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Berthold Seliger

Das Geschäft mit der Musik

Ein Insiderbericht

FUEGO

- Über dieses Buch -

Jeder hört Musik, doch kaum einer weiß wirklich, wie sie zum »Produkt« gemacht wird. Dieses Buch ist eine instruktive Einführung in fast alle Facetten des Geschäfts mit der Musik. Es wird erklärt, wie das Tourneegeschäft, die Plattenfirmen, das Copyright, Sponsoring oder die Gema funktionieren, und der Autor diskutiert die aktuellen Geschäftsmodelle und befasst sich mit der Rolle der Künstler und Kulturarbeiter, aber auch zum Beispiel mit ihrer miserablen sozialen Situation.

Doch dieses Buch ist auch eine Streitschrift für eine andere Kultur. Fast alle Bereiche des Geschäfts mit der Musik werden heute von Großkonzernen dominiert – die Vielfalt der Kultur ist längst in Gefahr. Gleichzeitig erleben wir den Quotenterror – es zählt nur noch, was »verkauft«. Die Verhältnisse werden von Monopolen und der Politik, die den »Staatspop« fördert, bestimmt.

- Inhalt -

Intro

Melancholie und Dissidenz

Live-Industrie

Veranstalter, Agenten, Tickets und Big Data

Tonträgerindustrie

Plattenfirmen, Indies, Streaming und neue Geschäftsmodelle

Copy? Right!

Urheber, Verwerter und Nutzer im chinesischen Jahrhundert

Gema

Afma, Stagma, Inka und Hadopi

Sponsoring

Bands und Brands

Die soziale Situation

Fame, Fun, Cash im Prekariat

Musikjournalismus

Kooperationen, Preislisten und ein Hengst im Karpfenteich

Politik

Zeitkultur, Staatspop und die Rolle der Musiker

Literaturverzeichnis

Über den Autor

Über Fuego

Impressum

»Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts!«

Hanns Eisler

Intro

Melancholie und Dissidenz

In der sogenannten O2 World Berlin, der laut Eigenwerbung »modernsten Multifunktionsarena Europas«. Bereits von Ferne ballert einem die knallbunte Werbung entgegen, die Halle ist von außen erleuchtet mit den Heilsversprechen der Konsumwelt, von Beck’s bis Coca-Cola (die Getränkemultis sind zwei der Hauptsponsoren der Halle). Innen verströmt die Halle den Charme eines mittelstädtischen Parkhauses, alles ist sauber und betoniert und zweckdienlich. Das Publikum soll möglichst rasch den Weg finden zu den Verkaufsständen von Pommes und Bier und danach anstandslos in der Halle das konsumieren, was die Anschutz-Gruppe mit Hilfe der Millionensubventionen von Wowereits rot-rotem Senat als »Kultur« verkauft (laut Presseberichten gab es seitens des Berliner Senats direkte Subventionen in Höhe von mindestens 12 Millionen Euro, hinzu kommen wohl noch einmal über 20 Millionen Euro, die in Infrastrukturmaßnahmen für das Anschutz-Gelände flossen).

Im Kern erinnert die O2 World an die Mehrzweckhallen, wie man sie aus der Provinz kennt, ein überdimensionales Dorfgemeinschaftshaus sozusagen. Man kann dort alles anbieten, vom Eishockeyspiel über Boxkämpfe bis hin zu Metallica, DJ Ötzi und Leonard Cohen – und vor und nach dem Konzert werden die Besucher unablässig mit bunten Werbebotschaften bombardiert. Eine Abspielstation für Kultur, »die sie meinen«: seelenlos, kalt und ohne Charme, eine Fabrikhalle, in der »Produkte« der Kulturindustrie »mehr oder minder planvoll hergestellt« werden, »die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich aus bestimmen« (Adorno).1 Heute heißt so eine Halle nach einem Mobiltelefonkonzern, oder wahlweise nach einem Versicherungsgiganten (Allianz Arena München) oder einer Bank (Commerzbank Arena Frankfurt), Beispiele für ein »System«, zu dem die »Konzentration von Wirtschaft und Verwaltung« geführt hat. »Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer Abnehmer von oben« (Adorno), und dies wird in der Berliner O2 World auf eine Weise manifest, gegen die Adornos Thesen fast schon naiv anmuten.

In den letzten zwanzig Jahren ist eine Kommerzialisierung des Konzertgeschäfts erfolgt, eine Industrialisierung des Konzertwesens, deren Dimensionen so weitreichend sind, wie sie gleichzeitig in der öffentlichen Diskussion fast völlig verschwiegen werden. Das »Soundwave Festival« zum Tag der deutschen Einheit vor dem Brandenburger Tor wird von der Getränkemarke Coca-Cola veranstaltet (die braune Brause hat mit dem Sponsoring in Berlin einige Erfahrung: Bereits 1936 hat Coca-Cola Hitlers Olympiade unterstützt, und im Berliner Sportpalast verkündeten bei NS-Großveranstaltungen Werbebanner weiß auf rotem Grund: »Trink Coca-Cola – stets eiskalt«). Sogenannte »Mobile Sessions« mit Künstlern wie den Rascals oder José González werden vom Handyhersteller Sony Ericsson über die Bühne gebracht. Eine Organisation namens »Electronic Beats« (laut Impressum der Website »operated by Deutsche Telekom AG«) veranstaltet ein Konzert der Pet Shop Boys im städtischen Theater »Hebbel am Ufer« (HAU), Karten gibt es jedoch nicht öffentlich zu kaufen, sondern nur über die Website des Telefonkonzerns. Der Hardwarehersteller Apple organisiert in europäischen Großstädten seine »iTunes Live«-Festivals, und sämtliche Medien, von Musikmagazinen über Radiostationen bis hin zum bürgerlichen Feuilleton, überschlagen sich mit Lobeshymnen und machen, als Berichterstattung getarnt, kostenlose Werbung für den Konzern. Die »O2 World On Tour« präsentiert Künstler wie Mia oder Adam Green. Gemeinsam ist den Konzerten von O2 und Apple, daß der Fan nirgendwo Tickets erwerben kann – Karten für diese Konzerte gibt es nicht zu kaufen, sondern nur zu gewinnen, etwa auf den Websites der Konzerne oder bei ihren sogenannten »Medienpartnern«. Oder die Handybesitzer erfahren über SMS von den Konzerten, die ihr Provider nur für seine Kunden veranstaltet. Konzertbesuche nicht als kulturelle Ereignisse, sondern als privatisierte Lifestyle-Zugabe zu bereits getätigtem Konsum – der Konsument wird mit manipulativer Musik zwangsernährt.

Die Modemarke »New Yorker« lädt zu einem exklusiven Madonna-Konzert, der Autokonzern Audi sponsert das Konzerthaus Berlin, Nestlé finanziert die Salzburger Festspiele (»A shared passion for quality«). Auch die Lifestyle-Presse hat sich zum willigen Helfer der Konsumindustrie degradiert und berichtet auf von der Konsumindustrie bezahlten und schüchtern und kleingedruckt »Promotion« genannten Seiten davon, wie »die Party zum Launch der H&M-Kollektion in Berlin« war, und Indie-Musiker wie Frank Spilker von der Band Die Sterne nehmen an der »Jägermeister Rock Liga« teil, um sich einen »neuen Kleinwagen« zu finanzieren. Vodafone veranstaltet ein »Music Unlimited«-Festival vor dem Köl­ner Dom (wo vor Jahren noch das renommierte und mittlerweile vom Sender eingestellte »WDR Weltmusikfestival« stattfand), die Mitschnitte der Konzerte auf der Domplatte kann man sich als mobile Downloads auf das Handy holen. Gleichzeitig gibt es auf MTV eine Sendung namens »Vodafone Soundbites«: »Es geht um eine weltweite Multiplattform«, sagt Charlie Carrington, Head of New Media and Branded Entertainment bei der Vodafone Group, »Vodafone will als Partner der Musikbranche gesehen werden«.2

»Branded Entertainment« – besser hätte man die weltumspannende Manipulationsindustrie wohl kaum bezeichnen können.

Vor ein paar Jahren kam ich abends nach einem Konzert von Pere Ubu auf dem Weg ins Hotel mit dem großen David Thomas an einem Poster für ein von Coca-Cola veranstaltetes Konzert vorbei. David Thomas sagte: »I never would do this. I never would play for Coca-Cola!« Der viel zu jung verstorbene Beastie Boy Adam Yauch hat nicht nur »I might stick around or I might be a fad, but I won’t sell my songs for no TV ad« gerappt (im Song »Putting Shame in Your Game«), sondern verfügte in seinem Testament auch ausdrücklich, daß »in keinem Fall mein Bild, mein Name sowie irgendeine Musik oder ein künstlerisches Eigentum, das ich geschaffen habe, für Werbezwecke verwendet werden darf«.3

Es gibt noch Künstler, die Haltung und Rückgrat haben, Künstler, die nicht jeden Scheiß mitmachen nach dem Motto: »Ich war doof und brauchte das Geld«, Künstler, die nicht Musik machen, um sich einen Kleinwagen zu finanzieren. Allerdings, diese Haltung – das »Ain’t singing for Pepsi, ain’t singing for Coke« (Neil Young) – ist heute, mehr als anderthalb Jahrzehnte nach dem Sponsoring von Volkswagen für die Tournee der Rolling Stones, das eine Vorreiterrolle spielte bei dieser neuen Form der Werbe-Deals, eine Seltenheit. Das Thema ist eigentlich durch. Musik um der Musik willen und nicht als Mittel zum Zweck, der da größtmöglicher Profit heißt, ist – siehe die oben erwähnten Beispiele – ein Anachronismus, selbst im sogenannten »Indie«-Bereich.4

Die Musikbranche spielt Monopoly. Denken Sie an die Tonträger- und Musikverlagsindustrie, die zuletzt durch den Verkauf des Traditionsunternehmens EMI in die Schlagzeilen geraten ist. Insgesamt dominieren heute nur noch drei statt bisher vier multinationale Konzerne fast 80 Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts. Bei den Musikverlagen sieht es ähnlich aus: Die drei multinationalen Konglomerate verfügen über 68,7 Prozent der Weltmarktanteile. Seit Drucklegung dieses Buches mögen sich die Zahlen geringfügig verändert haben. Macht nichts, die Tendenz ist nach wie vor die gleiche.

In der Konzertbranche läuft es nicht anders, global wie auch regional. Weltweit konkurrieren vornehmlich zwei große Agenten- und Managementfirmen um die Vorherrschaft auf dem Markt, William Morris Endeavor und die Creative Artists Agency. Und Live Nation ist der Konzern, der das Konzertgeschäft unserer Tage weltweit dominiert. Zur Marktkonzentration der Konzertveranstalter, Managementfirmen und Agenturen kommt seit geraumer Zeit die Marktdominanz der Ticketverkäufer, der Ticketingfirmen. Live Nation und Ticketmaster haben vor wenigen Jahren fusioniert – der größte Konzertveranstalter der Welt im Bett mit dem größten Ticketverkäufer der Welt. Die Marktdominanz wird längst über die Grenzen des Kerngeschäfts hinweg zementiert. Doch wir müssen gar nicht so weit in die Ferne, über den Atlantik schweifen, um Monopolstrukturen zu beobachten. Wir können dazu auch in Deutschland bleiben. Hierzulande ist der börsennotierte Konzern CTS Eventim der Marktführer in der Rolle eines Quasi-Monopolisten. Im weltweiten Vergleich belegt CTS Eventim heute hinter Live Nation und AEG (der Anschutz Entertainment Group, die die Berliner O2-Arena betreibt) Platz drei unter den Konzertveranstaltern und hinter Ticketmaster Platz zwei unter den Ticketing-Unternehmen.

Der amerikanische Professor, Autor und Berater der amerikanischen Wettbewerbsbehörde, Tim Wu, beschreibt in seinem Buch Der Master Switch, daß alle amerikanischen Informationsindustrien – ob Telefon, Rund­funk, Film, Fernsehen oder zuletzt das Internet – am Ende in rücksichtslosen Monopolen oder Kartellen aufgegangen sind. »Aus den schönen neuen Technologien des 20. Jahrhunderts – deren freie Verwendung ursprünglich gefördert wurde, um weitere Erfindungen und individuelle Ausdrucksformen zu ermöglichen – entstanden ausnahmslos allmählich von der Privatwirtschaft kontrollierte Kolosse. Sie wurden zu den ›alten Mediengiganten‹ des 21. Jahrhunderts, die die Verbreitung und die Art der Inhalte aus kommerziellen Gründen streng kontrollierten.«5 Und immer kann man den gleichen Verlauf konstatieren – »von einem frei zugänglichen Kanal zu einem streng durch ein Unternehmen oder Kartell kontrollierten Zugang – von einem offenen zu einem geschlossenen System«.6

Doch diese geschlossenen, privatwirtschaftlich organisierten Monopolsysteme entstehen ja nicht zufällig. In der Regel werden sie erst von der Politik ermöglicht. Erst die Möglichkeiten, die der politisch gewollte Paradigmenwechsel unserer Art des Wirtschaftens schuf, der in den späten siebziger Jahren begann, als sich in den USA die Theorien des neoliberalen Ökonomen Milton Friedman durchsetzten beziehungsweise später von Ronald Reagan und seinen »Reaganomics« durchgesetzt wurden, sowie die darauf fußende Theorie des »Shareholder Value«, von Alfred Rappaport 1986 entwickelt, haben auch die Musikindustrie auf den Kopf gestellt. Der Ansatz, den »Shareholder Value« (also allein den Wert für den Aktionär) und nicht etwa einen »Stakeholder Value« (also den Wert für alle am Unternehmen beteiligten Gruppen) zur Maxime unternehmerischen Handelns zu machen, führt in letzter Konsequenz zur Diktatur der »Märkte«, wie wir sie aktuell erleben, und hat zu Beginn unseres Jahrtausends unter anderem zu Massenentlassungen nicht nur in der Musikindustrie geführt sowie wilde Unternehmenskäufe und -verkäufe möglich gemacht. Belohnt wird nicht vorausschauende Unternehmenspolitik, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stellt, sondern der rasche, hemmungslose Profit.

Wie ich im Kapitel über die Konzertindustrie zeigen werde, hat erst der sogenannte »Telecommunications Act«, ein Bundesgesetz, das 1996 in der Vereinigten Staaten zugunsten der Lobbyorganisationen der Kulturindustrie verabschiedet wurde, die modernen Medien- und Kulturmonopole in den USA ermöglicht, die mittlerweile den Weltmarkt dominieren. Aus Zeitungs- oder Rundfunkmogulen konnten Besitzer von breit aufgestellten Medienkonzernen werden. Die vermeintliche Deregulierung des amerikanischen Medienmarkts entpuppte sich als ungehemmte Liberalisierung mit dem Ergebnis eines massiven Konzentrationsprozesses, während gleichzeitig viele lokale, unabhängige und alternative Medienanbieter eliminiert wurden. Die von der US-Regierung animierte Liberalisierung der Medienpolitik schürte eine Goldgräberstimmung. Firmen wurden gekauft und wieder verkauft, die Besitzer und Geschäftsführer der Firmen wechselten zum Teil vierteljährlich. Hatte es 1983 noch fünfzig große Medienkonzerne in den USA gegeben, so war ihre Zahl im Jahr 2005 auf ganze fünf gesunken – der Telecommunications Act hatte de facto zu einem Oligopol geführt. Der amerikanische Verbraucherschützer Ralph Nader argumentierte, das Gesetz sei ein Musterbeispiel dafür, wie politische Korruption das Wohlergehen der Großkonzerne beförderte.

Die Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft, die Monopolisierung in einzelnen Wirtschaftsbereichen sind natürlich kein Problem, das auf die Musikindustrie beschränkt wäre – so, wie die Tonträgerindustrie in der Hand dreier weltweit operierender Konzerne ist, die etwa 80 Prozent des Marktes bestimmen, und so, wie im Konzertgeschäft einige wenige Konzerne weltweit, europaweit oder national den Markt dominieren, so beherrschen zum Beispiel in Deutschland drei Verlagsgruppen etwa 80 Prozent des Buchmarktes, so kontrollieren in Deutsch­land die vier großen Lebensmittelhändler Edeka, Lidl, Aldi und Rewe 85 Prozent ihres Marktes, und nur zehn internationale Konzerne beherrschen 85 Prozent des Nahrungsmittelhandels weltweit. Das Problem ist »syste­misch«, wie man heute zu sagen pflegt.

Doch was bedeutet das für die Kultur, was bedeutet das für unsere Gesellschaft? Was bringt unsere Gesellschaft voran? Ist es die Quote, die zählen soll, oder ist es die Qualität von Kultur? Geht es um den größten Haufen, auf den sich bekanntlich die meisten Fliegen setzen? Oder geht es um diese ganz besonderen, einzelnen Leistungen außergewöhnlicher Künstler? Geht es um Musik, die unser Leben bereichert?

Die Gesamtauflagen von Kafkas Büchern zu seinen Lebzeiten waren: Betrachtung 800 Exemplare, Die Verwandlung 2000 Exemplare, In der Strafkolonie 1000, Ein Landarzt 1000. Keine »Quote«, kaum »Profit«. Aber wir sind uns sicher einig, daß Frank Kafka einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts war, der die Moderne treffend wie kaum ein anderer beschrieben und ihre Auswüchse geradezu prophetisch vorausgesehen und analysiert hat. Würde jedoch heutzutage ein neuer Franz Kafka noch gedruckt werden? Ein Autor, der »nicht genug verkauft«, dessen »Quote« zu gering wäre? Seinerzeit hat Kafka einen Verleger gefunden, der an ihn geglaubt und ihn veröffentlicht hat. Die multinationalen und dem Profit verpflichteten Kulturkonzerne unserer Zeit würden Franz Kafka wahrscheinlich ignorieren. »Qualität wird, besonders wenn sie in ungewohnter Form auftaucht, in der Regel nicht erkannt, schon gar nicht vom Markt. Das Neue kommt auf leisen Sohlen, in kleinen Auflagen. Wer kümmert sich um diese kleinen Auflagen?«, fragt der Verleger und Kafka-Experte Klaus Wagenbach. Wer kümmert sich um die Künstler, die auf ihren ersten Tourneen nur dreißig, vierzig, siebzig Tickets pro Konzert verkaufen? Wer veröffentlicht die Musik von Bands, deren Alben nur eine Kleinauflage erleben? Für die großen Konzerne sind diese Künstler uninteressant. Wie groß ist das Interesse der Gesellschaft am Neuen? Also an ihrer Zukunft?

Die spannende Musik hört man in aller Regel in den Clubs, in den kleinen Hallen, auf charmanten, wenig kommerziellen Festivals. Das ist die lebendige Musik­szene, in der das wahre musikalische Leben stattfindet. Die interessante Musik wird in aller Regel von kleinen, engagierten Labels veröffentlicht. Kaum eine gute Band würde existieren, wenn es nicht kleine Clubs und engagierte örtliche Veranstalter gäbe, die die Aufbauarbeit leisten, die mit viel Einsatz, Kreativität und nicht selten mit beträchtlichen finanziellen Verlusten diese Bands ihrem lokalen Publikum vorgestellt haben. Kaum eine gute Band ist ohne die Aufbauarbeit kleiner Labels denkbar. Diese kulturelle Leistung bringt die Kultur unserer Gesellschaft voran – nicht das Schielen nach Kommerz und Profit.

Doch die alternativen Kultureinrichtungen, die Clubs, Kleinlabels und Kulturzentren, sind durch eine »Quotenkultur« akut in ihrer Existenz gefährdet. Damit ist auch die Teilhabe der Menschen an der Kultur gefährdet. Wie aber können wir die kulturelle Vielfalt am Leben halten jenseits der Monopole und jenseits der profitbestimmten Quoten? Wenn einige wenige Musikkonsortien sich den Musikmarkt aufteilen und untereinander noch stark vernetzt sind, dann sind letztlich, so der niederländische Politologe Joost Smiers, »Demokratie und das menschliche Recht auf Teilhabe am kulturellen Leben in Gefahr«. Es gibt Bereiche des Lebens, bei denen das öffentliche Interesse mehr zählt als bei Herstellung und Verkauf von Zahnpasta oder Unterwäsche. Wenn sich nur noch die Universals und die Live Nations dieser Erde um die Künstler kümmern, dann entsteht eine profitorientierte Monokultur, die durch ihre vielfältigen Manipulationsmöglichkeiten die Konsumenten mit einem kulturellen Einheitsbrei füttert.

Die Manipulation der Menschen durch seichte Massenkultur dient letztlich der Regierbarkeit von Untertanen. Das ist keine Erfindung des Neoliberalismus des 20. Jahrhunderts. Georg Knepler erklärt in seiner »Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts«, welche gesellschaftliche Aufgabe »die Schlammflut von seichter und schlechter Musik« im Kapitalismus von Anfang an hatte:

»Was waren die Versuche einzelner Musiker, was waren die Bemühungen von Vereinigungen, Verbindungen und Gesellschaften aller Art, die Schlammflut von seichter und schlechter Musik aufzuhalten, das musikalische Niveau der Massen zu heben, der Korruption und Heuchelei im Musikleben einen Riegel vorzuschieben – was waren diese Versuche gegenüber der unerbittlichen Gesetzmäßigkeit, mit der die kapitalistische Gesellschaft eben diese Übel täglich neu produzierte? Die zur Macht gelangte Großbourgeoisie hatte vor allem ein Interesse: an der Macht zu bleiben. (...) Es ist von unabsehbarer politischer Bedeutung, daß die kapitalistische Unterhaltungsmusik nicht realistisch war, sondern idealisierend, nicht aufrüttelnd, sondern besänftigend, nicht sammelnd, sondern zerstreuend, nicht konzentrierend, sondern ablenkend. (…) Je leichter die Ware, mit der der Musikhunger der Millionen zu befriedigen war, um so besser für die Verleger. Um so besser aber auch für die gesamte Klasse der Kapitalisten. Eine solche Musik half mit, die bestehenden Lebensverhältnisse als erträglich, ja, als ideal, jedenfalls aber als unabänderlich, als unveränderbar hinzustellen, und wurde auf diese Weise zu einem wichtigen Träger der Ideologie der herrschenden Klasse. Das ist das (…) entscheidende Merkmal, durch das sich die von Kapitalisten betriebene Tanz- und Unterhaltungsmusik von der früherer Epochen unterschied. Die kapitalistisch betriebene Tanz- und Unterhaltungsmusik brachte also doppelten Profit, so wie jede Ware, die auf den Markt geworfen wird; und – wichtiger noch – sie trug in ihrer Eigenschaft, als besondere, als ideologische Ware dazu bei, die ganze Gesellschaftsordnung mit ihrer Warenwirtschaft, ihrem Markt und ihrem Profit, mit ihrer Not und ihrem Elend, mit ihren Krisen und Kriegen, mit ihrer Oberflächlichkeit und Seichtheit zu festigen.«7

Eine direkte Linie zieht sich von Metternichs Untertanenstaat des frühen 19. Jahrhunderts zu der von Medien- und Kulturmonopolen dominierten Musik unserer Tage. Knepler weist auf das doppeldeutige, entlarvende Wortspiel Fürst Metternichs hin, das auch heute noch als Motto gelten kann: »Das Volk soll sich nicht versammeln, es soll sich zerstreuen.«8

Den Organisatoren der »Zerstreuung« wie Live Nation, Universal oder Warner geht es um eine Begradigung des kulturellen Angebots, um mit möglichst stromlinienförmigen »Produkten« (nicht umsonst heißen die Personen, die in den großen Plattenfirmen Alben bearbeiten, »Produktmanager«) möglichst leicht Profite machen zu können. Es gilt, das Publikum zu manipulieren und zu konditionieren. Es geht um Kontrolle. Es geht um »gated communities«. Man denke an Apple. Gilles Deleuze spricht von »Kontrollgesellschaften«: »Kontrolle ist der Name (...), um das neue Monster zu bezeichnen, in dem Foucault unsere nahe Zukunft erkennt (...), ultra-schnelle Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die die alten – noch innerhalb der Dauer eines geschlossenen Systems operierenden – Disziplinierungen ersetzen«.9

Man denke an die Castingshows im Fernsehen. Casting-Juroren wie Dieter Bohlen oder Heidi Klum betonen mit schöner Regelmäßigkeit, daß es um die »Persönlichkeit« der Kandidaten gehe. Tatsächlich aber »wird die Selbstentfaltung darauf eingeengt, was sich am besten verkaufen läßt. Bei Heidi Klum zum Beispiel ist immer der Kunde König, die Kandidatinnen sind nur dann professionell, wenn sie genau das machen, was der Kunde will«, erklärt der Medienwissenschaftler Bernd Gäbler. Die Castingshows haben ihre Entsprechung im Alltag der Zuschauer. Die vorwiegend jungen Menschen, Schüler, Auszubildende, Studenten, kennen in ihrem Leben eine ähnliche Ohnmacht, aber auch eine ähnliche Verpflichtung wie die Kandidaten der Shows, zu funktionieren, sich unterzuordnen unter das Diktat des Konsums, des Marktes. »Diese Shows sind Schulen für Konformismus, ja sogar für Gehorsam«, stellt Gäbler fest. »Casting macht gehorsam.«10

Wie aber kann ein künstlerisches Konzept von, sagen wir, Dissidenz und Melancholie vorangetrieben werden, das sich den Kontrollgesellschaften widersetzen würde, wenn die Kulturindustrie komplett gleichgeschaltet ist und von wenigen großen, multinational arbeitenden Konzernen dominiert wird? Die gezielt gegen jede Dissidenz, gegen »Untergrund«, gegen »Revolte« arbeiten?

Denn wir brauchen eine Kultur, die im Gegensatz zum Mainstream, im Gegensatz zum »modern talking« der Kulturindustrie Dissidenz ermöglicht, statt sie als Mode in die Verwertungslogik der Kulturindustrie aufzusaugen (wie zum Beispiel Punk oder Grunge). Ich bin überzeugt, daß große Musik seit über zweihundert Jahren im wesentlichen durch Dissidenz geprägt ist. Wobei Dissidenz kein leichtes Spiel ist, sondern in der Regel ein ausgesprochener Kraftakt. Bereits Mozart war in Habitus und Inhalt »dissident« gegenüber den herrschenden Zuständen. Man muß nun nicht in jede Oper Mozarts eine revolutionäre Haltung hineininterpretieren, aber ganz ohne Zweifel war Mozart der Aufklärung verpflichtet und in deutlicher Opposition zu kulturellen Systemen, wie sie der Salzburger Fürstbischof und die Kaiserin in Wien repräsentierten. Mozart wußte wie Beethoven, der »ein damaliger Linker« (so der Dirigent Michael Gielen) war, bestens über die Französische Revolution Bescheid und vertrat deren Forderungen. »Beethoven und Schubert erlebten in ihrem letzten Lebensjahrzehnt den Staat Metternichs, der eindeutig ein Polizeistaat war, und sie selbst standen durchaus unter Verdacht; nur die zweifache sprachliche Verschlüsselung ihrer Musik schützte sie. Schuberts Freundeskreis war ein Dissidentenkreis. Sie fühlten sich alle fremd im eigenen Land und in der Welt« (Jan Reichow).11 Dissidenz und Melancholie dürfte ein roter Faden der Musik sein seit Beethoven und Schubert, dessen »fremd bin ich eingezogen / fremd zieh ich wieder aus« aus der Winterreise ja durchaus nicht nur eine private Aussage ist – Einsamkeit meint hier wie bei Hank Williams (»I’m so lonesome I could cry«) eben keinen persönlichen, sondern einen durchaus gesellschaftlichen Topos, einen »Weltriß« (Heinrich Heine), mit dem der Künstler sich »gegen die Welt«, also auch »dissident« gegen gesellschaftliche Zustände definiert. Gustav Mahler war Dissident im künstlerischen wie im gesellschaftlichen Bereich. »Mahler stachelt die mit der Welt Einverstandenen zur Wut auf (…). Darum plädiert Mahlers Symphonik (…) gegen den Weltlauf« (Adorno).12 Oder Kafka: »... gleich seinem Landsmann Gustav Mahler hält Kafka es mit den Deserteuren« (Adorno).13 Selbst Verdi darf man nicht unterschätzen, in der Aida etwa geht es ja genau genommen um Krieg und Liebe und Kirche und Militär. Verdi war glühender Pazifist und hatte sicher seine Zweifel an den kolonialen Aspekten seines Kompositionsauftrags. Daß das zweite Finale in der Aida so schlechte Musik ist, kann nur inhaltlich begründet sein. »Es ist die wunderbarste Musik davor und danach, und das zweite Finale ist wirklich Kacke – diese Märsche und das Tschingbum. Das muß so sein! Die Vulgärmusik wird ausgestellt« (Michael Gielen).14

Oder nehmen wir die Wurzeln der Pop- und Rockmusik, den Blues, den Jazz – Musik, der die Dissidenz und die Melancholie tief eingeschrieben ist, genauso wie ursprünglich dem Country, dem »Blues des weißen Mannes«.

Heute dagegen beherrscht der Quotenterror unser kulturelles Leben, ob beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, bei der staatlichen Filmförderung oder bei unseren musikalischen Freizeitvergnügungen. Wir leisten uns ein hochsubventioniertes Kultursystem, unterwerfen es allerdings freiwillig dem Diktat der Quote. Es zählt nur, was verkauft.

Und Konzerne wie Amazon oder Apple heizen die Jagd nach der Quote noch auf eine bis vor kurzem ungekannte Weise an: Unsere Präferenzen sind in den neuen Systemen und Geschäftsmodellen Rohstoff und Währung zugleich. Amazon beispielsweise weiß genau, wie wir unsere E-Books lesen, welche Seiten wir überspringen oder welche Sätze wir markiert haben. Wer garantiert uns, daß Amazon nicht irgendwann von den Autoren stromlinienförmigere Bücher verlangt, in denen die Seiten, die viele Menschen übersprungen haben, nicht mehr vorkommen, dafür mehr Sätze, die von vielen markiert werden? Spotify weiß detailliert, welche Musikstücke wir im Streaming hören, Apple, welche Tracks wir downloaden. Und die großen Tickethändler haben abgespeichert, welche Konzerte wir besuchen und wieviel Geld wir für unsere Eintrittskarten ausgeben. Wenn wir das Konzertangebot nur den multinationalen Großkonzernen überlassen, können wir sicher sein, daß die Konzerte, für die nur wenige Tickets verkauft werden, in Zukunft wegfallen. Es dürften im Zweifelsfall die interessanteren Konzerte sein.

Dissidenz ist in den modernen Geschäftsmodellen der Kulturindustrie nicht als Möglichkeit vorgesehen. Wir müssen uns also die Möglichkeiten für eine dissidente Kultur neu erkämpfen. Das macht es nötig, die Mechanismen der Kulturindustrie genau zu kennen. In diesem Sinne Kenntnisse zu vermitteln, ist Ziel dieses Buchs.

Live-Industrie

Veranstalter, Agenten, Tickets und »Big Data«

Einer der vielen Gründe, warum es lohnt, Keith Richards Autobiographie Life zu lesen, ist die Erzählung, wie die Rolling Stones als Band entstanden, wie sie sich ihren Ruhm erkämpften, wie die ökonomischen Bedingungen damals waren. Bei einem ihrer ersten Auftritte mit zwei halbstündigen Sets im Londoner Marquee Club bekam die Band laut »Keefs« Aufzeichnungen £2. Zwei Pfund, für die ganze Band! Aber sie tingelt durch die Clubs und die kleinen Läden, manchmal sogar für Null Gage.

Doch es gibt auch bessere Tage, mitunter sind die kleinen, stickigen Clubs gut gefüllt, wenn diese neue Band namens Rolling Stones spielt. Aber irgendwann gibt es das Angebot, jeden Sonntag im Richmond Station Hotel zu spielen. »Glücksfall« kommentiert Keith Richards in seinem Tagebuch, und Jahrzehnte später schreibt er: »Dort hat alles angefangen.« Irgendwann gibt es dann Leute, die der Band »einfach überallhin folgen«, echte Follower also, ganz ohne Facebook und Gezwitscher.

Und an dieser Stelle erwähnt Keith Richards in seiner Autobiographie Giorgio Gomelsky, der »die Organisation übernommen« und »Auftritte an Land gezogen« hat – ein Booker also, würde man heute sagen. »Ohne ihn hätte die ganze Sache nicht funktioniert. (...) Giorgio tat alles für uns. Er brachte uns unter, er organisierte Gigs.« Doch, auch so etwas kommt einem bekannt vor: Als Brian Jones größere Erfolge wittert, sägt er den Booker ab. »Wahnsinn, wie Brian die Fäden gezogen hat, wie er über all das die Kontrolle haben wollte.«15

Dann kommt der erste Plattenvertrag, die Gigs werden etwas größer. Mal spielen die Rolling Stones auf einem Debütantenball in den St. Clements Caves bei Hastings, mal treten sie in der Corn Exchange von Wisbech auf, einer altertümlichen Getreidebörse in Cambridge­shire, und machen Krawall. Doch dann kommt die erste richtige Tournee, sechs Wochen. Die Rolling Stones werden als Opener gebucht für ein »Wahnsinns-Line-up: die Everly Brothers, Bo Diddley, Little Richard, Mickie Most«, eben eine Zusammenstellung mehrerer Bands, wie das zu der Zeit üblich war und das an die phantastischen Tournee-Line-ups früher Lippmann+Rau-Tourneen hierzulande erinnert. Keith Richards und die Rolling Stones machen große Augen: »In den Kinos hingen wir immer von den Deckenbalken, um Little Richard, Bo Diddley und die Everlys auf der Bühne zu beobachten. (...) Große Gigs, kleine Gigs. Was für ein Erlebnis – wow, ich in einer Garderobe mit Little Richard!«16 Die Stones schauen sich einiges von ihren Idolen ab, doch sie spielen nicht lange die Rolle des Openers. Bald dürfen sie als Letzte vor der Pause ran, dann als Erste nach der Pause, und am Ende der Tour meinen die Everly Brothers, die Rolling Stones sollten als Headliner auftreten – »wir reisten durchs Land, und es tat sich was. Plötzlich kreischten die Mädchen, wir wurden zu Teenie-Idolen.«17 Sechs Wochen, die nicht nur die Welt der Rolling Stones veränderten. Sechs Wochen harter Arbeit. Jeden Tag einen Gig. Gab es mal einen freien Tag, dann nur, weil die zwischen den beiden Tourneeorten zu fahrende Strecke zu weit war. »Als wir unsere ersten Erfolge feierten, nahm uns das Touren voll in Anspruch ...«

Schnitt: Wir schreiben das Jahr 2012. Die Eurosonic in Groningen, die laut eigener Aussage »führende europäische Musikkonferenz und das wichtigste Showcase-Festi­val« der Musikbranche, präsentiert 280 Bands, ausschließlich aus europäischen Ländern, viele naturgemäß aus Holland. Die Bands werden in aller Regel von nationalen Exportbüros präsentiert und/oder finanziert. Als Teilnehmer der Konferenz erhält man Einladungen wie: »Swiss Music Export is proud to announce 6 Swiss artists at this year’s Eurosonic Festival«, oder: »Don’t miss the fresh Icelandic talent at Eurosonic 2011. Iceland Music Export«, oder: »After a successful first edition of Dutch Impact at Eurosonic Noorderslag 2011, Music Centre The Netherlands and Buma Cultuur continued promoting Dutch bands abroad«. Das »Bureau Export« Frankreichs läßt in Groningen ebenso Bands spielen wie die staatliche deutsche »Initiative Musik«, die drei Bands mit bis zu 400 Euro pro Bandmitglied gefördert hat. Die Band »Boy«, ein deutsch-schweizer Frauenduo, wird gleich doppelt gefördert: Die Musikerinnen haben nicht nur Mittel aus der deutschen »Kurztourförderung« erhalten, sondern befinden sich auch auf der Empfehlungsliste des Schweizer Exportbüros.

Die Eurosonic ist kein Einzelfall. Bei der weltweit größten und wichtigsten Musikmesse, der »South by Southwest« (SXSW) in Austin, Texas, kann man den ganzen Tag mit kostenlosen Drinks und Essen auf Veranstaltungen staatlicher Musikexportbüros verbringen, sei es beim »Canadian Blast«, in der »British Embassy«, beim Mittagessen der »Initiative Musik«, bei den Einladungen des »Bureau Export« oder bei »Sounds From Spain«. Lassen wir einmal den Aspekt des »Staatspop« sowie des Stadtmarketings und des »Nation Branding« an dieser Stelle beiseite und beleuchten wir ausschließlich, unter welchen Bedingungen heutzutage junge Bands ihre Karriere starten – dann läßt sich eines auf jeden Fall feststellen: Neue Bands müssen sich mittlerweile in aller Regel weder Gedanken machen, wie sie ihre Instrumente und Verstärker abstottern, noch, wie sie ihr Leben und ihre ersten Auftritte finanzieren. Es gibt staatliche Förderprogramme, Tourneesubventionen, und selbst unbekannte Support-Acts erhalten kleine Auftrittsgagen, meistens zwischen 50 und 150 Euro pro Show – nicht üppig, aber doch etwas anderes als die null oder zwei Pfund für die ganze Band, die die Rolling Stones in den sechziger Jahren als Opening Act erhalten haben. Gehen deutsche Bands auf Tour, können sie bei der »Volkswagen Sound Foundation« einen gesponserten Tourbus beantragen. Sollte eine Band bereits einen Plattenvertrag haben, wird in aller Regel ihr Label eine Support-Tour co-finanzieren und der Band damit Auftritte vor einem größeren Publikum ermöglichen.

Doch nicht nur die finanzielle Situation junger Bands hat sich geändert, auch die Strukturen des Konzertmarkts sind völlig andere. Bands wie die Rolling Stones mußten sich regelrecht »hochspielen«, mit zahllosen kleinen Gigs an zum Teil dubiosen Orten, in mehrwöchigen Tourneen mit einem oder nicht selten sogar zwei Auftritten pro Tag. So etwas würde sich heutzutage in Europa kaum mehr eine Band zumuten. Die meisten Newcomer-Acts speziell hierzulande sind längst verwöhnt, im Gegensatz zu den meisten ihrer US-amerikanischen Kollegen. Dort gilt noch das alte Spiel: touren, touren, touren. Im Van quer durch die Staaten. Kleine Clubs ohne Bezahlung. Man verbringt die Nacht im Wagen oder in einem billigen Motel. Vom Veranstalter bekommt man vielleicht eine Anzahl von Tickets für den eigenen Auftritt am Abend »geschenkt«. Wenn man diese Tickets im Lauf des Tages in Bars oder Einkaufszentren verkaufen kann, ist das die Einnahme, denn unbekannte Bands spielen in den USA grundsätzlich »for the doors«, also ohne Festgage, es gibt lediglich eine prozentuale Beteiligung an den Ticketverkäufen. Es liegt also im eigenen Interesse, wenn die Band tagsüber die Tour durch die örtlichen Radiostationen unternimmt und Werbung für den Auftritt und die neue CD macht. Ob man dieses Modell nun befürwortet oder nicht – das viele Touren hat einen unbestreitbaren Vorteil: Es ist eine extrem wichtige Schule. Es ist ein Unterschied, ob eine Band bereits fünfzig oder hundert kleine oder mittelgroße Shows gespielt hat, bevor sie das erste Mal auf Tour ins Ausland geht, oder ob eine Band bislang vor allem in der eigenen Stadt, an der eigenen Schule oder im örtlichen Club aufgetreten ist. Routine, Können, das Wissen, wie man auf einer Bühne steht und besteht – all das lernt man nur durch viele Auftritte vor möglichst unterschiedlichem Publikum. In den Sechzigern eine Selbstverständlichkeit.18 Heute allerdings werden viele junge Bands aus dem Nichts in irrsinniger Schnelle hoch­ge­pusht. Ich denke etwa an die Arctic Monkeys, die ich vor einigen Jahren auf dem Festival in Bourges gesehen habe. Sie galten aufgrund des gehypten Erstlings bereits als »hottest shit« und spielten auf der größten Bühne, vor vielleicht zehntausend Menschen. Aber sie wären besser vorher ein paar Wochen durch die englische Provinz getourt. Drummer und Bassist brauchten ewig, bis sie sich auf den gleichen Takt einigen konnten.

Doch die strukturellen Veränderungen des Konzertmarkts lassen sich nicht mehr rückgängig machen. Organisierte sich eine neue Band wie die Rolling Stones in ihrer Anfangsphase die Gigs selber, so findet man auf den Showcase-Festivals unserer Tage kaum mehr eine Band, die nicht mindestens einen Manager hat, und nicht selten auch einen ganzen Troß von sonstigem Personal, von Tourmanager bis Agent. Fand in den sechziger Jahre immer mal wieder ein musikverrückter Nerd zu einer Band, wie der erwähnte Giorgio Gomelsky (der, nachdem er von Brian Jones gefeuert worden war, die Yardbirds mit Eric Clapton managte), so gibt es heute ein ganzes Heer von Agenten, die bei den Showcase-Festivals und Musikmessen Bands vom Fleck weg engagieren und die Karrieren planen. Die meisten neuen Manager sind jedoch wenig kompetent und vor allem aus Profitgründen im Geschäft. Diese Manager pflegen oft ihr Ego mehr als die Strategien zum Aufbau ihrer Bands.

Wie also funktioniert das genau mit den Konzerten, wer macht was?

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Ein Agent (englisch: »booking agent«) hat Künstler oder Bands unter Vertrag, die er in aller Regel exklusiv vertritt, meistens kontinental beschränkt. Wir haben es also meistens mit Europa-Agenten zu tun, Agenturen, die bestimmte Künstler europaweit vertreten (manche große Agenturen sichern sich die Künstler auch weltweit). Die Europa-Agenten der meisten Bands kommen aus Großbritannien. Das hat historische, wirtschaftliche und kulturelle Gründe. In den sechziger Jahren, als das Pop- und Rock-Business sich entwickelte, war Großbritannien der mit Abstand größte Musikmarkt Europas. Viele der wichtigsten Bands dieser Zeit kamen aus England, die wichtigsten Plattenfirmen hatten ihre Headquarter in London, die wichtigsten Musikmagazine erschienen hier. Und: man sprach die gleiche Sprache wie die amerikanischen Manager und Agenten, die ihre Künstler auf Europatournee schicken wollten. Es war also naheliegend, daß die Europa-Agenten in London saßen.

Was aber tut nun ein Agent genau? Bob Lefsetz hat dies aktuell am Beispiel der Band Dawes beschrieben.19 Laut Lefsetz geht es letztlich um die Beziehungen, die Netzwerke des Agenten. Und natürlich um die Qualität einer Band. Denn in der Regel arbeitet der Agent eine ganze Weile umsonst für die Band, manchmal jahrelang. Er hat Kosten, die ihm niemand ersetzt. Ist die Band also gut und entscheidet sich der Agent, die Band vertreten zu wollen, dann versucht der Agent, der Band Auftritte zu vermitteln. Die erste Dawes-Tour brachte pro Auftritt 50 Dollar. Die Provision des Agenten, in aller Regel 10 Prozent der Gage, war also 5 Dollar pro Gig. So etwas macht man nur, wenn man an die Zukunft einer Band glaubt. Wenn die Band gut ist. Die Dawes übernachteten auf den Sofas von Fans. (»Maybe rock and roll’s a young man’s game«, schreibt Lefsetz.) Irgendwann bekam die Band dann 250 Dollar Gage pro Show. Die Dawes leben immer noch hauptsächlich von der Reputation und vom Netzwerk des Agenten, der seine Kontakte spielen läßt, der die Veranstalter von der Qualität der Band überzeugt, der andere Bands überredet, seine neue Band als Vorgruppe auftreten zu lassen.

Die Band liefert gute Shows und verbringt viel Zeit am Merchandising-Tisch. Es geht weniger darum, Geld zu verdienen, als darum, sich ins Gespräch zu bringen, mit Fans zu sprechen. Gerade die frühen Fans werden von ihrer »Entdeckung« erzählen, Mundpropaganda betreiben (heutzutage kommen die »social media« wie Facebook hinzu). Gute Songs, bestimmte Hooklines, verbreiten sich meistens zunächst auf Graswurzelebene, immer noch. Man erzählt von diesem einen Song, von dieser einen Show, die einen begeistert hat, man bringt nächstes Mal Freunde zum Konzert mit. Die Fan-Gemeinde wächst.

Es gibt Rezensionen in Musikzeitschriften, Menschen klicken das YouTube-Video der Band an. Die Gagen steigen allmählich. Die Band erhält jetzt pro Abend 1000, später 2000, dann irgendwann 5000 Dollar. Die ersten Festivalveranstalter interessieren sich für die neue Band. Die Alben verkaufen sich – es geht nicht um Hits, denn wenige Bands, die einen raschen »Hit« haben, die aus dem Nichts viele CDs verkaufen, sind wirklich und langfristig auch auf Konzerten interessant. Es geht darum, gute Konzerte zu spielen. Auf den ersten beiden Alben von Bruce Springsteen gab es keinen Hit, keine »Single«, aber Springsteen war charismatisch, und die E Street Band spielte formidabel und baute sich etwas auf. Irgendwann kommt dann oft der eine Song, der alles ändert. Manchmal kommt er auch nicht, aber eine Band kann auch ohne »Hit« erfolgreich sein und langfristig viele Fans gewinnen.

All dies organisiert ein Agent (manche sagen auch: »Künstleragent«). Er arbeitet eng mit dem Management der Band zusammen (falls es ein solches gibt), und wenn es gut läuft, gibt es auch eine tüchtige Plattenfirma, und die Aufbauarbeit geht Hand in Hand. Der Agent sorgt dafür, daß die Band in den richtigen Clubs spielt, daß sie Gelegenheit hat, auf den richtigen Festivals aufzutreten, auf möglichst guten »Positionen« (also nicht morgens um elf Uhr vor einem Häuflein betrunkener oder übermüdeter Fans).

Will der Agent, daß seine Band im Ausland spielt, sucht er sich in dem jeweiligen Land einen Tourveranstalter. Eigentlich wäre die angemessenere Bezeichnung Subagent, denn eigentlich ist der Tourveranstalter (englisch: »(national) promoter«) derjenige, der die Band des Europa-Agenten in seinem Land »aufbaut« und vertritt. Ein Tourveranstalter zeichnet für die Entwicklung eines Künstlers oder einer Band in seinem Land verantwortlich. Er verkauft die Band an verschiedene örtliche Veranstalter (kurz »Örtliche«, englisch: »(local) promoter«). Der Tourveranstalter organisiert die landesweite Werbung, entwirft ein Tourposter und läßt dies drucken. Und eigentlich sollte der Tourveranstalter eine eigene Promo-Abteilung haben, die die landesweite Werbung für die Band organisiert, Anzeigen in Auftrag gibt und bezahlt, und in Zusammenarbeit mit der jeweiligen Plattenfirma Radio- oder manchmal sogar Fernsehauftritte an Land zieht.

Der örtliche Veranstalter wiederum führt das jeweilige Konzert, das er vom Tourveranstalter eingekauft hat oder zusammen mit diesem veranstaltet, vor Ort durch (deswegen sagen manche auch »Durchführer«). Er mietet die Hallen an oder stellt sie, wenn sie ihm gehören, zur Verfügung. Er mietet das örtliche Personal an, von der Kasse bis zum Roadie, er organisiert die örtliche Werbung, besorgt die Plakatierung mit den Plakaten, die ihm der Tourveranstalter zur Verfügung gestellt hat, kurz: Er wickelt das Konzert vor Ort ab und sorgt dafür, daß es ein Erfolg wird. Ein guter örtlicher Veranstalter ist ebenso ein Stratege wie ein guter Tourveranstalter. Der Örtliche kennt sein Publikum, weiß in größeren Städten, wo das Publikum für die jeweilige Band wohnt, welche Spielorte also am besten für die jeweilige Band sind, wo die Fans gerne hingehen, wo die Akustik oder die gesamten Verhältnisse für die jeweilige Band am besten sind. (Es ist schließlich ein Unterschied, ob es sich um eine akustische oder um eine Heavy-Metal-Band handelt.) Ein guter örtlicher Veranstalter ist für eine Band und einen Tourveranstalter Gold wert.

Doch wie funktionieren nun diese Netzwerke? Im Ideal­fall bewirbt sich ein örtlicher Veranstalter beim Tourveranstalter um die Bands, die ihm am besten gefallen, für die er sich leidenschaftlich einsetzen will. Und im Idealfall erwirbt ein Tourveranstalter von den Europa-Agenten die Bands, die ihm am besten gefallen und für die er sich leidenschaftlich einsetzen will, eben weil ihm die Musik nahe ist.

In der Praxis sieht es jedoch anders aus. In der Praxis gelingt es nur den wenigsten Tourveranstaltern, wirklich von den Europa-Agenten die Bands zu bekommen, die sie haben wollen. Und nur die wenigsten örtlichen Veranstalter können tatsächlich ihr eigenes Programm vor Ort buchen. Denn in der Praxis wird alles von oben nach unten organisiert, und oben steht der Europa-Agent. Die Europa-Agenten haben einen festen Künstlerstamm und ein bestimmtes Profil, manchmal auch ein musikalisches Profil (wobei auch die Europa-Agenten wiederum zum Beispiel auf bestimmte Managements angewiesen sind, mit denen sie immer wieder zusammenarbeiten). Die Europa-Agenten stellen nun also eine Europatournee für ihre Band zusammen und wenden sich in den einzelnen Ländern an die Tourveranstalter, mit denen sie oft schon lange Jahre zusammenarbeiten. Das darf man sich in etwa so vorstellen: Der Europa-Agent hat mit der Band beziehungsweise mit deren Management eine, sagen wir, achtzehntägige Europatournee zu einem bestimmten Zeitraum vereinbart (wobei darauf zu achten ist, daß der Zeitraum »vernünftig« ist, also zum Beispiel nah genug am Veröffentlichungstermin des neuen Albums liegt, damit die zu erwartende Promotion rund um das Album den Tourneedaten zugute kommt). Dann macht der Europa-Agent einen Plan: Bei nur achtzehn Tagen ist eine europaweite Tournee kaum möglich, und sofern die Band nicht besondere Wünsche geäußert hat (etwa: »Wir wollen unbedingt in Spanien spielen«) oder ein bestimmtes Land ein absolutes »must do« ist (weil der Bekanntheitsgrad der Band, wie so häufig, in einem Land höher ist als in einem anderen), stellt der Europa-Agent einen Tourplan auf, der beispielsweise in London beginnt und dann häufig über Paris, Brüssel, Amsterdam, Hamburg, Berlin, Kopenhagen, Stockholm nach Oslo führt (wenn die Band in Skandinavien erfolgreich ist). Es hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie viele Konzerte im jeweiligen Land gespielt werden. Bei Ländern mit zentralistischen Strukturen wie Frankreich, Belgien oder Holland reicht meistens ein Konzert (es sei denn, die Band wäre zum Beispiel in Frankreich sehr erfolgreich, dann würde man dort zwei bis drei Konzerte einplanen), in Ländern mit föderalen Strukturen wie Deutschland sind in der Regel mehrere Konzerte vorgesehen, allerdings selten mehr als zwei oder drei (und einer der Gründe, warum viele Tourneen nicht südlich von Frankfurt oder gar Köln stattfinden, ist tatsächlich, daß die Tourneen nur zwölf oder fünfzehn Tage lang sind und in aller Regel der genannte europäische Tourverlauf Standard geworden ist, und da lägen süddeutsche Termine oder gar Konzerte im weit östlich gelegenen Wien oder auf dem Balkan eben »ab vom Schuß«). Hinzu kommt eine gewisse Arroganz vieler britischer Europa-Agenten. Ich erinnere mich an das Telefonat mit einem der führenden britischen Europa-Agenten, als ich ihm einmal für eine Band ein Konzert in Regensburg angeboten habe: »Where the hell is Regensburg? I never have done a concert in Regensburg, and I don’t wish this to change.« Es geht oft weniger darum, ob an einem Ort ein Publikum für die Band ist, sondern darum, die Plattenfirmen und die Manager glücklich zu machen, und die Plattenfirmen und Manager macht man durch Auftritte in den sogenannten »Medienstädten« glücklich, in Städten also, wo wichtige Tages- und Wochenzeitungen, die Musikzeitschriften und wichtige Radiostationen existieren. In den neunziger Jahren waren Städte wie Köln (wo damals unter anderem EMI, Spex und Viva ihren Sitz hatten) sehr wichtig. Seit viele Musikzeitschriften und Plattenfirmen ihren Sitz in die Hauptstadt verlegt haben, gehört Berlin als Pflichttermin auf jeden Tourplan, und die Bedeutung von Köln ist deutlich gesunken. Klar, ganz falsch ist die Strategie mit den »Medienstädten« nicht, allerdings: Ist eine Band noch unbekannt, werden kaum in nennenswerter Größenordnung Menschen aus der »Provinz« einige hundert Kilometer in die jeweiligen Großstädte fahren, um die unbekannte Band zu sehen, daher wäre es gerade in der Aufbauphase einer Band mehr als sinnvoll, die Band nicht nur in den üblichen Metropolen auftreten zu lassen. Und es zeigt sich, daß Bands, die zu Beginn ihrer Karriere viele Konzerte in Deutschland gespielt haben, sich hier einen festen Stamm von Fans aufgebaut haben, die nicht selten der Band noch jahrzehntelang die Treue halten. Aber das ist einem britischen Europa-Agenten nur schwer beizubringen.