Jean-Paul Didierlaurent

Title

Roman

Aus dem Französischen
von Sonja Finck

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Für Sabine,

ohne die es dieses Buch nicht geben würde.

Für meinen Vater,

der unsichtbar an meiner Seite ist und

mich seine ewige Liebe spüren lässt.

Und für Colette,

auf die ich immer zählen kann.

1

Einige Menschen kommen taub, stumm oder blind zur Welt. Andere tun ihren ersten Schrei mit einem schielenden Auge, einer Hasenscharte oder einem Feuermal mitten im Gesicht. Manche werden auch mit einem Klumpfuß geboren oder ihnen fehlt gleich ein ganzes Körperteil. Guylain Vignolles war von alledem verschont geblieben – dafür strafte ihn das Schicksal damit, dass sein Name seine lieben Mitmenschen zu einem Wortspiel verleitete. Wenn man nämlich die beiden Anfangssilben seines Vor- und Nachnamens vertauschte, wurde daraus vilain guignol, der »dumme Kasper«. Kaum dass er laufen konnte, hatte man ihm diesen albernen Spitznamen schon hinterhergerufen, und er war ihn nie wieder losgeworden.

Bis heute war ihm unverständlich, warum seine Eltern 1976 »Guylain« den Vorzug gegeben hatten, statt einen der Vorschläge aus dem Apothekenkalender zu nehmen. Hatten sie denn gar nicht bedacht, welch desaströse Folgen so eine Namenswahl haben konnte? Seltsamerweise und obwohl die Neugier ihn oft plagte, hatte er es jedoch nie gewagt, sie nach den Gründen für ihre Entscheidung zu fragen. Vielleicht, weil er Angst hatte, sie in Verlegenheit zu bringen. Oder weil er fürchtete, dass er bei einer allzu banalen Antwort nur noch mehr mit seinem Schicksal hadern würde.

Da malte er sich doch lieber aus, wie sein Leben als Lucas, Xavier oder Hugo ausgesehen hätte. Selbst mit Ghislain wäre er zufrieden gewesen. Ghislain Vignolles: vier harmlose Silben. Ja, mit so einem Namen hätte er zu einem selbstbewussten jungen Mann heranwachsen können – stattdessen hatte vilain guignol, der »dumme Kasper«, während seiner Kindheit und Jugend wie Pech an ihm geklebt.

Im Laufe seiner sechsunddreißig Lebensjahre hatte Guylain Vignolles darum gelernt, wie man sich am besten unsichtbar machte. Oder zumindest wie man schnell wieder in Vergessenheit geriet. Um sich vor Spott und Gelächter zu schützen, war er zu einem unscheinbaren Mann geworden. Er war weder dick noch dünn und kleidete sich so unauffällig, dass man ihn höchstens als blasse Gestalt am Rande wahrnahm, er ansonsten aber in der Menge unterging. So führte er nun schon seit Jahren ein von seinen Mitmenschen weitgehend unbeachtetes Dasein, damit bloß niemand auf die Idee kam, ihn anzusprechen oder ihn gar näher kennenlernen zu wollen.

Nur hier, auf dem Bahnsteig dieses trostlosen Vorortbahnhofs, war das anders. Von montags bis freitags, wartete er hier jeden Morgen auf den 6.27-Uhr-Zug, die Füße genau auf der weißen Linie, die den Sicherheitsabstand zum Gleis markiert. Kurioserweise besaß diese schon etwas verblasste Linie die Fähigkeit, ihn zu beruhigen und den Geruch des Gemetzels zu vertreiben, den er sonst ständig in der Nase hatte. Solange er auf den Regionalzug wartete, wippte er auf der Linie hin und her, als wollte er mit ihr verschmelzen, auch wenn er wusste, dass sie ihm nur kurzzeitig inneren Frieden verschaffen würde. Denn wenn er der Barbarei wirklich entfliehen wollte, gab es nur eines: Er müsste auf der Stelle kehrtmachen und nach Hause gehen. Ja, er müsste nur seinen Job an den Nagel hängen, dann könnte er sich wieder unter seiner warmen Bettdecke verkriechen und die Welt einfach vergessen … Letzten Endes blieb er dann aber doch auf der weißen Linie stehen, während die übrigen Pendler auf den Bahnsteig strömten und sich wie jeden Tag hinter ihm aufstellten, den Blick auf ihn gerichtet, sodass er im Nacken ein leichtes Brennen spürte und sich für kurze Zeit lebendig fühlte. Denn nach all den Jahren behandelten die Mitreisenden ihn inzwischen mit der freundlichen Nachsicht, die man harmlosen Spinnern entgegenbringt. Wohl nicht zuletzt, weil Guylain sie in den nächsten zwanzig Minuten ihrem grauen Alltag entreißen würde.

2

Wie jeden Tag kam der Regionalzug mit quietschenden Bremsen direkt vor ihm zum Stehen. Schweren Herzens löste sich Guylain von seiner weißen Linie und stieg ein. Der schmale Klappsitz rechts neben der Tür erwartete ihn schon. Er mochte den harten, orangefarbenen Plastiksitz lieber als die gepolsterten Bänke, und mittlerweile gehörte das Herunterklappen des Sitzes für Guylain zum allmorgendlichen Ritual; der Handgriff hatte fast etwas Symbolisches und entspannte ihn.

Während der Zug mit einem Ruck anfuhr, holte er die Sammelmappe aus seiner ledernen Tasche und platzierte sie auf seinem Schoß. Vorsichtig schlug er den Pappdeckel auf und nahm behutsam ein einzelnes Blatt heraus, das zwischen zwei Bogen bonbonrosa Löschpapier geruht hatte. Einen Moment lang betrachtete er es. Es stammte aus einem Buch vom Format 13,5 x 21 cm und war halb zerissen, zudem fehlte die linke obere Ecke. Andächtig legte er es vor sich auf das Löschpapier.

Im Waggon trat allmählich Stille ein. Hier und da zischte noch jemand ungehalten »Pst!«, bis auch die letzten Gespräche erstarben. Guylain räusperte sich. Und dann begann er, so wie jeden Morgen, laut vorzulesen:

Stumm vor Entsetzen starrte das Kind auf das Tier, das kopfüber an der Scheunentür hing und noch leicht zuckte. Die Hemdsärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, packte der Vater es am Hals und durchtrennte mit einem scharfen Messer lautlos die Schlagadern. Augenblicklich spritzte ein Schwall Blut aus dem flauschigen weißen Fell und sprenkelte sein Handgelenk mit roten Tupfen. Kurz ließ er das Tier ausbluten, dann machte er ein paar gezielte Schnitte an Hinterläufen und Rücken und zog mit beiden Händen an dem Fell. Langsam, wie ein ausgeleierter Strumpf, rutschte es über den noch warmen, sehnigen Körper des Kaninchens, bis hinunter zum Kopf, diesem Kopf, der nur noch hin und her baumelte und aus dem tote Knopfaugen ins Leere blickten, ohne jeden Vorwurf. Nun stieß die Messerklinge ins Verborgene vor. Mit einem langen Schnitt öffnete der Vater den Bauch des Tieres, aus dem die dampfenden Eingeweide wie die Perlen einer Kette hervorquollen. Danach war von seinem Kaninchen nur noch die schmächtige, blutige Hülle übrig, die der Vater gelassen in ein altes Geschirrtuch wickelte. An einem der folgenden Tage bekam das Kind ein neues Kaninchen. Wieder hoppelte ein weißes Fellknäuel im warmen Kaninchenstall umher, dem ersten zum Verwechseln ähnlich – doch dieses sah das Kind nun mit blutroten Augen an, denselben Augen, die ihm aus dem Reich der Toten entgegengestarrt hatten.

125

Während jenseits der beschlagenen Fensterscheiben des Waggons der Tag anbrach, strömte ein Wort nach dem anderen aus Guylains Mund, einzig unterbrochen von kurzen Atempausen, in denen nichts anderes zu hören war als das Rattern des fahrenden Zuges.

Für die Passagiere im Waggon war Guylain der komische Kauz, der jeden Morgen ein paar Buchseiten aus seiner Aktentasche zog, um sie mit lauter, klarer Stimme vorzulesen. Es waren nicht die Seiten eines bestimmten Buches. Nein, die Texte hatten rein gar nichts miteinander zu tun. Ein Kochrezept konnte auf die Seite 48 des Romans folgen, der im vergangenen Jahr mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden war, oder eine Passage aus einem Krimi auf eine Seite aus einem Geschichtsbuch. Guylain war das egal. Für ihn war der Inhalt bedeutungslos. Was zählte, war der Akt des Vorlesens. Er schenkte jedem einzelnen Blatt seine ungeteilte Aufmerksamkeit, damit das Vorlesen seine magische Wirkung entfalten konnte: Jedes Wort, das ihm über die Lippen kam, befreite ihn ein bisschen von dem Ekel, der ihn beim Gedanken an seine Arbeit überkam.

Stumm vor Entsetzen starrte das Kind auf das Tier, das kopfüber an der Scheunentür hing und noch leicht zuckte. Die Hemdsärmel bis zum Ellbogen hochgekrempelt, packte der Vater es am Hals und durchtrennte mit einem scharfen Messer lautlos die Schlagadern. Augenblicklich spritzte ein Schwall Blut aus dem flauschigen weißen Fell und sprenkelte sein Handgelenk mit roten Tupfen. Kurz ließ er das Tier ausbluten, dann machte er ein paar gezielte Schnitte an Hinterläufen und Rücken und zog mit beiden Händen an dem Fell. Langsam, wie ein ausgeleierter Strumpf, rutschte es über den noch warmen, sehnigen Körper des Kaninchens, bis hinunter zum Kopf, diesem Kopf, der nur noch hin und her baumelte und aus dem tote Knopfaugen ins Leere blickten, ohne jeden Vorwurf. Nun stieß die Messerklinge ins Verborgene vor. Mit einem langen Schnitt öffnete der Vater den Bauch des Tieres, aus dem die dampfenden Eingeweide wie die Perlen einer Kette hervorquollen. Danach war von seinem Kaninchen nur noch die schmächtige, blutige Hülle übrig, die der Vater gelassen in ein altes Geschirrtuch wickelte. An einem der folgenden Tage bekam das Kind ein neues Kaninchen. Wieder hoppelte ein weißes Fellknäuel im warmen Kaninchenstall umher, dem ersten zum Verwechseln ähnlich – doch dieses sah das Kind nun mit blutroten Augen an, denselben Augen, die ihm aus dem Reich der Toten entgegengestarrt hatten.

125

Ohne den Kopf zu heben, legte Guylain das Blatt zurück in die Mappe und zog bedachtsam die nächste Buchseite heraus:

Instinktiv warfen sich die Männer zu Boden, getrieben von dem unbändigen, verzweifelten Wunsch, sich noch tiefer in die Erde zu vergraben, so tief es nur ging. Manche scharrten mit bloßen Händen im Dreck wie tollwütige Hunde, andere rollten sich zusammen und boten ihren Rücken ungeschützt den umherschwirrenden, todbringenden Granatsplittern dar. Einem uralten Reflex folgend, machte sich jeder so klein wie irgend möglich. Nur Joseph nicht. Inmitten der über sie hereinbrechenden Zerstörung blieb er stehen und schlang in einer unsinnigen Geste die Arme um eine große weiße Birke, die vor ihm in den Himmel ragte. Aus den Rissen ihrer Rinde perlte das Baumharz wie dicke Tränen und rann langsam am Stamm hinab, an den Joseph seine Wange presste, während ihm der Urin warm an den Oberschenkeln hinablief. Mit jeder neuen Explosion bebte der Stamm in seinen Armen.

51

Als der Zug nach zwanzig Minuten in den Zielbahnhof einfuhr, hatte Guylain ein halbes Dutzend Seiten aus seiner Aktentasche vorgelesen. Noch während die letzten Worte auf seinen Lippen verklangen, hob er den Kopf und musterte die anderen Passagiere. Auch an diesem Morgen blickte er in enttäuschte, wenn nicht gar traurige Gesichter. Es war nur ein ganz kurzer Moment – dann erhoben sich die Pendler und verließen rasch den Waggon.

Guylain stand ebenfalls auf. Der orangefarbene Sitz knallte gegen die Lehne. Schlussklappe für heute.

»Danke«, flüsterte ihm schnell noch eine Frau mittleren Alters zu, bevor sie ausstieg. Verlegen hielt Guylain kurz inne und lächelte ihr hinterher; woher sollten die Leute auch wissen, dass er das mit dem Vorlesen nicht ihnen zuliebe tat … Dann trat auch er hinaus auf den Bahnsteig – resigniert, doch gleichzeitig auch froh, wenigstens ein paar Seiten dem mörderischen Treiben entrissen zu haben und sie in der Wärme des Waggons in Sicherheit zu wissen, eingeklemmt zwischen Sitzfläche und Lehne eines orangeroten Klappsitzes.

Draußen regnete es in Strömen, und während er wie jeden Morgen auf die Fabrik zuging, hörte er wie so oft die raue Stimme des alten Giuseppe in seinem Kopf: »Du bist nicht für diese Arbeit geschaffen, mein Junge, wann siehst du das endlich ein? Du bist einfach nicht dafür geschaffen!«

Der Alte wusste, wovon er sprach. Er hatte seinen eigenen Widerwillen jahrelang in billigem Fusel ertränkt. In seinem jugendlichen Leichtsinn hatte Guylain die Warnung in den Wind geschlagen. Ganz naiv hatte er anfangs geglaubt, dass er sich schon an den Job gewöhnen und die Routine ihn einlullen würde. Doch er hatte sich getäuscht: Selbst nach all den Jahren wurde ihm immer noch speiübel, wenn die hohe Mauer, die das Fabrikgelände umgab, in sein Blickfeld kam.

Dahinter, geschützt vor fremden Blicken, lauerte die Bestie. Sie erwartete ihn schon.

3

Das Tor quietschte schauderhaft, als Guylain das Fabrikgelände betrat. Yvon Grimbert blickte von seiner Lektüre auf. Als Guylain ihn so sah, Racines ›Britannicus‹ in einer Ausgabe von 1936 in den Händen, die vom vielen Blättern schon ganz zerfleddert war, fragte er sich wieder einmal, wie der Wachmann es in seinem winzigen Wachhäuschen bloß den ganzen Tag aushielt.

Doch die Enge störte Yvon Grimbert nicht und auch nicht, dass es darin zog wie Hechtsuppe, solange nur die große Plastikkiste neben ihm stand, in der sich seine Bücher stapelten. Mit seinen neunundfünfzig Jahren galt Yvons ganze Liebe nämlich dem klassischen Theater. An dem Tag, als der Wachmann die französischen Tragödiendichter für sich entdeckt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Mit Haut und Haaren hatte er sich damals der klassischen Verskunst verschrieben und war seitdem ihr ergebener Diener. Nichts anderes zählte mehr für ihn im Leben. Und das war auch der Grund, warum man ihn häufig dabei beobachten konnte, wie er in dem winzigen Wachhäuschen so tat, als würde er sich die Toga des Pyrrhus aus Racines ›Andromache‹ überwerfen oder in Don Diegos Haut aus Corneilles ›Cid‹ schlüpfen, um dann mit theatralischen Gebärden flammende Reden zu halten. Für die kurze Zeit zwischen zwei Lieferungen konnte er so die eintönige Rolle vergessen, die ihm das wahre Leben zugedacht hatte: Tagein, tagaus hatte er die rot-weiße Schranke an der Fabrikzufahrt zu bedienen.

Trotz seines miserabel bezahlten Jobs war Yvon Grimbert stets akkurat gekleidet. Und besonders achtete er darauf, dass das schmale Oberlippenbärtchen sorgfältig gestutzt war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit zitierte er nämlich gerne den großen Cyrano de Bergerac:

»Er ist gewiss ein Feind von allem Derben. /

Als solcher schon am zarten Schnurrbart kenntlich!«

Guylain liebte Yvon für seine Versponnenheit. Außerdem war der Wachmann kein einziges Mal der Versuchung erlegen, ihn »vilain guignol« zu nennen, und das rechnete Guylain ihm hoch an.

»Morgen, mein Junge.«

»Mein Junge«: Genau wie Giuseppe hatte Yvon ihn noch nie anders genannt.

»Guten Morgen, Yvon.«

»Dick und Doof sind schon da.«

Der Wachmann zählte die beiden immer in dieser Reihenfolge auf: erst Dick, dann Doof. Mehr sagte er nicht. Wenn er nicht gerade Verse deklamierte, machte Yvon Grimbert nicht viele Worte. Nicht, weil er von Natur aus wortkarg war. Nein, er wollte seine Stimmkraft einfach nur für das Einzige bewahren, was in seinen Augen zählte. Und darum rief er Guylain auch noch zwei selbst gereimte Zeilen hinterher, während sein junger Kollege widerwillig auf die große Wellblechhalle zutrottete:

»Seit Stunden schon regnet‘s aufs Dach mit Getös /

Der Regen geht nieder, er trommelt nervös.«

Fett und bedrohlich thronte die Bestie mitten in der Werkhalle. Ja, »die Bestie«: Über fünfzehn Jahre arbeitete Guylain nun schon in der Fabrik, aber bis heute weigerte er sich, ihren richtigen Namen laut auszusprechen, denn irgendwie glaubte er, dass er damit ihre Gräueltaten gutheißen würde, und das wollte er wirklich unter keinen Umständen. Sie nicht bei ihrem wahren Namen zu nennen war für ihn eine Art Schutzwall, der ihn davor bewahrte, ihr auch noch seine Seele zu verkaufen. Nein, das durfte nie geschehen: Die Bestie musste sich mit der Arbeit seiner Hände begnügen.

Als Guylain sie zum ersten Mal gesehen hatte, war er über ihre Farbe nicht sonderlich erstaunt gewesen. Das schmutzige Grün war die passende Kriegsbemalung für das elf Tonnen schwere Monstrum, dessen einziger Daseinszweck Zerstörung und Vernichtung war. Und äußerst passend war auch der Name, der in das Stahlgehäuse eingraviert war: Zerstör 500.

Die Bestie trug ihre Hässlichkeit mit großem Stolz zur Schau. Auf den ersten Blick hätte man die 1986 von der Krafft GmbH erbaute Maschine für eine gewaltige Lackieranlage oder einen riesigen Generator halten können, wenn nicht gar, Ironie des Schicksals, für die Rotationspresse einer Druckerei. Doch das war nur der äußere Schein. Das eigentliche Räderwerk des Schreckens befand sich verborgen unter dem Stahlgehäuse in der drei mal vier Meter breiten Grube, über der ein riesiger Edelstahltrichter hing. Ein Blick auf die technischen Details zeigte, dass die Zerstör 500 ihren Namen fünfhundert faustgroßen Hämmern verdankte, die auf zwei gigantischen Walzen angebracht waren, welche sich entgegengesetzt über dem Schlund der Bestie drehten. Darunter befanden sich auf drei weiteren Wellen sechshundert Klingen aus rostfreiem Stahl, die mit achthundert Umdrehungen pro Minute rotierten. Dazu spritzten von beiden Seiten etwa zwanzig Düsen mit einem Luftdruck von dreihundert Bar hundertzwanzig Grad heißes Wasser in das Loch, in dem sich das Rührwerk eines Edelstahlmischers drehte. Angetrieben wurde das Ganze von einem Dieselmotor mit fast tausend Pferdestärken, und kaum erweckte er die Bestie zum Leben, begann sie, ihre Beute zu zermalmen, kleinzuhäckseln und zu schreddern, zu mischen, zu kneten und zu überbrühen. Die beste Beschreibung ihrer Gräueltaten lieferten jedoch die Worte, die der alte Giuseppe Guylain immer dann zugebrüllt hatte, wenn es ihm wieder einmal nicht gelungen war, seinen in vielen Jahren angehäuften, unbändigen Groll auf die Zerstör 500 in dem billigen Fusel zu ertränken, den er sich im Laufe ihres langen Arbeitstages hinter die Binde kippte:

»Was die Bestie da treibt, ist Kulturmord im ganz großen Stil!«

4

Zu dieser frühen Stunde erinnerte die Fabrikhalle an einen leeren Ballsaal. Guylain zog sich der Magen zusammen. Noch deutete nichts darauf hin, welch ohrenbetäubender Lärm in wenigen Minuten hier losbrechen würde. Auch von dem brutalen Gemetzel, das sich hier am Vortag abgespielt hatte, war nichts mehr zu sehen. Bloß keine Spuren hinterlassen, war Félix Kowalskis Devise, und darum ließ der Chef sie Abend für Abend den Tatort gründlich reinigen, damit nichts mehr von dem Verbrechen zu sehen war, das hier tagein, tagaus begangen wurde – Wochenenden und Feiertage ausgenommen.

Schweren Schrittes durchquerte Guylain die Halle. Brunner erwartete ihn bereits. In seiner fleckenlosen Latzhose lehnte er mit verschränkten Armen lässig am Steuerungspult der Bestie und sah Guylain grinsend entgegen. Nie wünschte er ihm einen guten Morgen, nie begrüßte er ihn mit Handschlag oder nickte ihm zu, da war immer nur dieses arrogante Grinsen, mit dem der Fünfundzwanzigjährige von seinen ein Meter fünfundachtzig auf die ganze Welt herabblickte.

Länger hielt er das Schweigen allerdings nie durch: Den Rest des Tages verbrachte Brunner zu Guylains Leidwesen damit, ungefragt seine Meinung zu allem und jedem kundzutun: Beamte waren in seinen Augen faules, linkes Pack, Frauen gehörten an den Herd und taugten nur dazu, ihre Männer zu bekochen und sich schwängern zu lassen, und die Kanaken (eines seiner Lieblingswörter, das er mehr ausspuckte als aussprach) nahmen allen die Arbeitsplätze weg. Auch die Sozialhilfeempfänger, korrupten Politiker, Sonntagsfahrer, Drogenabhängigen, Schwulen, Behinderten, Superreichen und Nutten bekamen ihr Fett ab: Brunner hatte zu allen Bevölkerungsgruppen eine vorgefasste Meinung. Guylain hatte es längst aufgegeben, ihm zu widersprechen. Anfangs hatte er noch gegen Brunners Vorurteile anzugehen versucht, indem er ihm erklärte, dass man nicht alle Welt über einen Kamm scheren konnte und es zwischen Schwarz und Weiß ja auch noch eine ganze Menge Grautöne gab. Er hatte sich wirklich den Mund fusselig geredet – ohne Erfolg. Schließlich hatte Guylain eingesehen, dass Brunner ein hoffnungsloser Vollidiot war, der zu allem Überfluss seinen Job liebte.

Darüber hinaus war Lucien Brunner auch gefährlich, denn er war ein wahrer Meister in der Kunst, vor jemandem zu buckeln und gleichzeitig hochmütig auf ihn herabzusehen: Sein »Monsieur Vignolles« triefte zum Beispiel vor Verachtung. Ja, Brunner war wie eine züngelnde Kobra, die nur darauf wartete, dass Guylain einen falschen Schritt tat, und darum hielt er sich, so gut es ging, von ihm und seinen Giftzähnen fern.

Doch das war leichter gesagt als getan. Zumal Brunner auch noch auf Guylains Henkersjob erpicht war.

»Darf ich sie heute anschalten, Monsieur Vignolles?«

Er ließ es sich nicht anmerken, aber Brunners Bitte erfüllte Guylain jedes Mal mit Genugtuung. Nein, »Mössiö« Vignolles würde ihm auch heute nicht erlauben, die Bestie anzuschalten. Und morgen und übermorgen ebenso wenig! »Mössiö« Vignolles würde ihm diesen Herzenswunsch nicht erfüllen. Finger weg vom Knopf, der die verdammte Guillotine in Gang setzte!

»Brunner, Sie wissen doch genau, dass Sie das nicht dürfen. Erst, wenn Sie die nötigen Prüfungen gemacht haben.«

Guylain liebte diesen Satz, den er gern mit etwas gespieltem Mitleid aussprach. Insgeheim fürchtete er jedoch den Tag, an dem der Idiot ihm das erforderliche Zeugnis unter die Nase halten würde. Früher oder später würde es so weit sein, und dann würde er klein beigeben müssen. Es verging keine Woche, in der Brunner Kowalski nicht darauf ansprach und ihn bat, beim Fabrikdirektor ein gutes Wort für ihn einzulegen. Bei jeder Gelegenheit lag er dem Dicken damit in den Ohren, scharwenzelte um ihn herum, »Monsieur Kowalski« hier, »Chef« da, oder steckte sein Frettchengesicht durch dessen Bürotür, um Kowalski die Stiefel zu lecken. Der falsche Fuffziger katzbuckelte, wo es nur ging. Und dem Chef gefiel das. Das Schmierentheater schmeichelte seinem Ego.

Aber egal: Wer kein Zeugnis hatte, durfte den Knopf nicht betätigen. Noch konnte sich Guylain hinter diesen Vorschriften verstecken, um Brunner in die Schranken zu weisen, selbst wenn er dabei das mulmige Gefühl hatte, die Kobra mit einem Stock zu ärgern.

»Vignolles, worauf warten Sie?! Dass die Sonne rauskommt?! Mensch, schmeißen Sie das Ding endlich an!«

Kowalskis Stimme hallte von den Wänden der Werkhalle wider. Das gläserne Refugium des Fabrikaufsehers schwebte zehn Meter über dem Boden, direkt unter dem Dach. Von dort oben hatte der Dicke wie ein kleiner Gott alles im Blick, sodass er beim geringsten Anlass aus seinem Elfenbeinturm schießen und sie von der quer durch die Halle laufenden Brücke aus zusammenstauchen konnte. Und wenn er, so wie jetzt, fand, das reiche nicht, kam er sogar die dreißig Stufen in die Halle heruntergepoltert, wobei die Metalltreppe unter seinem Doppelzentner Fett schwer ächzte.

»Verdammt, Vignolles, bewegen Sie Ihren Arsch! Draußen warten schon drei Lastwagen.«