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Hannah Dübgen

Strom

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Über Hannah Dübgen

Hannah Dübgen wurde 1977 geboren. Sie studierte Philosophie, Literatur- und Musikwissenschaft in Oxford, Paris und Berlin. Sie arbeitete für Theater und Oper, schrieb das Schauspiel ›Gegenlicht‹ und die Libretti für mehrere Opern, u.a. ›Matsukaze‹ in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Toshio Hosokawa. ›Strom‹ ist ihr erster Roman.

Über das Buch

Vier Menschen in vier Ländern: Ada aus Berlin hat mit ihrer Freundin Judith einen Dokumentarfilm über das Leben im Gazastreifen gedreht. Judith aber stirbt kurz nach Fertigstellung des Films. Die junge, japanische Pianistin Makiko ist nach Paris gezogen und gibt in ganz Europa Konzerte. Als sie erfährt, dass sie ein Kind erwartet, ist sie schockiert. Jason arbeitet für eine amerikanische Investmentfirma. In Tokio soll er den Kauf eines japanischen Traditionsunternehmens organisieren. Der Zoologe Luiz, der in Brasilien aufwuchs, lebt mit seiner jüdischen Frau und den zwei gemeinsamen Kindern in Tel Aviv, will aber weg aus Israel, weil er den politischen Wahnsinn im Lande nicht mehr erträgt.

Ein Roman in vier miteinander verwobenen Geschichten. Über unsere Gegenwart, über Menschen, die zwischen Kulturen wandeln. Sie alle lieben, trauern, arbeiten, kämpfen wach und voller Sehnsucht um ihr Leben, ihre Zukunft. Hannah Dübgen erzählt bewegend und mit immenser Kraft von Nähe und Ferne, von Fremde, von alten und neuen Grenzen, von dem Strom, der unsere Zeit ist.

Impressum

2015

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

© 2013 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk wurde vermittelt durch den

Agenten Michael Wildenhain

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Gerhard Richter, 2013

 

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eBook-Herstellung im Verlag (02)

 

eBook ISBN 978-3-423-41770-9 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-14382-0

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 978-3-423-41770-9

Nah oder fern gibt es nicht mehr,

nur noch nah oder fremd.

I

Plötzlich war es still. Der alte Yukawa starrte Jason an, seine Augenbrauen hoben sich und aus seinen Mundwinkeln verschwand das Lächeln. Die untere Gesichtshälfte des Japaners erschlaffte, seine Haut schlug Wellen, als wollte sie sich ablösen, Yukawa krümmte sich nach vorne, Jason sah ein Zucken in seinem Bauch, trat näher, da schnellte der Japaner hoch, warf seinen Kopf in den Nacken, öffnete den Mund und lachte. Laut und durchdringend, ein röhrendes Lachen, das sich langsam in die Höhe schraubte, schriller wurde. Sein dürrer Körper bebte, schnappte nach Luft, Jason sah einen Funken im rechten Auge des Japaners aufblitzen und fing ebenfalls an zu lachen. Gemeinsam lachten sie, die Rhythmen ihrer Gelächter fanden einander und Jason dachte, Yukawa im Blick, dass der alte Japaner sicherlich vergessen hatte, worüber er gerade lachte.

»Sehr gut, Sir.«

Yukawa fand seine Haltung wieder und das Lachen verlor sich so schnell, wie es aufgetaucht war. Er sammelte die Papiere zusammen, die er mit Jason durchgesehen hatte, und legte sie zurück in seine Ledermappe, Kante auf Kante. Dann nahm er die Mappe vom Tisch, verbeugte sich und ging in kleinen Schritten rückwärts zur Tür.

»Gute Reise! Sir.«

Jedes Wort eine Verbeugung. Abgehackt. Es war dieser steife Rhythmus, der vertikale Akzent, der Yukawas tadellosem Englisch etwas Hölzernes gab.

Jason bedankte sich höflich, hob die Hand zum Gruß und die Tür fiel klickend hinter Yukawa ins Schloss. Im Geiste sah Jason ihn den langen, kalt erleuchteten Flur entlanglaufen, die rechte Schulter dicht an der Wand. Als man Jason vor drei Wochen durch die Etagen des Büros geführt hatte, war ihm das zuerst aufgefallen: Die Europäer und Amerikaner liefen selbstverständlich in der Mitte des Ganges, die Japaner stets dicht an der rechten Wand. Damit sie sich für den Fall, dass plötzlich eine U-Bahn oder ein Taifun durch den Gang rauscht, möglichst schnell flach an die Wand pressen können, hatte Jason gedacht und den Kopf geschüttelt über seine von der feuchtwarmen Sommerluft aufgeweichten Gedanken.

 

Er musste dicht an die spiegelnde Glasfront neben seinem Schreibtisch herantreten, um hinter der Scheibe die Stadt zu sehen. Die Sonne war bereits untergegangen, im Westen leuchtete der Horizont hinter den Hochhäusern von Shinjuku orangerot, während der Himmel über der Stadt längst in Dunkelheit versank. Was das Leben unten auf den Straßen aber nicht beirrte, alles wirkte sogar noch hektischer, erregter als am Tage, der Verkehr nahm zu, die weißen Scheinwerfer der Autos drängten sich in das von Ampeln und Straßenlaternen grell erleuchtete Treiben. Vor Jasons Fußspitzen, genau vierzehn Stockwerke unter ihm, verließen die Menschen in Scharen das Gebäude, strömten über den betonierten Vorplatz und bewegten sich an der nächsten Straße mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nach rechts, zum Bahnhof. Vor dessen Eingängen stauten sich die Pendler zu Trauben zusammen, pressten sich durch die Türen in die Halle und von dort aus weiter auf die Bahnsteige, in die Züge, nach Hause. Jason rieb sich die Augenlider und schaute wieder hinunter. Die Schlange wollte und wollte nicht abreißen, Menschen zogen Menschen nach sich, das war eine Bewegung, ein Schwung! Was für ein Kontrast zu jenem dunklen, starren Loch, das nur wenige hundert Meter entfernt im erleuchteten Tokio lag: das kaiserliche Anwesen, umringt von einer hohen Steinmauer und einem Festungsgraben. Vom Palast waren in der Dämmerung nur noch die flach auslaufenden, stufenförmigen Dächer zu erkennen, um sie herum verschwand der kaiserliche Garten in grauen Schatten. Jason suchte die Pinien am südlichen Ende des Anwesens, hohe, schöne Bäume, deren Äste wie suchende Arme über den Mauerrand hinweg in die Stadt hineinragten, von der massiven Festung jedoch in Schach gehalten wurden. Jasons Augen fuhren an der Mauer entlang, diesem Bollwerk aus geschichteten Steinquadern; einst gebaut, um Feinde abzuschrecken, wirkte die Mauer heute eher wie ein Schutzwall gegen die Lichter, die Bewegung, das sich beständig in die Zukunft drehende Leben der Stadt. Als versuche der Kaiser im Inneren, sich und seine Pinien vor der Wirklichkeit zu schützen.

Es klopfte. Jason rief, man solle hereinkommen, und Miss Sato trat ins Zimmer. Geräuschlos, was sowohl an ihrer Gangart als auch an ihren Schuhen liegen konnte, einem seltsamen Zusammenspiel aus Ballett- und Hausschuh, flach, ohne Absatz, dafür mit einer Schleife oberhalb der Zehen.

»Ihre Reiseunterlagen«, erklärte Miss Sato und reichte Jason einen Umschlag. Der Wagen stehe unten bereit. Sie deutete auf ihre Armbanduhr. Zwanzig nach sieben. Um halb acht wollte er losfahren? Jason schmunzelte, das war die japanische Art zu sagen: Sie haben noch zehn Minuten.

»Ich danke Ihnen, Miss Sato.«

Vorsichtig erwiderte die junge Miss Sato sein Lächeln. Sie nickte Jason freundlich zu, legte ihre Hände an die Oberschenkel und verbeugte sich, behutsam. Ihre Bewegungen waren förmlich und doch voller Grazie. Erstaunlich, dachte Jason, was bei dem alten Yukawa stets ein wenig eckig, angelernt und aufgesetzt wirkte, schien bei Miss Sato weich und selbstverständlich.

 

Zurück an seinem Schreibtisch öffnete Jason den Umschlag und zog einen Stapel Papiere hervor. Obenauf das Flugticket, Jason prüfte die Zeiten, Abflug in Tokio um 22:05 Uhr, Ankunft in San Francisco um 15:45 Uhr. Nonstop, gen Osten fliegen, zurück aus der Nacht in den hellen Tag. Ankommen und den gleichen Abend noch einmal verbringen, diesmal nicht in einer Bar am Flughafen, sondern in der Bucht von San Francisco. Jason steckte das Ticket in die Innentasche seines Jacketts und überflog den Ablauf: Kein offizielles Zusammenkommen heute Abend, was bedeutete, dass Greenberg selbst erst spät in San Francisco eintraf. Morgen um neun Uhr dann das große Treffen, mit den Leuten von ASC, mit Greenberg und Hanson. Sogar Lloyd würde da sein, der dritte Partner ihrer Firma, obwohl er für diesen Teil der Welt eigentlich nicht zuständig war. Jason sah sie bereits, seine drei Chefs, das Triumvirat: Lloyds nervös auf die Tischplatte trommelnde Finger, Hansons vom Adrenalin beflügelte Gesten und daneben Greenberg, mit durchdringendem Blick und starr gefalteten Händen. Greenberg strahlte vor wichtigen Momenten eine Konzentration aus, deren Intensität Angst einflößend war, die sich jedoch, sobald es losging, die Gäste begrüßt und die Kugelschreiber gezückt wurden, verflüchtigte. Jason spürte ein leichtes Kribbeln in seinem Magen, holte tief Luft und lächelte: Alles war bereit. Der Kauf von ASC würde stattfinden, in genau der Form, die er Hanson und Greenberg schon vor Monaten vorgeschlagen hatte, als er den Fall von London aus recherchiert hatte. Jetzt kaufen!, hatte er zu Greenberg gesagt, wo ASC kämpfte und die amerikanische Autobranche in der Krise steckte. Doch seine Chefs hatten gezögert, sie wollten abwarten, sahen noch nicht, wie sich mit so einem »Schwergewicht« Geld verdienen ließe. Mittlerweile sahen sie es. Das Angebot lag auf dem Tisch und ASC hatte zugesagt: morgen Vormittag in Menlo Park.

Die Uhr gab ihm noch vier Minuten. Mit einem Klick riss Jason den Computer aus seiner Ruheposition und öffnete den Browser. Nachrichten. Jason klickte auf die erste Überschrift, von einem Waldbrand kurz vor Athen war die Rede, der allmählich außer Kontrolle geriet, die dichten Rauchwolken waren trotz des Smogs bereits von der Akropolis aus zu sehen. Jasons Augen verharrten auf der Meldung, sie gleich wieder wegzuklicken schien ihm aufgrund der akuten Gefahr pietätlos. Er entschied, die Seite offen zu lassen, und sah zu, wie sie, einer Sternschnuppe gleich, unten rechts am Bildschirm verschwand. Im Nahen Osten gingen die Kämpfe weiter, die wenigen Wirtschaftsmeldungen waren unbedeutend, die Börse von Tokio hatte schon geschlossen, während es in London nach den hohen Gewinnen von gestern eher zögerlich losging.

19.27.49.18, 19.27.50.12. Oben auf der Bildschirmleiste rasten die digitalen Ziffern der Uhr mit faszinierender Dringlichkeit weiter, Jason selbst hatte die Uhr so eingestellt, auf die Hundertstelsekunde genau. Er mochte es, der verstreichenden Zeit zuzuschauen. Wenn er die Abfolge der Ziffern beobachtete und irgendwann nicht mehr das Vergehen, sondern nur noch das Fließen spürte, fühlte er, dass er existierte. In diesem kraftvoll nach vorne ziehenden Strom. Das war seine Zeit, die Zeit, in der er lebte, in der sie alle lebten, es war die Zeit von Greenberg und Hanson, von Yukawa und Miss Sato. Eine Zeit, die einmalig war, die mit ihnen entstand und mit ihnen verschwinden wird.

19.29.00.45. Jason blickte auf das Papier in seiner Hand. Einen Stadtplan von San Francisco? Brauchte er nicht, er kannte die Stadt. Punkt vier Uhr würde José, der Firmenchauffeur, ihn vom Flughafen abholen und ihn keine Stunde später vor dem Hoteleingang absetzen. Und dann? Jason überlegte, er könnte Stewart treffen, in dem Irish Pub bei Stewart um die Ecke, wie früher. Einen Abend lang diskutieren, ob die Schönheit der Naturgesetze nun ein Gottesbeweis ist oder nicht. Er könnte im Hotel bleiben, in der Bar einen Whiskey trinken und seine Gedanken treiben lassen, wissend, bei wem sie landen würden … Jason senkte den Kopf und fuhr sich über seine kurzen Haare. Möglich, vieles war möglich. Sein Blackberry piepte. Eines war sicher: Wenn er jetzt nicht ging, verpasste er seinen Flieger. Er stand auf, schloss die offenen Fenster auf dem Bildschirm, die Brandmeldung, das Mailprogramm und die Seite des St. Mary’s Hospital in London, und schaltete den Computer aus.

II

Die Musik hob an. Makiko nahm ihren Finger von der Play-Taste, schloss die Augen und sah sich am Klavier sitzen, in ihrem Rücken zwanzig gleichzeitig in die Höhe fahrende Geigenbögen, rechts neben ihr, dicht am Flügel, Lorenzo. Er dirigiert, mit krummem Rücken und bis zum Hals hochgezogenen Schultern, aber einer leichten, federnden Hand. Der erste Satz nähert sich seinem Ende, Lorenzo dreht sich zur Seite, ihre Blicke treffen sich, gemeinsames Nicken für die eins, den Einstieg ins finale Agitato. Makiko beugt sich nach vorn und der Trillermarathon beginnt, jeder Lauf erfordert den nächsten, stetig sich steigernd, eine Wiederholung ist keine Wiederholung, die linke Hand holt die rechte ab, gemeinsam jagen sie in die Tiefe, den letzten Triller hinein – halten, linkes Handgelenk locker lassen, dann die Auflösung. Pause. Grelle Streicher, Fanfaren rings um sie herum. Es folgt ein langsames Verklingen, zweifacher Schlussakkord. Stille.

Makiko öffnete die Augen. Es war ungewohnt, sich so zu sehen, mitten im Orchester, als schaute sie von einem der Plätze im Zuschauerraum aus zu, während sie gleichzeitig die Tasten unter ihren Fingern spürte. Als hätten sich ihre Augen verdoppelt oder von ihrem Körper gelöst.

 

Die Streicher begannen den langsamen Satz, mit einer Ruhe, die von weit her kam, die atmete wie ein langsam erwachendes Tier. Makiko legte den Kopf in den Nacken, lächelte. Wegen dieses Satzes hatte sie das Konzert für die Aufnahme ausgesucht, dafür sogar einen Streit mit Gerald, ihrem Agenten, riskiert: Nein, sie wollte keinen Beethoven und auch keinen Mozart, keine klassische Größe, sie wollte Chopin, den gerade zwanzigjährigen, zerbrechlichen, sich kühn berauschenden, dann wieder verstört zurückschreckenden Frédéric Chopin.

Das Klavier setzt ein, cantabile, singend, jede Berührung der Tasten mit den Fingerkuppen sacht und fließend. Eine Melodie, die in die Höhe strebt. Die sich mit jedem Anlauf ein Stück weiter hinauswagt und doch immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt. Jemand, der weiß, was er sucht, aber noch nicht weiß, ob er dem trauen kann. Den seine eigene Verhaltenheit unruhig macht, der weiter muss und sich dennoch in Kreisen bewegt. Bis zur letzten Minute, dann, nach ein paar dahinplätschernden Akkorden, öffnen sie sich doch noch, die unsichtbaren Tore: Licht fällt ein und das Klavier bricht aus, wird vom Orchester hinausgetragen in die Weite, den freien Lauf, der nicht mehr sucht, der angekommen ist.

Nachdem der Satz verklungen war, drückte Makiko auf Stopp, sie wollte noch nicht weiter, sie wollte hinaus, lief durch das Wohnzimmer zur Balkontür, streifte ihre Hausschuhe ab, schlüpfte in die Bastsandalen und trat auf den Balkon. Über den Dächern von Paris lag eine düstere Wolkendecke, die Luft war warm und schwül, fühlte sich nach Gewitter an. Unten im Innenhof schnitt Monsieur Légard, der Concierge, mit Hingabe seine Rosen. Die Rosenhecke der Hausgemeinschaft, doch Makiko wusste, dass es in Wahrheit seine Rosen waren. Er allein konnte voraussehen, welche Blüte zuerst erblühen und welche die letzte sein würde, er spürte, welche von ihnen besonders empfindlich gegen die Sommerhitze war, achtete auf ausreichend Schatten und Wasser. Konzentriert schritt Monsieur Légard die Hecke entlang, bückte oder streckte sich, er arbeitete nicht systematisch, er ajustierte, perfektionierte. Am Ende der Hecke angekommen, ließ er die Schere sinken, nahm seine Mütze vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dabei entdeckte er Makiko. Erfreut hob er den Arm, wedelte mit der Mütze und rief die drei Stockwerke hinauf: »Madame Yukawa!«

Makiko trat noch einen Schritt näher an das Balkongeländer, verbeugte sich und winkte zurück. Winkte so, wie ihr Großvater immer gewunken hatte, als zöge sie statt ihrer Hand einen Fächer durch die Luft.

Monsieur Légard unten auf dem Rasen wischte sich daraufhin noch einmal den Schweiß von der Stirn, dieses Mal symbolisch, mit größerer Geste: die Hitze! Makiko nickte zustimmend und zeigte in den Himmel. Sie schaute in die Wolkendecke und hoffte auf ein Gewitter, so wie es der Sprecher im Radio heute Morgen gesagt hatte: Ganz Griechenland schaue in den Himmel und warte auf ein Gewitter. Ganz Griechenland, sie und Monsieur Légard. Makiko sah den alten Mann, sein verschwitztes Hemd, die roten Waden, und sie sah die Gießkanne neben dem Blumenkasten. Kurzentschlossen griff Makiko nach der Kanne, hob sie über die Brüstung und ließ es in den Innenhof regnen, dabei schwenkte sie die Kanne so, dass sich die Regentropfen möglichst weitläufig verteilten. Monsieur Légard lachte, streckte seine Arme den Tropfen entgegen, wie ein Kind sah er plötzlich aus.

Der Schauer war vorbei, doch Monsieur Légard machte keine Anstalten, an seine Arbeit zurückzukehren. Reglos stand er auf dem Rasen und betrachtete sie, als hätte er vergessen, wo er sei, oder als dächte er über etwas nach. Dann trat er plötzlich einen halben Schritt zurück, legte sich die Hand auf die Brust und vollführte einen ausladenden Knicks, eine höfische Verbeugung, die aufgrund seines alterssteifen Körpers komisch wirkte, auch wenn die darin liegende Ehrerbietung bestimmt ernst gemeint war. Amüsiert schüttelte Makiko den Kopf, der alte Concierge! Wer hätte das bei ihrer ersten Begegnung gedacht. Sie hatten sich aufeinander zubewegen müssen, sie und Monsieur Légard, der ihr am Anfang nicht einmal in die Augen hatte sehen wollen. Der mit ihr gesprochen hatte wie mit einer Außerirdischen, betont langsam, als wäre sie debil, und dazu noch extrem laut, als litte sie außerdem an Schwerhörigkeit. Makiko hatte sich nichts anmerken lassen, schließlich war ihr derartiges Verhalten nicht neu, die Franzosen schienen noch ungeduldiger als die Engländer zu sein, hörten den leisesten Akzent und schlossen daraus, dass man nichts oder nur sehr wenig verstand. Dabei sprach Makiko wesentlich besser als die Mehrheit ihrer Landsleute, die, das musste sie zugeben, allzu oft sprachverklemmte Wesen waren, denen man, sobald sie den Mund aufmachten, ihre Unsicherheit, mehr noch, ihr Unbehagen darüber, sich in einer fremden Sprache verständigen zu müssen, anhörte. Makiko dagegen hatte von Anfang an gerne gesprochen, Englisch und lieber noch Französisch. Sie mochte die feinen Nuancen, den rhythmischen Fluss der Sprache, und sie sah in der Tatsache, dass es ihr leichtfiel, die französische Satzmelodie zu übernehmen, ein Zeichen dafür, dass Paris die richtige Stadt für sie war, die Stadt, von der schon Frédéric Chopin gesagt hatte, es sei ein Paradies zum Verschwinden.

Doch jede Stadt hatte Regeln, offizielle und inoffizielle Regeln, und wer sie nicht beherrschte, bekam das zu spüren. Mit finsterem Blick und verschlossenen Lippen hatte Monsieur Légard am Tage ihres Einzugs im Innenhof gestanden, nicht weit von seiner jetzigen Position entfernt. Seine Frau wie einen Schatten hinter sich, hatte er durch das Tor hinaus auf die Straße geschaut und unaufhörlich den Kopf geschüttelt, so etwas hatte er noch nicht erlebt, in knapp vierzig Berufsjahren als Concierge, eine Ausländerin, die mit einem Umzugswagen und einem Kran anrückte, um im Innenhof ihren Konzertflügel, der gefährlich hin und her schaukelte, erst die drei Stockwerke hinauf, dann über den Balkon in ihre Wohnung hinein zu balancieren. Und weil der Kran schon einmal da war, wurden verschiedene Möbelstücke, das weiße Ledersofa, der gläserne Esstisch und das Bett, ebenfalls auf dem Luftweg transportiert.

Monsieur Légard hatte nichts mehr gesagt, nachdem ihm Makiko an jenem Morgen auf seine verwirrte Frage, was hier vor sich gehe, geantwortet hatte, es sei alles bestens organisiert, er solle sich keine Sorgen machen. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, hatte sie Monsieur Légards betroffenem Gesicht angesehen, dass ihr ein Fehler unterlaufen war. Er solle sich nicht sorgen? Aber er war doch dazu da, sich um das Wohl und die Ruhe dieser Hausgemeinschaft zu kümmern, und wer ihm das absprach, wer es nicht einmal für nötig hielt, ihn zu informieren, wer es im Trubel wichtigerer Dinge vergaß, beleidigte ihn tief, zeigte seinen fehlenden Respekt für den Concierge. Doch es war zu spät, die Möbelpacker standen bereits auf der Straße, verlangten den Schlüssel zum Tor, Makiko dirigierte sie, lief hinein und hinaus und empfand jedes Mal, wenn sie an dem schweigenden Monsieur Légard vorbeikam, Scham. Gerade die Tatsache, dass er nichts mehr sagte, ihr keine Vorwürfe machte, sie aber auch nicht in Ruhe ließ, dass er ihr seine Enttäuschung zeigen wollte, beschämte Makiko.

Als Entschuldigung schenkte sie dem Ehepaar Légard zwei Karten für ihr nächstes Konzert im Salle Pleyel. Seitdem häuften sich die Programmzettel zu ihren Auftritten in der Wohnung der Légards. Jeder Zeitungsartikel, der in Frankreich über sie erschien, wurde sorgfältig archiviert und ihre neue Chopin-CD stand sogar auf der Anrichte, zwischen den Fotos der Enkel. Eine über achtzig Jahre alte Freundin des Ehepaars kam immer häufiger mit ins Konzert und ihre zehnjährige Enkelin hatte, wie Madame Légard vor kurzem voller Stolz berichtete, auch schon neugierig gefragt, wann sie endlich mitkommen dürfe. Makiko freute sich, verschenkte gerne Karten, das war es, was sie an Europa mochte.

Endlich erhob sich Monsieur Légard aus seiner Verbeugung. Er hielt sich den Rücken, schaute auf und winkte Makiko noch einmal kurz zu, bevor er in seiner Wohnung verschwand.

 

Zurück im Wohnzimmer, sah Makiko ihr Telefon, das auf dem Esstisch lag und blinkte. Sie schaute auf das Display, der Anruf war von Gerald. Makiko zögerte, ließ das Telefon blinken und setzte sich auf das Sofa, der Kalligraphie gegenüber, die Kouhei, ihr Mentor und Lehrer, vor mehr als zwanzig Jahren in einem Tempel in Kyoto für sie gezeichnet hatte. Wenige schwarze Striche, in einem Zug auf das Papier geworfen. Ein Wanderer mit Hut, der einen Berg besteigt. Oder ein Gesicht mit runzliger Nase. Oder ein Blumenkohl? Ihre europäischen Freunde entdeckten immer etwas in dem Bild. Sie mussten es nicht einmal lange betrachten, was sie darin sahen, sahen sie sofort.

Das Blinken hatte aufgehört, Makiko wartete jetzt auf das blaue Leuchten, die Meldung: Sie haben eine neue Nachricht. Sie mochte Geralds Nachrichten, seine dunkle, ruhige Stimme, ihren leichten Nachhall. Dear Makiko, eine kleine Pause, dann sagte er, was er zu sagen hatte. Nie nannte er seinen Namen. Sobald Makiko seine Stimme hörte, sah sie Gerald in seinem Londoner Büro in dem schwarzen Ledersessel sitzen. Es war unmöglich, sich vorzustellen, dass Gerald im Gehen telefonierte. Was er tat, tat er vollkommen: Er dachte nach, bevor er redete, wenn er seinen Tee rührte, rührte er seinen Tee, und wenn ihm ein Musikstück gefiel, wurde er, je länger er zuhörte, immer größer und aufrechter.

Auf dem Display ihres Telefons leuchtete nichts blau. Makiko wartete noch ein wenig, stand dann auf und vergewisserte sich: Geralds Nummer, aber keine Nachricht. Das war ungewöhnlich.

Im Zimmer war es ruhig, fast still. Es gibt keine Stille, hatte Großvater gesagt. Und wenn es nur der eigene Atem ist, den man hört. Ein und aus. Wir nehmen uns aus der Natur, was wir brauchen, und geben den Rest an sie zurück. Makiko schloss die Augen und sah ihn, Großvater, der nicht ihr Großvater war, sie nannte ihn nur so, den Bruder ihrer Großmutter, der am Ende der Straße wohnte, in einem kleinen Holzhaus mit offener Wiese dahinter. Auf dieser Wiese steht er, die Knie leicht gebeugt, die Oberschenkel angespannt, und dreht sich langsam um die eigene Achse, zieht mit seinen ausgestreckten Armen eine Linie durch die Luft, eine Linie, die auf- und absteigt, fließt, in Wellen, anschwillt und verebbt. Kurzlebig. Unsichtbar. Eine Melodie.

Makiko spürte ein plötzliches Verlangen nach Musik, sie trat ans Klavier und sah im Augenwinkel, wie ihr Telefon erneut anfing zu blinken. Makiko schaute nach, staunte: schon wieder Gerald. Entschieden schaltete sie das Telefon aus und setzte sich auf den Klavierhocker. Langsam senkten sich ihre Finger auf die Tasten hinab, ihr linker Fuß fand das Pedal.

III

Luiz kehrte zurück ins Schlafzimmer. Frisch geduscht lief er um das Bett herum und sammelte seine auf dem Boden liegenden Kleidungsstücke auf: Socken, Unterhose, Jeans, seine Armbanduhr, das blaue Hemd. Seinen Gürtel in der Hand, stellte er sich vor den Spiegelschrank am Bettende, streckte den Rücken und schaute hinein. Joana lag immer noch ausgestreckt auf dem weißen Laken, die Beine leicht geöffnet, den Kopf auf ein Kissen gestützt. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Joana grinste ihn an, stumm fuhren ihre Augen über Luiz’ nackten Körper. Dann schwang sie sich von der Taille aus hoch, Luiz sah die Spannung in ihrem Bauch, Sonnenlicht auf den Härchen unter ihrem Bauchnabel, auf ihrer verschwitzten, glänzenden Haut. Joana saß jetzt aufrecht im Bett. Atmete tief, öffnete ihre Beine und ließ dabei ihren Kopf, den langen Haaren folgend, langsam nach hinten sinken, ihre Brüste strafften sich, die Brustwarzen wurden größer, ihr Körper wölbte sich immer weiter nach unten und Luiz hörte nur noch, wie neben ihm ein Gürtel auf das Parkett fiel.

 

Als er eine halbe Stunde später den Kubus verließ, in dem Joana wohnte, tropfte das Duschwasser aus seinen nassen Haaren. Luiz blieb vor seinem Auto stehen, senkte den Kopf und schüttelte ihn, schnell und heftig wie ein Hund, der sich das Wasser aus dem Fell schleudert, so heftig, dass ihm fast schwindelig wurde. Als er den Kopf wieder hob, trafen ihn die gelbgrünen Augen einer ausgemergelten Katze, die auf dem Deckel einer Mülltonne saß und ihn anstarrte. Luiz starrte zurück, hielt den Blick der Katze, während er langsam auf sie zuging. Nicht langsam genug, ihr Fell zuckte und die Katze verschwand mit einem Satz im Gebüsch. Auf dem Deckel der Mülltonne hinterließ sie eine merkwürdige Leere.

 

Luiz stieg in seinen Wagen und fuhr los, gab Gas und musste gleich wieder bremsen, ein breiter, halb auf der Straße geparkter Jeep versperrte ihm den Weg. Luiz hupte wütend, als könnte das Auto ihn hören, und steuerte seinen Wagen um die schwarze Karosse herum. Die engen Gassen des Viertels ärgerten ihn, warum musste Joana ausgerechnet im Neve Tsedek wohnen! Sicher, die Gegend hatte ihren Charme, das Meer war nah und die niedrigen Häuser wirkten idyllisch – wirkten, denn wenn man genauer hinsah, verschwand die Beschaulichkeit: Hier noch das schicke Büro einer Immobilienagentur, versank nur wenige Meter weiter ein schon seit Monaten verwaistes Haus immer mehr in Unrat. Auf dem Müllberg vor der Haustür entdeckte Luiz heute zwischen zerschlissenen Reifen, Glasscherben und Orangenschalen einen einzelnen Kinderschuh. Wem gehörte dieser Schuh? Wurde er vermisst? Schräg gegenüber sah Luiz vor einem Coffeeshop ein junges Pärchen in Armeekleidung, sie saß, die Beine lässig übereinander geschlagen, auf einer Holzbank, er stand neben ihr, mit leicht gespreizten Beinen, das Gewehr über die linke Schulter gehängt. Gelangweilt auf die Straße blickend, aßen sie jeder einen Donut. Am liebsten hätte Luiz noch einmal gehupt, laut und jäh und schrill. Stattdessen schaltete er das Radio ein. Mit dünner Stimme hauchte ein israelisches Pop-Sternchen seine geheimen Wünsche über einen Beat, der so stur gerade war, dass von Rhythmus nicht die Rede sein konnte. Luiz wechselte den Sender, erwischte einen hyperventilierenden Moderator, der sich an Gewinnspielen erfreute, Werbung für Biowein aus einem Kibbuz in den Hügeln Galiläas, dann endlich, auf Englisch, Nachrichten. Schon wieder zwei tote Palästinenser im Gazastreifen infolge eines Bombenabwurfs durch die israelische Luftwaffe. Von israelischer Seite bislang keine Stellungnahme. In anderen Teilen der Welt sorgte das Klima für Katastrophen, Hochwasser fluteten weite Regionen in Ostasien, und in Griechenland, kurz vor der Hauptstadt, brannten die Wälder. Brandstiftung, dachte Luiz. Neu gewonnenes Bauland.

Am Ende der Gasse bog er ab, passierte den Trade Tower, dessen azurblaue Fensterscheiben die Abendsonne spiegelten, und fuhr schließlich auf die breite, gen Norden führende Küstenstraße. Luiz öffnete das Wagenfenster, streckte seinen Arm hinaus und ließ den warmen Fahrtwind durch seine Finger streichen, diese Luft, die bei Wüstenwind in der Lunge kratzte, als hätte man Sandkörner verschluckt. Die Strände begannen sich zu leeren, Handtücher und Klappstühle wurden zusammengepackt, die Sonne stand bereits tief über dem Meer, tauchte die Stadt zu Luiz’ Rechten in ein goldenes, trügerisches Licht, verdeckte für ein paar Stunden den Schmutz und die Risse in den vor langer Zeit einmal weiß gewesenen Fassaden.

Vor der Abzweigung zur Frischman Beach stand am Straßenrand eine Gruppe junger Soldaten, die Mädchen trugen Pferdeschwanz, die Jungen waren fast kahl geschoren, dafür sonnenbebrillt und natürlich bewaffnet. Luiz seufzte auf, hätte er jetzt Kollegen aus dem Ausland dabei, würde er ihnen erklären müssen, dass ein solcher Auflauf in diesem Land nichts Außergewöhnliches war, nein, diese Jungen und Mädchen gehörten zu keiner Spezialeinheit, Maschinengewehre bei Achtzehnjährigen waren hier normal. In diesem Land der Palmen und Soldaten, der Flipflops und Armeestiefel. Luiz bremste vor der Ampel. In diesem Land, das ihn sogar dazu gebracht hatte, den Führerschein zu machen, da er sich nicht hatte vorstellen können, jeden Morgen vor dem Bahnhof anzustehen, um durch einen Metalldetektor zu laufen. Was natürlich nicht bedeutete, dass er deshalb einen Tag ohne Kontrollen auskäme. Nicht nur der Haupteingang zur Uni wurde bewacht, auch die Kaufhäuser, der Kinokomplex, überall wurde der Mensch, das dunkle Wesen, durchleuchtet, gefilzt, geprüft.

Seine ausländischen Freunde hielten es meist für einen Witz, wenn Luiz anfing, von den Mikrochips zu sprechen, er dagegen war sich sicher, dass sie schon bald kein Scherz mehr sein würden: Implantierte elektronische Chips für Haushunde waren bereits Pflicht, und die Menschen würden folgen, um in jeder Notlage, im Fall des ultimativen Angriffs auffindbar zu sein. Offline impossible. Selbst auf hoher See. Luiz’ Blick glitt zum Meer hinaus, entdeckte erst zwei, dann drei Segelboote weit draußen, kurz vor dem Horizont, in jenem Dunst, in dem die Grenze zwischen Wasser und Himmel verschwand.

Er merkte erst, dass die Nachrichten zu Ende waren, als eine junge Frau den Wetterbericht für London durchgab. Luiz wechselte den Sender, übersprang die Börsenmeldungen, hielt bei romantischer Klaviermusik. Ein Klavier, im Wettlauf mit dem ganzen Orchester, bäumte sich auf, preschte vorwärts, hämmerte über Wogen hinweg, eine Hand fing die andere ein, gemeinsam rangen, wüteten sie über dem Abgrund. Luiz schaltete um. Er kannte die Musik. Das Stück war auf der CD, die Rachel seit ein paar Tagen abends vor dem Einschlafen hörte. Rachel – Luiz durchfuhr ein kalter Schauer, er schaltete das Radio aus, beschleunigte und verließ an der nächsten Ausfahrt die Küstenstraße, fuhr in Richtung Highway, auf dem schnellsten Weg zur Universität.

Der vierte Stock, in dem sein Büro lag, war dunkel, nur im dritten Stock, im Zimmer der Doktoranden, brannte noch Licht. Das Fenster war geöffnet, Susan und Daniel lehnten am Fensterrahmen und rauchten. Als Luiz über den Parkplatz zum Hintereingang des Instituts lief, winkten sie herunter: »Schalom!« Luiz hob die Hand und nickte ihnen zu.

Auf seinem Schreibtisch stapelten sich mehrere Briefe, obenauf ein dicker Umschlag mit dem Briefkopf der Columbia University, New York. Luiz schob die Post zur Seite, legte seine Ledertasche auf den Tisch, öffnete den Reißverschluss des Innenfachs und holte seinen Ehering heraus. Er hielt den Ring in die Höhe und betrachtete das matte Weißgold. Rachel hatte es sich gewünscht, Gold fand sie protzig, »das Metall der Babylonier«. Luiz steckte den Ring an seinen Finger, nahm das Diensttelefon und wählte.

»Ich bin’s. Soll ich etwas mitbringen?«

»Nein danke, alles da.« Rachel klang beschäftigt. Zeruya quäkte im Hintergrund, quäkte, wie sie es immer tat um diese Zeit, wenn sie müde war, aber noch nicht müde genug, um zu schlafen.

»Ich komme jetzt«, erklärte Luiz.

»Schön«, gab Rachel zurück.

Luiz wartete einen Moment, überlegte, ob es noch etwas zu sagen gebe, dann legte er auf. Schaute aus dem Fenster. Die Katze von vorhin fiel ihm ein, ihre aufgestellten Schnurrhaare, ihr ziehender Blick.

 

Langsam erhob sich Luiz, verließ sein Büro und lief den schmalen Gang entlang, an den Labors vorbei, zur Herrentoilette. Vor dem Spiegel blieb er stehen, strich sich über das getrocknete Haar, glättete es, so gut es ging. Er prüfte den Sitz seines Hemdes und öffnete den vorletzten Knopf. Bedächtig, wie Joana es tat. Luiz sah sie durch den Spiegel, wie sie sich ihm von hinten näherte, wie sie ihre Fingerspitzen auf seine Schultern legte und mit ihnen seinen Rücken hinabstrich. Wie sie ihre Hände, an der Hüfte angekommen, um seinen Bauch legte und ihn mit den Armen umfing. Wie sie noch einen winzigen Schritt näher trat und ihr Ohr auf sein Schulterblatt bettete. Wie sie so verharrte, reglos. Als horchte sie in ihn hinein.

IV

»Das war das letzte Foto von mir«, hatte Judith leise, aber entschieden gesagt, als Ada die Kamera vom Gesicht genommen hatte. Ada war zusammengezuckt, hatte in Judiths müde, nur mühsam geöffnete Augen geblickt und gewusst, dass Judith Recht hatte.

Ada markierte das Foto und zog es auf dem Bildschirm nach rechts, aus dem Bild wurde ein Icon, ein Punkt im Himmel eines größeren Bildes, auch hier wieder Judith, daneben sie selbst, im Jeep auf der Fahrt durch die Wüste. Um die Köpfe trugen sie eng gewickelte Tücher, es roch nach Benzin und die Luft war so heiß, dass der Wüstensand vor ihren Augen flimmerte. Hinter ihnen verschwand Hebron in einer Staubwolke und die Straße war derart löcherig, dass die olivgrüne Feldtasche zwischen ihnen regelmäßig vom Sitz fiel. Ada schaute nach rechts, da lag sie, die Feldtasche, neben den gestapelten Autoreifen, dem Motorradhelm und den Filmrollen in einer Ecke des Zimmers. Sie suchte Salims Mailadresse, hängte das Foto in den Anhang und schickte es ab. Dann schloss sie den Artikel über die israelischen Luftangriffe, den Salim heute Morgen versandt hatte, die Libération sprach von Sommerbomben, bombes d’éte.

Als Ada den Computer zuklappte, sah sie dahinter auf dem Tisch die Orange auf einem breiten Tonteller liegen. Ada streckte ihre Hand aus, befühlte die immer noch feste Schale. Er wisse, hatte Salim in seinem Begleitbrief geschrieben, dass es Jaffa-Orangen auch in Berlin zu kaufen gebe, diese hier jedoch stamme direkt von der Quelle, aus dem Garten seiner Nachbarn, in Sichtweite des Hafens von Jaffa. Ada griff nach der Orange, wog sie in der Hand wie ein Händler, sog ihren schweren, süßen Duft ein. Erinnerte sich an den Geschmack milder, konzentrierter Süße, an das samtige Fruchtfleisch, das man auf der Zunge spürte, aber nicht am Gaumen. Weite Gärten mit süßen Früchten und schattigen Palmen verspricht der Koran denen, die glauben, hatte Salim zu Judith gesagt, oben auf dem Berg vor Nablus. Als seine Orange letzte Woche endlich in Berlin angekommen war, hatte Judith bereits aufgehört zu essen.

Ada legte die Frucht zurück auf ihren Teller, stand auf und ging hinüber ins Schlafzimmer.

 

Judith hatte ihr Gesicht zum Fenster gedreht, ins Licht, das zu dieser Stunde bis in die Mitte des Zimmers fiel. Die rechte Kopfhälfte ins Kissen gestützt, schaute sie in den Ahornbaum, dessen Äste fast bis an die Glasscheibe ragten. Oder sah sie den Baum gar nicht? Schlief sie? Ada schob die Tür noch einen Spalt weiter auf, die Holzdielen unter ihren Fußsohlen knarzten. Judith rührte sich nicht. Mit vorsichtigen Schritten näherte sich Ada dem Bett, wich ein paar auf dem Fußboden stehenden Blumensträußen aus, schob den Tropf zur Seite und setzte sich neben Judith auf die Bettkante. Judiths Augen waren geschlossen, ihre Arme lagen ausgestreckt auf der roten Bettdecke. Ada legte ihre Hand auf Judiths kalte Finger und erschrak im ersten Augenblick darüber, wie mager Judiths Hand geworden war. Es war etwas anderes, diesen langsam verschwindenden Körper zu sehen oder ihn zu spüren, die harten Knochen zwischen den Adern, die sich wie dicke Schläuche unter der Haut emporwölbten, sodass man Angst bekam, Judith bei jeder Berührung das Blut abzudrücken.

Judith bewegte den Kopf, drehte ihr Gesicht weg vom Fenster und schlug die Augen auf. Sie sah anders aus als heute Mittag, der trübe Schleier über ihren Augen war verschwunden, ihr Blick war wach und klar. Sie lächelte. Ihre Lippen zuckten, Ada beugte sich vor und hörte Judith flüstern: »Camarada.«

Ada fuhr zusammen, schon seit Wochen hatte sie dieses Wort nicht mehr gehört! Es schien einer anderen Zeit anzugehören, einer Zeit der Arbeit, ihrer gemeinsamen Arbeit – Ada freute sich, drückte vorsichtig Judiths Hand, nickte ihr zu und antwortete: »Zur Stelle, Camarada.«

Das Lächeln auf Judiths Gesicht wurde breiter, sie strahlte. Zweifellos, Judith strahlte, drehte ihren Kopf zum Fenster, deutete hinaus und flüsterte: »Hörst du?«

Ada schaute auf, horchte. Im Zimmer war es still. Draußen, auf der Straße, kein Auto. Keine Kinder, die wie gestern Wasserbomben auf den heißen Asphalt warfen, keine grölenden Fahrradfahrer, nicht einmal ein Vogel im Baum. Es war still, ungewöhnlich still.

Ada suchte Judiths Blick, fand ihn, worauf Judith noch einmal zum Fenster deutete und flüsterte: »Hörst du?« Dann fiel ihr Kopf ins Kissen, Judith seufzte auf und war kurz darauf eingeschlafen.

Ada blieb reglos sitzen. Ihr Herz pochte hart gegen ihren Brustkorb, ihre Wangen und Ohren wurden heiß, nur die Leuchtziffern des Weckers auf dem Nachttisch blinkten lautlos, stoisch im Sekundentakt. Ada starrte auf die Zahlen. Sie folgte der sturen Abfolge der Ziffern und hörte darunter, wie ein Rauschen, Judiths tiefer werdenden Atem. Ein Atem, der bald auch Ada in seine Müdigkeit, den Schlaf hineinzog, sie gähnte, blinzelte, ihre Lider und Glieder wurden schwer.

Wie von selbst glitten ihr die Flipflops von den Füßen, Ada hob die Beine an, legte sie auf das Bett und rollte sich neben Judith auf die Seite. Judiths warmer Atem blies ihr in den Nacken, Ada holte tief Luft und schloss die Augen.

V

Jede Ankunft ist ein Anfang, dachte Jason, auch wenn sich jeder Schritt, jeder Blick nach Rückkehr anfühlt. Die glatten Steinwände der Flughafenhalle schimmerten im Sonnenlicht. Jason lief, seinen Rollkoffer hinter sich herziehend, durch die Gänge, schob sich an einer Gruppe japanischer Touristen vorbei, überholte zwei Inderinnen in pink leuchtenden Saris, wurde schneller, er fühlte sich erstaunlich frisch, beinahe ausgeruht, obwohl ihm sein Hemd am Körper klebte und roch, als trüge er es seit Wochen.

Draußen vor dem Eingang kaufte er an seinem Lieblingskiosk, einem Holzkarren mit aufmontiertem Sonnenschirm, jene Pistazien, die der Verkäufer, ein alter Hippie mit zum Zopf geflochtenem Bart, in losen Tüten und zu wechselnden Preisen anbot. Mal war eine Tüte erstaunlich günstig, dann wieder, wie heute, unverhältnismäßig teuer. Welches Prinzip den Preisschwankungen zugrunde lag, hatte Jason noch immer nicht verstanden, es schien gar kein Prinzip zu geben, reine Laune, Willkür des Hippies zu sein.

Während Jason auf das Wechselgeld wartete, streifte sein Blick die ausliegenden Zeitungen und blieb beim San Francisco Chronicle hängen. Oben rechts auf der Titelseite war ein Foto von den griechischen Wäldern, in Rauch gehüllte, karge Stämme, so hoch und schmal wie dorische Säulen, über ihnen Baumkronen, die sich in die Ferne zogen und aus deren Mitte eine gigantische Feuersäule in den Himmel stieg. Jason griff nach der Zeitung, zögerte dann und ließ sie wieder fallen.

Die Pistazientüte in der Hand, schlenderte er zum Taxistand, blickte sich um, von José, seinem Fahrer, und dem schwarzen Firmenwagen war noch nichts zu sehen. Jason schaute auf, in den blankblauen Himmel, die unglaublich klare Luft. Es war dieses Licht, das er mehr als alles andere an Kalifornien liebte, ein Licht, das die Konturen schärft und die Farben erstrahlen lässt, das nichts kaschiert und alles zeigt, ein ehrliches Licht, das zu Taten drängt und das von jener frischen Brise, die von der Küste hinauf in die Hügel wehte, nicht zu trennen war. Jason schloss die Augen und atmete tief ein, er wollte diese Luft bis in den letzten Winkel seiner Lunge saugen, wollte spüren, wie ihm der Sauerstoff ins Blut und in den Kopf stieg, bis auch seine Gedanken klar und weit, frei wurden. Leyla. Weißt du, was ich meine? Siehst du es, dieses Licht?

In einem Moment wie diesem kostete es Jason wahrhaft Überwindung, Leyla nicht anzurufen, sie nicht teilhaben zu lassen an diesem Anblick. An seinem Leben. Doch er hielt sich an ihre Abmachung, und das nicht nur, weil es in London bereits nach Mitternacht war. Er hielt sich an das, worum Leyla ihn gebeten hatte, in der Hoffnung, dass sie nicht vergaß, wie schwer es ihm fiel.

Sein Wagen fuhr vor, José, der alte Mexikaner, stieg aus, begrüßte Jason fröhlich und öffnete den Kofferraum.