Tobias Schlegl

mit Lars Meier

Zu spät?

So zukunftsfähig sind wir jungen Deutschen. Eine Inspektion

Vorwort

das beste von kurz nach früher bis jetze

«Herr Bundeskanzler, warum ist eigentlich kein junger Vertreter im Rat für Nachhaltigkeit?»

«Machen Sie uns Vorschläge, dann ändern wir das!», antwortete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die Frage eines Jugendlichen, der bei einem Kommunikationsprojekt des Rats für Nachhaltigkeit mitgemacht hatte.

Ich war damals als Moderator und Jurymitglied engagiert worden, das Kommunikationsprojekt zu begleiten. Zwar sah ich mich als informierten Menschen – ich zappte wie die meisten in die Tagesschau rein und blätterte regelmäßig durch die Zeitungen –, aber von deutscher Nachhaltigkeitspolitik hatte ich bisher wenig mitbekommen, erst recht nichts vom Rat für Nachhaltigkeit: Ich hatte keine Ahnung, was dieses Gremium eigentlich macht.

Das sollte sich bald ändern, denn nur wenige Tage nach der Konferenz bekam ich einen Anruf aus dem Bundeskanzleramt. Gerhard Schröder hatte Wort gehalten und den Vorschlag einiger Jugendlicher aufgenommen, die mich damals in die Diskussion gebracht haben. «Können Sie sich vorstellen, in den Rat für nachhaltige Entwicklung zu kommen?», fragte mich der Staatssekretär. Ich konnte, auch wenn ich nicht wusste, was mich dort erwarten würde. Schon immer hatte ich mich gesellschaftlichem Engagement gestellt. Ich war bei den Pfadfindern, später Schulsprecher, und zu meiner Zeit als Viva-Moderator habe ich mich für die guten Dinge eingesetzt – auch wenn es zumeist um Musik ging, war die Politik nicht zu kurz gekommen.

Ein halbes Jahr später, im Mai 2004, sollte ich meine erste Ratssitzung in dem neutral beratenden Gremium, das Gerhard Schröder für die Bundesregierung 2001 gegründet hatte, hinter mich bringen. Zunächst sah ich mich mit den fragenden Blicken von 16 anderen Vertretern konfrontiert. Auch ich schaute wahrscheinlich irritiert, denn die meisten Anwesenden waren älter als meine Eltern und sahen nicht so aus, als ob ich irgendwann mal mit ihnen Spaß haben würde. Anzüge bestimmten das Kleidungsbild. Ich hatte mir zumindest ein Hemd übergestreift, war aber der einzige Turnschuhträger im Raum. Doch es sollte sich schnell zeigen, dass es hier nicht um Äußerlichkeiten ging, sondern um Inhalte.

Einige Ratskolleginnen und -kollegen kannte ich aus dem Fernsehen, wie die Politgrößen Volker Hauff oder Klaus Töpfer, bei den meisten konnte ich aber nur etwas mit den Institutionen anfangen, die sie vertraten: Deutsche Bank, BUND oder Siemens. Gemeinsam mit ihnen sollte ich mich jetzt also mindestens alle zwei Monate mit Themen wie Biodiversität, Landwirtschaft oder Corporate Social Responsibility, kurz CSR, beschäftigen. Ich brauchte einige Zeit, um mich mit den Begrifflichkeiten anzufreunden, aber nach kurzer Zeit überwogen Neugierde und Wissensdurst.

Zunächst war ich allerdings eingeschüchtert und irritiert ob der Fachkompetenz, die mir entgegenschlug, später merkte ich aber, dass meine Meinung tatsächlich gefragt war. Und das nicht nur, weil ich mit Abstand das jüngste Mitglied war und damit häufig eine andere Sichtweise auf die Dinge hatte. Sondern auch, weil ich mir mit der Zeit immer mehr Wissen über Themen wie Bildung, Medienpolitik oder Jugendkultur angeeignet hatte.

Auch privat veränderte sich einiges für mich: Die Arbeit im Rat machte mir Spaß und fing an, mehr und mehr mein Verhalten im Alltag zu bestimmen. Ich informierte mich in den Medien regelmäßig über neueste Entwicklungen, surfte auf Seiten im Internet, die sonst wohl nur Studenten aufsuchen, und verwickelte gute Freunde immer häufiger in Diskussionen in Sachen Nachhaltigkeit.

Doch was bedeutet dieses hässliche Wort eigentlich? Unzählige Male wurde mir diese Frage in den letzten Jahren gestellt; immer wieder wurde ich mit der Sperrigkeit dieses Wortes konfrontiert. Ursprünglich kommt der Begriff aus der Forstwirtschaft und beschrieb dort das Prinzip, immer nur das zu roden, was auch nachwächst. Heute wird der Terminus breiter gefasst und beinhaltet das Bemühen um eine gleichmäßige Entwicklung von Ökonomie, Ökologie und Soziologie, ohne dass die jeweils anderen Bereiche beeinträchtigt werden, also ohne dass z. B. Wirtschaftswachstum auf Kosten der Umwelt oder durch Arbeitsplatzabbau stattfindet. Mittlerweile ist der Begriff Nachhaltigkeit für mich allerdings zum überstrapazierten Unwort geworden. Jeder Werber spricht inzwischen von einer nachhaltigen Kampagne, jeder Politiker von einer nachhaltigen Strategie, jeder Einsichtige will sein Leben nachhaltig verändern – egal, ob er nun mit dem Rauchen aufhören oder kein Fleisch mehr essen will. Kurz: Ich bin des Worts überdrüssig und werde es deshalb hier nicht mehr benutzen – versprochen! Ich übersetze das schlimme N-Wort auch viel lieber mit «Zukunftsfähigkeit». Die Grünen haben 1979 ihre erste Kampagne mit dem Wahlspruch «Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen!» begonnen. Das bringt es wohl auf den Punkt. Es geht gar nicht um den asketischen Verzicht im Alltag, sondern um eine bewusste Nutzung der vorhandenen Ressourcen, sodass nachfolgende Generationen ähnlich komfortabel wie wir leben können.

Im Mai 2007 bin ich von der nun regierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel aus dem N-Rat verabschiedet worden. Zwei Legislaturperioden gehörte ich dem Rat an, nun wurden satzungsgemäß neue Mitglieder nominiert. Mit dem Ende meiner Ratsmitgliedschaft sollte mein Engagement für die Zukunft aber nicht einfach so aufhören.

Denn irgendetwas läuft hier falsch in diesem Land, und dem will ich auf den Grund gehen: Bei den globalisierungskritischen Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Rostock tranken die Demonstranten Coca-Cola und gingen danach zu McDonald’s; das Live-Earth-Konzert (initiiert auf mehreren Kontinenten von Friedensnobelpreisträger Al Gore, um auf den weltweiten Klimawandel hinzuweisen) im Juli 2007 in Hamburg wurde von einem Autokonzern gesponsert, TV-Kolleginnen stellen sich plötzlich als Umweltengel dar und unterstreichen das, indem sie darauf hinweisen, dass sie ihren Fernseher nicht im Standby-Modus laufen lassen.

Aber wie ist es wirklich um das zukunftsfähige Verhalten der Deutschen bestellt? Gut acht Wochen wollte ich mit dem Zug durch Deutschland reisen, um eine Bestandsaufnahme zu dem Thema zu machen, das mich drei Jahre lang vorwiegend theoretisch beschäftigt hatte. Meine Arbeit für «Extra 3» und der nicht enden wollende Bahnstreik brachten das Projekt immer mal wieder ins Stocken. Insgesamt habe ich mich vier Monate lang – inklusive kleinerer Unterbrechungen – zu den Themen Bildung, Ernährung, Umweltschutz oder Unternehmensverantwortung mit Fachleuten getroffen, die ich in meiner Zeit im N-Rat kennengelernt habe. Vor allem habe ich aber die kleinen und unbekannten Helden des Alltags aufgesucht. Die, die so wichtig sind, weil sie durch ihr persönliches Engagement viel erreichen.

Dabei will ich Ihnen, liebe Leser, genauso wenig wie mir den Spaß am Leben verderben. Auch ich werde weiterhin ungesunde Tiefkühlpizza essen und manchmal mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen – und Sie sollen es auch! Wenn wir jedoch alle etwas mitdenken, können wir unseren Alltag so gestalten, dass wir zukunftsfähig handeln und bleiben.

Ich habe den Buchtitel «Zu spät» gewählt, weil er natürlich aufrütteln soll, aber auch, weil einer meiner Lieblingssongs der Punkrockband «Die Ärzte» so heißt. Da BelaFarinRod mir schon immer mit ihren Titeln und Texten den Alltag erklärt und das Leben leichter gemacht haben, habe ich die folgenden Kapitel und auch das Buch mit den Songs und Titeln der besten Band der Welt überschrieben.

Ob es wirklich «Zu spät» ist, sollte sich erst im Verlauf meiner Reise klären 

 

Ihr

Tobias Schlegl

im September 2007

auf der ICE-Bahnstrecke Berlin – Hamburg

ich ess blumen

Deutschlands Zukunft muss noch acht Minuten warten – mein Zug von Hamburg nach Berlin hat Verspätung. Ich habe gerade einmal drei Stunden geschlafen, da ich am Tag zuvor eine Moderation in der Hansestadt hatte. Der kleine Zeiger der Bahnhofsuhr hat noch nicht die sieben erreicht. Heute steht die erste Station meiner Inspektionsreise durch Deutschland auf dem Plan. Thilo Bode, der Geschäftsführer der Verbraucherorganisation Foodwatch, will mir meine vielen Fragen beantworten. Der ehemalige Chef von Greenpeace International und stetige Streiter für Themen wie Ernährung, Umwelt- und Verbraucherschutz erscheint mir als genau der richtige Gesprächspartner für meine erste Buch-Station. Aufgrund seines breit angelegten Wissens und seiner langjährigen Erfahrung erwarte ich mir viele gute Tipps und Hinweise für meine Recherche. Nach seinem Weggang von Greenpeace baute Thilo Bode 2002 Foodwatch auf und kämpft seitdem mit einem kleinen Team gegen die Nahrungsmittelindustrie. Da er kurz vor seinem Jahresurlaub einen engen Terminplan hat, blieb mir nur, den Neun-Uhr-Vorschlag seiner Sekretärin anzunehmen.

Sollte das Wetter symbolisch für mein Unterfangen stehen, habe ich nicht viel Hoffnung für Deutschland. Kalter Herbstwind mitten im August fährt mir durch die Knochen, der Regen hält mich wach und ist das erste Wasser, das mein Gesicht heute zu spüren bekommt. Der Wecker konnte mich beim ersten Anlauf nicht wach kriegen, und so musste ich aufs Duschen erst mal verzichten. Keine guten Vorraussetzungen, um ein wirklich wichtiges Interview zu führen, geschweige denn im Zug ein paar Leute anzusprechen und mit ihnen über Ernährung zu diskutieren.

Endlich, mein Eurocity kommt. Zum Glück habe ich ein Abteil für mich allein und zwei Stunden Zeit, meine spärliche Morgentoilette nachzuholen. Eigentlich wollte ich meine Fragen nochmal sortieren, um etwas Ordnung in die Themenblöcke zu bringen, aber ich entscheide mich dafür, dass ich das auch kurz vor Berlin machen kann, und schlafe schnell noch ein Stündchen. Zum Wachwerden klicke ich den iPod auf das Rock-Kapitel und höre quasi zur Einstimmung «Roots, Bloody Roots» von Sepultura. Der Schaffner erklärt mir mit schrägem sächsischem Unterton, dass nicht nur meine Musik viel zu laut ist – ich bin immer noch alleine in meinem Abteil –, sondern dass wir aufgrund einer kaputten Tür und des dadurch bedingten «Sonderhalts» eine weitere Verspätung von ca. fünfzehn Minuten haben. Die Bahn und ich machen dem Buchtitel also alle Ehre. Schöner Witz, denke ich und beschließe, Herrn Bode damit milde zu stimmen.

Um Viertel nach neun erreiche ich schließlich Bodes Büro in einem sanierten Hinterhof in Berlin-Mitte. Er scheint meine Verspätung gar nicht bemerkt zu haben und führt mich direkt in einen gläsernen Konferenzraum. Die Frage «Kaffee oder Wasser?» beantworte ich trotz meiner Müdigkeit wie immer mit «Alles, nur keinen Kaffee!», da ich in meinem bisherigen Leben schon einiges ausprobiert habe, aber die Finger von dem bitteren Teufelszeug lasse.

Schon nach kurzer Zeit ist meine Müdigkeit auch ohne Koffein verschwunden, denn Thilo Bode erzählt eine Reihe kurzweiliger Geschichten, die mich sofort in den Bann ziehen. Bode ist mal wieder bereit für den Kampf. «Wir planen gerade eine Aktion gegen McDonald’s», erklärt er mit dem Hinweis auf die merkwürdigen Gestelle, die ich durch die Glasfront erblicke. Seine fünf Mitarbeiter und ein paar Zivis müssen schrauben, damit morgen sechs Menschen in mobile Litfaßsäulen schlüpfen können. «Das wird unser McDonald’s-Ballett, unser neues Aktionstool. Auf die viereckigen Tragegestelle schreiben wir: Gemein. Schluss damit. Keine Hamburger mit Gentechnik.» Dazu muss man wissen: Mit Hilfe genetischer Veränderungen bei der Züchtung versucht man z. B., die Pflanzen robuster, weniger anfällig gegen Insekten zu machen oder auch Farbe und Geschmack zu beeinflussen. 80 Prozent aller gentechnisch veränderten Pflanzen enden als Futtermittel, und die Endprodukte wie Eier, Milch und in diesem Fall das Burgerfleisch sind nicht entsprechend gekennzeichnet. Die Wirkung von gentechnisch manipulierten Nahrungsmitteln auf den Menschen ist jedoch noch nicht erforscht, obwohl laut www.transgen.de mittlerweile mehr als 60 Prozent des weltweit gehandelten Sojas genmanipuliert ist. Negative Auswirkungen sind zwar nicht bekannt, aber «Unwissenheit schützt vor Schaden nicht», wie Oma Schlegl immer sagte. Was allerdings bewiesen ist: Gentechnik stellt eine große Gefahr für die Arten- und Sortenvielfalt dar und belastet durch die Verwendung von besonderen Pestiziden zusätzlich die Böden. Ein Skandal, zumal der Verbraucher darüber nicht informiert wird und demnach auch keine Wahlfreiheit hat. Denn während der Bauer genau weiß, was er an seine Tiere verfüttert, da Gentechnik in Futtermitteln seit April 2004 gekennzeichnet werden muss, erfahren wir Konsumenten es nicht. Auch dann nicht, wenn die Tiere ihr Leben lang nichts anderes als Genfutter gefressen haben. «Sie können sich auf nichts verlassen. Sie sind eine arme Sau beim Einkaufen», bringt Thilo Bode es mit glühenden Augen auf den Punkt. Merkwürdig. Da organisierte er bei Greenpeace halsbrecherische Schlauchboot-Verfolgungsjagden, Ölplattformeroberungen auf stürmischer See und todesmutige Erklimmungen von Fabrikschloten, und nun freut er sich über sechs menschliche Tonnen, die morgen vor McDonald’s rumhüpfen werden. Die Burgerkette will Thilo Bode stellvertretend für alle anderen Fastfood-Restaurants ärgern, weil sie Marktführer sind.

«Die Polizei kriegt wahrscheinlich eine Stunde vorher ein Fax. Das muss reichen», erzählt Bode, der weiß, dass das Versammlungsrecht zwar ein Grundrecht ist, jede Demonstration auf öffentlichem Grund aber offiziell angemeldet werden muss. Die Polizei darf die Versammlung nur verbieten, wenn triftige Gründe dafür bestehen. Sechs behäbige Tonnen werden diese wohl nicht liefern. «Im Notfall habe ich noch eine telefonische Standleitung zu meinem kampferprobten Rechtsanwalt», versichert Herr Foodwatch und findet auch die passende Antwort auf meine Nachfrage, ob man mit einer solchen Aktion wirklich einen Großkonzern in die Knie zwingen könne: «Es geht morgen um die Symbolik, um die passenden Bilder, mit denen man dann öffentlichen Druck erzeugen kann. Die Politiker bewegen sich nur, wenn es öffentlichen Druck gibt. Außerdem muss man die Unternehmen dort treffen, wo der Kunde aufläuft. Dann tut es weh.» Perfekt. Genau so etwas habe ich zum Auftakt meines Buches gesucht: Jemanden, der auch nach vielen Jahrzehnten Kampf den Glauben an das Gute nicht verloren hat. Ich hätte gerne auf diese klischeehafte Darstellung verzichtet, aber Fakt ist: Der Typ hat Herzblut. «Gucken Sie sich mal die Biene Maja an», reißt mich Bode aus meinen Gedanken und zeigt mir einen Joghurtbecher: «Auf diesem Kinderjoghurt steht der Zuckergehalt nicht drauf. Der ist versteckt hinter der Bezeichnung Kohlenhydrate. Das versteht doch kein Mensch.» Tatsächlich beinhaltet eine kleine Packung der fetten Biene ganze 55 Stück Würfelzucker, eine Liter-Flasche Cola «nur» 35. Damit aber nicht genug. Bode präsentiert mir jetzt sein gesamtes Kabinett des Grauens und drückt mir die gute «Landliebe»-Milch in die Hand. «Da steht drauf: ‹Die strengen Kriterien für Babynahrung werden berücksichtigt› – aber welche Kriterien sind das?» Er zeigt mir eine weitere Aufschrift: «Und hier steht: ‹Kommt von ausgesuchten Bauernhöfen› – das lässt sich aber nicht nachprüfen.» Fakt ist: Diese Milch kostet doch tatsächlich 40 Cent mehr als normale Milch, ist aber nicht besser, wie Studien bewiesen haben, zumal die Kühe auch nicht anders gehalten werden als Discount-Milchkühe. «Man kann deshalb auch ebenso gut Discounter-Milch kaufen und im Jahr 300 Euro sparen.» Da sind sie, die praktischen Tipps, die ich gesucht habe. Kein erhobener Zeigefinger von einem Öko-Altlinken, der schon als Klassensprecher genervt hat. Sondern vielmehr einfache Beispiele, die selbst einen Pfennigfuchser wie mich überzeugen. Aber auch Bode weiß, aller guten Dinge sind drei, und deshalb holt er jetzt einen weiteren Klassiker hervor: die Kinderschokolade, die mich meine gesamte Kindheit und Jugend begleitet hat, immer finanziert von meiner Mutter, die fest an die «Extraportion Milch» glaubte. Doch Bode hält dagegen: «Bis der tägliche Calciumbedarf durch Kinderriegel gedeckt ist, hat man zusätzlich 55 Stück Würfelzucker und ein halbes Pfund Butter gegessen.» Gut, dass Mutter Schlegl das erst jetzt erfährt, sonst hätte ich wahrscheinlich im Supermarkt nie ein so leichtes Spiel gehabt.

Spätestens jetzt hat mich das Prinzip Bode gepackt: Wenn er erzählt, hat es etwas Verschwörerisches – so wie bei einem Geheimbund. Man möchte Teil der Bewegung werden und sein Gewissen nicht mehr nur durch Unterschriften auf Protestlisten beruhigen. Kurzum: Ich will mir auch eine Tonne anziehen. Bode schaut etwas erstaunt, freut sich aber über mein Angebot und schmiedet einen weiteren Aktionsplan. «Morgen geht es eigentlich nur um das Foto. Die richtige Aktion können wir beide gerne zusammen starten. Dann stecken wir beide in je einer Tonne, verteilen Informationen und halten die Kunden auf. Das wird die noch viel mehr schmerzen.» Der Trick dabei: Zwei Leute gelten noch nicht als Demo. Sozusagen eine Gesetzeslücke, die den Protestlern eine ungeheure Macht gibt. Zu zweit gegen das Unrecht, das haben schon einige geschafft – wenn auch nur auf der Leinwand: Bud Spencer und Terence Hill, Clint Eastwood und sein Colt, Bernard & Bianca. Das Ziel dieser und vieler anderer Aktionen von Foodwatch: McDonald’s zum vollständigen Verzicht auf Gentechnik-Futter zu bewegen. Denn wenn McDonald’s gentechnikfreie Hamburger anbieten und kennzeichnen würde, hätten die Verbraucher nicht nur endlich Wahlfreiheit, es würde zudem den Markt für Futtermittel radikal ändern: Auf einmal würden Hunderttausende Tonnen gentechnikfreies Soja (das am häufigsten verwendete Futtermittel) angefordert werden.

Der äußerst feste Händedruck bei der Verabschiedung beweist mir Bodes Entschlossenheit.

Als ich zwei Stunden später in meinen E-Mail-Account schaue, habe ich schon einen Terminvorschlag von ihm – er will gleich am ersten Tag nach seinem Urlaub loslegen. Der Kampf für das Gute darf nicht warten 

BESSERWISSERBOYKASTEN

Alles so einfach

Als Konsument steht man häufig auf verlorenem Posten. Selbst wenn ich mir die Mühe mache und auf die Zutaten in Getränken oder Speisen achte, weiß ich immer noch nicht, was ich wirklich zu mir nehme. Auch das Wort «gesund» auf den Packungen sagt nicht zwingend etwas darüber aus, wie gesundheitsfördernd das Produkt wirklich ist. Es kann, im Gegenteil, sogar krank machen. Behörden müssten dazu verpflichtet werden, die Ergebnisse von Lebensmittelkontrollen beispielsweise im Internet zu veröffentlichen. Namen von Firmen, die in Lebensmittelskandale verwickelt sind, sollten öffentlich angeprangert werden, denn solche Unternehmen spielen mit unserer Gesundheit. Doch leider ist die Industrielobby mal wieder stärker als das Gesundheitsbewusstsein und die Fürsorgepflicht unserer Politiker.

Anneliese Schmidt erklärt

Ein Beispiel, das mir Thilo Bode noch verraten hat, zeigt, wie wir von der Industrie getäuscht werden: Die bayerische Metzgereikette Vinzenz Murr hat in ihrer Werbung höhere Qualität versprochen, da die Tiere, die verarbeitet würden, weder Tiermehl noch präventiv Antibiotika bekämen. Doch das ist per Gesetz sowieso seit 2001 ausdrücklich verboten, und zwar nicht nur bei Bio-Produkten. Die Firma warb also mit einer Selbstverständlichkeit.

Baby ich tu’s

Gesund ist wirklich nur, was uns Mutter Natur direkt auf den Tisch bringt. Fruchtsäfte also lieber selbst pressen als irgendwelche Industrieprodukte mit chemischen Geschmacksverstärkern oder Konservierungsmitteln kaufen. Wer wirklich seinen Tagesbedarf an Calcium oder anderen wichtigen Mineralien decken will, braucht keine Konzerne wie Nestlé oder Ferrero.

Paul surft

www.foodwatch.de

www.greenpeace.de

www.verbraucherschutzkompass.de

bitte bitte

Es regnet. Nein, es schüttet. Und ausgerechnet heute muss ich mein Versprechen einlösen. Bode und ich in der Tonne vor McDonald’s, mitten auf der beliebten Berliner Einkaufsmeile Kurfürstendamm. Zwei Stunden vorher steht allerdings ein konspiratives Treffen im Foodwatch-Hauptquartier an. «Ziehen Sie eine schwarze Hose an», war der einzige Hinweis, den ich in der letzten Mail von Bode bekommen hatte. Die Weltrevolution ist demnach nur mit schwarzer Beinbekleidung möglich. Werde ich doch noch im schwarzen Block landen? Zu spät. Ich stecke bereits in meiner Lieblingsjeans und renne durch den Regen zur S-Bahn. Wenigstens heute will ich pünktlich sein. Auf die Millisekunde genau drücke ich die Foodwatch-Klingel. «Warum haben Sie denn keine schwarze Hose an, Herr Schlegl?», begrüßt mich ein kritisch dreinblickender Thilo Bode mit schwarzem Beinkleid. Ich frage verwundert, ob man die Welt nicht auch in einer dunkelblauen Jeans retten könne. «Das sieht einfach besser aus, zusammen mit der viereckigen Tonne», entgegnet Bode. Ich blicke ihn erstaunt an. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass Verbraucherschützer einen derart ausgeprägten Sinn für modischen Schnickschnack haben. Schon drückt mir Bode die topmodische, grell-neon-orangene Foodwatch-Regenjacke in die Hand. Wer internationale Großkonzerne ärgern will, sollte doch keine Angst haben, nass zu werden?! Trotzdem hoffe ich insgeheim darauf, dass Bode jetzt noch schnell die ganze Aktion abbläst. Beim nächsten Mal könnte ich mich dann sogar passend anziehen. Keine Chance. «Die Presse ist bereits informiert. Wir ziehen das durch», lautet die Ansage, und so ziehen Bode, drei Foodwatch-Mitarbeiter und ich in die Schlacht. Fünf orangene Müllmänner-Look-Alikes.

Im Taxi gesteht mir Bode: «Wir haben die Polizei doch noch schnell über die Demo informiert, zumal wir jetzt nicht nur zu zweit sind.» Unglücklich bin ich darüber nicht, denn das verringert die Chancen, heute in der U-Haft zu übernachten, wie ich es mir im Vorfeld leicht paranoid ausgemalt habe. Außerdem ist es eh kein Geheimnis mehr, dass wir kommen. Die Presse wurde durch eine Mail vorab informiert, und das beinhaltet natürlich auch die Chance, dass man McDonald’s vorher einen Tipp gegeben hat, der Gegner also gewappnet sein könnte. Nicht ganz uninteressant, denn damit bewegen wir uns auf Augenhöhe. Vor dem Steigenberger-Hotel springen wir aus dem Taxi, und die Foodwatch-Mitarbeiter, alle im Jungakademiker-Alter, bauen in Windeseile die zwei mobilen Protesttonnen zusammen. Einige Hotelgäste in Anzügen werfen uns mitleidige Blicke zu. Minuten später stecken Bode und ich in der «Burger-ohne-Gentechnik»-Protesttonne und laufen die letzten Meter zu der McDonald’s-Filiale. Gar nicht so einfach, sich mit diesem Gestell zu bewegen. Ich blicke Bode an und kann deutlich den Glanz in seinen Augen erkennen. Er hat so etwas länger nicht mehr gemacht. Zuletzt saß er nur noch auf seinem Chefsessel und hielt die Fäden von dort aus zusammen. Jetzt ist er endlich wieder auf der Straße und eilt schnellen Schrittes voraus, sodass selbst seine frei beweglichen Mitarbeiter Probleme haben, ihm zu folgen. Das Wunder: In genau diesem Moment hört der Regen auf, und der Himmel gibt sogar ein paar Sonnenstrahlen frei. Verfolgt von vielen Augenpaaren kämpfen wir uns über den Ku’damm und stehen schließlich vor dem Ziel: einer gut besuchten Filiale der weltweit größten Fastfood-Kette. «Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr», empfängt uns ein Agenturfotograf. Ansonsten ist nur noch ein Kamerateam unserer Pressemitteilung gefolgt. Aus dem Augenwinkel sehe ich bereits einen Polizisten, der etwas Abstand hält, aber definitiv auch auf uns gewartet hat. «Keine McDonald’s-Mitarbeiter filmen», brüllt er in Richtung Kamerateam. Die Zeit läuft. 30 Minuten haben Bode und ich ausgemacht. Es geht einerseits um die passenden Bilder, die bei dieser Aktion entstehen sollen und mit denen man dann in Zukunft für Foodwatch werben kann, und andererseits um möglichst viele Unterschriften, die wir für Hamburger ohne Gentechnik sammeln und dann stetig an McDonald’s schicken wollen. Wir sind mit Unterschriftenlisten, Infoflyern über den Gen-Missbrauch und vielen Stiften bewaffnet. Mindestens 100 Unterschriften möchte ich sammeln. Bode staunt: «Das wäre ein sehr gutes Ergebnis.» Der Anfang fällt schwer. «Was habt ihr gegen McDonald’s? Die Hamburger schmecken doch lecker!», bekommen wir von einem Passanten zu hören. Dabei ist das doch gar nicht der Punkt. Wir sagen gar nicht, dass die Hamburger nicht schmecken oder qualitativ schlecht sind. Das Gegenteil ist der Fall. Stiftung Wartentest urteilte sogar mit einem «GUT», und Thilo Bode versichert: «Wenn man ganz sicher kein Gammelfleisch essen will, sollte man zu McDonald’s gehen. Die können alle Lieferanten zurückverfolgen.» Doch der Konzern verschweigt seinen Kunden den Einsatz von Gentechnologie und verzichtet nicht auf gentechnisch veränderte Futterpflanzen. Die Begründung: Dies sei nicht möglich, weil auf dem Markt nicht genügend solcher gentechnikfreien Futtermittel zur Verfügung stünden. Falsch. Im Vorfeld der heutigen Aktion hat Foodwatch McDonald’s das Angebot eines Sojahändlers unterbreitet, der in der Lage wäre, die Versorgung aller 100 000 fleischliefernden Landwirte von McDonald’s mit den gentechnikfreien Futtermitteln sicherzustellen. Um maximal ein bis zwei Cent würden sich dann die Hamburger verteuern. Leicht zu verschmerzen für den Großkonzern, der allerdings nicht auf das Angebot einging. Wir protestieren demnach gegen die Zwangsernährung, da die Bürger, die Burger von McDonald’s essen, keine Wahl haben. Nun könnte man einfach ganz auf Burger verzichten: Da allerdings jeder dritte Viehzüchter in Deutschland McDonald’s beliefert, wird klar, dass das Fleisch dieser Viehzüchter eben nicht nur bei McDonald’s auf dem Bratrost landet.

Wenn der Fastfood-Riese sein Angebot ändern und auf Genfood verzichten würde, hätte das radikale Auswirkungen auf die gesamte Branche. Diese Ausgangslage offenbart auch das Problem bei unserer Protestaktion: Ohne Kommunikation und Aufklärung geht nichts. Keiner unterschreibt ohne Gegenfrage. Eine wirklich mühsame Sache. Während Bode einzelne Passanten abfängt und ihnen immer wieder die Hintergründe erklärt, kommt mir eine effizientere Idee. Ich fange einfach die meist jugendlichen Kunden von McDonald’s, die überwiegend in Grüppchen auftreten, sofort vor bzw. nach ihrem Festmahl direkt vor der Tür ab. Das Unglaubliche: Fast alle hören aufmerksam zu und sind überrascht, dass in Burgern Gentechnik steckt. Von wegen, man könne die Jugend nicht politisieren. Zugegeben, sie braucht in diesem Falle einen verbalen Tritt in den Hintern, aber das Ergebnis stimmt: ca. 95 Prozent unterschreiben. «Mir doch egal. Ich gehe jetzt rein und fresse lecker Gen-Food» bleibt die Ausnahmereaktion. Meine Lieblingsausrede an diesem Tag: «Ich bin Veganer. Das geht mir am Arsch vorbei.»

Während die Jugendlichen die Unterschriftenlisten an die McDonald’s-Scheibe drücken und gemeinsam unterschreiben, bleibt dem Filialleiter nichts anderes übrig, als böse und etwas hilflos zu gucken. «Ich hab da mal gearbeitet. Ich unterschreibe sofort», erzählt mir eine Passantin. Wieder eine Unterschrift mehr. Mittlerweile ist aus der halben Stunde eine ganze geworden. Zeit für unseren Rückzug. Fazit: Bode hat 25 Unterschriften gesammelt, ich 93. Zusammen haben wir also das Ziel erreicht, ohne dass es Tumulte gab und wir unsere Zähne verloren haben. Nur ein paar Stifte wurden uns geklaut. Auf dem Rückweg sehen wir einen Kollegen, der ebenfalls in einer mobilen Litfaßsäule steckt. Nur die Aufschrift ist anders: «Lecker Döner bei SHARKY. Nur ein Euro.»

Doch um zu billige Döner, die mit minderwertigem oder auch gesundheitsgefährdendem Fleisch gefüllt sind, muss ich mich später kümmern. Mein Telefon weist 23 Anrufe in Abwesenheit auf. Alleine acht sind von meiner Schwester. Nicht ohne Grund, wie ich bei meinem Rückruf erfahren soll. Sie will umziehen! Da ist es natürlich Bruderpflicht, dass ich mithelfe. Da sie weiß, auf welcher Mission ich mich befinde, kommt sie mit einem unschlagbaren Argument um die Ecke: «Du kannst doch mal mit zu Ikea kommen und schauen, ob die auch alles richtig machen in Sachen Nachhaltigkeit!» Gute Idee, wie ich finde, doch zunächst will ich mir fachmännischen Rat einholen 

BESSERWISSERBOYKASTEN

Alles so einfach

Das Thema Gentechnik ist ein heikles Thema, denn selbst erfahrene Wissenschaftler streiten sich über die Folgen der Manipulationen. Die vollständigen Auswirkungen des Eingriffs in die Natur sind noch unerforscht. Trotzdem wird Gentechnik immer wieder bei Futtermitteln eingesetzt, ohne dass wir Verbraucher davon erfahren. Es gibt einige Hinweise darauf, dass es zu unerwarteten und überraschenden Effekten beim Anbau von genmanipulierten Pflanzen/​Gemüse/​Obst kommt. So können superresistente Unkräuter entstehen, die mit noch stärkeren Giften bekämpft werden müssen, oder Insekten, die wichtig sind für die Bestäubung der Pflanzen, sterben. Dadurch verschärft Gentechnik das Pestizidproblem, obwohl sie in den achtziger Jahren entwickelt wurde, um es zu bekämpfen. Der intensive Einsatz einiger weniger Pflanzengifte beim Anbau von Gentechnik-Soja führt zu Gewässer- und Bodenbelastung sowie Resistenzbildungen und schädigt wichtige Bodenorganismen. Das gesamte Ökosystem kommt ins Wanken.

Baby ich tu’s

Konfrontieren Sie Mitarbeiter von McDonald’s oder anderen Burger-Bratern immer wieder mit den Gen-Vorwürfen. Fragen nerven und können etwas bewirken. Gehen Sie demonstrieren. Das Demonstrationsrecht ist ein Grundrecht, in Deutschland im Artikel 8 des Grundgesetzes festgeschrieben. Demonstrationen unter freiem Himmel müssen in Deutschland angemeldet, aber nicht genehmigt werden. Es gibt kein Demonstrationsverbot, es sei denn die Demonstration gefährdet unmittelbar die «öffentliche Sicherheit oder Ordnung». Denken Sie an das große Schlupfloch: Zwei Mann sind noch keine Demo.

Paul surft

www.food-monitor.de

www.abgespeist.de

www.transgen.de