiste an der Wand setzen mußte. Im nächsten Moment stand er wieder auf und spritzte sich Wasser ins Gesicht, so tief über den Ausguß gebeugt, wie er nur konnte. Kurz darauf war der Schwächeanfall vorüber, und gegen Mittag dachte er schon nicht mehr daran. Diese Anfälle kamen alle zwei bis drei Monate. Jonathan war froh, wenn sie ihn nicht auf offener Straße erwischten.

Am Dienstag, sechs Tage nachdem er an Alan geschrieben hatte, bekam er einen Brief aus dem Hotel New Yorker.

Samstag, d. 25. März

Lieber Jon!

Wie ich mich freue, daß Du mit Deinem Hausarzt gesprochen hast und daß der neue Befund gut ist! Der Mann, der mir sagte, es gehe Dir schlechter, war ein kleiner Glatzkopf mit Schnurrbart und Glasauge, etwa Anfang Vierzig. Er schien sich ernsthaft Sorgen zu machen.

Die Stadt gefällt mir sehr gut – ich wünschte, Simone und Du könntet hier sein, zumal ich über ein Spesenkonto verfüge …

Der Mann, den Alan meinte, war Pierre Gauthier; er hatte ein Geschäft für Künstlerbedarf in der Rue Grande. Kein Freund von Jonathan, nur ein Bekannter. Er schickte ihm oft Kunden, die ihre Bilder gerahmt haben wollten. Gauthier war bei der Abschiedsparty für Alan im Haus gewesen, das wußte Jonathan genau, und mußte an dem Abend mit ihm gesprochen haben. Ausgeschlossen, daß Gauthier böswillig Gerüchte verbreitete. Daß er von seinem Leiden wußte, überraschte Jonathan ein bißchen, doch so etwas sprach sich eben herum. Am besten redete er mit Gauthier und fragte ihn, wo er die Geschichte gehört hatte.

Es war zehn vor neun. Jonathan hatte die Post abgewartet, genau wie gestern morgen. Am liebsten wäre er sofort zu Gauthier gelaufen, aber das hätte überängstlich gewirkt; besser, er ging ins Geschäft, um erst einmal zu sich zu kommen.

Jonathan hatte Kundschaft, konnte daher erst kurz vor halb elf weg. Er hängte das Schild mit dem Zifferblatt hinter die Glastür, den Zeiger auf elf Uhr gestellt.

Gauthier bediente gerade zwei Kundinnen, als Jonathan das Geschäft betrat. Er stöberte zwischen den Pinselgestellen herum und tat so, als suche er etwas, bis Gauthier frei war. Dann sagte er:

Gauthier nahm Jonathans Rechte in beide Hände und lächelte. »Danke, gut. Und Ihnen, mein Freund?«

»Kann nicht klagen … Ecoutez, ich will Ihnen nicht die Zeit stehlen, aber ich würde Sie gern etwas fragen.«

»Ja, was denn?«

Jonathan bedeutete Gauthier, weiter von der Tür wegzutreten. Jeden Moment konnte jemand hereinkommen. Viel Platz zum Stehen gab es in dem kleinen Laden nicht. »Mir ist etwas zu Ohren gekommen. Ein Freund – Alan, Sie kennen ihn? Der Engländer. Auf der Party bei mir, vor einigen Wochen.«

»Ja klar. Ihr Freund, der Engländer. Alain.« Gauthier erinnerte sich. Er sah ihn aufmerksam an.

Jonathan gab sich Mühe, Gauthiers Glasauge mit keinem Blick zu streifen, sondern sich auf das andere Auge zu beschränken. »Nun, anscheinend haben Sie Alan erzählt, Sie hätten gehört, daß ich schwer krank wäre und vielleicht nicht mehr lange zu leben hätte.«

Gauthiers sanftes Gesicht verhärtete sich. »Stimmt, M’sieur, das habe ich gehört. Ich hoffe, es ist nicht wahr. An Alain erinnere ich mich, weil Sie ihn mir als Ihren besten Freund vorgestellt haben. Ich nahm also an, er wüßte davon. Wahrscheinlich hätte ich besser nichts sagen sollen. Tut mir leid, das war vielleicht taktlos von mir. Ich dachte, Sie wollten Haltung zeigen, wie die Engländer so sind.«

»Ist auch nicht weiter schlimm, Monsieur Gauthier, weil es nicht stimmt, soviel ich weiß. Ich habe gerade mit meinem Hausarzt gesprochen. Aber –«

»Aber ich wüßte doch gerne, woher Sie das haben. Wer hat Ihnen gesagt, ich wäre schwer krank?«

»Ach so!« Gauthier dachte nach, einen Finger an die Lippen gelegt. »Wer war’s doch gleich? Ein Mann. Ja, natürlich!« Es war ihm wieder eingefallen, doch er schwieg noch.

Jonathan wartete.

»Ich weiß noch, wie er sagte, er wäre sich nicht sicher. Er hätte es irgendwo gehört. Eine unheilbare Blutkrankheit.«

Heiß stieg die Angst in Jonathan auf, wie schon mehrmals zuvor in der letzten Woche. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Aber wer war das? Wie hat er davon erfahren? Hat er das nicht gesagt?«

Wieder zögerte Gauthier. »Da es nicht stimmt, sollten wir’s nicht besser vergessen?«

»Kannten Sie ihn gut?«

»Nein, nur flüchtig, da können Sie sicher sein.«

»Ein Kunde?«

»Ja. Ja, das ist er. Ein netter Herr, ein Gentleman. Und da er gesagt hat, er wäre nicht sicher … Wirklich, M’sieur, Sie sollten ihm nicht böse sein, obwohl ich verstehen kann, wie sehr Ihnen solch eine Bemerkung gegen den Strich gehen muß.«

»Bleibt die interessante Frage, wie dieser Gentleman erfahren haben will, ich wäre sehr krank«, setzte Jonathan lachend hinzu.

Jonathan spürte Gauthiers französische Höflichkeit, seinen Widerwillen, einen Kunden zu verprellen, und, wie zu erwarten, seine Abneigung, über den Tod zu sprechen. »Sie haben recht. Das ist die Hauptsache.« Er schüttelte Gauthier die Hand (nun lächelten beide) und verabschiedete sich.

Später am Tag fragte Simone beim Mittagessen, ob er von Alan gehört habe. Ja, sagte Jonathan.

»Gauthier hat Alan davon erzählt.«

»Gauthier? Der mit dem Kunstladen?«

»Ja.« Jonathan zündete sich zum Kaffee eine Zigarette an. Georges war im Garten verschwunden. »Heute morgen bin ich bei Gauthier gewesen und hab ihn gefragt, woher er das hat. Von einem Kunden, hat er gesagt. Von einem Mann. – Ist doch komisch, oder? Gauthier wollte mir nicht sagen, wer es war, und ich kann ihm keinen Vorwurf machen. Natürlich ist das ein Mißverständnis. Gauthier weiß das.«

»Aber schrecklich ist es trotzdem«, sagte Simone.

Jonathan lächelte: So schrecklich fand Simone das alles gar nicht, weil sie wußte, daß Dr. Perriers Befund nicht so schlimm gewesen war. »Wie heißt es so schön: Man soll aus einer Mücke keinen Elefanten machen.«

Eine Woche später lief Jonathan dem Arzt in der Rue Grande über den Weg. Dr. Perrier hatte es eilig, zur Société Générale zu kommen, denn die Sparkasse schloß um Punkt zwölf. Aber er blieb kurz stehen und fragte nach Jonathans Befinden.