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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Linda Lael Miller

BIG SKY COUNTRY –
Das weite Land

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Jutta Zniva

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

willkommen in einem neuen Städtchen: Parable, Montana. Es ist jene Art von Kleinstadt, die mir bestens vertraut ist und die ich so sehr mag. Die Bewohner von Parable sind gute, anständige und hart arbeitende Menschen, die in schweren Zeiten zusammenhalten und niemals eine Gelegenheit auslassen, die schönen Dinge des Lebens zu feiern.

In diesem ersten Teil meiner neuen Serie Big Sky Country – Das weite Land werden Sie Sheriff Slade Barlow – groß, dunkelhaarig, attraktiv – kennenlernen. Er ist ziemlich enttäuscht von der Liebe. Genau wie Joslyn Kirk, die nach Jahren wieder nach Parable zurückgekehrt ist, um ein Unrecht von früher wiedergutzumachen. Ein Unrecht, an dem sie selbst gar keine Schuld trägt. Joslyn hat vor, die Stadt so bald wie möglich wieder zu verlassen.

Aber da gibt es etwas, das Kleinstädte – und die Liebe – so an sich haben: unsichtbare Fäden, die einen mitten hinein ins Geschehen ziehen, egal, ob man will oder nicht. Welche Fäden sind das? Freunde – alte und neue, Menschen und Vierbeiner. Erinnerungen. Der wunderbare Prozess, neue Erinnerungen zu schaffen. Lachen, Tränen und natürlich das größte Geschenk überhaupt: die Liebe. In all ihren faszinierenden Facetten.

Willkommen also in Parable. Sie werden sich dort wohlfühlen.

Mit meinen besten Wünschen

Linda Lael Miller

In liebevollem Gedenken an meinen
geliebten Beagle Sadie.
Ich bin für jeden Augenblick dankbar,
den wir in elf gemeinsamen Jahren,
erlebt haben.

1. KAPITEL

Parable, Montana

Du warst nicht auf der Begräbnisfeier“, fuhr Hutch Carmody seinen Halbbruder Slade Barlow an. Sein vorwurfsvoller Ton war unüberhörbar.

Slade sah Hutch nicht direkt an, musterte ihn aber aus dem Augenwinkel. Sie saßen nebeneinander auf zwei unbequemen Stühlen vor einem riesigen Schreibtisch. Maggie Landers, die Anwältin ihres gemeinsamen Vaters, von der sie beide herbestellt worden waren, hatte sich bis jetzt noch nicht blicken lassen.

„Ich war bei der Beisetzung auf dem Friedhof“, antwortete Slade nach einer Weile tonlos. Es war die Wahrheit. Allerdings hatte er sich etwas abseits der Menge gehalten, da er einerseits nicht bei den anderen Trauergästen stehen wollte, es andererseits aber auch nicht geschafft hatte, ganz wegzubleiben.

„Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht zu kommen?“, fragte Hutch provokant. „Oder wolltest du dich nur davon überzeugen, dass der Alte wirklich in der Kiste liegt?“

Slade war kein jähzorniger Mann. Seinem Naturell entsprechend, dachte er erst und redete dann. Wenn er sich zu irgendetwas äußerte, tat er es stets ruhig und mit Bedacht. Diese Eigenschaft hatte sich in all den Jahren, seit er zum Sheriff ernannt worden war, gut bewährt. Doch bei dem scharfen Unterton in den Worten seines Halbbruders spürte er, wie ihm die Hitze bis zum Hals hinaufkroch und es in seinen Ohren zu pochen begann.

„Vielleicht war es das, ja“, erwiderte er gedehnt und voller Verachtung, während die Bürotür hinter ihnen leise geöffnet wurde.

Hutch hatte gerade seinen Stuhl zurückgeschoben, als wollte er aufspringen und auf Slade losgehen. Stattdessen blieb er sitzen und fuhr sich – vermutlich als Ventil für den Adrenalinstoß – mit einer ruckartigen Bewegung durch seinen dunkelblonden Haarschopf.

Slade war über sich selbst entsetzt, weil er sich gerade zu dieser Provokation hatte hinreißen lassen. Gleichzeitig empfand er wegen Hutchs Reaktion ein tiefes, grimmiges Gefühl der Befriedigung. Sie beide konnten sich, wie man so schön sagte, auf den Tod nicht ausstehen.

„Schön, dass Sie einander nicht umgebracht haben“, bemerkte Maggie fröhlich, während sie um den glänzenden riesigen Schreibtisch herumging und dann auf dem Lederstuhl dahinter Platz nahm. Mit über 50 Jahren, den kurzen, perfekt gefärbten braunen Haaren und den grünen Augen, die für gewöhnlich intelligent und schelmisch funkelten, sah sie immer noch umwerfend aus. Sie drehte sich ein wenig zur Seite, um ihren Computer hochzufahren.

„Jedenfalls noch nicht“, meinte Hutch schließlich.

Obwohl Slade Maggie nur im Profil sehen konnte, bemerkte er, dass sie einen Mundwinkel hochgezogen hatte, und schmunzelte. Ihre Finger, die jeden Samstagvormittag im Friseursalon seiner Mutter sorgfältig manikürt wurden, flogen eifrig über die Tastatur. Der Monitor warf einen schwachen blauen Lichtschein auf ihr Gesicht und die dünne Jacke ihres maßgeschneiderten cremefarbenen Hosenanzugs.

„Wie geht es Ihrer Mutter, Slade?“, erkundigte sie sich freundlich, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.

Maggie und seine Mutter Callie waren ungefähr im gleichen Alter und schon befreundet, solange Slade denken konnte. Angesichts der Tatsache, dass er Maggie erst gestern zufällig im „Curly-Burly“, dem Frisiersalon seiner Mom, getroffen hatte, nahm Slade an, dass es sich um eine rein rhetorische Frage handelte. Einfach um Small Talk.

„Danke, es geht ihr gut.“ Mittlerweile hatte sich Slades unbändiges Bedürfnis nach Brudermord gelegt. Nun grübelte er wieder über jene Sache, die ihn beschäftigte, seit die ehrenwerte Ms Landers heute Morgen bei ihm zu Hause angerufen und ihn gebeten hatte, auf dem Weg zur Arbeit doch in ihrer Kanzlei vorbeizukommen.

Der Termin musste mit dem Testament des Alten zu tun haben, obwohl Maggie das am Telefon nicht direkt gesagt hatte. Alles, was sie verraten hatte, war: „Es wird nicht lange dauern, Slade. Und glauben Sie mir, es ist in Ihrem Interesse, wenn Sie dabei sind.“

Hutchs Anwesenheit war nur logisch, da er der eheliche Sohn war. Der Goldjunge, der von seiner Geburt an darauf vorbereitet worden war, der alleinige „Herrscher“ über die gesamten Besitztümer zu werden. Man hatte ihn auch dann noch darauf vorbereitet, nachdem er mit zwölf Jahren seine Mutter verloren hatte und infolgedessen tun und lassen konnte, was er wollte. Slade selbst wiederum war als uneheliches Kind der klassische Außenseiter gewesen.

John Carmody hatte ihm kein einziges Mal Beachtung geschenkt. Kein einziges Mal in den mittlerweile 35 vergangenen Jahren. Äußerst unwahrscheinlich, dass John auf dem Sterbebett seinem Herzen einen Ruck gegeben und das Ergebnis seiner längst vergessenen Beziehung mit Callie in seinem Testament berücksichtigt hatte.

Nein, dachte Slade. Carmody hatte kein Herz gehabt. Auf jeden Fall nicht, sobald es um ihn und seine Mutter ging. Während der ganzen Zeit hatte er nicht ein einziges Wort mit Slade gesprochen. Bei jeder Begegnung hatte er durch ihn hindurchgeschaut, als wäre er unsichtbar. Falls dieser halsstarrige Mistkerl Maggie beauftragt hatte, dafür zu sorgen, dass Slade bei der Verlesung des Testaments anwesend war, konnte das nur einen Grund haben: Wenn Hutch die ganzen Ländereien und das Geld bekam, sollte Slade wissen, was ihm entging.

Du kannst es dir sonst wohin stecken, Alter, schoss es Slade wütend durch den Kopf. Er hatte nie erwartet – oder sich gewünscht –, auch nur einen müden Cent von John Carmody zu kriegen. Schlimm genug, dass er das Aussehen dieses Kotzbrockens geerbt hatte– die dunklen Haare, die schlanke, muskulöse Statur und die blauen Augen. Und es ärgerte ihn, dass Maggie, die Freundin seiner Mutter, dabei mitspielte, wenn er hier seine Zeit vergeuden musste.

Maggie klickte mit der Maus, und ihr Drucker begann, eine Seite nach der anderen auszuspucken. Währenddessen drehte sie sich zu Hutch und Slade und sah die beiden an.

„Ich erspare Ihnen das juristische Geschwafel“, sagte sie, holte die Blätter aus dem Drucker und sortierte sie in zwei Stapel. Dann schob sie die beiden Papierstöße über den Tisch, sodass jeder von ihnen einen vor sich liegen hatte. „Hier sind alle Fakten. Sie können das Testament bei Gelegenheit durchlesen.“

Slade warf nur einen kurzen Blick auf die Ausdrucke und machte keine Anstalten, sie zu nehmen.

„Und wie sind die Fakten?“, fragte Hutch mürrisch. Vollidiot, dachte Slade.

Maggie verschränkte die Finger und lächelte milde. Es bedurfte mehr als eines arroganten Cowboys, um sie aus der Fassung zu bringen. „Der Besitz soll zwischen Ihnen beiden zu gleichen Teilen aufgeteilt werden“, verkündete sie.

Slade war so verblüfft, dass er einfach nur reglos dasaß. Es hatte ihm den Atem verschlagen, als hätte ihm gerade jemand mit voller Wucht in den Magen geboxt.

Durch seinen Kopf summte ein einziger Gedanke – wie eine eingesperrte Motte, die den Weg nach draußen sucht: Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten?

Hutch, der ohne Zweifel genauso schockiert war wie Slade – wenn nicht sogar noch mehr –, beugte sich vor und presste barsch hervor: „Was haben Sie da gerade gesagt?“

„Sie haben mich schon richtig verstanden, Hutch“, antwortete Maggie gelassen. Sie mochte vielleicht aussehen wie eine würdevoll alternde Elfe, doch sie nahm es mit den besten Staatsanwälten des Landes auf und machte – bildlich gesprochen – re – gelmäßig Kleinholz aus ihnen.

Slade schwieg. Er versuchte immer noch, die Neuigkeit zu verdauen.

„Schwachsinn“, murmelte Hutch. „Das ist Schwachsinn.“

Maggie seufzte. „Trotzdem“, meinte sie, „ist es das, was Mr Carmody wollte. Er war mein Mandant, und es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass sein letzter Wille erfüllt wird. Immerhin hat ihm Whisper Creek gehört. Er hatte jedes Recht, so über sein Eigentum zu verfügen, wie er es für richtig hielt.“

Slade hatte sich mittlerweile zumindest wieder so weit gefangen, dass er sprechen konnte. Seine Stimme klang dennoch heiser. „Was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass ich nichts davon möchte?“, wollte er wissen.

„Wenn Sie mir das sagten“, erklärte Maggie sanft, „würde ich antworten, dass Sie den Verstand verloren haben, Slade Barlow. Wir reden hier von einer Menge Geld. Dazu kommt eine äußerst gewinnbringende große Ranch und alles, was dazugehört – inklusive Gebäude, Tiere und Bodenschätze.“

Erneutes Schweigen – kurz, gefährlich und mit Emotionen aufgeladen.

Hutch war derjenige, der zuerst das Wort ergriff. „Wann hat Dad sein Testament geändert?“

„Er hat es nicht geändert“, erwiderte Maggie, ohne zu zögern. „Mr Carmody hat die Papiere vor Jahren aufsetzen lassen, da war mein Vater noch in der Kanzlei tätig. Er hat sie vor sechs Monaten, nachdem seine Krankheit diagnostiziert wurde, sogar nochmals persönlich durchgesehen. Es ist das, was er wollte, Hutch.“

Hutch schnappte sich seine Ausdrucke und stand auf. Slade erhob sich ebenfalls, ließ die Dokumente jedoch liegen. Ihm kam alles völlig unwirklich vor. Wahrscheinlich träumte er. Jeden Moment würde er in kaltem Schweiß gebadet zwischen zerwühlten Laken allein in seinem alten Bett aufwachen … In seiner Wohnung aufwachen, in der er lebte, seit er vor zehn Jahren nach dem College, einem militärischen Einsatz und einer kurzen Ehe – gefolgt von einer höchst freundschaftlichen Scheidung – nach Parable zurückgekehrt war.

„Ich fasse es nicht“, murmelte Hutch. Seine Stimme war rau wie Sandpapier. Er war für die Rancharbeit angezogen und trug alte Jeans, ein blaues Baumwollhemd und ein Paar abgewetzte Stiefel. Vermutlich bedeutete das, dass er genauso wenig wie Slade gewusst hatte, was es mit diesem Termin auf sich haben würde.

„Danke, Maggie“, hörte Slade sich sagen, während er sich zum Gehen umwandte.

Er war nicht dankbar; nur aus Gewohnheit war es ihm herausgerutscht.

Maggie erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und ihm nach. Dann drückte sie ihm den Ausdruck des Testaments seines Vaters mit sanfter Gewalt in die Hand. „Lesen Sie es wenigstens“, verlangte sie. „Ich werde Sie in ein paar Tagen zu einem weiteren Gespräch zu mir bitten. Bis dahin haben Sie beide Zeit, alles zu verarbeiten.“

Slade erwiderte nichts. Er spürte, wie das Papier zerknitterte, als er reflexartig die Blätter fester umklammerte.

Nachdem er wenige Augenblicke später die Tür seines Pickups geöffnet hatte, stand Hutch wieder neben ihm.

„Ich kaufe dir deine Hälfte der Ranch ab“, schlug er mit gepresster Stimme vor. „Das Geld interessiert mich nicht. Davon habe ich ohnehin genug. Aber Whisper Creek ist seit fast hundert Jahren im Besitz meiner Familie. Mein Urgroßvater hat das ursprüngliche Haus und den Stall mit seinen eigenen Händen gebaut. Also sollte die Ranch mir allein gehören.“

Die Betonung von meiner Familie war ein subtiler und gleichzeitig unmissverständlicher Wink mit dem Zaunpfahl.

Slade erwiderte den grimmigen Blick seines Halbbruders. Dann griff er nach seinem Hut, den er – nach alter Cowboytradition – mit der Krempe nach oben auf dem Beifahrersitz seines Wagens liegen lassen hatte, bevor er Maggies Kanzlei betreten hatte. „Ich muss darüber nachdenken.“

„Was gibt es da nachzudenken?“, fragte Hutch nach einer weiteren spannungsgeladenen Pause. „Ich zahle bar, Barlow. Nenn mir deinen Preis.“

Nenn mir deinen Preis. Slade wusste, dass er auf den Deal eingehen sollte. Er sollte einfach froh sein, dass John Carmody es für angebracht gehalten hatte, ihm etwas zukommen zu lassen – wenn auch erst nach seinem Tod. Alles, was Slade tun musste, war, Ja zu sagen. Dann könnte er sich das kleine Stück Land kaufen, auf das er schon seit ein paar Jahren ein Auge geworfen hatte. Er könnte es bar bezahlen, statt seine Ersparnisse für eine Anzahlung plündern zu müssen. Doch irgendetwas hielt ihn davon ab, Hutchs Angebot anzunehmen; etwas, das andere – tiefere – Gründe hatte als seine generelle Unfähigkeit, impulsiv zu reagieren.

Indirekt hatte John Carmody zu guter Letzt seine Existenz doch noch zur Kenntnis genommen. Slade brauchte Zeit, um dieses Wissen erst einmal zu verdauen und herauszufinden, was es bedeutete. Wenn es denn überhaupt etwas bedeutete …

„Ich melde mich bei dir.“ Slade stieg in seinen Pick-up und setzte seinen Hut auf. „Inzwischen muss ich mich um mein County kümmern.“ Er knallte die Autotür zu.

Hutch schlug mit der Handkante fest gegen die Tür. Dann drehte er sich um, stürmte zu seinem Pick-up mit dem Whisper-Creek-Logo drauf, lief um die Motorhaube herum, riss die Wagentür auf und sprang auf den Fahrersitz.

Slade beobachtete, wie sein Halbbruder das Auto anließ, den Rückwärtsgang einlegte und die Reifen dabei ordentlich Kies aufwirbelten. Hutch war sichtlich wütend, aber immerhin so schlau, nicht das Tempolimit zu überschreiten, während der Sheriff zusah.

Slade wartete ein paar Sekunden, dann gab er Gas und bog in die schmale Nebenstraße ein. Er sollte längst in seinem Büro drüben im Justizgebäude sein und seine Deputys auf Streife in die verschiedenen Teile des Countys schicken. Stattdessen fuhr Slade los Richtung Highway. Fünf Minuten später hielt er vor dem Zuhause seiner Mutter, einem alten Wohnwagen mit rostgesprenkeltem Aluminiumunterbau und einem Anbau aus Sperrholz, der als Wohnbereich diente.

In seiner Kindheit hatte sich Slade manchmal wegen des chaotischen Gebildes aus Metall und Holz geschämt. Es war so notdürftig zusammengebaut, dass nur mehr das hüfthohe Unkraut, ein paar aufgebockte Schrottautos und rostige Haushaltsgeräte auf der Veranda fehlten, um der klassischen Hinterwäldler-Behausung zu entsprechen. Callie hatte ihn gezwungen, die zweifarbigen Außenwände des Wohnwagens – jenen Teil, in dem sich der Friseursalon befand – mindestens zweimal im Jahr gründlich zu reinigen. Außerdem hatte Slade den Rest regelmäßig frisch gestrichen.

Auf dem staubigen Schild am Rand des Schotterparkplatzes waren diese Woche sogar alle Wörter richtig geschrieben: Acrylnägel: halber Preis. Zehn Prozent auf Strähnchen/Dauerwelle.

Slade schmunzelte, als er den Motor abstellte und ausstieg.

Der Salon öffnete erst um zehn Uhr, doch drinnen brannte bereits Licht. Höchstwahrscheinlich blubberte auch schon das Wasser in der Kaffeemaschine.

Kaum dass Slade sich dem Wohnwagen näherte, ging die Tür auf, und Callie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln. In der Hand hielt sie einen Besen.

„Hey!“, rief sie.

„Hey“, erwiderte Slade missmutig.

Callie Barlow war eine kleine Frau mit großer Oberweite und rotbraunen Haaren, die sie mit einer gewaltigen Plastikspange hochgesteckt hatte. Sie trug türkisfarbene Jeans, rosa Westernstiefel und ein grellgelbes T-Shirt, das mit kleinen Strasssteinchen verziert war.

„Na, das ist aber eine Überraschung.“ Sie stellte den Besen beiseite und klopfte sich die staubigen Hände ab. Ihr Gesichtsausdruck war herzlich wie immer, doch der Blick ihrer grauen Augen war erstaunt, fast schon besorgt. Sie wusste, dass Slade seinen Job ernst nahm und es ihm überhaupt nicht ähnlich sah, während seiner Dienstzeit bei ihr vorbeizuschauen. „Sorgt dein Revier jetzt schon selbstständig für Recht und Ordnung?“

„Meine Deputys halten die Stellung“, antwortete Slade. „Ist der Kaffee schon aufgesetzt?“

„Natürlich.“ Callie trat einen Schritt zurück, damit er hereinkommen konnte. „Das ist ungefähr das Erste, was ich jeden Morgen mache – die Kaffeemaschine einschalten.“ Nur kurz und kaum merklich runzelte sie die Stirn. Schließlich gewann aber ihre angeborene direkte Art die Oberhand. „Na, was ist schiefgelaufen?“, fragte sie.

Slade seufzte, nahm seinen Hut ab und legte ihn auf die Theke neben Callies Kasse. „Ich weiß nicht, ob schiefgelaufen der richtige Ausdruck ist“, meinte er. „Ich komme gerade aus Maggie Landers’ Kanzlei. Scheint so, als hätte John Carmody mich in seinem Testament bedacht.“

Erstaunt riss Callie die Augen auf. Dann musterte sie ihn skeptisch. „Wie bitte?“ Sie räusperte sich.

Er hakte seine Daumen in die Gürtelschlaufen seiner Jeans, neigte den Kopf zur Seite und betrachtete seine Mutter prüfend. Falls Callie von der Erbschaft gewusst hatte, gelang es ihr verdammt gut, sich nichts anmerken zu lassen.

„Die Hälfte“, fuhr er fort. „Er hat mir die Hälfte von allem vererbt, was er besessen hat.“

Callie ließ sich auf einen der Frisierstühle fallen. Beinahe hätte sie sich den Kopf an der Plastiktrockenhaube gestoßen. Sie blinzelte ein paarmal, wobei sich in einem Augenwinkel die falschen Wimpern lösten. Sie drückte sie mit der Fingerspitze wieder fest. „Das glaube ich einfach nicht“, murmelte sie.

Slade schob die Trockenhaube über dem Stuhl seiner Mutter hoch und setzte sich; umfasste die Hand seiner Mutter gerade lang genug, um sie kurz zu drücken.

„Glaub es ruhig.“ Er war ziemlich ratlos, was er sagen sollte. Er liebte Callie und sie standen sich sehr nahe, doch sie hatte ihn nicht zu einem Menschen erzogen, der sofort wegen irgendwelcher Neuigkeiten nach Hause lief.

„Wie geht es jetzt weiter?“, fragte sie leise. Ihre Unterlippe zitterte ein wenig, und in ihren Augen, die normalerweise strahlten und keck funkelten, lag ein bedrückter, fast gequälter Ausdruck.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Slade leise. „Hutch hat es – was nicht anders zu erwarten war – nicht besonders gut verkraftet. Er hat bereits angeboten, mir meinen Anteil der Ranch abzukaufen.“

Callie schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war das alte Leuchten in ihrem Blick wieder da. Callie war zäh; hatte es immer sein müssen. Schon früh hatte sie ihre Eltern verloren und später ein uneheliches Kind in einer Stadt bekommen, in der so etwas ein Problem darstellte. Sogar ein großes Problem. Aber wegen dieser Schwierigkeiten war Callie nicht zu einer verbitterten Frau geworden, wie es bei manch anderen der Fall war. Vielmehr hatte sie die Dinge so genommen, wie sie kamen, das Beste daraus gemacht und Slade so erzogen, dass er sie – und sich selbst – respektierte. Sie gehörte zu den ausgeglichensten Menschen, die Slade kannte. Manchmal allerdings fragte er sich, wie viel von dieser Ausgeglichenheit nur gespielt war.

„Ein oder zwei Mal“, begann sie, „als du noch ein Teenager warst, hat mir John ein paar Dollar für Lebensmittel, Glühbirnen oder Dinge zugesteckt, die du für die Schule brauchtest. Doch dass er das tun würde, hätte ich nie gedacht. Keine Sekunde.“

„Er war immer für eine Überraschung gut, schätze ich.“ In Slades Worten schwang ein Hauch von Sarkasmus mit.

„Nicht überraschend war, wie eingebildet er war“, erwiderte Callie. „Er hatte furchtbare Angst, dass ich mich erdreisten würde, dich nach ihm zu nennen. Dadurch wäre der Skandal noch größer geworden, als er ohnehin schon war. Aber nachdem er erfahren hatte, dass ich dich ‚Slade‘ genannt hatte, meinte er, ich hätte wohl zu viele Westernserien im Fernsehen geschaut. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, ihm zu erklären, dass ich deinen Namen aus einer Geschichte hatte, die ich in Ranch Romances gelesen habe.“

Slade lächelte. Callie hatte ihm von diesen Romanheften und davon erzählt, wie sie damals beim Lesen alles um sich herum vergessen hatte. Sie hatte ihm auch gesagt, dass sie ihn nach ihrem Lieblingshelden benannt hatte.

Bei John Carmodys Beerdigung war sie nicht gewesen. Soweit Slade sich erinnern konnte, hatte sie in letzter Zeit auch nie von ihm gesprochen. Erst jetzt kam Slade in den Sinn, dass sie möglicherweise dennoch um ihn trauerte. Sie musste John Carmody einmal geliebt haben.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich.

Sie nickte. Dann schluckte sie. „Nimmst du Hutchs Angebot an?“, fragte sie schließlich.

Wieder seufzte er. „Wenn ich das bloß wüsste. Einerseits kann ich es mir durchaus vorstellen. Ich könnte das Stück Land kaufen, auf das ich schon seit einer Weile ein Auge geworfen habe. Ich könnte ein Haus und einen Stall bauen. Andererseits … Tja, ein kleiner Teil von mir möchte mein Geburtsrecht geltend machen und will, dass es die ganze Welt erfährt.“

Callie tätschelte seine Hand, stand von dem Stuhl auf und ging zur Kaffeemaschine, einem glänzenden Ungetüm aus Metall, das wie ein altmodischer Dampfkocher klang, wenn man es einschaltete.

„Ich schätze, das ist verständlich.“ Sie wandte ihm den Rücken zu, während sie Kaffee in einen großen Styroporbecher goss und ihn mit einem Deckel verschloss. „Der Wunsch, dass die Leute die Wahrheit erfahren, meine ich.“

Slade war aufgestanden, hatte seinen Hut von der Theke genommen und drehte die Krempe langsam zwischen den Händen. „Ich glaube nicht, dass es irgendjemanden überraschen wird“, wandte er ein. Er erinnerte sich gut an das Gerede, das in seiner Jugend der Auslöser für viele Prügeleien auf dem Schulhof gewesen war.

Callie war nicht einmal zwanzig Jahre alt gewesen, als sie sich mit Carmody eingelassen hatte. Sie war naiv und mutterseelenallein gewesen und gerade von einem dubiosen Beauty-Institut in Missoula zurückgekehrt – mit nichts als einem Friseurdiplom in der Tasche. Außer dem alten Wohnwagen, in dem sie aufgewachsen war, und den zwei kargen Morgen Land dahinter, die sich schräg abfallend zum Ufer des Buffalo Creek erstreckten, hatte sie nichts besessen. Ihr geliebter „Großvater“ war damals bereits zwei Jahre tot gewesen.

„Es tut mir leid, Slade“, sagte sie nun. „Es tut mir leid, was du meinetwegen alles durchmachen musstest. Sobald ich erfahren hatte, dass John ohnehin die ganze Zeit vorhatte, eine andere zu heiraten, wurde mir von praktisch allen Leuten geraten, dich zur Adoption freizugeben. Aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Ich nehme an, das war egoistisch von mir, doch du warst mein Junge, und ich wollte sehen, wie du zu einem Mann heranwächst.“

„Ich weiß.“ Slade beugte sich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Ihm war das alles bereits bekannt, und er konnte verstehen, dass Callie viele Dinge bereute. Tatsächlich war er aber froh, dass sie ihn behalten hatte. Sie hatte viele Opfer gebracht und hart gearbeitet, um das Geschäft aufzubauen, von dem sie beide gelebt hatten. Manchmal mehr schlecht als recht … Des Öfteren hatte sie darauf verzichtet zu heiraten, aus Parable wegzuziehen und dadurch endlich ein gewisses Maß an gesellschaftlichem Ansehen genießen zu können.

Stattdessen hatte sie durchgehalten, hier, in ihrer alten Heimatstadt. Sie war davon überzeugt gewesen, jedes Recht zu haben, hierzubleiben. Das Gleiche hatte sie für ihren Sohn in Anspruch genommen. Und zwar unabhängig davon, ob es John Carmody, seiner Braut aus der High Society von Parable oder einigen hochnäsigen Bewohnern der Stadt nun gefiel oder nicht.

Slade hatte versucht, in Worte zu fassen, wie dankbar er für den unerschütterlichen Mut war, den sie jeden Tag aufs Neue bewiesen hatte. Dankbar für das gute Vorbild, das sie ihm gewesen war, indem sie hart gearbeitet und sich nicht hatte unterkriegen lassen. Und dankbar dafür, dass sie sich einfach dem Leben stellte und aus dem, was sie hatte, immer das Beste machte. Nur ihretwegen war er zu einem starken Menschen mit einem scharfen Verstand herangewachsen, der sich in seiner Haut wohlfühlte. Sie hatte ihm ein unerschütterliches Vertrauen in sich selbst und in sein Urteilsvermögen mitgegeben, das ihn nie verlassen hatte – auch nicht während seines Einsatzes im Irak und der schweren Zeit, als seine Ehe zerbrochen war.

Er blieb bei der Tür stehen und drehte sich – immer noch mit dem Hut in der Hand – zu ihr um. „Jetzt kannst du dich zur Ruhe setzen. Vielleicht eine Reise machen oder etwas anderes unternehmen.“

Callie lachte melodisch. „So weit kommt’s noch, Slade Barlow“, erwiderte sie. „Falls du glaubst, dass ich einen dicken Scheck von dir annehme und den Rest meines Lebens Pralinen esse oder mir in meinem Urlaub anderer Leute Gärten angucke, hast du dich getäuscht. Ach, ich wüsste gar nicht, was ich mit mir anfangen sollte, wenn ich meinen Salon nicht hätte. Und was würden denn meine Kunden ohne mich tun?“

Slade schüttelte den Kopf und grinste. „Denk einfach darüber nach.“ Eine seltsame, bittersüße Traurigkeit hatte ihn erfasst. „Außerhalb dieser Stadt gibt es eine ganze Welt, Mom.“

Callie machte eine abwehrende Handbewegung und griff wieder nach dem Besen. „Mag sein. Aber ich bleibe hier.“

„Du bist verdammt dickköpfig. Ist dir das klar?“

„Was glaubst du, woher du das hast?“, entgegnete sie.

Slade hatte immer gedacht, dass er seine Sturheit – ebenso wie sein Aussehen und seine Statur – von John Carmody hatte. Jetzt allerdings erkannte er, dass diese Eigenschaft die Kehrseite der unerschütterlichen Beharrlichkeit seiner Mutter war.

Er winkte, ging zu seinem Pick-up, stieg ein und fuhr los.

Er hätte schon vor einer halben Stunde bei der Arbeit sein müssen.

Mittlerweile hatten seine Deputys und Becky, die langjährige Sekretärin, vermutlich schon alles für eine Suchaktion in die Wege geleitet. Samt Leichenspürhunden und einem Plan für eine Rasterfahndung.

Bei dieser Vorstellung musste Slade auf seiner Fahrt zurück ins Sheriffbüro breit grinsen.

Joslyn Kirk hatte an diesem Morgen verschlafen. Als sie die Augen öffnete, brauchte sie ein paar Sekunden, bis sie wusste, wo sie war: ausgerechnet in jener Stadt, in die sie nie mehr einen Fuß hatte setzen wollen – Parable, Montana.

Sie richtete sich in ihrem Schlafsack auf. Da sie gestern spät in der Nacht angekommen war, hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, das alte Messingbett zu beziehen. Jetzt sah sie sich um und ließ die Tapeten mit Rosenmotiven, die abgewetzten Dielen, die Zierleisten aus Holz und den schweren Kleiderschrank auf sich wirken.

Sie befand sich im Gästehaus hinter jenem Herrenhaus, das den Großteil ihrer Kindheit ihr Zuhause gewesen war. Viele Erinnerungen holten sie ein: An einem sonnigen Morgen wie heute hätte am anderen Ende des weiten grünen Rasens jetzt ihre Mutter auf der Veranda gesessen. Sie hätte Kaffee getrunken und die Zeitung gelesen. Opal, die Haushälterin, hätte in der riesigen Küche gerade das Frühstück vorbereitet.

Jetzt war ihre Mutter in Santa Fe, wo sie mit Ehemann Nummer drei, einem erfolgreichen Künstler, zusammenlebte. Ehemann Nummer zwei, Elliott Rossiter, war im Gefängnis an einer Embolie gestorben. Wohin es Opal verschlagen hatte, wusste der Himmel. Sie und Joslyn hatten sich tränenreich voneinander verabschiedet und sich versprochen, in Kontakt zu bleiben. Doch dann hatten sie sich vor Jahren aus den Augen verloren.

Joslyn seufzte, strich sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht und schlüpfte aus dem Schlafsack. Es hatte keinen Sinn, wegen der Vergangenheit trübselig zu werden. Schließlich war sie aus einem bestimmten Grund nach Parable zurückgekehrt. Und sie musste damit beginnen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Damit sie diese Stadt möglichst bald wieder verlassen konnte.

Nach einem kurzen Zwischenstopp im Bad und einer schnellen Katzenwäsche am Waschbecken tapste sie barfuß in die winzige Küche. Dort musste sie mehrere Einkaufstüten durchwühlen, bis sie die billige Kaffeemaschine fand, die sie – neben ein paar anderen lebensnotwendigen Dingen – am Vortag beim großen Discounter am Highway gekauft hatte.

Sie kämpfte kurz mit der Filtermaschine, dann mit dem Kaffeepulver und zu guter Letzt mit dem altmodischen Wasserhahn.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie innehalten – aber nur kurz. Ohne Kaffee war nichts mit ihr anzufangen, und außerdem wusste sie, wer der Besucher war.

„Komm rein!“, rief sie.

Ein metallisch klingendes Ruckeln an der Haustür war zu hören, und einen Moment später betrat Kendra Shepherd – seit ewigen Zeiten Joslyns beste Freundin – die Küche.

Kendra – blond und mit der Eleganz einer Balletttänzerin gesegnet – wirkte in ihrem grünen Hosenanzug und den High Heels munter und voller Tatendrang. Sie leitete die Immobilienfirma „Shepherd Real Estate“ – und das mit sichtlichem Erfolg.

„Du solltest die Tür nachts wirklich abschließen“, sagte Kendra ohne Umschweife. „Auch in Parable gibt es Kleinkriminelle, weißt du.“

„Solange sie nur klein sind, brauche ich mir ja keine Sorgen zu machen“, entgegnete Joslyn ungerührt und zuckte mit den Schultern. Sie hatte sich gerade über die Kaffeemaschine gebeugt und suchte unter den verschiedenen Schaltern den Einschalt-Knopf. Nachdem sie ihn gefunden hatte, drückte sie ihn mit der Spitze ihres Zeigefingers hinunter. Dann richtete sie sich auf, lächelte ihre Freundin an und fühlte sich dabei wegen ihrer Flanellpyjamahose und des riesigen T-Shirts kein bisschen verlegen.

„Ich meine es ernst.“ Kendra ließ nicht locker. „Man möchte meinen, jemand wie du, der in Phoenix lebt, wäre vorsichtiger.“

Joslyn durchwühlte erneut die Einkaufstüten, diesmal auf der Suche nach Tassen und Süßstoff. „Na gut“, sagte sie leicht abwesend aufgrund ihres dringenden Bedürfnisses nach einem Koffeinschub. „Ich hab’s verstanden. Ab sofort werde ich jede Tür und jedes Fenster verriegeln. Vielleicht lege ich mir auch einen Rottweiler mit Killerinstinkt zu.“

Kendra lächelte und zog sich einen Stuhl an den kleinen Tisch, an dem Platz für zwei Personen war. „Immer noch die alte Besserwisserin …“, stellte sie fest. Es klang fast melancholisch.

„Es ist eine Überlebensstrategie“, erklärte Joslyn halb im Scherz, halb im Ernst. Sie strich sich wieder die Haare aus dem Gesicht und betrachtete ihre Freundin voller Zuneigung. „Danke, Kendra. Dafür, dass du mir einen Job gibst und mir das Gästehaus vermietet hast, meine ich.“

Kendra setzte sich mit einer anmutigen Bewegung hin. Sie hatte ihr helles, seidiges Haar zu einem lockeren Knoten im Nacken hochgesteckt, und ihr einfacher Schmuck – goldene Ohrstecker und ein Armreif am rechten Handgelenk – sah elegant und dezent aus.

„Ich habe dich vermisst, Joss“, sagte Kendra, als Joslyn sich neben sie setzte. „Es ist toll, dich wieder hier zu haben …“ Sie verstummte und senkte den Blick.

„Aber?“, fragte Joslyn leise.

„Ich kann mir nicht recht erklären, warum du hier sein willst. Nach allem, was passiert ist.“ Kendra errötete, schaute Joslyn aber nun wieder direkt an. „Wobei du natürlich keine Schuld hattest, doch …“

Die Kaffeemaschine begann zu zischen, und ein verführerischer Duft breitete sich aus. „Ich habe meine Gründe“, antwortete Joslyn. „Ich verlasse mich darauf, dass du mir vertraust, Kendra. Zumindest für die nächsten paar Monate. Sobald ich es erklären kann, werde ich es tun.“

„Die Leute hatten in letzter Zeit mysteriöse Schecks in ihrer Post“, meinte Kendra nachdenklich. „Schecks von einer großen Anwaltskanzlei in Denver. Und, du hast deine Software-Firma verkauft …“

Joslyn sprang auf, ging rasch zur Kaffeemaschine auf der winzigen Anrichte und spülte unter dem Wasserhahn eilig die zwei einfachen Kaffeetassen ab. „Stimmt, ich habe die Firma verkauft“, gab sie zu. Sowie sie es aussprach, überfiel sie ein Gefühl des Verlusts – und das, obwohl der Deal schon vor Wochen abgewickelt worden war. „Allerdings verstehe ich nicht, was das mit den Leuten zu tun hat, die unerwartet Schecks bekommen.“

„Die Empfänger der Schecks haben alle etwas gemeinsam.“ Kendra ließ nicht locker. Sie wäre jetzt nicht in dieser Position, die sie bekleidete, wenn sie schwer von Begriff wäre. „Sie hatten alle Geld in die … Firma deines Stiefvaters investiert.“

Joslyn spürte einen Kloß im Hals. „Zufall“, murmelte sie, nachdem sie wieder sprechen konnte.

Ihre Hände zitterten ein wenig, während sie Kaffee in die beiden Tassen einschenkte.

„Wie du meinst …“, antwortete Kendra nachsichtig.

Als Joslyn sich mit je einer Tasse in der Hand umdrehte, schob Kendra ihren Stuhl zurück und stand auf. „Ich sollte besser los. „Ich habe heute Vormittag eine Vertragsunterzeichnung, und anschließend zeige ich dem gleichen Interessenten zum siebzehnten Mal eine Hühnerfarm.“ Sie blickte hinunter auf ihre Schuhe. „Meinst du, ich sollte statt der High Heels besser Stiefel anziehen?“

Joslyn war über den Themenwechsel so erleichtert, dass sie nicht widersprach. „Wahrscheinlich schon“, stimmte sie zu und stellte sich vor, wie Kendra mit hohen Absätzen auf einer Hüh-nerfarm herumstakste.

„Würde es dir etwas ausmachen, einoder zweimal im Büro nach dem Rechten zu sehen? Nur für den Fall, dass jemand vorbeikommt, der sich eine Immobilie anschauen will. Slade Barlow taucht regelmäßig auf und erkundigt sich, ob das Kingman-Anwesen schon verkauft ist.“

Bei dem Namen Barlow klingelte es sofort bei Joslyn. Sie spürte einen Stich in der Brust und musste erst einmal schlucken, bevor sie antworten konnte. Als Kinder und Teenager hatten sie und Slade in verschiedenen Welten gelebt. Ihre war reich, seine arm gewesen. Damals war sie die Freundin seines Halbbruders Hutch gewesen, was die Sache auch nicht gerade besser gemacht hatte. Obwohl Slade es nie ausgesprochen hatte – er hatte ohnehin kaum je ein Wort mit ihr geredet –, wusste sie, was er damals von ihr dachte: dass sie verwöhnt, egozentrisch und oberflächlich sei.

Schlimmer noch: Er hatte recht gehabt.

Dann war ihr Stiefvater Elliott bankrottgegangen. Und sobald die vielen ehrlichen, hart arbeitenden Leute in Parable gemerkt hatten, dass sie von dem einstigen Lieblingssohn von Parable um ihre Ersparnisse gebracht worden waren, endete Joslyns behütetes Leben mit einem Schlag. Sie, die früher so beliebt gewesen war, fand rasch heraus, wer ihre wahren Freunde waren. Nur Kendra und Hutch hielten zu ihr. Bald nach Elliott Rossiters Verhaftung packten sie und ihre Mutter alles, was sie mitnehmen konnten, in Opals alten Kombi und verließen im Dunkel der Nacht die Stadt.

Joslyn schämte sich immer noch, wenn sie daran dachte. Wegzulaufen widersprach allem, woran sie glaubte.

„Du konntest nichts dafür“, rief ihr Kendra in Erinnerung. Sie war immer schon sensibel und einfühlsam gewesen. Sogar so einfühlsam, dass sie manchmal anscheinend sogar die Gedanken anderer Leute lesen konnte. Wie jetzt zum Beispiel. „Niemand gibt dir die Schuld an dem, was passiert ist, Joss.“

Wieder fühlte Joslyn diesen bitteren, schmerzenden Kloß im Hals, der es ihr kurz unmöglich machte, zu sprechen. Sie stellte die Tassen auf den Tisch, wobei sie den Kaffee fast verschüttete, und zwang sich, Kendra ins Gesicht zu schauen.

„Trotzdem denkst du, ich hätte nicht herkommen sollen“, sagte sie leise und mit ungewohnt zittriger Stimme.

Kendra legte ihre Hand auf Joslyns Arm. „Den meisten Leuten hier ist klar, dass du mit dem Betrug nichts zu tun hattest. Meine Güte, du warst doch noch ein Kind. Aber ein paar Leute nehmen Rossiter die Sache von damals immer noch übel. Möglich, dass sie irgendetwas sagen … Oder tun …“

Joslyn schloss einen Moment lang die Augen. Dann öffnete sie sie energisch und nickte, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte.

Sie würde das tun, wovon sie wusste, dass sie es machen musste – auch wenn sie nicht genau erklären konnte, warum. Eines allerdings war sicher: Es würde nicht einfach werden.