Peter Nemetschek

Systemische Familientherapie mit Kindern, Jugendlichen und Eltern

Lebensfluss-Modelle und analoge Methoden

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Impressum

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Klett-Cotta

© 2012 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Peter Nemetschek

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94423-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10560-5

Das E-Book basiert auf der 1. Auflage 2006 der Printausgabe.

Inhalt

1. Wie Sie dieses Buch lesen könnten

I Praxisbezogene Grundlagen

2. Mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern gemeinsam arbeiten

3. Jede Innenwelt, jede Familienwelt ist einzigartig

4. Telefonkontakt

5. Menschliche Natur

6. Sitzung oder Bewegung?

7. Der Augenblick der ersten Begegnung und ein kleiner Schock

8. Projektions-Räume, externalisieren

9. Kurzzeitorientiert arbeiten: Die Familienmitglieder als Co-Therapeuten

II Sitzungsmodelle mit Lebensfluss-Arbeit

10. Die Entwicklungs-Geschichten des Lebensfluss-Modells

11. Lebensfluss-Modell: Grundlagen und Struktur

12. Die erste Sitzung

Vorbereitung

Der sprachliche Teil

Die Lebensfluss-Arbeit beginnen

13. Eine knappe Variante für die erste Sitzung

14. Was bewirken verschiedene Zeitpositionen physiologisch? Eine Übung

15. Die zweite Sitzung

Nach der »schlanken« Variante der ersten Sitzung mit nur einer Familienlinie

Zweite Sitzung, nach relativ ausführlicher Lebensfluss-Arbeit in der ersten Sitzung

16. Inwieweit lassen sich unterschiedliche Ansätze und Methoden integrieren? Zeitorganisation und die Rolle des Unbewussten.

17. Einige sehr persönliche Geschichten zum vorigen Kapitel

18. Ressourcen-Arbeit mit dem Lebensfluss-Modell

Der Ablauf von Ressourcen-Arbeit

19. Der bedeutendste Schritt, Fortschritte, der nächste Schritt

20. Wie vage, wie konkret?

21. Lösungsorientierte Skulptur-Arbeit. Der Unterschied zwischen Stress- und Lösungshaltung

22. It’s obvious, es ist offensichtlich

23. Mögliche Abfolge der einzelnen Lebensfluss-Methoden

Spezifische Sub-Modelle

24. Abschluss einer Familientherapie

Eine Abschluss-Sitzung methodisch aufbauen

25. Raum, Ausstattung und Materialien

III Symptombezogen arbeiten mit analogen Methoden

26. Familientherapie mit Jugendlichen und Eltern

Auf der schiefen Bahn – der leichte und der schwere Weg

Erste Sitzung: Das Vertrauen des/der Jugendlichen aufbauen

Zweite Sitzung: Nur mit den Eltern arbeiten

Vierte Sitzung: Erneut alleine mit den Eltern arbeiten

Dritte Sitzung: Nur die Youngsters

Fünfte Sitzung: Mit der ganzen Familie

27. Die wilden Kerle und die Handschuh-Girls

28. Du brauchst hier nicht zu reden

29. Von Situationskomik, tiefen menschlichen Weisheiten, Jugendsprache & sonstigem Plumperquatsch

30. Jugendliche Magersucht, Bulimie und einiges mehr

Von Magersucht und jungen Frauen

Helfen, das Körperbild zu korrigieren

Bulimie bei Jugendlichen

Zunehmen und abnehmen

Systemische Gruppenarbeit

31. Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?

32. Kinder schützen, sexuellem Missbrauch vorbeugen, und: »Du hast es überlebt«

Vorsorge

Emotionale Aufklärung

Schutz aufbauen

Was tun in einer aktuellen Situation von sexuellem Missbrauch?

Die Entschuldung

Die Wiedergutmachung

Die Absicherung

Ein Reinigungs-Ritual

33. Das trockene Bett, Bogenschießen und unangenehme Geschichten

34. Grenzenlos, aggressiv, hyperaktiv, null Bock auf Schule

35. Kinder stärken bei Trennung und Scheidung

Trennung auf Zeit

Die Trennung ist endgültig beschlossen

Die Trennung und Scheidung läuft destruktiv

Abschiedsrituale

Ablauf einer Scheidungs-Therapie, bei der das gemeinsame Sorgerecht und Elternbleiben angestrebt wird

Ein Aussöhnungsritual

Struktur des Aussöhnungsrituals

Zwei Trennungs-Sitzungen mit Eltern und Kindern

Kleine Kinder bei der Trennung der Eltern

Jugendliche entscheiden mit

36. Der verschwundene Vater, Adoptions- und Kuckuckskinder

37. Multi-Kulti-Familien

38. Lebensbedrohliche Krankheiten, am Beispiel Krebs

39. Kinderwunsch-Paare, von Geborenen und Ungeborenen

Bildnachweis

Literatur

Das Unerwartete hilft immer.
Tu nie, was man von dir erwartet.

Milton H. Erickson

1. Wie Sie dieses Buch lesen könnten

Wenn Sie unterwegs sind, um neue Sichtweisen, Ansätze und Werkzeuge zu entdecken, dann stoßen Sie hoffentlich in diesem Buch auf genügend Unerwartetes, Unkonventionelles, auch Irritierendes. Beim Schreiben war dieser Rat Ericksons immer wieder eine Herausforderung für mich. Und es wäre ein gutes Zeichen, wenn auch Sie beim Lesen herausgefordert würden.

Wo immer es geht, werde ich in diesem Buch eine Sprache benutzen, die der ähnelt, in der ich in der Praxis mit Familien rede: mit Ein- oder Drei-WortSätzen, einer langen Ausführung, einer passenden Metapher und dann wieder mit einer Geschichte Alltagstrance auslösen. So kann ich auf die jeweilige Reaktion, die Stimmung, den nonverbalen Ausdruck eingehen. Als Leser, Leserin kann ich Sie nur indirekt ansprechen. Es fehlt die direkte Begegnung, die Feedbackschleife, die gerade beim systemischen Arbeiten so wichtig ist. Das ist ein Dilemma.

Die Alltagssprache von Eltern, Kindern, Jugendlichen ist sehr reich an Untertönen und unbewussten Hinweisen. Es liegt auf der Hand, dies aufzugreifen und sich der Ausdrucksweise der Betroffenen anzunähern.

Kinder fesselt man in der Praxis mit einer relativ einfachen, bildreichen Sprache, spannend erzählt, wenn möglich humorvoll. Jugendliche nervt man möglichst wenig mit »Psychosprache«, nutzt mehr nonverbalen Kontakt, um ihre Kooperation zu erlangen.

Sie werden im Buch keine Tonband- oder Videoabschriften von Sitzungen finden. Denn Gespräche können in Familien mit Kindern und Jugendlichen auf unterschiedlichste Weise ablaufen. Würde ich einen spezifischen Wortwechsel wiedergeben, käme unweigerlich beim Lesen die Frage: Was ist, wenn statt einem Mädchen drei Jungen in einem anderen Alter anwesend sind? Was, wenn Mutter viel redet und Vater schweigsam ist? Wie läuft es, wenn ein Elternteil im Büro arbeitet oder acht Stunden bei BMW in der Montagehalle? Oder im Orchestergraben die erste Geige spielt? …

Insofern wähle ich eine ungewöhnliche Art, die sprachliche Vorgehensweise zu vermitteln:

Ich stelle praxistypische Sitzungsmodelle mit verbalen und nonverbalen Elementen dar. Dabei ist der Part der Familientherapeut/innen in Alltagssprache formuliert. Was die Familienmitglieder sagen, bleibt offen. Dies wird im Buch mit fünf Punkten (…) angedeutet. Manchmal stehen diese Punkte auch für eine Pause.

Wenn sie solche Sitzungsmodelle also anwenden wollen, liegt es an Ihnen, wie sie die strukturellen Schritte und die im Buch angebotenen Formulierungen modifizieren und mit dem Prozess der Familie verknüpfen. Sie werden genügend Anregungen finden, wie man dies am einfachsten bewerkstelligen kann.

Vermutlich ist es gewöhnungsbedürftig, wenn Sätze häufig mit und beginnen. Um Alltagstrance sprachlich zu begleiten, versucht man so die Sätze weicher miteinander zu verknüpfen. Auch Satzzeichen sind im Buch gelegentlich unkonventionell gesetzt, um den Duktus des Sprechens besser anzudeuten.

Im realen Ablauf von Familientherapie sind Sprache, nonverbales Tun, das Verhalten der Familie, Interventionen, Modelle und Strukturen miteinander verwoben. All dies ist eins. Hier im Buch muss ich die Ebenen auseinander nehmen. Dadurch kann aus einem fließenden Prozess manchmal ein Nacheinander von Kapiteln werden. Die könnte man auch in einer anderen Reihenfolge lesen, etwa die einzelnen Sitzungsmodelle nacheinander. Der Ablauf der konkreten familientherapeutischen Arbeit ist durch Einrücken des jeweiligen Abschnitts kenntlich gemacht. So können sie die Sitzung verfolgen, auch ohne die eingeschobenen Meta-Kommentare zu lesen. Oder Sie wählen aus dem symptombezogenen Teil des Buches die Themen und Interventionen, die Sie gerade besonders interessieren. Aber das sind nur Einzelteile. Hier im Buch sind sie eingebunden in das ausführlich dargestellte Lebensfluss-Modell.

In der praktischen familientherapeutischen Arbeit durchdringen einander drei Ebenen ganzheitlich:

Damit diese Ebenen praxisnah aufeinander bezogen bleiben, habe ich sie im Buch auf zweierlei Weise strukturiert: Zum einen wechseln sich Kapitel mit Hintergrundinformationen mit Sitzungsmodellen ab. Zum anderen habe ich in Sitzungsabläufe Metakommentare eingeschoben, um das Wie und Was transparenter zu machen. Ähnliches gilt für Falldarstellungen.

In diesem Buch stelle ich vor allem dar, wie man mit analogen Mitteln Familien in Lösungsrichtung bewegen kann. Da liegt es nahe, die Tradition Milton Ericksons zu nutzen: Inhalte über Geschichten zu erzählen und Erfahrungen zu transportieren; Strukturen mit bildhaften Metaphern verbal und nonverbal zu vermitteln. Und auch die pragmatischen Theorien so lebensnah zu entwickeln, dass sie selbst zwölfjährige Youngsters verstehen könnten. Insofern werde ich auf kluge konstruktivistische Zitate à la Wittgenstein verzichten.

Informationen – z.B. wie sich Innenwelten aufbauen oder Wichtiges zu Symptomen – sind vor allem auch als Material gedacht, aus dem man Passendes an die Familien weitergeben kann. Sie unterscheiden sich also vom Expertenwissen, wie es üblicherweise in Fachbüchern vermittelt wird.

Mit Familientherapie-Workshops und vielen Weiterbildungen habe ich reichlich Erfahrung. Da kann ich sichtbare Mittel, Gegenstände, Markierungspunkte nutzen, um systemische Zusammenhänge strukturell zu verdeutlichen. Wieder fehlt im Buch diese sinnliche Seite: Augensprache, Gesten, die Atmosphäre des Raumes, in dem sich die Arbeit abspielt: ganzheitlich sehen, hören, spüren … Und es fehlen die Pausen – … –, die so wichtig sind, um etwas innerlich zu verarbeiten.

Ähnlich verhält es sich mit Humor. Auch da sind Augenflirt, Mimik und Körpersprache »voll dabei«. Lachen steckt an. Der herzlichste Humor entsteht in meiner Arbeit mit Familien aus Situationskomik. Ich fürchte, als schreibender Humorist bin ich eine ziemliche Niete.

Aus Weiterbildungen kenne ich auch die Wissbegier und Ungeduld von Teilnehmer/innen, die am Anfang gleich das Ende vorwegnehmen wollen. Zeigt man strukturell, wie die Wirkkräfte in einem Familiensystem zusammenspielen, kommt sofort die Frage: Und wie ist das in echt? Und bei Simulationen von Sitzungen: Und was ist, wenn …? Sie werden beim Lesen Geduld brauchen, bis sich das dreidimensionale Puzzle ganzheitlich zusammensetzt.

Die Grafiken dieses Buchs verdeutlichen Strukturen und Abläufe und geben eine Ahnung von der sichtbaren Seite. Die Fotos sind so entstanden: Die Familie hatte nach elf Sitzungen, über einen Zeitraum von etwa einem halben Jahr, erfolgreich die Familientherapie abgeschlossen. Der Fokus lag auf der Aufmerksamkeitsstörung (ADS) des neunjährigen Sohnes in der Schule. Eine Episode mit aggressivem Verhalten stand in zwei Sitzungen im Vordergrund. Der Junge konnte nach diesen zwei Sitzungen das Mobbing von drei Klassenkameraden stoppen und wurde sogar in ihre Clique aufgenommen.

Beim fünfstündigen Fototermin wiederholten wir Situationen aus der vergangenen Familientherapie, manche mehrmals. Die Methoden waren der Familie also bekannt. Der emotionale Ausdruck, der Prozess und die Bewegung im Raum sind echt. Meist vergaßen die Familienmitglieder für Momente, dass mein Sohn fotografierte. Er ist Sozialpädagoge und kennt die Methoden im Wesentlichen; es bestanden also gute Bedingungen für die Aufnahmen. Die entstandenen Fotos geben einen realistischen Einblick in Strukturen und Prozesse in der familientherapeutischen Arbeit. Ich bin dieser Familie sehr dankbar, dass sie bereit war, das doch sehr anstrengende Fotoshooting mitzumachen. Als Gegenleistung bekamen sie acht Sitzungen ohne Bezahlung.

Und da ist noch etwas: In Weiterbildungen ist es üblich, Kolleg/innen mit du anzusprechen. Und im Buch? Mit: Sie, der Leser, die Leserin, wir Profis, in Ich-Form schreibend. Ich werde auf die Doppelformen man/frau weitgehend verzichten: obwohl im Bereich der Kinder-, Jugend- und Familientherapie Frauen deutlich überwiegen. Ich bitte, dies zu entschuldigen.

Als Lösung, wie Sie dieses Buch lesen könnten, schlage ich vor: Tun Sie so, als ob ich Ihnen etwas erzählen und zeigen würde. Stellen Sie sich vor, wir würden in der direkten Begegnung Gesagtes modifizieren und die Themen vermutlich in anderer, passender Reihenfolge verweben. Und immer darauf achten, wie der innere Prozess abläuft.

Es wäre schön, wenn beim Lesen auch das Kind, der Jugendliche in uns angerührt, herausgefordert und ermuntert würde. Es wäre ein gutes Zeichen, wenn Sie beim Lesen öfters unmerklich nicken würden und hier und da einen kleinen konstruktiven Schock erlitten, wenn Sie Neuland betreten, auf Unerwartetes stoßen. Ich hoffe, dass Sie genügend Anregungen für die Praxis finden, dass Neugier, Betroffenheit und auch Spaß beim Lesen überwiegen. Und dass dieses Buch Ihren Interessen und Bedürfnissen in etwa entgegenkommt. Auch, dass Ihr kluges Bewusstes und Ihr weises Unbewusstes genügend bekömmliche Nahrung finden. – Kurz: Dies ist ein Buch für Praktiker, geschrieben von einem Praktiker.

Es ist den Kindern, Jugendlichen und Eltern gewidmet, die in Not zu uns kommen, um professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich danke den großen Wegbereitern der systemischen Familientherapie, vor allem Milton H. Erickson und Virginia Satir. Und ich danke den vielen Kolleg/innen, die sich mir in Weiterbildungen anvertraut haben. Besonders auch den Familien, die zu mir kamen und von denen ich enorm viel lernen durfte. Und den Kindern in der Heilpädagogischen Tagesstätte am Hasenbergl, München. Sie waren meine witzigsten und härtesten Lehrmeister.

Dank auch dem Verlag, dass er dieses praxisorientierte Buch veröffentlicht. Viele Kolleg/innen, die mit Eltern, Kindern und Jugendlichen arbeiten, werden das zu schätzen wissen, vor allem auch jene, die mich ermuntert haben, meine Erfahrungen und Entwicklungen auch schriftlich weiterzugeben. So Rüdiger Retzlaff, der parallel an einem Buch zu diesem Thema arbeitet.

TEIL 1
Praxisbezogene Grundlagen

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2. Mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern gemeinsam arbeiten

Andolfi, einer der Großen der Mailänder Schule, hat auf dem ersten Internationalen Familientherapie-Kongress in Deutschland eine brennende Rede gehalten: In psychosomatischen und psychiatrischen Kinder- und Jugendkliniken sehe er auf den Fluren die Kids herumtoben oder gelangweilt warten, während hinter verschlossenen Türen die Therapeuten Elterngespräche führten. Geradezu wütend fragte er: Warum haben wir in den 60er und 70er Jahren den Paradigmenwechsel vollzogen, von der Einzelhin zur Familientherapie? Bei der zum einen das Symptom systemisch vernetzt im Familiensystem gesehen wird, zum andern die Behandlung in einen systemischen Prozess eingebettet ist!

In der Tat haben viele Kolleg/innen gewisse Berührungsängste und fühlen sich unsicher, mit der ganzen Familie zu arbeiten: Was tun, wenn ein hypermotorisches Kind nicht auf dem Stuhl sitzen bleibt und im Raum herumläuft? Was tun, wenn ein Jugendlicher bzw. eine Jugendliche demonstrativ schweigt … Hinzu kommt, dass sich einige systemische Schulen stark in Richtung sprachlicher Methoden entwickelt haben; diese sind nicht immer das am besten geeignete Mittel, um mit Youngsters zu arbeiten.

Therapie mit Einzelpersonen in Gruppen, wie Familienaufstellung, gebraucht auch das Wort »systemisch« und wird oft mit Familientherapie verwechselt. Die systemische Familientherapie nahm ihren Ursprung in den sechziger Jahren in Palo Alto (Kalifornien) mit Don Jackson, Paul Watzlawick und Virginia Satir. Auch Salvadore Minuchin, Jay Haley, Cloe Madanes verwenden diese Bezeichnung. Als diese Strömung nach Europa kam, hieß »systemisch arbeiten« in der Mailänder Schule, in England, in Heidelberg und München: die ganze Familie einbestellen.

Sozusagen als Zwischenlösung entstanden als Ergänzung zu Einzel-, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie so genannte Elterngespräche. Dabei können gelegentlich ein, zwei Sitzungen mit der ganzen Familie eingestreut werden. Diese Form ist auch in manchen Erziehungsberatungsstellen üblich, desgleichen in der sozialpädagogischen Gruppenarbeit. In Heimen, Kindertagesstätten usf. werden in der Elternarbeit oft familientherapeutische Elemente eingesetzt, ähnlich in der sozialpädagogischen Familienhilfe. Den Kolleg/innen ist klar: Es geht um die ganze Familie. Allerdings lässt sich die energetische Dichte und Vernetzung, die den Lebensraum Familie auszeichnet, als Kraft nur bedingt nutzen, wenn man bloß mit Teilen des Systems arbeitet. Nach meiner Erfahrung ist der Aufwand dabei auf der Seite der Profis deutlich höher, als wenn man mit der ganzen Familie gemeinsam arbeitet.

In der Heilpädagogischen Kindertagesstätte im Münchner Hasenbergl – vor Jahrzehnten ein sozialer Brennpunkt – arbeiteten wir mit Kindern aus Unterschichtfamilien, die nahe am abstürzen waren. Mit leicht bitterem Humor hieß es: Die Mutter vom Karli ist wieder schwanger! Am besten, wir reservieren in fünf Jahren einen Platz in der Tagesstätte. Es war die Zeit, als Familientherapie in Deutschland langsam Fuß fasste. Die Not war groß – aber wie mit solchen Familien arbeiten? Es war schon schwierig, mit Müttern einen Termin verlässlich einzuhalten. Väter? Nicht zu kriegen. Vielleicht sind Hausbesuche die Lösung?

Eine Woche lang frage ich eine Mutter beim Abholen ihres Kindes, wann ihr Mann und die Kinder gemeinsam zu Hause wären. Ich hatte mich als Familientherapeut bereits weitergebildet und traute es mir durchaus zu, mit der ganzen Familie in der Wohnung zu arbeiten. Zum vereinbarten Termin öffnet mir die Mutter überschwänglich die Tür. Sie habe schon Kuchen vorbereitet und müsse schnell in die Küche, sonst kocht der Kaffee über!

Auf die Frage, wo die Kinder seien, ruft sie vom Balkon hinunter: Der Nemetschek ist da, aber ich hab euch ja gleich gesagt, dass ihr da nicht oben sein werdet … – Wo ihr Mann ist? – Weiß sie doch nicht! Und sie überschüttet mich aufgeregt mit Erzählungen, dass »bei Nachbars« der Vater wieder besoffen randaliert hätte, und die Kinder und die Frau hätte man laut schreien hören … Nach einer Stunde wanke ich ziemlich verwirrt die Türe hinaus: Irgendetwas wollte ich doch da drinnen erreichen … Später hab ich’s dann doch noch geschafft. Den Vater abgepasst, ihn bei seiner Ehre als Familienvorstand gepackt: Dass es seine Frau nicht hingebracht hätte, einen Termin mit allen Familienmitgliedern auszumachen, fände ich schade … Ich verlasse mich auf ihn als Mann… Wir bauen dann sogar eine Skulptur (a la Virginia Satir). Der Trick ist, eine »Duftmarke« im Wohnraum zu setzen: Ob er mir erlaube, das Wohnzimmer für eine Stunde zu einer Familienberatung zu benutzen? – Selbstverständlich! – Dann müsse er mir helfen, den niedrigen, schmiedeeisernen Tisch mit der schweren Marmorplatte in die Ecke zu tragen. Alle Familien haben sich in jener Zeit so ein Möbel aus Fernsehsendungen abgeschaut. Natürlich können wir den Tisch beiseite stellen. Er ist zwar sehr schwer, aber zusammen packen wir das schon! Fachchinesisch nennt man solch eine Intervention: eine »kurzfristige Koalition« eingehen. Das Eis ist gebrochen. In der Skulpturarbeit müssen die Familienmitglieder wenig sprechen. Und am Ende wird ja der Tisch wieder rituell auf seinen angestammten Platz gestellt.

Erfreulich: in den letzten 25 Jahren, in denen ich neben Familientherapie auch dreijährige Weiterbildungen leitete, sind das Interesse und die Kompetenz, mit ganzen Familien zu arbeiten, enorm gewachsen. Anfangs haben wir kaum von solch einer positiven Entwicklung zu träumen gewagt.

Familientherapie mit der ganzen Familie ist aufregend und spannend. Kinder bringen eine sehr lebendige Dynamik in Gang; es bewegt sich mehr, als wenn nur die Eltern anwesend sind. Kinder und Jugendliche wachsen nun einmal sehr schnell, sie sind ständig in einem Veränderungsprozess, und das lässt sich in der Arbeit nutzen. Dieses Buch ist auch eine Liebeserklärung an systemische Familientherapie mit der ganzen Familie. Sie funktioniert und ist lehr- und lernbar.

Also lasst uns gleich loslegen!

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3. Jede Innenwelt, jede Familienwelt ist einzigartig

Bevor wir Methoden entwickeln, ist es gut, die Vor-Annahmen und Grundlagen, auf denen wir bauen, kritisch zu überprüfen und uns zu vergegenwärtigen: Aus welcher therapeutischen Schule kommen wir? Wo stehen wir, bezogen auf Familientherapie? In welche Richtung kann es gehen, um Familien effektiv bei der Lösung ihrer Krisen zu helfen?

Wie viele Kolleg/innen wurde auch ich dazu ausgebildet, zuerst das präsentierte so genannte Problem genau zu erkunden: Was, warum, wo, wie, wann, mit wem, was sind die tieferen Ursachen? Ich fand es durchaus einleuchtend, dass die Bewusstmachung ein wichtiger Schritt sei, so wie es von den Altvorderen überliefert wurde. In manchen familientherapeutischen Schulen ging man zunächst von Systemanalysen und Hypothesenbildung aus. Das schien nur allzu logisch zu sein.

Milton Ericksons Vorgabe war für mich ein heilsamer Schock: Jeder Mensch ist einzigartig, und du kannst seine Innenwelten nicht betreten. In Familien gibt es viele unsichtbare Innenwelten: besonders bei Kindern und Jugendlichen, die sich ständig weiter entwickeln. Ein komplexes, subtiles Zusammenspiel in dieser Familienwelt.

An einem Beispiel aus meiner Praxis möchte ich illustrieren, wie wichtig es sein kann, wenn ich beherzige, dass ich nicht weiß, was sich im Innenleben eines jungen Menschen abspielt.

Eine Mutter, gebildet, 34 Jahre jung, kommt mit ihrem elfjährigen Sohn. Schulprobleme stehen wie so oft im Vordergrund. Die Mutter ist seit sechs Jahren geschieden. Vor zwei Jahren hat sie wieder geheiratet. Der Junge mag den neuen Partner, der zu der ersten Sitzung mitkommt. In der fünften – von insgesamt sieben Sitzungen – erkunden wir, wie der Elfjährige am besten lernt und wie er sich deutsche und englische Texte am leichtesten merkt. Zunächst untersuchen wir, ob er ein gutes optisches Gedächtnis hat, ob er sich beispielsweise vor dem Inneren-Auge eine bestimmte Seite im Englisch-Buch vorstellen kann. Diese Art von Gedächtnis ist bei ihm zwar vorhanden, jedoch nicht sonderlich ausgeprägt.

Wir forschen weiter, wie er sich etwas bei einmaligem Sehen und/oder Hören merken kann. Er hat Texte aus einem Rollenspiel-Buch sofort drauf und hat eine ausgesprochene Begabung zu schauspielern. Des Weiteren spielt er gerne und sehr gut Basketball. Als Berufswunsch stellt er sich Computerspiele-Redakteur vor. Wenn er einen Film sieht, der ihn begeistert – z.B. Der Schuh des Manitu – kann er nicht nur ganze Passagen wortgenau wiedergeben, sondern auch die Stimmen der verschiedenen Anti-Helden des Films imitieren. Er liebt Rap, Playstations. Er hat seit kurzem einen eigenen Computer mit Internetanschluss, den er begeistert nutzt. Wir machen ein Experiment:

Aus einem englischen Comic-Buch lese ich ihm eine Passage vor. Er soll sie im Kreis gehend, im Rap-Rhythmus und mit schauspielerischen Gesten wiederholen. Bereits beim ersten Versuch kann er sich den Text genau merken, ausgenommen drei Worte.

Zu Hause hat er den Schuh des Manitu auf DVD. Er kann also den Text auf Englisch anklicken. Bis zum nächsten Mal soll/darf er sich den Film dreimal in der englischen Fassung ansehen. Dieser Auftrag begeistert ihn. Und auch die Mutter ist zufrieden.

Ganzen Generationen hat man eingebläut, wie man lernt. Nämlich möglichst still zu sitzen, verbal zu rekapitulieren. Auf keinen Fall darf dabei Musik laufen … Und dieser Lernstil gelte für alle Schüler gleichermaßen. Wenn wir uns dies vor Augen führen, erscheint uns das heute wie »schwarze Pädagogik«.Wenn sich ein Schüler mit dieser Lernmethode den Stoff nicht aneignen konnte, wurde er in der Schule bestraft. Wenn es dann noch immer nicht ging, wurden die Eltern unterrichtet und aufgefordert, ihn streng zum Lernen anzuhalten, und zwar in der oben geschilderten Weise. Ich glaube, die dargestellte familientherapeutische Arbeit mit dem Elfjährigen ist ein drastisches Beispiel, wie kontraproduktiv es ist, irrtümlich zu glauben, wir wüssten, was in der Innenwelt einer Person abläuft und wie sie funktioniert. Oder noch schlimmer: wie sie zu funktionieren habe.

Wenn in Supervisionsgruppen Fälle vorgestellt werden, bekommt man sehr oft Urteile und Vorurteile zu hören, ungenaue Diagnosen. Ausführlich werden Defizite geschildert: Schwächen, Blockaden, Macken. Und mit Verallgemeinerungen wird ein ziemlich verzerrtes Bild von Eltern, Kindern, Jugendlichen gezeichnet: davon, wie sie sich verhalten und wie sie sich verhalten sollten. Beispielsweise: Sind nicht motiviert, um zu … Sieht nicht, dass die Kinder … Verdrängt total … Bei diesen Eltern ist es kein Wunder, dass … Bei dieser schizoiden Kommunikation

Die Grunddaten hingegen, die ja recht einfach zu erfragen sind, bleiben oft vage. Es können Fragen nicht klar beantwortet werden wie: Wie alt sind die Eltern genau? Welchen Grundberuf haben sie, und welche Arbeit üben sie konkret aus? Die Antwort lautet etwa: Mutter ist so über 40, Vater arbeitet so was mit Computern … Nebelschwaden auch bei der Frage: Wie lange sind sie verheiratet, und wie lange sind sie vorher miteinander gegangen? Nach wie vielen Jahren haben sie ihr erstes Kind gezeugt? Welche Rolle spielen die Großeltern? Über was genau hat sich die Lehrerin beschwert? Wann muss das Kind in der Frühe aufstehen, wie viele Stunden verbringt es in der Schule?

Bei ungenauen Altersangaben sage ich meist: Stimmt es, dass 39 Jahre sich anders anfühlen wie 40? Und dass ein Tag vor 40 und ein Tag nach 40 ein großer Unterschied sein kann? Und dass es einen großen Unterschied ausmachen kann, ob ein Kind in eine einjährige oder in eine elfjährige Ehe hineingeboren ist. Besonders groteske Vorstellungen macht man sich über nicht anwesende Personen: über den geschiedenen Vater, die schwierige Ursprungsfamilie der Mutter, den erwachsenen Halbbruder, der auf die schiefe Bahn geraten ist, den Vater des Vaters, der auch immer besoffen war oder den es angeblich gar nicht gibt.

Um anschaulich zu machen, wie stark solche Verzerrungen sein können und wie gefährlich dies für den therapeutischen Prozess werden kann, ein Beispiel zur Illustration. Vermutlich kennen Sie Ähnliches aus eigener Erfahrung.

In der Anfangszeit meiner Praxis kommt eine junge Studentin zu mir und klagt, sie käme mit diesem und jenem nicht zurecht. Vor allem ihre Beziehungen zu Männern gingen rasch in die Brüche. Ihr Selbstwertgefühl ist stark abgesackt. Sie führt dies wiederholt auf folgende schmerzliche Kindheitserfahrung zurück: Ihre Mutter hatte eine lang andauernde außereheliche Beziehung. Wenn sie zu ihrem Geliebten ging, trug sie der Klientin – als Kind, auch später in der Vorpubertät – regelmäßig auf, den Vater abzulenken, ihm Schwindel-Geschichten zu erzählen usw. Jetzt sind Wut, Trauer, Ekel, Vorwürfe und Leiden groß. Wir arbeiteten sehr intensiv mit Gesprächen, Aussöhnungsritualen, Aufträgen und Verschreibungen. Die Mutter wird in meiner Vorstellung mehr und mehr zum Monster. Dieses hinterlistige Weib, das diesen Hurenbock mehr liebt als ihr hilfloses Kind. Ich kann sie vor meinem inneren Auge richtig sehen, mit diesem Unschuld heuchelnden Blick. In meiner Vorstellung ist sie auch körperlich recht groß und mächtig.

Schließlich sage ich: Wir kommen nicht weiter, wir werden deine Mutter einladen. – Sie wird nicht kommen, ist die Antwort. Ich frage die Klientin, ob sie es möchte – ja. – Ob ich anrufen und der Mutter sagen darf, dass ihre Tochter bezweifelt, sie würde kommen – ja. Ich rufe die Mutter an, ob sie mir helfen kann, ihrer Tochter zu helfen. – Ja, selbstverständlich … In der nächsten Sitzung: Herein kommt eine kleine, zierliche Frau mit feuchten Augen, einem lebendigen Gesicht, das Betroffenheit ausstrahlt und im Prozess jeweils angemessene Emotionen zeigt. Ja, sie hat ihrer Tochter Schreckliches angetan, sie für ihre Sehnsucht nach Liebe missbraucht. Sie habe immer gewusst, dass das falsch sei, und habe seit langem starke Schuldgefühle. Sie würde alles tun, um das wieder gutzumachen.

In einem bewegenden Aussöhnungsritual (siehe dazu Kapitel 35: Kinder stärken bei Trennung und Scheidung): auf der einen Seite die verletzenden, auf der anderen die liebevollen Anteile. Mutter und Tochter halten sich an den Händen, während sie Erinnerungen austauschen. Es fließen viele Tränen. Gegen Ende liegen sich Tochter und Mutter in den Armen. Das ist der Durchbruch zur Heilung. In der Folge steigt das Selbstwertgefühl der jungen Frau beachtlich, die Klientin kann ihr Leben meistern.

Es ist ein gefährliches Konstrukt anzunehmen, wir könnten oder müssten verstehen, was in den Klienten vor sich geht. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als vom Ansatz des Nicht-Verstehens auszugehen.

Familien setzen im Zusammenleben ungeprüft voraus, dass sich einander nahe stehende Personen mittels verbaler und nonverbaler Sprache verstehen können. Gefragt, was sie sich von Familientherapie erwarten, antworten viele: Mehr miteinander reden, über Probleme sprechen, einander gegenseitig verstehen. Naiverweise nehmen die meisten Menschen an, dass dies die Lösung sei oder zumindest enorm viel dazu beitragen würde. Das gilt für die Beziehung sowohl zwischen den Partnern als auch zwischen Eltern und ihren Kindern. Besonders jugendliche Liebespaare nehmen im »Hormonflush« – also in der Phase der Verliebtheit – zutiefst an, dass sie einander verstehen oder zumindest innigst verstehen sollten. Und wenn sich herausstellt, dass der/die Partner/in sich nicht so verhält wie irrigerweise angenommen, kommt es zu Verstimmungen, und die können sich zu bedrohlichen Krisen aufschaukeln. Gleiches gilt für die Eltern-Kind-Beziehung.

Ich bin inzwischen zu der Auffassung gekommen, dass ein großer Teil von Beziehungs- und Erziehungskrisen auf Missverständnissen beruht, meist auf der Annahme, der Forderung: Du musst mich verstehen, du hast mich zu verstehen, oder du liebst mich nicht.

Fangen wir ganz einfach an. Wenn Mutter am Esstisch zum Kind sagt: Gib mir den Teller rüber, so scheint das recht klar und verständlich zu sein. Die Bedeutung jedoch, die sie diesem Satz gibt, kann beachtlich von dem abweichen, was beim Kind ankommt. Beispielsweise kann das Kind annehmen: Sie will mir wieder einen Haufen von diesem doofen Gemüse auftun, und sie weiß doch, dass ich das nicht mag. Was wiederum von der Mutter als Trotz interpretiert wird, und so weiter. Der Prozess schaukelt sich auf, Stress entsteht. Dadurch werden ur-ur-alte Überlebensstrategien aktiviert, etwa Wut. Und dann geht es nur noch ums Kämpfen, Gewinnen oder Verlieren, Ausweichen, um Gegenattacken und Kriegslisten … Paradoxerweise entstehen schmerzliche Missverständnisse aus dem Ich muss-das-Kind füttern-Programm der Mutter, aus ihrem Ich tu dir nur Gutes …, dem ein Sie mag mich nicht des Kindes gegenübersteht. Verlegen wir nun den Schauplatz an einen Abendtisch mit einer magersüchtigen Jugendlichen. Da »feuern« nicht nur die Neurotransmitter, sondern der Hormonhaushalt der Pubertät »quasselt mit«. Es werden zusätzlich noch andere Überlebens- und Schutzmechanismen dazukommen: Ekel …, Angst, dick zu werden … Aus dem Berg von Missverständnissen entsteht mehr und mehr ein Drama von Helfen-Wollen kontra Sich-unverstanden-Fühlen, von Leiden, depressiver Stimmung und Appetitlosigkeit. Jetzt treiben wir die Szene auf die Spitze. Wir Psycho-Helfer kommen in solch ein System, und als Erstes versuchen wir mit viel Verständnis, dieses Theater zu verstehen und bewusst zu machen. Die Missverständnisse können sich dadurch potenzieren.

Worte und Sätze spiegeln die Prozesse, die in der Innenwelt ablaufen, extrem grob. Sie versuchen sozusagen, bunte seelische Filme in einem holzschnittartigen Standbild festzuhalten und dieses dann zu kommunizieren. Und das bei unterschiedlichen Innenwelten voll von Bildern, Körpergefühlen, Gerüchen, Emotionen, inneren Monologen und Dialogen. Milton Erickson: Ich lasse einen Satz 20mal in mir nachklingen, und dann beginne ich zu ahnen, was er vielleicht bedeuten könnte.

Wir Familientherapeuten brauchen viel Übung, bis wir die unterschiedlichen Innenwelten unserer Klienten beachten, akzeptieren, wertschätzen. Und uns hüten, in sie eindringen. In Weiterbildungen versuche ich, diesen Prozess mit Übungen anzustoßen. Wenn ich beispielsweise meine Mama sage, eventuell mit einem emotionalen Unterton, einem leichten Seufzer, so scheint es den Zuhörern ziemlich klar, was gemeint ist, und sie nicken verständnisvoll.

Bitte halten Sie im Lesen für einen Moment oder auch länger inne. Taucht ein vages Bild auf, das einer »Mama«, in einer gewissen Gemütslage? Sehen Sie diese Person aus der Ferne, oder ist sie ziemlich nahe? Ist ihre Mimik, Gestik vage zu erkennen? Ist etwas zu hören? Vielleicht sehen Sie sogar den Raum, die Umgebung …

Aber der Zuhörer kennt meine Mutter nicht, und kann nicht wissen, in welcher Form, Szene, Erinnerung sie gerade in meiner Innenwelt auftaucht. Ich und meine beiden Brüder nannten sie nicht einmal Mama, sondern Mutti – so wollten es die Nationalsozialisten. Es gibt Milliarden Mamas auf unserem Erdball, und jede lebt in der Innenwelt des Betroffenen in einzigartiger Weise. Und noch dazu ändern sich diese Bilder, verknüpft mit Gefühlen, Erinnerungen, fortlaufend, während wir älter werden.

Warum ich so viel Aufhebens um diese letztlich bekannte Tatsache mache? Weil mir dies und den vielen hundert Kollegen, die ich weitergebildet habe, immer wieder entgleitet, vor allem im realen Arbeiten mit Familien. Unsere Grundannahmen, unser »Glaubenssystem« beeinflussen die therapeutische Haltung, die Wahl der Mittel und Methoden beachtlich, und es macht dabei einen großen Unterschied, ob wir vom Verstehen oder vom Nichtverstehen ausgehen.

Der Methoden-Teil dieses Buches zeigt plastisch Möglichkeiten auf, wie wir dieses Dilemma lösen können. Als Einschub möchte ich eine Szene bei Milton H. Erickson erzählen, die ich selbst staunend erlebt habe. Sie zeigt einen radikalen Ansatz, ohne zu verstehen: um den Klienten tief, tief zum Arbeiten zu bringen.

Es ist Morgen, das Lehrseminar hat vor kurzem begonnen. Plötzlich steht ein Mann im Türrahmen. Laut scheppernd fallen die Aluminium-Fliegengitter- und die Eingangstüre hinter ihm zu. Er steht verdattert, fast paralysiert einen Schritt vor Erickson, stottert etwas: Das FlugzeugVerspätung … Erickson deutet auf den leeren Stuhl neben sich – take that chair – und arbeitet mit ihm eine Stunde, ohne ihn etwas zu fragen oder erzählen zu lassen. Er liest lediglich sehr aufmerksam die minimalen nonverbalen Signale und erzählt Fallgeschichten mit überraschenden Lösungen. Und dieser Mann arbeitet in tiefer Trance. Und wie intensiv er arbeitet!

Wir interviewen den Kollegen natürlich später. Er war gerade, aus Australien kommend, in Phoenix gelandet und war Milton Erickson noch nie begegnet!

Die folgende Übung führt in Weiterbildungen zu starken Aha-Erlebnissen. Und es kann Spaß machen, sie im Team oder einer Supervisionsgruppe auszuprobieren. Die Gruppe wird gefragt, wer eine kleine, kurze Geschichte erzählen möchte. Ein Erlebnis aus der – eher frühen – Kindheit mit starken positiven oder negativen Emotionen. Ohne dabei das Alter und den Ort zu nennen, also Region, Land, Stadt. Eine Teilnehmerin erzählt:

Wenn man hinten aus unserem Hof hinausging, gab es etwas weiter einen kleinen Abhang. Es war ein wunderschöner, strahlender Wintertag. Wir sind Schlitten gefahren. Mein Schlitten war ziemlich klein. Aber meine beiden Freundinnen und ich wollten unbedingt zu dritt hinunterfahren. Irgendwie haben wir’s geschafft runterzukommen. Nur mit dem Bremsen war’s nix. Die Bahn war zu eisig. Im Auslauf lag noch Tiefschnee, und dann war da ziemlich nah der kleine Bach. Wir haben gequietscht wie sonst was und uns dann gleichzeitig vom Schlitten geworfen. Der sauste allein weiter. Wir kugelten im Tiefschnee und haben gelacht und gelacht und uns nicht mehr eingekriegt, bis wir nicht mehr konnten.

Jetzt werden die Teilnehmer/innen der Gruppe gefragt, welche Vorstellungen beim Hören dieser Geschichte aufgetaucht sind. Gab es Bilder? Sieben Kolleg/ innen melden sich. Einer erzählt: Im Hof war eine Tordurchfahrt und dahinter eine schmale Gasse, und am Ende war ein Bergerl. Ich sah viele Kindern, die runtergefahren sind, und dann flogen die Drei in hohem Bogen in den Schnee. Margit vorneweg, und die Mütze hat’s ihr runtergehaut. – Welche Farbe hatte die Mütze? – Eine blaue Wollmütze. – Und die Kleidung? – Auch blau, so’n Schneeanzug, der war über und über voll Schnee. – Woher kennst du die Farbe der Mütze? – So eine hatte ich mit ’m Bommel dran, und die hab ich mal im Schnee verloren. – Und woher kennst du die Gasse? – Die war hinter unserem Bauernhof, und die Gasse war ziemlich eisig. Wir sind da immer hinuntergerutscht. – Wo war das? – In Franken! – Wie alt war Margit? – So sieben, acht. Eine andere Teilnehmerin erzählt. Bei mir war das im Stadtpark – kenn ich von mir zu Hause. Margit war etwa fünf und trug einen roten Anorak mit so weißen Streifen … usw.

Konnte jemand was spüren? Ja, das Gefühl, so Schmetterlinge im Bauch, den Atem anhalten, eine Mischung aus Lust und Angst. Und den Schnee im Gesicht und den Geschmack von Schnee im Mund …. Und du kennst das von? Da vermischen sich zwei Erinnerungen, eine, da war ich noch ziemlich klein, und ich war stolz, dass ich es schaffte, den Hügel hinunterzufahren. Und mit jedem Mal hat es mehr Spaß gemacht. Das andere Erlebnis war später beim Skifahren. Da hat’s mich so richtig in den Tiefschnee hineingestangelt, ich hab fast keine Luft mehr bekommen

Konnte jemand auch etwas hören? Ja, das Knarzen im Schnee, und wie die Kufen gleiten. Und dann »bremseeen!« Dann das Lachen, so ganz helles Kinderlachen, so wie Margit heute noch oft lacht. Bei mir war sie so erste, zweite Klasse und trug Zöpfe und ein Stirnband

Eine andere Teilnehmerin sieht ihrer Tochter beim Schlittenfahren und sofort – und sofort … Jetzt erzählt Margit, wie es »wirklich« war! Und merke: ähnliche Prozesse werden bei uns erneut ablaufen. Wir werden uns wieder eine eigene Welt zusammenbasteln, bauen, im Fachjargon: konstruieren.

Margit gibt jetzt einige Erklärungen: Ich war noch im Kindergarten-Alter, hatte zu Weihnachten einen Schlitten geschenkt bekommen. Es war ein städtischer Hinterhof, auf einer Seite offen zu Schrebergärten. Ich hatte meinen neuen Schneeanzug an, türkis, auch vom Christkind bekommen

Manchmal lese ich der ganzen Familie ein Bilderbuch vor, um die Illusion, jeder verstünde jeden, aufzulösen. Es ist eine schöne Art, Schweres, Stockendes auf eine leichte, spannende, metaphorische Ebene zu transformieren. Es entsteht eine humorvolle, entspannte Stimmung. Jeder kann bewusst oder unbewusst etwas aus der Geschichte entnehmen und »kofabulieren«, was und wie es eben passt. Man wendet sich an die Kinder und liest vor, betrachtet Bilder. Indirekt zielt man natürlich auch auf die Eltern, schaut sie aber nicht an. Und auf keinen Fall erklärt man der Familie mit erhobenem Zeigefinger die »Moral von der Geschichte«!

Es gibt ein tolles Buch zum allgegenwärtigen Konflikt, wenn verschiedene Innenwelten aufeinander krachen und es zu Missverständnissen kommt. Dann kann man sich ärgern und streiten, oder lachen und Frieden schließen. Das Bilderbuch heißt Stimmen im Park, von Anthony Browne. Es sollte in jeder Uni-Bibliothek stehen, als Buch zum Thema: Konstruktivismus für Familientherapeut/innen.

Stimmen im Park

Vier Personen erleben ein Aufeinandertreffen im Stadtpark. Eine wohlhabende Gorilla-Dame mit ihrer reinrassigen Labrador-HündinVictoria und mit Charles, ihrem eingeschüchterten Sohn. Ein arbeitsloser Gorilla-Mann mit seiner Tochter Sonnenschein und ihrem struppigen Hund Albert. Vier Geschichten zeigen die subjektive Erlebniswelt der beteiligten Personen: Erste Stimme. Mutter sitzt auf einer Parkbank und zerbricht sich gerade den Kopf über das Mittagessen, eine dieser köstlichen Suppen aus der Gefriertruhe? Am anderen Ende sitzt eine – in ihren Augen – heruntergekommene Gestalt, nämlich der Gorilla-Mann. Und sie ärgert sich über seinen struppigen Köter. Da bemerkt sie, dass Charles verschwunden ist. Überall sieht sie ihren Ärger. Die Baumkronen schreien und werfen bedrohliche Schatten: wie ein Krokodil, ein bedrohendes Auge. Sie schreit nach Charles, dass die Blätter von den Bäumen fliegen. Endlich sieht sie ihn fern in einer Allee. Er spielt mit einem Mädchen, das einen reichlich schmuddeligen Eindruck machte … Sie gehen wortlos nach Hause.

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Zweite Stimme. Sie kommt von dem gestressten und depressiven Gorilla-Mann. Er sieht die Welt grau in grau. Eine triste Mauer, Hochhäuser, kahle Äste. Es ist Winter. Am Gehsteig hockt ein jämmerlicher Gorilla, Nikolaus, und bettelt, hält ein Papierschild hoch:Muss Frau und Millionen von Kindern unterstützen. In der Ferne fährt ein Paar auf einem Fahrrad, sie vorwärts, er rückwärts. Auf der Parkbank schaut der Gorilla-Mann Stellenangebote in einer Zeitung durch. Auf der Titelseite, winzig, der Schrei von Munch. Hund Albert stürmt durch den Park. Ich wollte, ich hätte nur die Hälfte seiner Energie! Auf dem Heimweg heitert Sonnenschein Papa auf, sie plappert pausenlos. Die Mauer von vorhin ist jetzt strahlend bunt. Nikolaus tanzt. Papa schmunzelt.

Dritte Stimme. Charles fühlt sich einsam. Er darf nicht mit den Kindern im Park spielen. Überall sieht er den Hut seiner Mutter. In den Wolken, den Baumkronen, selbst die Parklaternen tragen Hüte … Er sitzt gelangweilt auf der Bank. Kommst du mit auf die Rutschbahn? Es ist ein Mädchen, leider. Sie schwingt am Klettergerüst hin und her. Ich machte es ihr nach. Typisch Mann. Sie mit großem Schwung, er hängt wie ein Sack an der Stange. Noch deutlicher. Ich bin gut, um Bäume hochzuklettern, also zeige ich ihr, wie das geht. Es ist Frühling, der Baum in rosa Blütenpracht. Sie hoch oben im Wipfel. Er hängt unten am ersten Ast. Ist das nicht eine wunderschöne Metapher für Missverständnisse in wohl jeder Partnerschaft!? Dann ertappt ihn Mama. Abruptes Ende der Liebesgeschichte. Kahle Äste hängen traurig zu Boden …

Vierte Stimme. Eine bunte, unbekümmerte Kinderwelt tut sich auf. Erdbeer-, Apfel- und Pfirsichbäume. Es ist Sommer. Albert läuft gleich zu dem hübschen Hund hin und schnüffelt an seinem Popo. Seine Besitzerin wird richtig wütend, sie schaut aus wie King Kong: Dumme Kuh! Sonnenscheins Welt ist heiter und spannend. Sie sieht in den Baumkronen zwei Gorilla-Profile … Dann spielt sie zusammen mit Charles in einem märchenhaften Musikpavillon, leuchtende Farben, am Himmel der Mond. Sie stehen in der Allee im strahlenden Kranz der Sonne.Charly pflückt eine Blume für mich … Dann ruft seine Mutter nach ihm, und er muss nach Hause. Er sieht traurig aus …

Gute Bilderbücher transformieren Konflikt und Auflösung in eine metaphorische, eine analoge »Welt«. Bei den Familienmitgliedern löst dies ein Schmunzeln aus, und das bringt sie einander näher. Es ist, als ob die Familie auf einer Kirmes, einem Volksfest zusammen durch ein Spiegelkabinett ginge und man sich gemeinsam an den Zerrbildern belustigte. Der Alltag verschwimmt. Auch Bewusstes und Unbewusstes amüsieren sich gemeinsam. Begegnung wird möglich.

Der Ansatz, mit analogen Mitteln Lösungsprozesse anzustoßen und zu fördern, wird uns als roter Faden im Buch begleiten.

4. Telefonkontakt

Bei der Anmeldung zur Familientherapie haben Klienten gelegentlich die Vorstellung, sie sollten zunächst alleine kommen, um das »Problem« zu besprechen. Oder Mutter möchte nur mit dem Sorgenkind kommen. Dass Vater und die Kinder, mit denen die Eltern gut zurechtkommen, auch mitkommen sollen, ist nicht selbstverständlich. Aber gerade gesunde, fitte Geschwister sind sehr hilfreich.

Eltern greifen nicht spontan zum Telefon. Fragt man in Weiterbildungsgruppen Teilnehmer/innen mit Therapieerfahrung, wie lange es vom Zeitpunkt an, als sie zum ersten Mal gedacht haben, professionelle Hilfe sei für sie notwendig, bis zum realen Telefonkontakt gedauert hat, dann geben einige Kolleg/ innen an: Monate bis hin zu mehreren Jahren. Genauso bereiten sich auch Eltern lange auf den Anruf vor. Sie haben sich umgehört, mit Partner, Freunden, Bekannten gesprochen, in Journalen, Frauenzeitschriften gelesen, dass man in Therapie über Probleme spricht … Schließlich haben sie im inneren Dialog durchgespielt, was sie am Telefon sagen werden und was besser nicht. Und sie haben sich meist eine Art Klage zurechtgelegt.

Von unserer, der »Profi-Seite« aus ist es gut, einige Ziele für Anmeldungstelefonate »im Hinterkopf« bereitzuhalten: Angst nehmen, die ganze Familie einbestellen, die Beratung so einfädeln, dass die Familienmitglieder, so weit wie möglich, mit einer konstruktiven Haltung zum ersten Treffen kommen und dass sie schon etwas in Richtung Lösung »gepolt« sind. Es gilt: Knapp bleiben und nicht in die Jammer-Falle laufen.

Klienten eröffnen das Telefonat häufig mit einer Frage: Bin ich hier richtig zu einer Familienberatung?Arbeiten Sie auch mit Kindern? … Oder: Sie wurden mir empfohlenDie Kindergärtnerin hat mir gesagt, ich solle Sie anrufen … Oder mit Wünschen: Ich möchte einen Termin ausmachen. Wir brauchen dringend Hilfe … Oder sie fallen direkt mit der Tür ins Haus: Unser Sohn schwänzt Schule und verweigert alles, was man ihm sagt, kann ich zu Ihnen kommen? … Oder es werden gleich Fachausdrücke gebracht: Es geht um ADHS … Ehekonflikte werden angedeutet: Wir sind bei der Erziehung der Kinder unterschiedlicher Meinung … Eine Einzeltherapie wird angefragt: Machen Sie Familienaufstellungen?

Es ist hilfreich, diese Eröffnungen zu nutzen, um sie relativ zügig positiv umzuformulieren. Zum Beispiel: Ah, es geht um ein trockenes Bett … Ja, ich kann mir vorstellen, dass es Zeit ist, diese Krise anzugehen, zu lösen …Ein ziemlich früher Lacher, so ganz nebenbei, kann die Situation sehr entspannen, etwa: Ja, ja, Kids zu erziehen ist manchmal wirklich nicht leicht … Soll das etwa heißen, Sie haben schon Ihren Humor total verloren? Oder müssen Sie manchmal heimlich schmunzeln, was Ihr Nachwuchs so anstellt?

Was man besser unterlassen sollte: nach Wünschen fragen. Was wollen, möchten Sie, soll sein? Jugendliche schreiben in Schulaufgaben Fünfer und Sechser. Der Wunsch ist: Sie sollen sich gefälligst hinsetzen und lernen, bei der Intelligenz können sie es doch locker auf eine Drei bringen. Auf keinen Fall das Gespräch in die Länge ziehen: Entweder man löst dadurch noch mehr Klagen aus, oder man wird dazu verleitet, voreilig Ratschläge zu geben wie: Haben Sie schon versucht? …

Keine Fragen zum Symptom beantworten, wie: Was kann man machen bei … Die Antwort kann vielmehr sein: Das können wir dann zusammen erarbeiten

Keine unrealistischen Versprechen geben, Voraussagen treffen, Diagnosen stellen.

Achtung vor übermotivierten Anrufern, sie gehören oft zu den schwierigen Klienten! Der Übereifer kann bald »abstürzen«, oder es stecken übermäßige Ansprüche dahinter, wie: Ich suche nach der besten Therapie für mein Kind und Sie wurden mir wärmstens empfohlen!

Es ist vorteilhaft, schon beim Anmeldetelefonat die erste Sitzung einzuleiten: Meine wichtigste Frage wird sein: .