Inhalt

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Titel

Copyright

DDR-Deutsch
Ein abgeschlossenes Sammelgebiet

Das Territorium der DDR und der verwirrte Klassenfeind
Abgrenzung und Kommunikation

Das Petschaft und der Abakus
Quellen des DDR-Deutsch

Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft und Zahlbox
Wortwahl und Phraseologie im Alltag

Vom Amboss bis zu Ochs und Esel
Sprachblasen und Parolen

Es muss demokratisch aussehen oder Die Rolle der Bedeutung
Die Sprache der Partei und der Medien

Disproportionen in Größenordnungen
Wirtschaft, Handel und Versorgung

Das Recht auf Arbeit und der Frauenruheraum
Produktionsbetriebe in der DDR

Krippentauglich bis zur MMM
Kinder, Jugend, Bildung und Sport

Die -schaffenden und der Bücherminister
Intelligenz und Kultur

Klärung eines Sachverhalts
Rechtspflege, Sicherheitsorgane und Militär

Industrienebel über Bergbaufolgelandschaften
Euphemismen, Nonsens und was es sonst noch gab

Literaturauswahl

DDR-Deutsch
Ein abgeschlossenes Sammelgebiet

Philatelisten schätzen abgeschlossene Sammelgebiete. Die dahingegangene DDR ist ein solches. Auch für Linguisten?

Die Sprache des kleinen Landes hatte im Verlauf von vier Jahrzehnten eine gewisse Eigendynamik entwickelt und unterschied sich in vielerlei Hinsicht vom Deutsch der restlichen Welt. Der Wortschatz konservierte Altväterliches aus Partei-, Amts- und Diplomatensprache, dazu kamen Anleihen aus der offiziell verpönten Sprache des Nationalsozialismus und beim Sowjet-Neusprech und schließlich die Einbeziehung oder umständliche Übersetzung von Begriffen der modernen Technik und Lebenswelt. Herkömmliche Wörter veränderten ihre Bedeutung oder erstarrten zu bloßen Worthülsen. Neben der zum Feierlich-Pathetischen wie zum semantischen Leerlauf neigenden Sprache der Diktatur mit ihren auffälligen Substantivierungen und Genitivhäufungen sorgte eine vermeintliche, weil zumeist falsch verstandene

»Verwissenschaftlichung« dafür, dass die einfachsten Begriffe zu buchstabenreichen Unwörtern aufgebläht wurden. Eigenschöpfungen ersetzten gebräuchliche oder ideologisch anrüchige Wortbedeutungen, die grassierende Abkürzungswut drang weit in den Alltag vor. Aus Arbeitern und Angestellten wurden erst Berufstätige, dann Werktätige und schließlich die Rechengröße Vollbeschäftigteneinheit (VbE).

Dabei war die eigenwillige Sprache jenes zänkischen Bergvolks am Rande des Großchinesischen Reiches, wie ein in der DDR weitverbreiteter Witz die Landesbewohner charakterisierte, keineswegs ein einheitliches Verständigungsmittel. Dazu unterschied sich der salbungsvoll-schwülstige Duktus des offiziellen Partei- und Staatsjargons mit seiner gestelzten Wortwahl und den gewollt volkstümlichen Ausuferungen allzu beträchtlich von der ironisch-gewitzten, vom Volksmund wie von Satirikern und Kabarettisten ständig ergänzten tatsächlichen Umgangssprache – vom zunehmend westlich beeinflussten Idiom der Jugend ganz abgesehen.

Dieses kleine Buch, das weder einen sprachwissenschaftlichen noch den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, soll einen Eindruck vom – zu Recht? – fast vergessenen Sprachkonglomerat DDR-Deutsch mit seinen differierenden und divergierenden Aspekten vermitteln, ohne dem nostalgischen wie dem verwunderten Leser einen Schrecken einzujagen. Dass dem Verfasser manche subjektive Bewertung unterläuft, mag man ihm ankreiden – erfunden hat er die Begriffe und Formulierungen nicht.

Vielleicht, und das ist die größte Hoffnung des Autors, regt der Text dazu an, über gegenwärtige Sprachsünden nachzudenken. Die Wörter und Unwörter, die jedes Jahr gewählt werden, laden dazu ein.

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Titel

Jan Eik

DDR-Deutsch

Eine entschwundene Sprache

Jaron Verlag

Das Petschaft und der Abakus
Quellen des DDR-Deutsch

Die sprachliche Ausgangslage war nach dem Ende der NS-Diktatur überall in Deutschland gleichermaßen schlecht. Noch lange nistete die von Viktor Klemperer so benannte LTI (Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reiches) in den Köpfen, und aus manchen verschwand sie nie. Auch im DDR-Deutsch hinterließ das NS-Deutsch seine unguten Spuren. Dass mit einer gewissen Kontinuität wieder linientreue 150-Prozentige und Mitläufer mit einem Bonbon am Revers Propaganda machten, fiel den Menschen anfangs durchaus auf. Die Doppelbedeutung von Wörtern wie organisieren oder aufziehen blieb ebenfalls erhalten. Bald wählte man wieder spontan eine Einheitsliste, und die Jugend – soweit nicht arbeitsscheu und dem Rowdytum verfallen – versammelte sich unter Wimpeln und in Kluft zu Heimabenden und Fahnenappellen, Fackelzügen und Gelöbnissen, die zur alten wie zur neuen Weltanschauung samt Gesinnung gehörten. In den ersten Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) kamen die Begriffe ausrotten und liquidieren vor, und Walter Ulbricht sprach von Entarteter Kunst.

Manche Begriffe sind älter als die LTI, zählten jedoch zu deren bevorzugtem Vokabular. Der deutsche wurde im offiziellen Schriftverkehr durch den sozialistischen, unter ausgewählten Genossen gar kommunistischen Gruß ersetzt, und die Werktätigen der DDR trugen noch lange das 1935 eingeführte Arbeitsbuch in der Tasche. Selbst der (Klassen-)Gegner – in der Endzeit der DDR war von einem Feindbild die Rede – galt nach wie vor als plutokratisch und Objektivismus als eine Todsünde. Es wurden wieder heldenmütig Ernteschlachten geschlagen, der Sozialismus schritt sieghaft voran, und national wurde zunehmend auf die DDR angewendet.

In der Bürokratie wie in der Ideologie scheute man sich nicht, auf altdeutsches Sprachgut zurückzugreifen. Zwar gab es keine Beamten und kein Reich mehr, wohl aber die Deutsche Reichsbahn samt MITROPA. Ordens- und Titelsucht feierten fröhliche Urständ. Das Petschaft (in der DDR: die Petschaft), mit dem Wertgelasse, Panzerschränke und Büroräume gesiegelt wurden, galt als Daseinsbeweis mittlerer und höherer Kader.

Der Veteran kam im Arbeiter-, Partei- oder im Veteranenklub zu neuen Ehren, Armee, Betriebe und Schulen richteten Traditionskabinette ein. An den Universitäten tummelten sich Magnifizenzen, Dekane und Aspiranten, und auf die facultas docendi statt der schlichten Lehrbefähigung wurde Wert gelegt. Im Gesundheits- und Bildungswesen streute man großzügig Ehrentitel wie Sanitäts- und Oberstudienrat, und noch dem letzten Postgehilfen wurde ein Dienstrang attestiert.

In vielen Industrie- und Wirtschaftszweigen überlebte Überkommenes: das Vervielfältigungsverfahren Ormig beispielsweise oder die Kerb-Lochkarte, mit der selbst die Staatssicherheit lange hantierte. Die kümmerte sich z. B. zunehmend um den ausufernden Funkschutz im Nachrichtenwesen, den die Nationalsozialisten nach kommunistischen Anschlägen auf die Übertragungswege des Rundfunks erfunden hatten. Auch der Störsender war nicht neu.

Eine dritte, besonders munter sprudelnde Quelle sprachlicher Beeinflussung stellte in ganz Deutschland die Anwesenheit der Besatzungsmächte dar. Während sich der Westen bedenkenlos den Anglizismen ergab, ließ sich der Osten mit Substantivierungen, endlosen Genitivfolgen und bizarren Slawismen überschwemmen, von denen die meisten ebenfalls einen angloamerikanischen oder romanischen Ursprung haben: Dispatcher, Kombine und Kombinat, Brigade und Brigadier, Estrade und Magistrale, ja selbst das Territorium, die Organe und die vielzitierten Kader. Über das Russische gelangten Objekt und Aktiv, der Fakt(or), die Fonds, die Diversion und der Diversant, die Direktive und das Kollektiv, das Ambulatorium und der Stomatologe, die Initiative samt Prämie, das Normativ, die Havarie und die Kooperative, der Traktorist und der Agronom, Valuta, Rekonstruktion und Perspektive sowie die Universalvokabeln komplex und operativ in den ostdeutschen Sprachgebrauch, in dem die feierliche Manifestation, das Festival, die Estrade und das Ensemble zu neuem Ruhm aufstiegen. Kontor, das alte Wort für Büro, kehrte aus dem Osten heim. Sportvereine hießen (und heißen) nach sowjetischem Vorbild Dynamo, Motor, Traktor, Energie oder Turbine.

Die Zahl der tatsächlich aus dem Russischen stammenden Wörter blieb dagegen gering. Wodka, Datsche, Soljanka und Sputnik zumindest kannte jeder so gut wie den Unterschied zwischen Astronaut und Kosmonaut. Letzterer wohnte nicht irgendwo auf der Kolchose, sondern im Sternenstädtchen und aß dort Schaschlik, Borschtsch oder Pelmeni.

Eine freiwillige Arbeitsschicht am Sonnabend hieß seit Lenins Zeiten Subbotnik, ein Timurtrupp waren helfende Junge Pioniere, und eine Feier artete manchmal zum Prasdnik aus. Rabotten verstand jeder, wollte aber keiner, da konnte der Natschalnik (Vorgesetzte) noch so oft dawai (vorwärts) rufen. Der war bloß ein Apparatschik. Arbeiten konnte man an der BAM, der Baikal-Amur-Magistrale, oder an der Trasse, der Erdölleitung Drushba (Freundschaft).

Dass es sich bei der Wandzeitung, beim Wettbewerb und beim Gegenplan, ja selbst bei der Anrede Bürger um Übersetzungen aus dem Russischen handelte, wussten wahrscheinlich die wenigsten Ostdeutschen, beim weitverbreiteten Rat (der Stadt, des Kreises o. Ä.) ist das so ungewiss wie beim Politbüro und beim Zentralkomitee. Zwei-, Vier- und Fünfjahr(es)pläne gab es bei Göring wie bei Stalin und in der DDR. Authentisch russisch ist die Herkunft der selbstgewählten Berufsbezeichnung Tschekist für einen Angehörigen des MfS. Die gefürchtete sowjetische Tscheka und ihre Nachfolgeorgane waren ein besonders abscheulicher Terrorapparat. Der DDR-Euphemismus Kundschafter für Agenten im auswärtigen Einsatz stammt hingegen aus dem Mittelhochdeutschen.

Da es im Vaterland aller Werktätigen den Titel Held der Sowjetunion gab, musste eine vergleichbare Auszeichnung für die DDR her. Helden der DDR waren neben dem ersten deutschen KosmonautenVorsitzende des StaatsratsTschekist