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Genau hinsehen

 

 

 

Alice Schwarzer / Vorwort

Silvester 2007 habe ich in Algier gefeiert. In meiner »algerischen Familie«. Wir haben bis nachts um vier getanzt, nach arabischen wie westlichen Klängen. Wir, das waren auf der algerischen Seite: Meine Kollegin Djamila, die fünf Jahre lang bei mir in Köln Zuflucht gesucht hatte, weil sie in ihrer Heimat in Lebensgefahr war: Als unverschleierte Frau und kritische Journalistin stand sie ganz oben auf den Todeslisten der marodierenden Islamisten. Neben ihr rockte ihre gläubige, unverschleierte Schwester Zohra mit Ehemann Zahar, ein Möbelhändler, der in die Moschee geht und gerne Wein trinkt. Dazwischen die Töchter Lili und Mounia, die es in den »Schwarzen Jahren« gewagt hatten, jeden Tag ohne Kopftuch zur Uni zu gehen, und das so manches Mal nur knapp überlebt haben. Nicht dabei war Djamilas alte Mutter, die das weiße, traditionelle Kopftuch trägt und jedes Jahr nach Mekka pilgert (wo sie seit Jahren auch für mich betet).

Doch am ausdauerndsten tanzte der Sohn des Hauses, Ganoud, tief gläubig und resolut lebenslustig. Wenn der Mittzwanziger mit uns durch die Stadt und an der Küste lang streifte, lautete jeder dritte Satz, mal ernst, mal lachend: »Alice, le prophète a dit …« Natürlich habe ich ihn damit aufgezogen. Aber ich habe ihn auch ernst genommen. Und er ist bis heute mein Maßstab: Ganoud, der sauer ist über die »Arroganz und Hegemonie des Westens«. Wenn ich mal wieder die Islamisten angreife, frage ich mich: Was würde Ganoud wohl dazu sagen? Und es würde mich tief beschämen, wenn er eines Tages auch mich in einen Sack mit den »arroganten Westlern« stecken würde. Bisher ist das nicht geschehen. Ganoud und ich, wir bleiben im Dialog. In einem echten Dialog.

Denn der falsche Dialog und die so lange praktizierte falsche Toleranz haben allen geschadet, nicht nur uns Westlern, sondern allen voran der Mehrheit der nicht fundamentalistischen Menschen im muslimischen Kulturkreis, Gläubigen wie Ganoud und Nichtgläubigen wie Djamila.

Diese falsche Toleranz hat den Westen 30 Jahre lang wegsehen lassen: beim Iran, wo die Menschenrechte seit 1979 mit Füßen getreten werden; in Afghanistan, wo die Taliban mit aktiver Unterstützung Amerikas (und Deutschlands!) die sowjetischen Besatzer verjagten und 1992 die Terrorherrschaft übernahmen; in Tschetschenien, wo nicht nur die russische Soldateska von Übel ist, sondern auch die Islamisten ein Problem sind, die bereits 1996 (!) die Scharia einführten; in Algerien, wo die sogenannten »Afghanen«, die aus dem Krieg in Afghanistan zurückgekehrten Söldner, in den 1990er-Jahren einen Bürgerkrieg anzettelten, der über 100.000 Menschen das Leben kostete; in Schwarzafrika, wo der von den Gotteskriegern gezündelte Flächenbrand unaufhaltsam um sich greift – und in Europa, wo wir es zugelassen haben, dass mitten unter uns Menschen als »die Anderen«, als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt werden und der Rechtsstaat relativiert wird. »Die Kulturfalle« nennt das die Fatwa-verfolgte Khalida Messaoudi-Toumi, die als Mathematiklehrerin jahrelang auf der Flucht war und heute algerische Kulturministerin ist.

Dabei war alles von Anfang an klar. Als ich 1979 zusammen mit einer kleinen Gruppe französischer Intellektueller wenige Wochen nach der Machtergreifung Khomeinis im Iran war – dem Hilferuf entrechteter Frauen folgend – haben wir mit zahlreichen Verantwortlichen des neuen Regimes gesprochen: mit Ministerpräsident Bazargan (der wenig später ins Exil floh), mit Ober-Ayatollah Talegani (der später ermordet wurde) und mit den neuen Führerinnen der Iranischen Frauenunion (von denen bald viele spurlos verschwanden). Diese in Granit gemeißelten »Heldinnen der Revolution« hatten den Schah mit der Kalaschnikow unter dem Tschador verjagt oder waren aus dem Exil zurückgekehrt.

Sie alle waren aufgeklärte und hochgebildete Menschen. Und sie alle antworteten auf unsere Fragen: Ja, wir wollen den Gottesstaat! Ja, wir werden die Scharia einführen, das ist Allahs Wille! Ja, selbstverständlich steht dann Tod durch Steinigung auf Homosexualität oder Ehebruch (der Frau)! Und dabei lächelten sie liebenswürdig.

Nein, die Islamisten haben nie einen Hehl aus ihren Absichten gemacht. So wenig wie einst die Nationalsozialisten. Auch in »Mein Kampf« stand ja schon alles drin. Auch wir hätten es damals wissen können, ja müssen. Und auch die aufgeklärten Muslime haben lange, zu lange geschwiegen – aus Angst, des »Verrats« an der eigenen Community bezichtigt zu werden. Die Ersten, die redeten, waren nicht zufällig die Töchter, die sich nicht länger wegsperren und zwangsverheiraten lassen wollten.

Als ich damals nach wenigen bewegenden Tagen Iran wieder verließ, schrieb ich: »Sie alle waren gut genug, für die Freiheit zu sterben – sie werden nicht gut genug sein, in Freiheit zu leben.« (siehe Seite 30) Und seither hat EMMA nicht aufgehört, über die Gefahr des Islamismus zu berichten und vor den Folgen zu warnen.

Die nachfolgenden Beiträge sind in den vergangenen Jahren in EMMA erschienen. Sie stammen von Betroffenen – wie der Deutschtürkin Necla Kelek, der Algerierin Djemila Benhabib oder anonymen deutschen Konvertitinnen – und Expertinnen: wie der Philosophin Elisabeth Badinter, der Islamwissenschaftlerin Rita Breuer oder der Journalistin Antonia Rados. Sie alle beschäftigen sich übrigens nicht mit dem Islam als Religion. Der ist eine Glaubensfrage und seine Reformierung in erster Linie Sache der Muslime selbst – Ihnen allen geht es um den Islam als politische Strategie, den Islamismus.

Die islamistischen Agitateure werden nicht selten ausgebildet in Iran oder Afghanistan bzw. Ägypten und finanziert von Saudi-Arabien. Sie haben es verstanden, ihre wahren Motive zu verschleiern und Gutgläubige im Namen einer falschen »Toleranz« und »Religionsfreiheit« in die Irre zu führen. Doch ihr wahres Motiv ist nicht der Glaube, es ist die Macht.

In Deutschland sind die Islamisten vor allem in den Universitäten, bei den Protestanten und im alternativen Milieu auf offene Ohren gestoßen. Hierzulande waren das schlechte Gewissen und die Angst, wieder etwas falsch zu machen in Sachen Fremdenliebe, besonders groß. Und groß war auch die Bereitschaft gläubiger Altlinker, nach dem Tod ihrer Götter Mao und Che Guevara, neuen Göttern zu folgen: Allahu Akbar! Vermutlich hätten die jungen Konvertiten der sogenannten »Sauerlandgruppe«, die beinahe ein blutiges Attentat unvorstellbaren Ausmaßes mitten in Deutschland angerichtet hätten, ein, zwei Generationen zuvor bei der RAF mitgemacht.

Doch sind in Europa heute eigentlich (noch?) nicht die islamistischen Terroristen das Problem. Das wahre Problem ist die systematische Unterwanderung unseres Bildungswesens und Rechtssystems mit dem Ziel der »Islamisierung« des Westens, im Klartext: die Einführung der Scharia mitten in Europa. Europas charismatischster islamistischer Propagandeur einer Islamisierung – und gern gesehener Gast bei renommierten akademischen und politischen Kolloquien – ist Tariq Ramadan. Der Mann mit dem Schweizer Pass ist ein Enkel des Gründers der ägyptischen Muslimbrüder, die die Urzelle der Islamisten waren.

Die eilfertigsten HelferInnen dieser Kräfte sind heute oft KonvertitInnen, und das in allen Lebensbereichen: an Universitäten, im Rechtswesen wie in den Medien. Diese Konvertiten sind mal offen, mal verdeckt konvertiert. Je nach Strategie. Die Taktik der Alt- und Neu-Islamisten ist seit dem 11. September 2001 mehr denn je die Verschleierung: die Verschleierung ihrer Absichten wie die Verschleierung der Frauen. Doch unabhängig von den jeweils subjektiven Motiven der verschleierten Frauen selbst (die durchaus lauter sein können), ist die objektive Bedeutung eindeutig: Das Kopftuch ist seit dem Sieg Khomeinis im Iran 1979 weltweit die Flagge der Islamisten.

Wir dürfen nicht länger wegsehen, wir müssen hinsehen, genau hinsehen! Wem das bisher noch nicht klar war, dem öffnet die Lektüre dieses Buches hoffentlich die Augen.

 

Alice Schwarzer

Köln, Juli 2010

1 Mitten in Europa

Foto: Bettina Flitner

Demonstration »Gemeinsam für Frieden und gegen Terror« 2004 in Köln.

Alice Schwarzer / Die Realitäten in Deutschland

Es tut der Debatte gut, auf dem Boden der Tatsachen geführt zu werden. Und dank der ersten repräsentativen Studie, die vom Bundesinnenministerium in Auftrag gegeben wurde und für die circa »6.000 Personen aus 49 muslimisch geprägten Herkunftsländern« befragt wurden, wissen wir seit Sommer 2009 Folgendes:

In Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis, rund die Hälfte von ihnen hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Zwei Drittel dieser Menschen mit muslimischen Wurzeln sind türkischer Herkunft, der Rest kommt aus Südosteuropa, dem Nahen Osten oder Nordafrika. Nur ein Drittel dieser vier Millionen Menschen bezeichnet sich selbst als »stark gläubig«, der Rest als »eher gläubig« (50 Prozent) bzw. »eher nicht« oder »gar nicht« gläubig (14 Prozent). Es ist also falsch, Menschen muslimischer Herkunft zwangsläufig als »Muslime« zu definieren oder ihnen gar zu unterstellen, sie seien orthodox gläubig.

Auffallend ist: Knapp jeder zweite muslimische Mann geht »manchmal« oder »häufig« in die Moschee – aber nur jede vierte Frau. Da überrascht nicht, dass sieben von zehn Frauen muslimischer Herkunft noch nie ein Kopftuch getragen haben. Und sehr interessant ist, dass selbst von den Musliminnen, die sich als »stark gläubig« bezeichnen, nur jede Zweite »manchmal« oder »immer« ein Kopftuch trägt. Was im Gegensatz steht zu der Behauptung islamischer Funktionäre, für die Muslimin sei Religiosität zwangsläufig mit dem Tragen eines Kopftuches verbunden. Übrigens: Die zweite Generation der Migrantinnen verbirgt etwas seltener ihr Haar als die erste.

So also sieht die Lebensrealität der Mädchen und Frauen muslimischer Herkunft aus, gläubig oder nicht gläubig. Gleichzeitig aber herrscht in der Öffentlichkeit der Eindruck: Wer muslimischer Herkunft ist, sei automatisch auch religiös; und wer religiös sei, müsse sich zwingend an gewisse »Gebote« des Korans halten, wie Fastenzeit oder Kopftuch. Dieser Eindruck ist falsch. Denn er basiert nicht auf der Realität der in Deutschland lebenden MigrantInnen und ihrer Kinder und Enkelkinder, sondern auf der Ideologie rühriger Islamverbände.

Diese Islamverbände – von der staatlichen türkischen Ditib bis zu der vom Verfassungsschutz schon lange beobachteten Milli Görüs – stehen jedoch nicht für die Mehrheit der MuslimInnen, sondern für eine Minderheit. Nur die Hälfte der in Deutschland lebenden MuslimInnen hat laut Studie überhaupt schon mal von einem oder auch zwei dieser Verbände gehört, nur knapp jeder Fünfte ist in einem organisiert.

Bedenkt man, dass diese Verbände bisher den »Dialog« mit Politik, Kirchen und Medien quasi allein bestimmt haben, wird klar, wie unzureichend, ja irreführend dieser vermeintliche Dialog sein muss. Bisher kaum wahrgenommen und schon gar nicht berücksichtigt wurden die Interessen der 80 Prozent, die in keinem dieser Verbände und häufig auch gar nicht oder nur moderat gläubig sind – und von denen selbst die Hälfte der »sehr gläubigen« Frauen kein Kopftuch trägt.

Das wirft ein ganz neues Licht auf die Integrationsdebatte. Mehr noch: Es ist alarmierend, dass eine solche Minderheit in Bezug auf das »Muslimische Leben in Deutschland« (so der Titel der ministeriellen Studie) bisher den Ton angeben und behaupten konnte, für alle zu sprechen.

Diese Islamverbände, die von moderat bis fundamentalistisch gestimmt sind – und aus Mitgliederbeiträgen, von der Türkei oder gar von Saudi-Arabien finanziert werden –, erheben immer wieder den Vorwurf der »mangelnden Toleranz« der deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Ignoranz »muslimischer Glaubensfragen« inklusive seiner »religiösen Gebote«. Dass diese angeblichen »Gebote« in der Lebensrealität von Menschen mit muslimischem Hintergrund eine so unterschiedliche Rolle spielen können wie bei Menschen mit christlichem Hintergrund, wird dabei nicht gesagt.

Auch die Menschen aus dem christlichen Kulturkreis sind ja keineswegs alle gläubig und auch ihre Ansichten reichen von liberal bis fundamentalistisch. Auch sie würden es sich verbitten, von Menschen anderer Kulturkreise in erster Linie als »Christen« definiert zu werden. Allerdings fällt auf, dass die Politik in Deutschland auch hier bei Fragen, die den Kirchen wichtig sind, weniger mit den betroffenen Menschen spricht und eher mit den Kirchenvertretern.

Zum Beispiel beim Abtreibungsverbot, das die Kirchen in Deutschland gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung und gegen die Lebensrealität der Frauen immer wieder durchsetzten. So hatte die Politik die 2009 verabschiedete Verschärfung der Abtreibungen ab der 13. Woche zuvörderst mit den Bischöfen verhandelt und nicht mit Frauenberatungsstellen, ProFamilia oder ÄrztInnen.

Oft haben diese christlichen Vertreter durchaus ähnliche Interessen wie die islamischen Verbände: nämlich die Durchsetzung der Vorrangigkeit von Glaubensfragen vor Menschenrechtsfragen, nicht nur in Gottesstaaten, sondern auch in Demokratien. So wie bei den Vertretern Jesu die Abtreibung steht bei den Vertretern Mohammeds das Kopftuch im Fokus.

Das war nicht immer so. Erst seit dem Sieg des iranischen Gottesstaates im Jahr 1979 ist das Kopftuch das Symbol und die Flagge der Islamisten, des politisierten Islam, und hat in den 80er-Jahren seinen Kreuzzug bis in das Herz von Europa angetreten. Seither streiten die Islamisten – also die Schriftgläubigen, die sich wortwörtlich auf den Text des im Jahr 632 geschriebenen Korans berufen – in Deutschland für das »Recht« auf das Kopftuch auf allen Ebenen, bis hinein in die Schulen, ja sogar in die Kindergärten. Und nicht selten kommen die Eltern direkt aus dem harten Kern dieser Islamverbände.

Zum Tragen des Kopftuches, das die Mädchen als die »Anderen« sozial ausgrenzt und körperlich einengt, gehört eine ganze Palette von Sonderbehandlungen, die diese Eltern für ihre Kinder in der Schule verlangen. Die Proteste und Prozesse von Eltern werden in der Regel von den Islamverbänden unterstützt, die auch die juristischen Argumente und Strategien für die Eltern ausarbeiten. Immer geht es dabei um die Trennung der Geschlechter oder, so diese in deutschen Schulen verweigert wird, um die Befreiung von der Teilnahme der Mädchen am Schwimmunterricht und Sportunterricht, an den Schulausflügen und am Sexualkundeunterricht.

Das alles sind Fächer, die wir heute für die geistige und körperliche Bildung sowie für die Entwicklung von Gemeinschaftssinn in unseren Schulen für unerlässlich halten. Ganz zu schweigen von dem zentralen Prinzip der Koedukation, das ein Grundstein der Gleichberechtigung ist. Im gemeinsamen Unterricht können Jungen und Mädchen das traditionell Trennende überwinden und erleben, wie viel sie gemeinsam haben; sie sollen sich nicht fremd bleiben, sondern vertraut werden. Die Koedukation ist also unverzichtbar für jede geschlechtergerechte Erziehung.

In der Vergangenheit haben Richter sich immer wieder von einer oft gut gemeinten, jedoch meist naiven Toleranz leiten lassen und durch ihre Urteile zur Sonderbehandlung zur Diskriminierung von muslimischen Mädchen beigetragen, indem sie den Eltern-Anträgen auf »Befreiung« vom Unterricht zugestimmt haben. Dies scheint sich gerade zu ändern.

In Nordrhein-Westfalen, wo jeder dritte Mensch muslimischer Herkunft in Deutschland lebt, ergingen jüngst zwei Urteile, die die Hoffnung aufkommen lassen, dass der Offensive der Islamverbände endlich Einhalt geboten wird. So entschied das Oberverwaltungsgericht Münster zweimal im Interesse des Kindes, zuletzt am 30. Juni 2009, wo es das Begehren einer Familie zurückwies, eine Elfjährige vom Schwimmunterricht zu befreien.

Die Schülerin geht seit 2008 auf das Goethe-Gymnasium in Düsseldorf. Bei der Aufnahme unterzeichnete die Mutter eine Erklärung, dass das Mädchen auch am Schwimmunterricht teilnehmen werde – allerdings erst, nachdem Schuldirektorin Glenz der Mutter versichert hatte, das Mädchen dürfe auch im »Burkini« schwimmen (das ist ein Stoffgewand ähnlich den Badeanzügen, die in unserem Kulturkreis im 19. Jahrhundert von Frauen getragen wurden). Trotz dieses Einverständnisses forderten die Eltern der Elfjährigen wenig später die Befreiung ihrer Tochter vom Schwimmunterricht. Das Gericht befand, dies sei ein Verstoß gegen »Treue und Glauben«, denn schließlich hatten die Eltern der Minderjährigen zuvor der Koedukation schriftlich zugestimmt.

Dasselbe Gericht – zuständig für NRW, wo die Islamverbände besonders aktiv sind – hatte bereits am 20. Mai 2009 in einem anderen Urteil festgestellt: »Muslimische Mädchen im Grundschulalter haben grundsätzlich keinen Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht.« In dem Fall ging es um eine Neunjährige (!), die die Grundschule in Gelsenkirchen besucht. Deren Eltern sind der Auffassung, dass Mädchen ab dem siebten Lebensjahr zu verhüllen seien, um sie »vor sexuellen Versuchungen zu bewahren«. Auch der »Burkini« schien diesen Eltern keine Lösung, da er sich im Wasser vollsauge und ihre Tochter beim Schwimmen behindere, ja eine regelrechte Gefahr für ihr Leben sei. Was richtig ist. Und es ist eigentlich schwer nachvollziehbar, warum deutsche Schulen überhaupt gestatten, dass die armen Mädchen unter diesen Stoffhaufen ins Wasser stolpern.

Immerhin steht das nordrhein-westfälische Schulministerium inzwischen hinter Schulleiterinnen wie Renate Glenz. Es kommentierte die Münsteraner Entscheidung mit den Worten: »Es wäre ein Zeichen falsch verstandener Toleranz, wenn die Teilnahme muslimischer Schülerinnen und Schüler an Schulveranstaltungen in das Belieben islamischer Verbände gestellt würde.«

Umso erstaunlicher die »Handreichungen« aus dem Jahr 2008 des NRW-Integrationsministeriums, die die islamischen Gebote als »religiöse Pflicht« für alle Muslime darstellen und Eltern, die ihren Töchtern den Schwimmunterricht untersagen wollen, für besonders »liebevoll« halten. Und ganz ähnlich ist leider der Tenor des im Juni 2009 veröffentlichten »Zwischen-Resümees« der von Innenminister Schäuble einberufenen »Deutschen Islam Konferenz«. Zwar saßen darin Muslime und Christen, Gläubige und Nichtgläubige, doch stehen die zehn Seiten (von insgesamt 32) »Handreichungen für Schule und Elternhaus« zu »religiös begründeten schulpraktischen Fragen« unverrückbar und schriftgläubig auf dem Boden des Korans.

In diesen vom Innenministerium veröffentlichten »Handreichungen« wird einfach behauptet, die Religionsfreiheit habe Vorrang vor dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der koedukative Sportunterricht wird als problematisch »aus religiösen Gründen« bezeichnet, und es wird empfohlen, im Konfliktfall »Schülerinnen von der Teilnahme an einzelnen Übungen zu befreien«; zum Beispiel wenn das Kopftuch beim naturwissenschaftlichen Unterricht Feuer fangen könnte (sic!).

Das Zehn-Seiten-Papier wurde u.a. von einem der führenden Experten islamischen Rechts in Deutschland, Prof. Mathias Rohe, verfasst. Rohe, der nach eigener Aussage 1978/79 in Saudi-Arabien »als Koch« gearbeitet hat und seit Mitte der 70er-Jahre regelmäßig islamische Länder in aller Welt bereist, hat von 1981–1989 Recht in Tübingen und Damaskus studiert. Er gilt heute in Deutschland vielen als der juristische Experte für die Anwendung bzw. Vereinbarkeit des islamischen Rechts – also der Scharia – mit dem deutschen Recht und gibt sich an etlichen Punkten neuerdings auch durchaus kritisch.

Derselbe Rohe erklärte noch vor einigen Jahren in der Frankfurter Rundschau kritiklos: »In Deutschland wenden wir jeden Tag die Scharia an. Wenn Jordanier heiraten, dann verheiraten wir sie nach jordanischem Recht. Die Menschen haben in diesen privaten Verhältnissen Entscheidungsfreiheit.« Einen Vortrag Rohes von März 2003 resümierte die »Bundeszentrale für politische Bildung« mit den Worten: Dass auch die Scharia »Recht sei und im Wesentlichen dieselben Funktionen erfülle wie die Rechtsordnungen westlicher Gesellschaften. (…) Aus westlicher Sicht bereite das Rechtsverständnis der Scharia keine größeren Probleme.«

2006 kritisieren Soziologen scharf eine Moslem-Studie, die Rohe im Auftrag des österreichischen Innenministeriums erstellt hatte, wegen »gröbster methodologischer und technischer Mängel« – im gleichen Jahr beruft das deutsche Innenministerium ihn in die Islam Konferenz. Zwei Jahre später, 2008, gründet Rohe in Erlangen ein »Zentrum für Islam und Recht in Europa«.

In dem von Rohe mitredigierten Papier der Islam Konferenz werden in Ratgebermanier auch noch die letzten Spitzfindigkeiten innerhalb der rechtsstaatlichen Grenzen für muslimische Eltern ausgetüftelt, die ihren Töchtern eine gleichberechtigte Teilnahme in der Schule verwehren und auch Minderjährigen das Kopftuch diktieren wollen. Hier wird deutlich, wie selbstverständlich der Einfluss der Scharia auf das deutsche Rechtssystem heute schon ist – und dass der Prozess der »Schariasierung« des deutschen Rechtsstaates noch lange nicht am Ende ist. Zum Schaden aller Menschen, insbesondere Frauen muslimischer Herkunft – und zur Beschädigung der demokratischen Schule, in der alle die gleichen Chancen haben sollten.

Darum: Wehret endlich den Anfängen! Das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an deutschen Schulen hat ein Signal gesetzt. Es musste über Jahre gegen die von Islamverbänden unterstützte oder gar initiierte Welle von Prozessen verteidigt werden. Das scheint gelungen zu sein. Jetzt ist der zweite Schritt fällig: Ein Kopftuch-Verbot für Schülerinnen! Nur dieser konsequente Akt gäbe den kleinen Mädchen aus orthodoxen bis fundamentalistischen Familien endlich die Chance, sich wenigstens innerhalb der Schule frei und gleich bewegen zu können. Ob die Mädchen dann nach der Schule das Kopftuch wieder aufsetzen, das wäre dann ihre Sache – bzw. die der Eltern, solange sie unmündig bzw. abhängig sind.

Frankreich hat mit dem 2004 erlassenen Kopftuch-Verbot beste Erfahrungen gemacht. Nachdem zahlreiche Islamverbände zunächst Sturm liefen, entführten sogar fundamentalistische Terroristen im Irak vor Einführung des Verbots im Sommer 2004 zwei Journalisten als Geiseln, um das französische Kopftuch-Verbot zu kippen – was alle, inklusive der Muslimverbände, empört hat. Seither hat es sich bewährt. Die kopftuchfreie Schule ist jenseits des Rheins längst Alltag. Die Schülerinnen und Schüler aller Kulturen finden es selbstverständlich, dass das stigmatisierende Stück Stoff nicht mehr zwischen ihnen steht. Und die LehrerInnen sind erleichtert. Sie können unterrichten, statt immer wieder dieselben pseudoreligiösen Debatten führen zu müssen, angezettelt von Kindern islamistischer Eltern. Sie haben endlich klare Verhältnisse.

EMMA 5/2009

Alice Schwarzer / Was hinter dem Schweizer Minarett-Verbot steckt

Im Laufe des Jahres 2009 war ich mehrfach in der Schweiz und in Österreich unterwegs. Und immer wieder war da der Islam Hauptthema, hinter verschlossenen Türen wie bei öffentlichen Diskussionen; genauer: der Islamismus, diese politische Instrumentalisierung des Glaubens. Wenn Intellektuelle, JournalistInnen oder PolitikerInnen mit mir darüber sprachen, schlossen sie meistens die Türe und senkten die Stimme. Wie ich denn die Entwicklung so einschätze – und was man in ihrem Land wohl tun könne … Ihnen selbst seien leider die Hände gebunden, denn jede Kritik am Islamismus sei ja so leicht misszuverstehen als Islamophobie, ja Rassismus.

Ich entgegnete jedes Mal freiheraus, sie sollten nur keine Scheu haben. Die Kritik an einem demokratie- und emanzipationsfeindlichen Islamverständnis sei doch selbstverständlich, auch für aufgeklärte MuslimInnen. Und nur die Minderheit der Islamisten wolle das missverstehen. Die Mehrheit der MuslimInnen wäre hoch erleichtert, wenn diese auch sie bedrängenden Fanatiker und Gotteskrieger endlich in die Schranken gewiesen würden. Sie, die MuslimInnen, seien schließlich die ersten Opfer der Islamisten.

Vor allem aber erwiderte ich den Zaghaften: Mit einer offenen und aufgeklärten Kritik an dieser Entwicklung sprecht ihr auch der Mehrheit der Bevölkerung aus dem Herzen. Denn die Menschen in der Schweiz oder in Österreich, in Deutschland oder in Frankreich, haben zu Recht ein steigendes Unbehagen. Und sie sind es langsam leid, dies im Namen einer falschen Toleranz und bigotten Liberalität unterdrücken zu müssen.

2009 also hat es in der Schweiz gesprochen, das Volk – und ein Aufschrei ging durch das Europa der Medien und Politik. Am 29. November haben bei einer Volksabstimmung 57 Prozent aller SchweizerInnen für ein Verbot des Baus von Minaretten gestimmt, darunter, heißt es, auffallend viele Junge und Frauen.

Der Volksabstimmung war eine polemische, hoch populistische Kampagne vorausgegangen, die Minarette als Gewehrläufe darstellte und Parallelen zur Burka zog. Nicht zuletzt darum waren sich im Vorlauf zur Abstimmung alle guten Schweizer ganz sicher: Das Verbot kommt nicht durch. Auch kannten sie selbst niemanden, der dafür gewesen wäre.

Und nun? Schock. Was sollen nur die anderen von uns denken? Werden die Muslime der Welt jetzt etwa beleidigt sein? (Und keine Geschäfte mehr mit uns machen?) Sind die Schweizer ein besonders dummes, islamophobes, rassistisches Volk? Und was wird Europa dazu sagen?

Als Erste distanzierten sich in der Tat europäische Spitzenpolitiker. Er sei »ein wenig beleidigt darüber«, dass die Schweiz so »intolerant« sei, ließ der multikulturelle französische Außenminister Bernard Kouchner wissen. Und die fortschrittliche schwedische Justizministerin Beatrice Ask erklärte: »Ich glaube an die Freiheit. Und ich denke nicht, dass wir ein neues Europa ohne das Recht auf Meinungsäußerung bauen können.«

Nun, dass jetzt auch schon die Franzosen bei Kritik am Islam »beleidigt« sind und die Schweden beim Minarett-Verbot die »Meinungsfreiheit« gefährdet sehen, überrascht. Denn selbstverständlich dürfen auch in der Schweiz in Zukunft Moscheen (ohne Minarette) gebaut werden und wird kein Muslim daran gehindert zu beten.

Noch verwunderlicher aber sind die Reaktionen einiger deutscher Blätter. So ist das Schweizer Volksvotum für die Hamburger Zeit »ein schwarzer Tag für Europa, für den Westen und für die Freiheit«. Und der Berliner Tagesspiegel ortete gar einen »Rückfall hinter die Errungenschaften der Aufklärung« und einen »krachenden Tritt gegen Vernunft und Wissen«.

Nur die Bild-Zeitung, als erfolgreiches Boulevardblatt verpflichtet, die Hand am Puls des Volkes zu haben, vermeldete am 2. Dezember triumphal: Von 169.600 abgegebenen Stimmen seien 82 Prozent der Bild-LeserInnen ebenfalls für ein Verbot von Minaretten gewesen – um zwei Tage darauf zurückzurudern mit der Schlagzeile: »Deutsche sind gegen ein Minarett-Verbot«. Was war geschehen? Bild am Sonntag hatte eine repräsentative Emnid-Umfrage in Auftrag gegeben. Und danach plädierten nur noch 38 Prozent der Deutschen für ein Minarett-Verbot (und 48 dagegen). Bild-Leser sind also stärker gegen Minarette als andere.

Große Aufregung. Allein, die meiner Meinung nach wichtigste Frage wurde bisher kaum gestellt: Warum haben 57 Prozent der SchweizerInnen sich für das Minarett-Verbot entschieden? Was steckt hinter dieser rigorosen Ablehnung von Türmen aus Stein, von denen aus der Muezzin zum Gebet ruft? Denn das ist doch klar: So ein Minarett tut eigentlich niemandem weh – zumindest solange es sich nicht demonstrativ machtvoll (wie in Köln) oder via Lautsprecher lärmend (wie in Rheinfelden an der Schweizer Grenze) in den Himmel reckt.

Nein, hinter dieser Minarett-Abstimmung steckt natürlich viel mehr: nämlich das ganze Unbehagen! Das Unbehagen an den Gottesstaaten und ihren Steinigungen und Selbstmordattentaten. Das Unbehagen an der (Zwangs-)Verschleierung von Frauen selbst mitten in Europa. Das Unbehagen an der Zwangsverheiratung von hierzulande aufgewachsenen Töchtern und Söhnen. Das Unbehagen an der statistisch nachweisbaren höheren Gewalt in traditionellen muslimischen Familien. Das Unbehagen an der Relativierung von Emanzipation und Rechtsstaat, ja der ganzen Demokratie – und das im Namen »anderer Sitten« und eines »wahren Glaubens«. Kurzum: die Sorge um die in den letzten 200 Jahren so mühsam und blutig erkämpften Menschenrechte im Westen.

Über dieses Unbehagen muss endlich öffentlich geredet werden! Von Journalisten wie Politikern, hinter deren angeblicher »Toleranz« gar zu oft ganz einfach Angst steckt: Angst vor Kontroversen, Angst vor gewalttätigen Islamisten und, last but not least, Angst vor wirtschaftlichen Einbußen, denn die Geschäfte mit den islamischen Ländern florieren.

Doch die Debatte lässt sich nicht länger gewaltsam unterdrücken. Umfragen belegen: Die Mehrheit der Europäer (55 Prozent) sieht im Islam heute eine »Religion der Intoleranz«. Und 78 Prozent stimmen dem Satz zu: »Die muslimischen Ansichten über Frauen widersprechen unseren Werten.« (Die restlichen 22 Prozent sind der bekannte harte Kern der Frauenverachter auch in unserer Kultur.)

Nicht anders sieht das zum Beispiel die Alevitische Gemeinde Deutschland e.V., sie sind die Liberalen unter den organisierten Muslimen. Sie warnt »nachdrücklich davor, das Abstimmungsergebnis als bloße Islamophobie oder gar Ausländerhass zu interpretieren«. Die Schweizer Volksabstimmung sei »vielmehr Ausdruck eines zunehmenden Gefühls der Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung, nicht nur in der Schweiz. Diese Verunsicherung durch einen politisch instrumentalisierten Islam verspüren insbesondere auch alevitische Menschen in Europa. Dieser Umstand muss von der Politik endlich ernst genommen werden. Denn die Gründe hierfür sind alles andere als irrational.«

Ali Ertan Toprak, der 2. Bundesvorsitzende der Alevitischen Gemeinde, fährt fort: »Eine Tabuisierung dieser Ängste sowie die politische Verunglimpfung von berechtigter Kritik am Islam als Religion und Islamverbänden als deren Repräsentanten in Europa schadet in allererster Linie den in Europa lebenden Muslimen selbst.«

So ist es. Und das wird von vielen seit 30 Jahren – seit Beginn des Siegeszuges des Islamismus nach dem Sieg Khomeinis im Iran – ignoriert: dass das Gewährenlassen oder gar der falsche Dialog mit den Islamisten alle anderen Menschen aus dem muslimischen Kulturkreis diesen Fanatikern nur noch stärker ausliefert. Mit ihnen, mit der Mehrheit der – noch – friedliebenden, demokratisch gesinnten MuslimInnen auf der Welt, müssen wir solidarisch sein!

Es war in der Minarett-Debatte keine große Überraschung, dass der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die schärfsten Worte fand. Er erklärte: Islamophobie sei wie Antisemitismus ein »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Die Schweizer Volksabstimmung sei ein Zeichen der »zunehmenden rassistischen und faschistischen Haltung in Europa«. Und er riet, klar, seinen Landsleuten zu einem Wirtschaftsboykott und zur Auflösung von Schweizer Konten.

Dabei hat niemand so beunruhigend wie Erdogan die Funktion von Minaretten benannt. So zitierte er 1998 zustimmend den türkischen Dichter Ziya Gökalp mit den Worten: »Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.« Das war vor elf Jahren, da war Erdogan noch Bürgermeister von Istanbul. Für diese Worte schickten ihn die laizistischen türkischen Richter zehn Monate ins Gefängnis – wo der Islamist angeblich eine wundersame Wandlung erfuhr oder vielleicht auch nur seinen Sprachgebrauch änderte.

Seit er in die EU will, hat der offen islamistische Präsident der Türkei den Ton (meist) geändert, auch wenn seine Frau weiterhin islamistisch verschleiert ist (haarverdeckendes Kopftuch und knöchellanger Mantel) und seine Töchter im Ausland studieren, weil sie in der laizistischen Türkei an der Uni kein Kopftuch tragen dürfen. Was sich ändern würde, wenn die Türkei in die EU einträte. Dann herrscht auch dort »Religionsfreiheit« – das heißt freie Fahrt für die Islamisten.

Also: viele sehr gute Gründe für alle Menschen in Europa, endlich offen über ihr Unbehagen an einem demokratiefeindlichen Islamverständnis reden zu können – und nicht länger hinter verschlossener Türe darüber zu flüstern.

EMMA 1/2010

Rita Breuer / Wird Deutschland islamisch?

»Immer mehr Deutsche konvertieren zum Islam«, »Über 2.000 Moscheen in Deutschland – Tendenz steigend«, »Keine Klassenfahrten mehr in Schulen mit muslimischer Schülermehrheit« – so und ähnlich lauten die Meldungen, die uns warnen oder glauben machen wollen, die Islamisierung Deutschlands sei kaum noch abzuwenden oder stehe gar unmittelbar bevor. Dabei bildet sich eine merkwürdige Allianz aus Agitatoren eines politischen Islam, die genau dieses Ziel verfolgen; aus leidenschaftlichen Islam-Gegnern, die sich mit einer dauerhaften Präsenz des Islam in Deutschland nicht abfinden wollen und Panik schüren; und aus unverbesserlichen ›Gutmenschen‹, die sich nach wie vor verpflichtet fühlen, alle Werte und Lebensformen, die ihrem Ursprung nach weder deutsch noch christlich sind, besser zu finden als das Eigene. Einer sachlichen Diskussion über Gegenwart und Zukunft von MuslimInnen in Deutschland und einer menschlich wie politisch angemessenen Form der Begegnung schaden sie allemal.

Im April 2008 wurde der TV-Film ›Luise – eine deutsche Muslima‹ mit dem Grimme-Preis in der Kategorie ›Information und Kultur‹ ausgezeichnet. Luise ist im Alter von 19 Jahren zum Islam konvertiert, heiratete einen algerischen Studenten und vertiefte sich innerhalb weniger Jahre in die neue Lebens- und Glaubenswelt. In ihrer strengen Verhüllung, die nur noch Gesicht und Hände offen lässt, will sie deutlich erkennbar sein als überzeugte Muslima und hofft, durch diesseitigen Verzicht und die strenge Einhaltung von Regeln das Paradies zu gewinnen. Die traditionelle Rollenteilung, der klare und unmissverständliche Handlungsleitfaden für den Alltag, das alles findet sie gut. Frauenfeindlich – so Luise – sei der Islam keineswegs und sie hört lächelnd zu, wenn ihr Ehemann Mohammed erläutert, welche Berufstätigkeit er seiner Frau gegebenenfalls gestatten würde und welche nicht.

Dies ist einer von vielen Momenten, in denen aufmerksame ZuschauerInnen Luise Fragen stellen möchten, aber die sind nicht vorgesehen. Stattdessen werden wir Zeuge, wie die verzweifelte Mutter ebenso wie der Stiefvater alles tun, um mit der Tochter und ihrer neuen Lebenswelt im Austausch zu bleiben, und doch erleben müssen, wie bei dem jungen Paar Verachtung für die Lebensweise der Eltern wächst und der Graben zwischen der Welt, aus der Luise kommt, und der Welt, in die sie sich begeben hat, immer tiefer wird. Warum auch immer ein Film zu einem so brisanten Thema, der jede kritische Frage ausspart und offene Widersprüche nicht konfrontiert, ausgezeichnet wird, das sei dahingestellt. Doch ist er eines von vielen Beispielen, die eine Hinwendung von Deutschen zum Islam suggerieren.

Natürlich ist der Islam eine missionarische Religion, die sich jeder anderen Religion überlegen fühlt und letztendlich weltweite Geltung für sich beansprucht. »Und wenn sie mit dir (über den Inhalt der Offenbarung) streiten, dann sag: Ich ergebe mich Gott, (ich) und wer mir folgt! Und sag zu denen, die die Schrift erhalten haben (Juden und Christen), und zu den Heiden: Wollt ihr (jetzt) den Islam annehmen? Wenn sie den Islam dann annehmen, sind sie rechtgeleitet. Wenn sie sich aber abwenden, so hast du nur die Botschaft auszurichten (und bist für ihren Unglauben nicht verantwortlich). Gott durchschaut die Menschen wohl.« (Koran 3:20)

So gilt es auch selbstverständlich als Recht oder sogar Pflicht eines jeden Muslims, einer jeden Muslimin, da ‘wa zu betreiben; andere also zum Islam einzuladen, aber auch nachlässige Muslime zu einer streng islamischen Lebensführung anzuhalten. Für die überwältigende Mehrheit der hier lebenden Muslime von areligiös bis streng religiös, spielen diese Überlegungen heute in Bezug auf ihre nicht muslimische Umgebung keine Rolle. Doch gibt es ein mehr und mehr deutliches Bemühen konservativer Verbände und Einzelkämpfer, den Auftrag des Korans und das Vorbild des Propheten ernst zu nehmen und auch auf die westliche Welt – Deutschland eingeschlossen – zu beziehen. Mit dem Hinweis auf eine wachsende Zahl konversionswilliger Europäer soll der Islam als die zukünftige Religion Europas erscheinen, für die offen geworben wird.

Dies gilt keineswegs nur für die extrem konservativen salafitischen Strömungen des Islam, die insbesondere in Gestalt des aggressiv-kämpferischen Konvertiten Pierre Vogel von sich reden machen, sondern auch für Moschee-Gemeinden, die dem türkischen Staatsislam, der in Deutschland über die Religionsbehörde DITIB organisiert ist, zuzuordnen sind. Auf der Homepage der 1995 eröffneten Yavuz Sultan Selim Moschee in Mannheim wird der Islam unter der Überschrift »Was ist Islam/wie wird man Muslim(a)« ganz unumwunden als eine Religion für alle Völker angepriesen, die ein umfassendes Regelwerk für das menschliche Leben anbietet, dem zu folgen ureigene Berufung eines jeden Menschen sei. Jeder andere Weg, den Menschen beschreiten mögen, sei irrig und führe ins Verderben. »›Sprich: Was denkt ihr? Wenn die Strafe Allahs über euch kommt oder die Stunde (Tod) euch ereilt, werdet ihr dann zu einem anderen rufen als zu Allah (dem einen, einzigen Gott), wenn ihr wahrhaftig seid?‹ (Koran, 6:40) Doch dies wird dann zu spät sein, denn der Witz des Lebens besteht gerade darin, rechtzeitig zu erkennen, wer ER ist, und wer wir sind, und ob wir Muslime, sprich: sich dem einen, einzigen Gott unterwerfende, werden oder auch nicht.« Im Anschluss an diese unmissverständliche Warnung werden konkrete Hinweise und Kontaktmöglichkeiten für eine Konversion zum Islam angeboten. Würde umgekehrt eine der großen Kirchen so direkt und unmissverständlich zur Annahme des Christentums aufrufen, wären die Reaktionen ohne Zweifel empört und heftig – nicht nur auf muslimischer Seite.

Die Konversion zum Islam ist denkbar einfach. In dem Bewusstsein, der wahre Glaube für alle Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort zu sein, wird grundsätzlich niemand abgewiesen, der ernste Absichten glaubhaft macht und gegebenenfalls nachweisen kann – zum Beispiel durch eine Bescheinigung über den Kirchenaustritt –, dass er keine andere religiöse Bindung mehr hat. Der Übertritt besteht im Aussprechen des islamischen Glaubensbekenntnisses: »Ich bekenne, dass es keinen Gott gibt außer Gott und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.« Das Bekenntnis muss in arabischer Sprache erfolgen und wird dem Kandidaten bei Bedarf Silbe für Silbe vorgesprochen.

In der Regel sollten zwei männliche Zeugen anwesend sein – ersatzweise auch ein männlicher und zwei weibliche. Ob im Einzelfall, zum Beispiel bei telefonischen Konversionen, auf Zeugen verzichtet werden kann, ist umstritten. Grundkenntnisse über den islamischen Glauben und die entsprechende Lebensweise müssen bei der Konversion nicht zwangsläufig vorhanden sein oder nachgewiesen werden. Oftmals wird sogar dazu geraten, bei Interesse am Islam zunächst zu konvertieren und sich danach über Theorie und Praxis des Islam zu informieren. Dieser Empfehlung, die zum Beispiel vom Islamischen Zentrum in München, dem Hauptsitz der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland IGD, ausgesprochen wird, liegt neben dem Streben nach möglichst vielen Neomuslimen die Überzeugung zugrunde, dass der Islam die ursprüngliche und von Gott gewollte Religion eines jeden Menschen ist, zu der er eigentlich nicht konvertiert, sondern zurückkehrt.

In der Regel erfolgt direkt nach dem Übertritt eine erste Unterweisung in islamischer Lebensführung und Gebet. Mit der Konversion zum Islam ist die Annahme eines islamischen Vornamens üblich, aber nicht zwingend. Eindeutig christlich geprägte Vornamen wie Paul oder Christina müssen allerdings ersetzt werden. In jüngerer Zeit ist zu beobachten, dass viele Neomuslime keinen muslimischen Zweitnamen mehr haben oder ihn zumindest nicht offen verwenden. Männern wird die Beschneidung empfohlen.

Der Übertritt zum Islam wird beurkundet, damit der Neomuslim/die Neomuslimin jederzeit die neue Glaubenszugehörigkeit nachweisen kann. Auf muslimischer Seite werden Konversionen zum Islam mit großer Öffentlichkeit und offener Bewunderung honoriert. Tageszeitungen und Broschüren, Fernsehsender und Internetportale zeigen das Bild der Neomuslime und interviewen ihn bzw. sie über ihre Lebensgeschichte und die Motive zur Konversion. Besonders gerne werden dabei prominente Konvertiten wie Cat Stevens (Yusuf Islam), Cassius Clay (Mohammed Ali) oder der Fußballstar Franck (Bilal) Ribéry vorgeführt. Bei dieser Form der medialen Inszenierung geht es vor allem um die Botschaft, dass der Islam auch und gerade für westlich und liberal erzogene und sozialisierte Menschen – und insbesondere auch für Frauen – attraktiv und heilsam sei.

Wer hingegen über ehemalige Muslime spricht, die sich dem Christentum oder auch einer anderen Religion zugewandt haben, erntet ungläubiges Staunen, bisweilen auch offene Aggression, denn die Reaktionen liegen zwischen »Ach, so etwas gibt es auch« und »Über diese Schande wird nicht gesprochen«. Einen Austritt aus dem Islam gibt es nicht, und der Abfall vom Glauben, der bei offener Leugnung zentraler islamischer Glaubenselemente oder dem Übertritt zu einer anderen Religion vorliegt, ist nach strenger Auslegung der Scharia mit dem Tod zu bestrafen.

Analog gilt auch das Werben für einen anderen Glauben als den Islam in mehrheitlich islamischen Ländern als Straftatbestand; immer wieder hat es in den letzten Jahren gewaltsame und tödliche Übergriffe gegen Kirchenvertreter und (vermeintliche) Missionare gegeben. Was in einzelnen Ländern auch heute geltendes Recht ist, bestimmt zumindest im übertragenen Sinne den Umgang mit Glaubensabtrünnigen, insbesondere mit KonvertitInnen zum Christentum: der Verlust des Familienverbandes, Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, soziale Ausgrenzung bis zu offenen Drohungen und Lynchjustiz treiben die Betroffenen in den Untergrund oder ins Ausland, wo sie oft noch den verlängerten Arm verweigerter Religionsfreiheit zu spüren bekommen.

Hiesige Medien unterstützen diese Schieflage nach Kräften; die Berichterstattung über Neomuslime und ehemalige Muslime / Neochristen ist vollkommen unausgewogen.

Wie viele Funktionäre und Anhänger konservativer Islamverbände in Deutschland, so träumt auch der hochrangige Funktionär der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD), Ahmed von Denffer, von einem demografischen Wandel zugunsten der Muslime in Deutschland. Dies würde auch eine grundlegende Veränderung der Rechts- und Gesellschaftsordnung ermöglichen. Zu der Frage, ob das deutsche Recht das Leben der Muslime nach der Scharia verbietet, führt er aus: »In der Diskussion wird neuerdings, wie beispielsweise seitens der CSU-Landtagsfraktion in Bayern, von Muslimen erwartet, dass sie sich schon jetzt verpflichten, für immer und ewig auf die Verwirklichung islamischer Rechtsvorstellungen zu verzichten, auch und gerade für den Fall, dass dies infolge der demographischen Entwicklung zukünftig einmal durch Mehrheitsentscheidung möglich werden könnte.«