Hiltrud Leenders

Michael Bay

Artur Leenders

Die Burg

Roman

Eins

«Fertig», zwitscherte Katharina und sprang von der Bank. «Ich geh hoch, ja, kann ich? Ich muss die Ponybilder einkleben, die Opa mir geschenkt hat.»

«Du hast dein Ei nicht gegessen», erwiderte Astrid. «Und ich habe dich zweimal gefragt, ob du wirklich eins möchtest.»

«Aber wenn ich doch satt bin!», kam es trotzig zurück.

Helmut Toppe nahm die Zeitung herunter. «Flitz los, Maus. Das Ei kannst du später noch essen.»

Katharina schaute ihre Mutter an, dann grinste sie und stürmte aus der Küche.

«Mit deinen Söhnen warst du strenger», stellte Astrid trocken fest.

Toppe lächelte schief. «Ja, leider.» Dann schüttelte er den Kopf. «Ponybilder – sag mal, wie lange hat dieser Pferdefimmel eigentlich bei dir angehalten?»

«So bis siebzehn, achtzehn.»

«Himmel!» Toppe schluckte. «Da haben wir ja noch einiges vor uns.»

Astrid schmunzelte. «Nicht unbedingt, die meisten Mädchen verlieren nach vier, fünf Jahren die Lust daran. Bei mir ist das erst viel später losgegangen. Als ich anfing, mich für Jungs zu interessieren, fanden meine Eltern, dass Pferde eine gute Ablenkung wären, und haben mich zum Reiten gebracht.»

«Und wie alt warst du da?»

«Zwölf.»

«Donnerwetter, ganz schön frühreif!»

«Nicht wahr?» Sie grinste. «Mich haben meine Eltern allerdings nicht so verwöhnt, wie sie es jetzt mit Katharina tun. Ich habe nicht sofort ein eigenes Pony bekommen. Bei ihrem Enkelkind sind sie großzügiger.»

«Na, Gott sei Dank, sonst wärst du wahrscheinlich eine ganz schöne Zicke geworden.»

Er griff zur Kaffeekanne. «Möchtest du auch noch einen?»

«Danke, ja.» Sie räkelte sich ausgiebig. «Ich kann’s kaum glauben, dass wir tatsächlich einmal gleichzeitig dienstfrei haben, und das auch noch über Ostern.»

Toppe beugte sich über den Tisch und küsste sie. «Du weißt, dass ich heute Nachmittag zu Meinhards offizieller Verabschiedung muss?»

«Ja, sicher. Glaubst du, dass sie kommt?»

Charlotte Meinhard, die Leiterin der Klever Kommissariate, war vor einem Dreivierteljahr an Brustkrebs erkrankt und hatte umgehend einen Antrag auf Frühpensionierung gestellt. Keiner hatte sie seither gesehen, und man munkelte, dass sie längst nicht mehr in Kleve wohnte, sondern zu ihrem Sohn nach Kanada gezogen war.

«Kann ich mir nicht vorstellen», antwortete Toppe. Als Charlotte Meinhard nicht wieder in den Dienst zurückgekehrt war, hatte man ihm kommissarisch den Posten übertragen, eine Aufgabe, die er nur widerstrebend erfüllte. Die Verwaltungsarbeit, die damit verbunden war, machte ihm wenig Freude, er fühlte sich in seinem neuen, piekfeinen Büro im Verwaltungstrakt immer noch nicht wohl, und er vermisste sein Team.

Astrid lächelte. «Jetzt grummel nicht. Wir sind alle froh, dass du der neue Chef bist. Etwas Besseres hätte uns doch gar nicht passieren können. Außerdem schreibt dir doch kein Mensch vor, wie du deinen neuen Job zu machen hast. Es steht nirgendwo geschrieben, dass du ständig in Schlips und Kragen rumlaufen musst, und wenn du weiter vor Ort ermitteln willst, kann dich niemand davon abhalten.» Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen. «Ich bin heute Nachmittag auch unterwegs, mit Katharinas Klasse. Wir schauen uns dieses historische Camp an.»

«Ach ja», sagte er und blätterte in der Zeitung, «darüber habe ich doch eben was gelesen. Hier, eine Stadtmiliz aus Worcester, nicht?»

«Kleves Partnerstadt, genau. Unser Bürgermeister hat alle Schulen angeschrieben, man solle sich das Lager unbedingt anschauen. Sie würden dort ziemlich originalgetreu das 17. Jahrhundert nachstellen.»

«Englischer Bürgerkrieg», murmelte Toppe und blätterte die Zeitung um. «Die Truppe scheint sich nicht nur Freunde zu machen, hier sind allein drei Leserbriefe. So wie es aussieht, ballern die in ihrem Camp mit Schwarzpulver herum. Eine Frau Thinnes schreibt, dass ihr bei jedem Schuss fast das Herz stehenbleibt. ‹Mein Mann und ich haben im Krieg genug durchgemacht.› Und Rudolf Coenders regt sich über die Lärmbelästigung auf. ‹Wir wohnen gute vierhundert Meter weg, und trotzdem klingeln uns die Ohren. Und darüber hinaus: Hat man denn alles vergessen? Wer sind wir denn, dass wir die Engländer bei uns Krieg spielen lassen? Wer hat das genehmigt? Man müsste den mal aufklären und ihm die Leviten lesen!›»

Astrid lachte. «Sehr gelungen.»

Toppe faltete die Zeitung zusammen, stapelte Aufschnitt, Käse und Butter und brachte sie zum Kühlschrank. «Wir sollten möglichst bald zum Einkaufen fahren. Nachher ist bestimmt die Hölle los, schließlich ist morgen Feiertag. Hast du eigentlich Ostereierfarbe gekauft?»

Astrid schlug sich gegen die Stirn. «Ach, verdammt, das hab ich mal wieder vergessen. Ostern scheint nicht mein Fest zu sein.»

«O weh!» Toppe umfasste sie. «Wenn wir Katharina wieder mit Tee, Rote-Bete-Saft und Currypulver kommen, gibt es Ärger. Sie hat sich schon letztes Jahr beschwert, dass die Eier nicht bunt genug waren. Deine Batikmethode mit Nylonstrümpfen und hübschen Blättern hat sie nicht überzeugt.» Sie küsste ihn aufs Kinn. «Irgendwo werden wir schon noch ein paar Knallfarben auftreiben, vielleicht im Drogeriemarkt.»

 

«Wir treffen uns in der Burg, im Hof, hat Frau Jansen gesagt, Mama!», rief Katharina mit vor Aufregung schriller Stimme.

«Ich weiß, Schätzchen», antwortete Astrid. «Aber ich finde hier keinen Parkplatz.»

«Mann!», schimpfte ihre Tochter. «Wir kommen zu spät.»

Astrid zählte still bis fünf. «Überhaupt nicht, wir haben noch reichlich Zeit», sagte sie dann ruhig und wendete in einer Einfahrt. Vielleicht war an der Stiftskirche etwas frei.

«Aber da vorn steht Frau Jansen, und Clarissa ist auch schon da!»

«Und wir auch. Schau, da fährt jemand raus.»

«Bestimmt sind wir wieder die Letzten.»

Und das waren sie auch, obwohl es noch zehn Minuten vor der verabredeten Zeit war.

Die Kinder vergnügten sich auf der Galerie im Burghof, die Mütter scharten sich um den Brunnen und schwatzten. Ein Mann stand ein wenig abseits, anscheinend der Vater von Lilly und Max, den Zwillingen. Astrid wunderte sich, dass nicht mehr Väter gekommen waren, aber vielleicht mussten die meisten heute noch arbeiten. Die Frauen begrüßten Astrid durchaus freundlich, nahmen sie aber nicht in ihre Plauderrunde auf.

Sie war schon sechsunddreißig gewesen, als sie Katharina bekommen hatte, und damit gute zehn Jahre älter als die meisten anderen Mütter hier, von denen viele zurzeit nicht berufstätig waren. Deren Gespräche am Rande der Elternabende drehten sich zumeist um Schwangerschaften und ums «Shoppen», Themen, mit denen Astrid nichts anfangen konnte. Aber sie brauchte keine Frauenrunden mehr, hatte sie eigentlich nie gebraucht. Für ihre Eltern war sie völlig aus der Art geschlagen, aber die Rolle der Fabrikantentochter und Millionenerbin lag ihr nun einmal nicht. Sie waren schockiert gewesen, als sie zur Kripo gegangen war, und völlig außer sich, als sie sich in ihren Chef verliebt hatte, der etliche Jahre älter und damals auch noch verheiratet war. Ein einfacher Beamter, mein Gott! Auch wie sie lebten, in einer Wohngemeinschaft mit Freunden auf einem Rittergut, befremdete ihre Eltern. Keine Prachtvilla, kein Ferienhaus an der See. Erst seit Katharinas Geburt waren sie ein bisschen milder geworden, inzwischen sprachen sie Toppe sogar mit Vornamen an.

Frau Jansen klatschte in die Hände und rief die Kinder zusammen. «Kommt mal alle her! Von hier aus könnt ihr das Lager schon sehen.»

Astrid lugte über die wuselnden Jungen und Mädchen hinweg. Am Ufer des Flusses, der von hier oben beinahe schwarz aussah, standen auf einer großen Wiese eine Reihe heller Zelte, dunkel gekleidete Menschen liefen herum, direkt am Fluss standen ein paar Männer mit Kappen und roten oder grünen Schärpen über der Brust. Aus der Mitte des Camps stieg eine dünne Rauchsäule in den Himmel.

«So», rief Frau Jansen, «wir gehen jetzt hier die Treppen hinunter zum Kermisdal. Und denkt dran: Es wird nicht gerannt. Marcel, mach deinen Anorak zu, es ist kalt. Auf geht’s!»

 

Als sie beim Ruderclub um die Ecke bogen, war es Astrid, als hätte sie einen Zeitsprung gemacht. Ein großer Lagerplatz war mit Stroh ausgestreut, es gab zwei Reihen spitzer, kleiner Zelte aus dickem Segeltuch, die Gestänge aus grob bearbeitetem Holz. An der Stirnseite ein dunkelrotes, offenes Küchenzelt mit schweren Tischen, auf denen sich Holzschalen, Zinnkrüge, schwarze Töpfe, Pfannen und anderes Gerät stapelten. Davor eine etwa zwei Meter lange schmale Grube mit Rosten, unter denen ein Feuer glomm, brodelnde Kessel, ein Holzfass mit einem Zapfhahn, Körbe mit Kartoffeln, Kohlköpfen und Zwiebeln. Eine Ziege war hinter dem Fass angepflockt, ein paar Hühner scharrten im Stroh. Bitterer Rauchgeruch erfüllte die Luft.

«Kommst du, Mama?» Katharina fasste ihre Hand und zog sie mit sich zu ihrer Gruppe, die gerade von einem Mann in recht gutem Deutsch begrüßt wurde. Er trug schwarze, weite Kniehosen und ein braunes, wollenes Wams über einem geschnürten Hemd aus ungebleichtem Leinen. «Mein Name ist Colin», stellte er sich vor.

Am Rande des Camps waren unter Segeltuchdächern Stände verschiedener Gewerke aufgebaut: ein Feldscher, Spinnerinnen, ein Spielzeugschnitzer, ein Schreiber, zwei Männer, die Musketenkugeln gossen. Dorthin nahm Colin die Kinder mit und zeigte ihnen als Erstes die chirurgischen Instrumente. Astrid hörte seinen Erklärungen nur mit halbem Ohr zu, ähnliche Stände hatte sie schon öfter auf Handwerkermärkten gesehen. Viel mehr faszinierte sie das Lagerleben. Frauen in wollenen Röcken, geschnürten Miedern und weißen Hauben bereiteten das Essen zu, Kinder in langen, hellen Hemdchen spielten mit Reifen, Kreiseln und Holzkugeln, in einem Bollerwagen schlief, in ein Schaffell gekuschelt, ein Säugling. Hinter dem Küchenzelt waren die Männer versammelt. Knappe, harsche Befehle, und die Krieger führten verschiedene Manöver mit meterlangen Piken durch.

Colin scharte die Kinder um sich und erzählte ihnen von Oliver Cromwell, King Charles und der Schlacht von Powick Bridge, erklärte, dass England nicht immer eine Monarchie, sondern für kurze Zeit eine Republik gewesen sei.

«Meine Güte», dachte Astrid. «Die Kinder sind gerade mal acht, die verstehen doch überhaupt nicht, was du da erzählst.»

Das hatte der Mann anscheinend gerade auch gemerkt. «Wir gehen jetzt zu den Musketieren, da wird laut geknallt. Also, Ohren zuhalten.»

Die Musketiere waren die Männer mit den farbigen Schärpen, die Astrid schon von der Burg aus beobachtet hatte. An deren Hüften baumelten lange, glimmende Lunten.

«Wir schießen ohne Kugeln, nur mit Schwarzpulver», erklärte Colin. «Im Krieg ist das anders, aber hier ist das zu gefährlich.»

Aus kleinen hölzernen Behältern, die sie an einer Schnur über die Schulter gehängt trugen, füllten sie das Pulver ein und traten in einer Reihe ans Ufer. Witze reißend einigten sie sich auf ein Ziel auf der anderen Flussseite; so wie Astrid sie verstand, handelte es sich um eine Parkbank – und feuerten. Es war ohrenbetäubend, und es stank.

Katharina fing an zu weinen, und Astrid hockte sich schnell hin und nahm sie in die Arme. Neben ihr im Stroh lag ein junger Schütze, den der Rückstoß der Muskete gut drei Meter nach hinten geschleudert hatte. Er grinste sie aus seinem pulvergeschwärzten Gesicht frech an und rappelte sich auf. Die anderen kamen und klopften ihm auf die Schulter – es schien sich um eine Art Mutprobe zu handeln, eine möglichst große Menge Schwarzpulver zu nehmen.

«Möchtest du nach Hause, Maus?»

«Nein», schluchzte Katharina. «Aber die sollen nicht mehr schießen.»

Auch die anderen Kinder waren verschreckt, und Frau Jansen redete hitzig auf Colin ein, der nur die Achseln zuckte. «Hier ist die Führung beendet. Sie können sich aber gern noch weiter umsehen.»

«Sollen wir uns mal das Küchenzelt anschauen? Die haben da eine kleine Ziege.»

Aber Katharina war abgelenkt. «Guck mal, Mama», rief sie und zeigte auf eine Frau, die einen Korb voll brauner Eier auf der Hüfte trug.

Astrid stand auf. «Ruth?»

Die Frau stellte den Korb ab und kam ihnen lächelnd entgegen. Ruth Pannier – Astrid hatte sie vor Jahren in einem Italienischkurs kennengelernt, und sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, waren miteinander Kaffee trinken gegangen und hatten sich später, zusammen mit ihren Männern, ein paarmal zum Essen verabredet. Aber über dem alltäglichen Trott war ihre Beziehung in letzter Zeit so gut wie eingeschlafen.

Ruth hatte sich als Lyrikerin einen Namen gemacht und war viel unterwegs auf Buchvorstellungen und Lesereisen, ihr Mann Anton war Chirurg und außerdem in der Stadtpolitik engagiert, und Toppes und Astrids Beruf ließ auch nur wenig Freiraum für spontane Freizeitaktivitäten. Was sehr schade war, denn Astrid hatte die beiden wirklich liebgewonnen, und auch Helmut, der sich normalerweise leicht verschloss, hatte ihr Beisammensein genossen.

«Astrid, wie schön, dass wir uns treffen!» Ruth umarmte sie. «Mensch, Katharina, was bist du gewachsen!» Sie lachte. «Ich höre mich an wie meine eigene Mutter.»

«Was treibst du denn hier», staunte Astrid, «in diesem Aufzug?»

«Ach, Toni und ich kennen die Militia schon seit Jahren. Wir waren ein paarmal bei ihnen in England. Und sie wollten unbedingt, dass ich mal so richtig am Lagerleben teilnehme, und haben mich in dieses Kostüm gesteckt. Ich muss sagen, es macht mir Spaß.»

Katharina machte große Augen. «Können wir das nicht auch, Mama?»

«Nein, ich glaube nicht.»

«Aber kommt doch heute Abend zum Lagerfeuer», schlug Ruth aufgeräumt vor. «Das ist immer sehr romantisch.»

«Ich weiß nicht», zögerte Astrid, «wir gehören doch nicht dazu.»

«Ach was, es sind immer Gäste da, Toni kommt auch. Es ist doch höchste Zeit, dass wir einmal wieder Spaß miteinander haben. Geht es Helmut gut?»

 

Aber für einen wirklich romantischen Abend war es einfach zu kalt. Sie hatten einen für den Niederrhein ungewöhnlich langen Winter gehabt, bis in den März hinein Schnee, und vor vierzehn Tagen noch hatte es Nachtfrost gegeben. Aber wenigstens war es heute Abend trocken. Den Leuten von der Militia schien die Kälte nichts auszumachen, sie scharten sich um ein großes Lagerfeuer, die Frauen hatten sich wollene Tücher oder grobgewebte Decken um die Schultern gelegt, die Männer ihre Jacken zugeknöpft. Sie saßen auf Strohballen oder auf dem Boden, redeten, aßen und tranken Bier aus Zinnbechern und Humpen aus dickem Leder.

In unregelmäßigen Abständen steckten zwei Meter lange Eisenstangen mit Drahtkörben am oberen Ende in der Erde, in denen Holzscheite brannten. Sie waren außer dem Feuer die einzige Lichtquelle im Lager. Es roch nach Fluss, Rauch, stark gewürztem Essen und ungewaschenen Körpern.

Katharina zwischen sich an der Hand, kamen Toppe und Astrid nur zögernd näher, aber Ruth entdeckte sie und stellte die Holzschale beiseite, aus der sie gegessen hatte. «Da seid ihr ja! Ich hab den anderen schon erzählt, dass ihr kommt.»

Der Mann, der neben ihr saß, erhob sich und kam ihnen entgegen, er war groß und knochig und hatte eine sehr lange Nase. «Welcome», sagte er. «I’m John. Would you like to eat with us?»

Toppe streckte ihm die Hand entgegen. «That’s very kind but no, thank you. A beer would be nice, though. I’m Helmut and this is my family.»

Man holte zwei weitere Strohballen ans Feuer, und sie setzten sich neben Ruth, Toni kam mit zwei irdenen Krügen voll Bier. «Nicht dass ihr denkt, das wäre selbst gebraut, das ist gutes deutsches Altbier, von Sponsoren für dieses Camp gespendet.»

Toppe sah sich kopfschüttelnd um, nichts wies darauf hin, dass sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden, keine Armbanduhren, keine modernen Brillengestelle, nicht einmal Reißverschlüsse an der Kleidung.

«Das ist unglaublich», raunte er.

Katharina hatte es die Sprache verschlagen, sie drängte sich eng an Astrid und schaute sich mit großen Augen um.

«Ja», sagte Toni, «so ein Camp ist schon faszinierend.»

Jemand hatte ein Bodhrum geholt, zwei Männer zogen Tin Whistles aus ihren Taschen, und man fing an zu musizieren.

Toni grinste. «Und wenn Gäste da sind, legen sie sich natürlich besonders ins Zeug.»

«Ich habe gelesen, dass es sich um eine Miliz handelt und dass es um den englischen Bürgerkrieg gehen soll», meinte Toppe.

«Das stimmt auch», antwortete Ruth. «Die Männer sind hartgesottene Soldaten, die täglich exerzieren, und ein paarmal im Jahr treffen sie sich mit anderen historischen Gruppen, den Cromwell-Anhängern, und stellen verschiedene Schlachten nach. Aber das Camp gehört dazu. Die Soldaten hatten ihre Familien dabei, Frauen, die kochten, die die Verwundeten versorgten.»

«Und sie schießen tatsächlich mit echtem Schwarzpulver?»

«O ja, alles ist so echt wie irgend möglich. Sie haben hier sogar die historische Kanone von der Schlacht bei Powick dabei, die normalerweise im Museum in Worcester steht.»

«Irre», meinte Astrid. «Ein ganz schön aufwendiges Hobby.»

Toni erzählte von den Hunderten von Gruppen, die in England die verschiedensten Perioden der englischen Geschichte nachstellten, kriegerische Auseinandersetzungen waren natürlich besonders beliebt, aber es gab auch Leute, die zum Beispiel Vergnügen daran fanden, die Zeit der Druiden wieder aufleben zu lassen. Und alles musste so echt und nah an der geschichtlichen Wirklichkeit wie möglich sein.

«Was übrigens hier einige Männer besonders begrüßen. Im 17. Jahrhundert trank das gemeine Volk fast ausschließlich Bier, weil das Wasser in den Städten meist verseucht war. Und ein paar von den jungen Burschen hier nehmen es mit der Authentizität so genau, dass sie sich für die Dauer eines Camps nicht waschen.»

Viele Handwerker in England lebten von der Reenactment-Tradition: Tuchmacher, Schneider, Waffenschmiede, Zeltmacher, Korbflechter, Schuster, Knopfmacher, Küfer und etliche andere Gewerke.

«Gelebte Geschichte ist ja gut und schön», sagte Astrid, «aber Krieg spielen? Ich glaube, da würde in Deutschland kein Mensch mitmachen.»

«Na ja, die Engländer haben eben überhaupt kein Problem mit Nationalstolz. Sie würden auch nicht verstehen, warum sie ihre nationale Identität verstecken sollten.»

Ein Junge von vielleicht zwölf Jahren war von hinten herangekommen und tippte Katharina an. Die drehte sich um und kuschelte sich noch enger an ihre Mutter.

Der Junge holte drei kleine Lederbälle aus den Hosentaschen und fing an zu jonglieren. Rundherum wurde Beifall geklatscht – «Ho, Jamie!» –, die Musikanten spielten einen Tusch.

Schließlich verbeugte sich der Junge und hielt Katharina die Bälle hin. «You wanna try?»

«Willst du es auch mal versuchen?», übersetzte Astrid.

Katharina zog unsicher die Schultern hoch.

«Oh, c’mon!», lockte er.

«Na los», sagte Astrid, «du bist doch sonst nicht so schüchtern.»

Ihre Tochter zierte sich nicht länger, rutschte vom Strohballen und ließ sich von dem Jungen zu einer der Fackeln mitziehen, unter der die anderen Kinder irgendein Spiel mit Münzen und Zinnbechern spielten. Ruth legte Astrid die Hand auf den Arm. «Mach dir keine Sorgen, Jamie passt schon auf sie auf.»

John, der sie begrüßt hatte und der der Chef der Militia war, setzte sich zu ihnen und wollte wissen, ob sie sich am Sonntag das große Spektakel anschauen würden, die Erstürmung der Schwanenburg. Astrid und Toppe wechselten einen Blick und nickten.

«You’ll be our special guests», meinte er mit einer kleinen Verbeugung und hielt dann lauschend inne. Drüben beim Bierfass war eine Rangelei im Gange. «I better have a look», murmelte er und hastete davon.

Toppe schaute ihm stirnrunzelnd hinterher.

«Keine Sorge», sagte Toni. «Sie haben dieses Mal ziemlich viele Jugendliche dabei, und die fallen zu fortgeschrittener Stunde schon mal aus der Rolle, aber das regelt sich schon.»

Er stand auf und setzte sich hinter seine Frau auf den Strohballen, nahm sie zwischen seine Beine und legte die Arme um sie. «Dir ist kalt.» Ruth schmiegte sich an ihn. «Und, wie ist es euch ergangen?»

«Ganz gut, eigentlich», antwortete Toppe. «Bis auf die Tatsache, dass sie mich zum Chef gemacht haben. Das schmeckt mir immer noch nicht besonders.»

Toni wusste gleich, was er meinte. «Du wirst dich daran gewöhnen und irgendwann feststellen, dass du derjenige bist, der bestimmt, wo der Hase langläuft. Mir ist es genauso gegangen, als ich mich niedergelassen habe und auf einmal mein eigener Herr war. Inzwischen finde ich es prima.»

«Und wie geht es euren Jungs?», wollte Astrid wissen.

«Viel zu gut», sagte Toni und feixte. «Die Mutter ist das Problem.»

Ruth knuffte ihn in die Seite. «Ich hab immer noch Kindweh. Seit der Kleine jetzt auch weg ist, ist es furchtbar still im Haus geworden.»

Astrid lachte. Matthias, der «Kleine», war über 1,90 m groß.

Ruth strich sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht. «Ich habe immer gedacht, es würde mir nicht so viel ausmachen, ich habe schließlich meinen Beruf, und ich finde es auch schön, wieder zu zweit zu sein. Aber dann kommen sie zu Besuch, besetzen das Haus, bevölkern es mit einer Unzahl von alten Kumpeln, fressen uns die Haare vom Kopf, brechen bei Tisch unerwünschte wilde politische oder philosophische Diskussionen vom Zaun, hexen die halbe Nacht rum, dass man keinen Schlaf findet, und wir sehnen uns nach Ruhe und Frieden. Und dann packen sie ihr Bündel wieder und sagen: ‹Tschüs, Mama, wir fahren wieder nach Hause!› Und das ist dann der Moment, wo ich nur noch heulen möchte – ‹nach Hause›. Bescheuert, nicht wahr?»

Toni zog sie noch dichter an sich. «Aber es wird besser, oder? Für mich ist es nicht ganz so schlimm, aber ich kaue auch daran. Wir bemuttern uns dann gegenseitig, und nach ein paar Tagen genießen wir wieder unsere neue Freiheit. Hat nämlich auch was.»

«Das haben wir alles noch vor uns», meinte Astrid leise und schaute Helmut an. Der hob ein Holzscheit auf und warf es ins Feuer – knisternde Funken stoben. Astrid stellte den Bierkrug zwischen ihren Füßen ab und schob die klammen Hände in die Mantelärmel. «Wie seid ihr eigentlich an diese Truppe gekommen?»

Toni lachte. «Das ist eine verrückte Geschichte. Mein Bruder ist ja bekennender Karnevalist, und kurz nachdem die Städtepartnerschaft zustande gekommen ist, ließ die Worcester Militia nachfragen, ob es hier in Kleve nicht auch eine historische Gruppe gebe, mit der man sich treffen könnte. Und die Klever hatten anscheinend überhaupt keine Ahnung, um was es sich bei der Militia handelte, sie wussten nur, dass sie sich kostümierten und merkwürdige Waffen trugen. Und da sagte man sich: Passt doch prima zum Karneval, Sturm aufs Rathaus, Mitmarschieren im Rosenmontagszug. Die Militialeute sollten in Gastfamilien untergebracht werden, und mein Bruder suchte händeringend Freiwillige. Da haben Ruth und ich schließlich gesagt: Okay, wir nehmen jemanden auf, solange du uns aus dem Karnevalsrummel heraushältst. So haben wir David kennengelernt, Mädchen für alles bei der Truppe, Musketier, Sprengmeister, Organisator, Schmied und Chefkoch.»

Er deutete zur Kochgrube, wo ein Hüne mit Löwenmähne mit ein paar Pfannen hantierte. «Er zaubert uns noch irgendeinen Nachtisch, aber er kommt gleich. Er will euch unbedingt kennenlernen.»

Die Militia war also zum Karneval 1991 angereist, hatte sich in der Stadt versammelt, in ihren kostbaren Kostümen, bis an die Zähne bewaffnet mit Piken, Musketen und Säbeln und wild entschlossen, im tapferen Kampf dem Bürgermeister den Schlüssel zum Rathaus abzuringen. Und was hatten sie vorgefunden? Eine Horde Männer in grellen Polyesterjacken mit seltsamen, gefiederten Hüten, die schunkelnd und klatschend Lieder plärrte und zwischendurch immer wieder unvermittelt «Kleve – helau!» brüllte. Was bedeutete dieser Schlachtruf? Man hatte keine Ahnung, entschied sich dann aber, mit einem kräftigen «Worcester – Sauce!» zu antworten. Schließlich hatte der Mann mit der längsten Feder am Hut eine Rede gehalten, dann hatte der Bürgermeister eine Rede gehalten und den Rathausschlüssel ganz ohne Gegenwehr herausgerückt. Kein Kampfgetümmel, kein Schwarzpulver, kein Spaß.

Ratlos und frustriert waren die Militialeute in ihre Gastfamilien zurückgekehrt. «Und Ruth und ich standen auf einmal, weil wir einigermaßen Englisch sprechen, als Mittler da und mussten das Missverständnis aufklären. So hat es sich ergeben, dass wir mit einigen von ihnen mittlerweile ganz gut befreundet sind und uns auch privat gegenseitig besuchen.»

Toppe prustete. «Worcester-Sauce, gut gekontert! Macht ihr denn am Sonntag beim Sturm mit?»

Toni schüttelte den Kopf. «Nein, das nicht. Man hat mich ausgeguckt, ich soll als stellvertretender Bürgermeister die Show eröffnen. Wir beide müssen auf der Ehrentribüne stehen. Aber vielleicht können wir hinterher etwas zusammen unternehmen.»

«Gute Idee», sagte Ruth, «kommt doch einfach zum Essen zu uns. Ich koche einen Eintopf vor, den wir dann nur noch aufwärmen müssen. Er wird uns guttun, wenn wir den ganzen Nachmittag in der Kälte gestanden haben.»