Nora Miedler

Charlie führt ein stilles Leben, jobbt in einer Videothek und verachtet sich heimlich, weil sie nicht mehr zustande bringt. Der spontan zugesagte Neujahrs-Kurzurlaub mit vier Freundinnen auf einer einsamen Berghütte bessert die Lage nicht. Zudem spielt das Wetter verrückt: Ein heftiger Schneesturm unterbricht jede Verbindung zur Außenwelt. Von Abenteuerromantik kann bald keine Rede mehr sein – vielmehr zeigt sich plötzlich, dass eine der Frauen eine kaltblütige Mörderin ist. Und da sie inzwischen tief eingeschneit sind, gibt es für die anderen kein Entrinnen …

Warten auf Poirot

Ariadne Krimi 1182 · ISBN 978-3-86754-182-4

»Ein gekonnter Mix aus Psychodrama und Whodunnit, an dem Agatha Christie ihre Freude gehabt hätte!« TVmedia

»Miedler hat das Kammerspiel (das noch immer funktioniert) mit modernen Typen besetzt … zügig und gern gelesen!« Kurier

»Ein verlockendes, witziges und spannendes Stück Kriminalliteratur: Miedler führt uns mit sicherer Hand durch ein Kriegsgebiet und heil wieder heraus.« Krimicouch

»Klassischer Whodunnit wandelt sich unversehens zum mit Survival-Horror-Elementen abgeschmeckten klaustrophobischen Thriller … eine gute Geschichte, und die auch noch gut erzählt.« Evolver

»Sehr unter­schied­liche Protagonistinnen, die sowohl eine düstere als auch eine sympathische Seite haben. Spannend!« Ultimo

»Agatha-Christie-Setting, neu interpretiert: gekonnt und unterhaltsam.« Presse am Sonntag

»Beschreibung und Dialoge sind hervorragend gelungen. Miedler gelingt es spielend, schnell Hochspannung zu schaffen und bis zur letzten Seite zu halten.« buchkritik.at

»Entdeckung … die Psychogeschichte verrät Talent.« Buchkultur

»Gekonnt setzt Miedler ein Psychodrama in Szene: Die Auszeit von fünf Freundinnen eskaliert zum tödlichen Verwirrspiel.« Eurocity

Monika Geier

»Monika Geier gilt schon seit langem als großes Talent unter den jüngeren deutschen Krimautorinnen. Jetzt, in ihrem fünften Roman mit Bettina Boll, der alleinerziehenden Mutter und krimininalistischen Halbtagskraft, hat sie ihren Sound zur Vollendung gebracht. Geier plündert die Kolportage-Elemente, die sich in der Krimi­literatur von Umberto Eco bis Dan Brown, von Agatha Christie bis Mo Hayder angesammelt haben, mischt sie ordentlich durch und macht ­Nouvelle Cuisine daraus, mal deftig, mal subtil, aber immer aufregend, abwechslungsreich und auf höchstem Niveau, dabei mit einem hinterhältig neckischen Witz.« Tobias Gohlis auf arte.tv

Die Herzen aller Mädchen

Ariadne Krimi 1184 · ISBN 978-3-86754-184-8

Gregor Krampe, Mittelalter-Experte, hat für Medienrummel wenig übrig. Als Talkshowgast vor laufender Kamera mit dem angeblichen Vorleben seines Vaters konfrontiert zu werden, entspricht so gar nicht seiner Vorstellung von seriöser Unterhaltung. Aber seriös war sein Vater ja noch nie …

Kriminalkommissarin Bettina Boll ist bloß eine Halbtagskraft mit zwei Kindern. Doch da kommt unverhofft ihre große Chance: Die Einsatzleiterin des BKA will sie bei einer Aufsehen erregenden Ermittlung dabeihaben. Es geht um ein geheimnisvolles Buch – und einen Mordversuch. Verdächtigt wird der Sohn des Opfers, ein melancholischer Kettenraucher, den Bettina aus dem Fernsehen kennt. Sie soll ihn anzapfen, aber der Kerl interessiert sich nur für staubige alte Wälzer. Seltsam ist allerdings, dass ihn offenbar noch jemand beschattet. Was steckt wirklich hinter all der Aufregung um eine Ausgabe mittelalterlicher Psalmen?

»Sprachlich raffiniert, formal interessant, exakt dosiert witzig, toll geplottet: Monika Geier ist eine versierte Stilistin und hierzulande eine der Besten des Geschäfts.« Ulrich Noller, Deutsche Welle

Dagmar Scharsich

»Von erstaunlicher schriftstellerischer Meisterschaft und umwerfend originell.« Stiftung Lesen

Der grüne Chinese

Ariadne Krimi 1180 · ISBN 978-3-86754-180-0

Marie Baer ist Antiquarin in Berlin Mitte. Kiezbewohner gehen bei ihr ein und aus; sie kauft, verkauft und unterhält Touristen mit Anekdoten. Eines Tages bekommt sie ein paar uralte Romanhefte angeboten: Wanda von Brannburg, Deutschlands Meisterdetectivin. Eine weibliche Heldin in einer Groschenheft-Serie aus der Kaiserzeit? Da gab es doch noch gar keine Detektivinnen! Aber das Manuskript, das Marie dann in die Hände fällt, ist von 1909 und anscheinend das Tagebuch einer jungen Baronesse, die in einen hochdramatischen Polit-Thriller verstrickt wird. Ist Wanda eine literarische Figur, oder hat sie wirklich gelebt?

In Dagmar Scharsichs filigranem Zwei-Zeiten-Roman sieht man förmlich, wie der erste Zeppelin über der Hauptstadt kreist: ein kriminell-berauschendes Sittenbild des alten und neuen Berlin.

Die gefrorene Charlotte

ariadne classic 011 · ISBN 978-3-86754-011-7

Berlin, August 1989, die letzten Wochen der DDR. Die stille Cora bekommt zum 30. Geburtstag sechs Gefrorene Charlotten, zarte Porzellanwesen aus Tantes kostbarer Puppensammlung. Dann plötzlich droht Pfändung, Cora trifft einen Antiquitätenexperten – ein Mord geschieht! Zugleich spitzt sich ringsum die Atmosphäre zu: In Berlin wächst der politische Unmut, bürokratischer Stellungskrieg und Verdächtigungen blühen. Wem kann Cora jetzt noch trauen?

»Ein ›Wendekrimi‹ über Antiquitäten, Stasi, Flucht, DDR-Alltag. Intensive Spannung!« Sender Freies Berlin

Christine Lehmann

»Um eine Figur wie Lisa Nerz glaubwürdig zu gestalten, muss eine Autorin schon was können. Und tatsächlich kann Christine Lehmann viel mehr. Das hat so viel Tempo, und die Figuren sind so liebevoll charakterisiert, da verbinden sich dynamischer Vorwärtsdrang und fortgesetzte Seitwärtsbewegung zu einer durchweg unterhaltsamen Provinz­investigation. Mehr davon!« Ekkehard Knörer, Perlentaucher

»Lehmann kann das, souverän und überzeugend!« Thomas Wörtche

Nachtkrater

Nerz 7 · Ariadne Krimi 1173 · ISBN 978-3-86754-173-2

Als Lisa Nerz zu sich kommt, ist sie nicht mehr am Bodensee, wo sie eben noch mit Richard Weber Spargel aß. Sie ist nicht mal mehr auf der Erde – sondern unterwegs zur Mondstation Artemis! Was soll sie hier? Ist das die Strafe, weil sie schon wieder einen Mord gewittert hat?

»Witzig. Fulminant. Ultra­lunar.« T. Gohlis, arte/Krimiwelt Bestenliste

»Am Ende haben wir uns derart gut amüsiert, dass wir ein schweres Problem aus den Augen verloren haben: Gibt es überhaupt eine Forschungsstation auf dem Mond?« Th. Wörtche, DeutschlandRadio Kultur

Mit Teufelsg’walt

Nerz 8 · Ariadne Krimi 1179 · ISBN 978-3-86754-179-4

In ihrem achten Fall stößt Lisa Nerz auf blinde Flecken im deutschen Sorgerecht, entdeckt ungeahnte Eigenschaften bei Staatsanwalt Richard Weber und bringt sich in Teufels Küche.

»Ein gelungenes Lesevergnügen, das grundsätzliche Fragen nach Recht und Unrecht in Sachen Kindeserziehung stellt. Allerdings wird diese ernsthafte Volte durch die bunten Charaktere aufgelockert und der mitreißend-ironische Stil zieht den Leser so in seinen Bann, dass man das Buch nur ungern weglegen möchte – auch wenn dies dem Kindeswohl dienen würde.« Stefan Schweizer, literaturkritik.de

Die Musenfalle ist unsere zweite Zusammenarbeit mit der talentierten Wienerin Nora Miedler. Ihr Erstling Warten auf Poirot verriet die Theater­perspektive nur durch das bühnenhafte Setting und das Fingerspitzen­gefühl im Dialog. In diesem Roman hingegen spielt das Theater schon eine größere und ganz eigene Rolle. Es gerät ins Visier als (schwierige) Existenzform, als Mythos, als Hort wahrer Kunst, aber auch als korrumpierbares Schauspiel, das Menschen vorgaukelt, was immer sie wollen. Die Musenfalle ist ein hintergründiger, vielschichtiger Kriminalroman mit eigenwilligen Metaphern und schneller, an Hardboiled-Schule erinnernder Gangart. Mit das Schönste an diesem Buch sind für mich die Figuren. Von der flegelig-tatkräftigen Lilly über den desillusionierten Säufer Dino bis zur zähen Romantikerin Frieda sind sie allesamt so schräg und brüchig wie das Leben selbst. Ein feiner Kriminalroman über Erwartung, Scheitern, Gier, Missbrauch und Betrug – nicht zuletzt an sich selbst.

Else Laudan

Presse zu Warten auf Poirot:

»Ein verlockendes, witziges und spannendes Stück Kriminalliteratur … Nora Miedler gelingt es, Stereotypen des 21. Jahrhunderts Leben einzuhauchen. Sie führt uns mit sicherer Hand durch ein Kriegsgebiet und heil wieder heraus.« Krimi-Couch.de

»Die Wiener Schauspielerin hat das alte Kammerspiel mit modernen ­Typen besetzt – zügig und gern gelesen!« Kurier

»Hüttenzauber mit Kuchenmesser: Die Boshaftigkeit der scheinbar schutz­bedürftigen Erzählerin trägt dazu bei, die dialogsichere Geschichte bis zuletzt am Kochen zu halten.« Ingeborg Sperl, krimiblog.at

»Was für eine tolle Idee! Gekonnt inszeniert, dabei mit den Regeln des Genres spielend, sehr lesenswert, spannend und feinsinnig. Beste Lek­türe.« Doppelpunkt

»Hervorragend … Hochspannung bis zur letzten Seite.« buchkritik.at

Nora Miedler studierte Schauspiel am Konservatorium Wien und war auf zahlreichen Bühnen in Österreich und der Schweiz zu sehen. Ihr Krimidebüt Warten auf Poirot erntete begeisterte Kritiken. Mittlerweile ist das Schreiben ihre Hauptbeschäftigung, 2011 erscheint ein Frauen­roman von ihr bei Ullstein. In ihrer Freizeit hält sie Workshops an Gymnasien zum Thema Krimischreiben.

Nora Miedler

Die Musenfalle

Ariadne Krimi 1190

Argument Verlag

Ariadne Kriminalromane

Herausgegeben von Else Laudan

www.ariadnekrimis.de

Lektorat: Else Laudan

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2010

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlag: Martin Grundmann, Hamburg

Umschlagfoto: © Eugeny Trembach – Fotolia.com
Satz: Iris Konopik

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783867549561

Erste Auflage 2010

»Die Erde des Schauspielers ist die Bühne,
auf ihr wächst und gedeiht er.
Seine Sonne ist das Rampenlicht
und der Applaus des Publikums
sein Lebenselixier.

Sollte er abseits der Bühne seine glücklichsten Momente finden, dann hat er – man muss es derart drastisch sagen – den Beruf verfehlt.«

Frieda Bernhard, 1984

1

Montag, 18. Oktober

Lilly, 18:15

Ich stand in der Geisterbahn und rauchte, als der Anruf kam. Fluchend bugsierte ich das Gebiss zur Zigarette in die Rechte und fummelte mit den steifgefrorenen Fingern der Linken das vibrierende Handy aus der Hosentasche. Magda! Ich schloss die Augen. Sollte ich die Werbung bekommen haben, würde ich das Rauchen aufgeben. Sogar die Joints. Ich reckte den Kopf vor und lauschte in die Finsternis. Das Kreischen wurde deutlicher, sie mussten beim buckligen Sven mit dem Triefauge angekommen sein. Ich hatte zwanzig Sekunden.

»Hallo?«, hetzte ich ins Handy.

»Rate mal, wer Green Poison ist?«

Mein Herz trommelte gegen die Rippen. »Keine Ahnung. Du?« Weltklassescherz. Magda wieherte trotzdem.

»Rate besser!«

Der Waggon kam über die Anhöhe. Zehn Sekunden.

»Sag schon, Magda!«, flehte ich.

Die Meute entdeckte mich. Der mutigste von ihnen erhob sich von seinem Sitz und zeigte mit dem Finger auf mich. »Igiiiitt!«

Die anderen kreischten.

Magda zelebrierte ihr Sätzchen: »Du bist Green Poison!«

Sie waren da. Ich schob das Gebiss in den Mund und fauchte. Mitten in ihre kleinen Gesichter.

Eines begann zu brüllen, die anderen wimmerten. Der Waggon rollte weiter, dem blutigen Henker entgegen. Ich spuckte das Gebiss aus und drückte das Handy ans Ohr.

»Wo in aller Welt bist du?«, fragte Magda.

»Arbeiten –«

»Wie auch immer, wir treffen uns morgen um zehn mit dem Regisseur und dem Marketingmenschen von Mobitel. Linke Bahngasse achtzehn. Ich beschwöre dich, sei nett zu ihnen. Zeig dich von deiner guten Seite.«

Ich nahm einen hastigen Zug von meiner Zigarette und hustete den Qualm wieder raus. Hatte sie das gerade wirklich gesagt? Egal, vermutlich durfte sie das, wo sie mir eben den Job meines Lebens verschafft hatte.

»Klar doch.«

»Und ich flehe dich an, sei ein Mal pünktlich!«

»Immer.« Die nächste Wagenladung rückte an. »Magda, ich muss Schluss machen. Bis morgen – und danke …«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, klappte ich das Handy zu. Ich hob die Zähne vom Boden auf, quetschte sie in meinen Mund, streckte die Hände vor und krümmte die Finger. Knurrend sprang ich auf den Waggon zu, die Eckzähne leuchteten im Dunkeln. Die Glut meiner Zigarette auch.

Die Kinder quietschten. Ich mochte diesen Job.

»Du bist gefeuert!«

Ich fuhr herum. Sepp stand hinter mir und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.

»Du hältst dich wohl für besonders klug«, ätzte er.

Ich nickte.

»Und mich für besonders bescheuert.«

Ich zuckte die Schultern.

»Ich hab dir gesagt, du fliegst, wenn ich dich das nächste Mal telefonieren oder rauchen sehe.«

»Ha’ ich nich’ –«, widersprach ich undeutlich, das Handy in der linken, den Glimmstängel in der rechten Hand.

»Verschwinde. Die Zähne legst du mir in die Kabine. Gewaschen.«

Ich hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt, wäre nicht der nächste Waggon auf uns zugerattert. Ich lieferte eine Glanzleistung ab, denken Sie an Nosferatu, ich meine Max Schreck als Nosferatu, so eine Glanzleistung. Die Kinder lachten.

»Großartig«, bemerkte Sepp.

Ich steckte das Handy ein, hustete das Gebiss raus und rief: »Das ist, weil du danebenstehst. Wenn ich alleine bin, bring ich die Kinder zum Schlottern.«

Sepp rückte näher. Sein Gesicht war kaum noch eine Nasenlänge von meinem entfernt, automatisch hielt ich die Luft an. »Das ist das Nächste«, knurrte er. »Vorhin haben ein paar von den Knirpsen geheult wegen dir.«

»Das ist mein Job, oder?«

Er ruderte mit den Armen. »Dein Job war, dafür zu sorgen, dass die Kinder wieder mit Schpuckidess fahren wollen, und nicht, sie für immer zu verschrecken!«

Ich presste rasch die Lippen aufeinander. Jedes Mal, wenn er den Namen der armen Geisterbahn verhunzte, musste ich grinsen.

Sepp zerrte mich durch die kleine grüne Tür nach draußen. »Was gibt’s da blöd zum Grimassenschneiden?«

»Vergiss es.«

»Verschwinde!«

Ich hielt die Hand auf.

Diesmal tippte er sich so fest an die Stirn, dass ich bleibende Schäden erwartete. »Dir hat wohl jemand ins Hirn g’schissen. Ich zahl doch keinen Lohn fürs Rauchen und Telefonieren.«

Da packte ich ihn am Jackenkragen. »Ich hab mir grade acht Stunden die Füße wund gestanden und die Seele aus dem Leib geschrien für dich. Du wirst mich bezahlen dafür.«

Er drehte sich so ruckartig zur Seite, dass zwei meiner Nägel an seiner Jacke hängen blieben und von nun an ihm gehörten. »Und was sonst?«, spottete er. »Willst du zur Polizei gehen und jammern, dass du heute kein Schwarzgeld von mir bekommen hast?«

Ich trat einen Schritt näher. »Lieber Sepp, ich bin doch nur eine unwichtige Nebenfigur. Sicher ist die Polizei viel mehr daran interessiert, dass du all deine Leute, und zwar jede Saison, schwarz bezahlst.«

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

Ich schlug einen jovialen Ton an. »Ach komm schon, das war nur Spaß. Gib mir einfach meinen Lohn für heute.«

»Verzieh dich!«

Verdammt, der Idiot wusste genau, dass ich keine Petze war. Ich drückte ihm das Gebiss in die Hand.

»Gewaschen«, sagte ich. »Mein Speichel wird eines Tages viel wert sein, ich würd ihn mir aufheben.«

Angeekelt versenkte er das Plastikding in seiner Tasche.

Es ging mir nicht ums Prinzip. Ich hatte es nicht so mit Prinzipien. Und in Anbetracht der Tatsache, dass ich die Werbung bekommen hatte, brauchte ich wohl auch nicht mehr um jeden Cent zu kämpfen. Das Problem war nur, ich hatte Hunger. Und während der ganzen letzten Stunden im Spooky­death waren meine Gedanken schon um eine Pizza­schnitte della casa von der U-Bahn-Station gekreist. Ich kramte in meinen Manteltaschen. Zwanzig Cent, zwanzig Cent, zehn Cent, fünfzig Cent – Bingo! Zehn Cent, zwei Cent, zwei Cent, ein Cent … Scheiße, ein Euro fünfzehn reichten nicht mal für eine Pizza Margherita. Was nützte mir ein künftiges Leben in Luxus, wenn ich heute verhungerte?

Freudlos stapfte ich durch die Abenddämmerung, vorbei an geschlossenen Buden, stillen Karussells und schlafenden Attraktionen. Gegen Ende der Saison war es immer so. Die niedrigen Temperaturen und die frühe Dunkelheit lockten kaum noch Besucher in den Prater. Nur die Abgebrühtesten, vorwiegend Familien und Halbstarke, tummelten sich noch hier, die Klientel für Geisterbahnen und Autodrome. Und ein paar Touristen, die auf dem Riesenrad saßen. Für acht Euro fünfzig die Fahrt. Acht fünfzig für Schneckentempo mit ein bisschen Wienblick. Und ich hatte nicht mal zwei achtzig für eine della casa. In meiner Vermessenheit hatte ich sogar darauf spekuliert, mir heute ausnahmsweise zwei Stück zu gönnen. Doch wollte ich an diesem Abend, nach dieser guten Nachricht wirklich jammern? Nein! Ich steigerte das Tempo, fühlte die Endorphine durch meinen Körper tanzen und beschloss, dass ich jemandem von meinem Glück erzählen musste. Flo! Ich tippte und hielt das Handy ans Ohr.

Mailbox, was sonst.

621 gespeicherte Kontakte befanden sich in meinem Handy. Sechshunderteinundzwanzig, doch kaum einer davon war eng genug, um einen Triumph mit ihm teilen zu wollen. Und die Hälfte konnte ich nicht mal mehr zuordnen. Na ja, andere Geschichte. Jung und dumm und zum Glück ewig lange her. Also rief ich meine Eltern an. Das Schwierige und zugleich Angenehme an meinen alten Leutchen ist, dass sie wirklich alt sind. Meine Schwester, das Wunschkind, ist zwanzig Jahre vor mir auf die Welt gekommen. Bei meiner Geburt war meine Mutter sechsundvierzig, mein Vater fast fünfzig. Heutzutage kein Alter für frischgebackene Eltern, ich weiß, aber vor dreißig Jahren war das noch was anderes, und ich hatte meine Kindheit damit verbracht, Mitschüler an den Haaren zu ziehen, die meinen Vater Opa und meine Mutter vertrockneter alter Pudel nannten. Schwierig ist es deshalb, weil sie vieles von dem, was ich sage, nicht mitbekommen. Da ich aber oft rede, ohne vorher zu denken, ist ebendiese kleine Schwäche auch das Angenehme.

Meine Mutter meldete sich: »Sommer?«

»Hier auch Sommer.«

»Was –?«

»Mama, hallo, ich bin’s.«

»Lilly?«

»Ja.«

»Lilly! Kind! Dass du dich einmal meldest …«

»Mama, ich hab – du hast mich doch erst vorige Woche angerufen.«

»Der Papa hat so einen schlimmen Schnupfen.«

»Oje, na dann gute Besserung.«

»Morgen geht er zum Arzt. Den Schnupfen hat er jetzt schon den vierten Tag.«

»Oje, Mama –«

»Den vierten Tag. Ich weiß gar nicht mehr, was ich tun soll mit ihm.«

Ich zählte innerlich bis drei, dann sagte ich: »Zum Arzt gehen.«

»Er geht morgen zum Arzt.«

Ich blieb stehen. »Mama, hör zu, ich komm euch bald besuchen. Ich wollte euch jetzt nur schnell erzählen, dass ich eine Fernsehwerbung bekommen habe.«

»Werbung?«

»Ja, ich werde in der Werbung sein. Im Fernsehen. Zwei Jahre lang.«

»Im Fernsehen? Zwei Jahre?«

»Ja, Mama. Erzähl das dem Papa, vielleicht geht’s ihm dann besser. Und geh morgen zum Arzt mit ihm.«

Ich verabschiedete mich. Irgendwie wurden diese Telefonate immer unbefriedigender. Ich musste sie wirklich mal besuchen fahren. Wenn ich genügend Geld hatte, würde ich als Allererstes ein Auto kaufen.

Der Wind blies kräftig, ich fror in meinem dünnen Mantel. Ein Auto und eine gescheite Winterjacke. Ich verschränkte die Arme vor dem Oberkörper und marschierte flotter. Eine Familie kam an mir vorbei, Mami und Papi starrten mich an, die Kinder lachten und zeigten mit dem Finger auf mich. Es dauerte, bis ich begriff, dass ich noch die Schminke im Gesicht hatte. Ich zog die Schultern hoch und versteckte meinen Mund im Mantelkragen. Wenn ich erst jeden Abend auf dem Fernsehschirm war, würden mich die Leute auf der Straße auch anstarren. Ich hob den Kopf. Das war es, was ich wollte. Man sollte mich erkennen. Ich hatte die ewigen Erklärungen zu meinem Beruf satt. Erst hoben die Leute anerkennend die Augenbrauen, wenn ich »Schauspielerin« sagte, und dann fragten sie, wo ich denn zu bewundern wäre. Meine Standardantwort: »Ich möchte kein fixes Engagement, will flexibel bleiben, solange man jung ist, muss man das ausnutzen.« Zum Heulen! Ich hatte seit fast einem Jahr gar kein Engagement, und so jung war ich auch nicht mehr. Dann natürlich die obligatorische Frage: »Warst du schon mal im Fernsehen?« – »Ich bin Theaterschauspielerin. Fernsehen hat nicht den gleichen Stellenwert für mich. Aber ja, ich hab im Tatort mitgespielt.« – »Die Leiche? Hahaha.« An dieser Stelle stimmte ich stets ins Lachen ein, verschwieg, dass ich tatsächlich nach einem halbminütigen Auftritt erdrosselt wurde – aber hey, werden Sie mal erwürgt, wissen Sie, wie schwierig das ist? – und dass ich natürlich eine Fernsehkarriere wollte!

Und wenn es nicht anders ging, dann eben über die Werbung. Ein Zweijahresvertrag! Das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine gesicherte Arbeit für mehr als ein paar Monate hatte. Und keine Geldsorgen, keine Geldsorgen! Halleluja!

Jetzt musste nur noch das lästige Stimmchen aus meinem Ohr verschwinden, das säuselte: »Vielleicht haben sie dich ja genommen, weil sie sonst keine Blöde gefunden haben?«

Mein Magen knurrte hörbar. In diesem Moment war ich sicher, dass ich mich richtig entschieden hatte. Und dumme kleine Stimmen im Ohr gehörten einfach verboten.

Ich lief die Treppen hoch. Jedes einzelne Stockwerk erbebte unter den Klängen von U2. Flo war zu Hause.

Im dritten Stock lugte Frau Schnippich aus ihrer Tür und bremste meinen Aufstieg. »Fräulein! Fräulein, Ihr junger Mann lässt schon wieder das Haus wackeln –«

»Ich weiß, er ist fürchterlich. Eine regelrechte Plage ist er.«

Die Runzeln der Frau Schnippich zitterten. »Na ja, eigentlich ist er ja ein netter junger Mann. Wohlerzogen. Aber diese Musik – nämlich, was für eine Musik noch dazu, das reinste Tschingbum!«

Ich beugte mich zu ihr hinunter. Sie kniff die Augen zusammen, schreckte zurück. Ach ja, die Schminke. »Die Maskerade brauche ich für die Arbeit … na egal. Frau Schnippich, ganz unter uns, ich finde ja, Sie haben recht, er ist nett, er ist wohlerzogen. Aber Sie wissen ja, wie die Männer sind. Irgendeinen Spleen brauchen sie, und ehrlich gesagt, da ist mir der Krach noch am liebsten.« Ich machte eine kleine Pause und flüsterte: »Wenn ich mir vorstelle, was er sonst noch alles treiben könnte …«

Wir hoben beide die Augenbrauen und nickten uns wissend zu.

»Er sollte sich eine Frau suchen«, wusste Frau Schnippich Rat.

»Meine Rede«, stimmte ich enthusiastisch zu und verabschiedete mich. Eine Frau von bald neunzig, die U2 für neumodischen Krach hielt, musste man nicht unbedingt darüber aufklären, dass der nette junge Mann schwul war.

Ich schoss die letzten Stufen hinauf und hämmerte an die Tür. Natürlich hörte mich niemand. Ich trat ein paarmal mit dem Fuß dagegen. Nichts. Ich versuchte es noch mal auf Flos Handy.

Mailbox. Mein Rucksack glitt von der Schulter, blieb an meiner Armbeuge hängen. Plötzlich war mir heiß. Ich stöhnte laut und durchsuchte mein Handy nach Brittas Num­mer.

»Hallo?« Es klang, als hätte sie keine Ahnung, wer anrief, was mich wahnsinnig machte, weil ich genau wusste, dass sie meine Nummer samt Namen in ihren Kontakten hatte. Mit Nachnamen sogar!

»Hallo, Britta«, rief ich. »Ich steh vor der Tür. Machst du mir bitte auf!«

»Du hast schon wieder deinen Schlüssel vergessen«, stellte sie fest. Kluges Kind. Ich biss die Zähne zusammen und verkniff mir die Antwort.

Es dauerte zwei Minuten, bis sie an der Tür war, gerade als ich nochmals anrufen wollte.

Ich drängelte mich an ihr vorbei.

»Was hättest du gemacht, wenn keiner zu Hause gewesen wäre?«, fragte sie mich. Es schien sie tatsächlich zu interessieren.

Ich zuckte mit den Schultern. »Das Gleiche wie immer. Gewartet, bis einer kommt.«

Britta schüttelte den Kopf. »Ich könnte nicht so leben.«

»Ich weiß.«

Ihre Nasenflügel bebten. »Bist du in der Maskerade U-Bahn gefahren? Du siehst aus wie ein Zombie.«

»Ich sehe aus wie ein Vampir.« Ich ließ sie stehen und steuerte Flos Zimmer an.

»An deiner Stelle würde ich da nicht reingehen!«, rief sie mir hinterher.

»Ich hab ihm was Wichtiges –«

»Philipp ist da.«

»… zu sagen.« Scheiße. Ich drehte mich um und zwitscherte im beiläufigsten Ton, den ich im Repertoire hatte: »Na, dann wird mein Wichtiges eben warten müssen.«

Britta zuckte die Schultern und verschwand um die Ecke. Belämmert blieb ich vor Flos Zimmer stehen und kämpfte mit der Versuchung, unsere Freundschaft erneut auf die Probe zu stellen, indem ich hineinplatzte. Du bist Green Poison, du hast dich im Griff.

Wie viele außer mir hätten sich auf einen Zweijahres-Knebelvertrag in der Werbung eingelassen?

Mit irgendjemand musste ich jetzt darüber reden. Mein Opfer saß in der Küche. Mit einem Riesenkäsebrot!

»Britta, darf ich mitessen? Ich zahl dir auch alles mit Zins und Zinseszins zurück.«

»Wenn dir der Körnchenfraß nicht zu blöd ist.«

»Sieht gar nicht aus wie Körnchenfraß«, murmelte ich und schnitt mir die Hälfte vom Käse herunter.

»So betitelst du doch alle Lebensmittel aus dem Bioladen.«

Ich stopfte mir Käse rein, während ich drei Scheiben Brot runtersäbelte. Mampfend sagte ich: »Tu’ mi’ leid.«

»Du spuckst.«

Ich musste husten, jetzt spuckte ich wirklich. Britta verzog keine Miene. Ich schluckte lautstark runter und rechtfertigte mich: »He, was kann ich dafür, dass der Körnchenfraß so trocken ist?«

Kann sein, dass ihre Mundwinkel sich einen Millimeter senkten.

»Britta, bitte, das war ein Scherz. Ich bin doch nur neidisch, weil ich mir so teures Futter nicht leisten kann. Aber …«, triumphierend nahm ich einen weiteren Bissen und schluckte ihn brav runter, bevor ich weitersprach, »aber das wird sich bald ändern, weil ich nämlich morgen einen Vertrag unterzeichne. Einen Werbevertrag, und in der Werbung steckt bekanntlich das meiste Geld.«

»Und für was wirbst du?«

Zu meiner Schande gestehe ich, dass ich kurz nachdenken musste. »Äh … ach ja, für Mobitel.«

»Mobitel?« Britta wirkte verblüfft, was mich ziemlich amüsierte. Wir wohnten über ein Jahr zusammen, doch ihre bisherigen Regungen waren auf sanften Ärger und zurückhaltenden Missmut beschränkt gewesen. Sie war die perfekte Wohnungsgenossin, ordentlich, brav und unauffällig. Stinklangweilig könnte man sie auch nennen, ohne große Gefühle oder gar Gelüste. Eine Frau ohne Unterleib, wie mein alter Schauspiellehrer sagen würde. Ihr plötzliches Interesse schmeichelte mir umso mehr, und es erforderte beträchtliches schauspielerisches Talent, mich bescheiden zu geben.

»Jaja«, sagte ich. »Recht nett, die ganze Angelegenheit. Aber Arbeit bleibt Arbeit …«

Britta schob mit dem Zeigefinger drei einsame Krümelchen auf ihrem Teller zusammen und nickte. Da keine weitere Reaktion von ihr kam und ich nicht zu den Leuten gehöre, denen man alles aus der Nase ziehen muss, rief ich: »Und das Beste ist, dass es kein Kurzauftritt wird! Ich unterschreibe einen Zweijahresvertrag. Genial, oder?«

Sie stand auf. »Das kann man wahrscheinlich so oder so sehen.« Ich wollte jeden Widerspruch im Keim ersticken, doch sie war schneller. »Einerseits verdienst du bestimmt eine Menge Geld, das bedeutet ein gesichertes Einkommen für diese beiden Jahre. Und du könntest danach auf den Wiedererkennungseffekt hoffen –«

»Was heißt könnte? Die Leute werden mich wiedererkennen.«

»Andererseits könnte dir genau das schaden. Für deine Laufbahn als Schauspielerin. Dass man in dir immer das Werbemaskottchen sieht. Das ist meine ehrliche Meinung.«

Ach ja, apropos, ich mag keine ehrlichen Meinungen, das können Sie sich gleich merken.

Genervt beobachtete ich Britta, wie sie die Krümel in den Mülleimer putzte und den Teller in den Geschirrspüler schlichtete. Wozu eigentlich? Das Ding war jetzt schon sauber. Sie drehte die Wasserleitung auf und wusch sich die Hände. Britta wusch sich ständig die Hände.

»Wie soll denn deine Aufgabe aussehen?«, fragte sie.

Die Frage war gar nicht so leicht zu beantworten, wenn ich mir nicht noch mehr Kritik anhören wollte.

»Also schau, wegen dem Wiedererkennungseffekt«, ich holte Luft, »das Gute ist, ich werde immer eine Perücke tragen, einen grünen Pagenkopf, also wird es gar nicht so leicht sein, mich zu erkennen.«

Sie runzelte die Stirn. »Wieso einen grünen Pagenkopf?«

Es half ja doch nichts. »Die Figur heißt Green Poison. Frag mich nicht, warum, aber darum eben die grünen Haare. Jedenfalls werden verschiedene Leute gezeigt, die über einen anderen Handyanbieter telefonieren«, ich machte eine kunstvolle Pause, in der ich mir die Hand auf die Brust legte, »und dann erscheine ich und verschönere und erleichtere ihnen das Leben, weil ich ihnen ein Mobitel-Handy in die Hand drücke.«

Wissen Sie, ein bisschen Skepsis hätte ich Britta gar nicht verübelt, aber den Blick, den sie aufsetzte, konnte man beinahe schon als entgeistert bezeichnen.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, eine Flasche Wein mit Flo zu leeren, endlich gab es in meinem Leben mal was zum Anstoßen, doch weder er noch sein Gespons ließen sich blicken. So verbrachte ich den Abend in meinem Zimmer, lauschte Bonos Stimme durch die Wand und rauchte zwei Joints. Ja, ich wusste sehr wohl, was ich mir in der Geisterbahn geschworen hatte, doch einen letzten Abend sollte es mir noch gegönnt sein, oder? Ein bisschen Gesellschaft aus der Tüte, wenn sonst schon keiner mit mir feierte.

2

Dienstag, 19. Oktober

Lilly, 8:00

Ich hatte mir den Wecker gestellt, lag aber, als er läutete, schon zwei Stunden wach. Wie viele außer mir wären den Deal noch eingegangen? Diese Frage würde mich noch umbringen.

Ich schwang mich aus dem Bett, komplett bekleidet vom Vortag – sehr praktisch, aber in letzter Zeit passierte es wieder zu oft. Gähnend schlurfte ich ins Badezimmer. Der weiße Putz von gestern klebte mir auch noch zur Hälfte im Gesicht, ich konnte mich aber nicht entschließen, ihn abzuwaschen. In der Früh verträgt mein Körper kein Wasser. Also klatschte ich mir einfach eine dicke Schicht Make-up drüber, in einer Farbe, die nur halb so kalkig war. Ich hatte die Rolle schon, also musste ich jetzt keinen auf Miss World machen.

Flo stand in der Küche und machte Kaffee. »Für mich auch«, rief ich und warf mir ein Stück Würfelzucker in den Mund.

Er drehte sich um. »Scht, nicht so laut, Phil schläft noch.«

Ich verdrehte die Augen. »Darf man hier gar nicht mehr leben, wenn Phil da ist?«

»Fängst du schon wieder an.«

Ich ächzte. »Weißt du, dass ich’s gar nicht mehr erwarten kann, bis du und dein Sunnyboy nach Graz abzieht.«

Er legte den Kopf schief. Er wusste genau, dass ich an dem Tag, an dem er endgültig auszog, tausend Tode sterben würde. »Was gibt’s Neues bei dir?«

»Vergiss es«, schnauzte ich und ließ mich auf meinen Sessel fallen.

Er gab keinen Mucks von sich.

»Also gut, wenn du es unbedingt wissen willst … ich bin Green Poison.«

»Nein!«

Grinsend hob ich den Kopf. »Und heute unterschreibe ich den Vertrag.«

»Baby, wir sind reich.«

»Ich bin reich.«

Er verschränkte die Arme. »Meine liebste Lilly, was, glaubst du, wird mit meinem Geld passieren, wenn ich dir endlich nichts mehr pumpen muss? Es wird mir gehören! Mir allein. Ich bin reich!«

»Scht, nicht so laut, dein Phil …«

»Ach, halt doch die Klappe.« Er beugte sich runter und umarmte mich. »Ich freu mich so für dich.«

»Ist es wirklich gescheit, sich darauf einzulassen?«, fragte ich in seine Schulter hinein.

Er ließ mich los. »Was meinst du?«

»Ich werde unterschreiben müssen, dass ich während der Green-Poison-Zeit nichts nebenbei machen darf, was eigentlich kein Problem ist, ich bekomme eh nichts anderes. Aber jetzt frage ich mich, ob sie mich nur genommen haben, weil ich die Einzige war, die sich darauf eingelassen hat.«

Flo stellte meinen Kaffee vor mich hin. »Ich will ja nicht wie ein Chauvi klingen, aber ihr Frauen seid schon sehr mühsam.«

Ich sah ihn an. »Also glaubst du, ich mach das Richtige?«

»Lilly, seit wann ist dir wichtig, was andere denken? Du machst doch sowieso, was du willst.«

Ich nahm einen hastigen Schluck und verbrannte mir die Zunge. »Weißt du, es ist schon komisch«, sagte ich dann. »Gestern um die Zeit hab ich mir noch überlegt, wie viele Finger ich für eine Filmrolle geben würde.«

»Geben?«

Ich stellte die Tasse hin. »Na abhacken. Ich würde einen Finger für die Hauptrolle in einer Fernsehserie geben. Zwei Finger für einen internationalen Film. Vielleicht eine ganze Hand für Hollywood … die linke Hand, aber dann müsste mindestens eine Oscarnominierung mit im Paket sein –«

Er setzte sich mir gegenüber und starrte mich an. »Was für eine Rolle in einem Hollywoodschinken solltest du ohne linke Hand bekommen?«

Ich beugte mich über den Tisch. »Flo! Sei doch nicht so phantasielos! Das sind Gedankenspielchen. Wenn jetzt ­Scorsese oder Spielberg oder von mir aus Almodóvar reinkäme und mir den Vorschlag machen würde, Hand gegen Hauptrolle, dann würde ich annehmen.«

Er zog die Mundwinkel nach unten. »Du bist echt grauslich, Schatzi.«

»Nicht wahr?«, rief ich begeistert. »Und genau das ist es! Ich würde mich jederzeit von Körperteilen verabschieden – die ich teilweise echt noch gut gebrauchen könnte – und dann mach ich mir Sorgen wegen so einem bisschen Werbevertrag. Das ist doch Schwachsinn, oder? Du hast vollkommen recht, Flo. Ich mach, was ich will, und ich werd jetzt einfach glücklich damit, basta. Ich danke dir.« Ich griff nach seiner Hand und drückte sie. »Ich danke dir von Herzen.«

Er hob die Schultern. »Ich danke dir. Ich war noch nie so froh, schwul zu sein, wie jetzt.«

Frieda, 10:00

Frieda saß in ihrem geparkten Civic vor dem Haus ihres Bruders und wartete auf einen plötzlichen Energieschub, der es ihr möglich machte, aus dem Auto zu steigen.

Die Wartezeit betrug mittlerweile zehn Minuten. Das Ab­artige dabei war, sie wusste genau, dass Ludwig die ganze Zeit in seinem Schlafzimmer am Fenster stand und sie beobachtete. Selbst wenn sie die kurzfristige Unruhe des Vorhangs nicht bemerkt hätte, als sie nach oben blickte, hätte sie gewusst, dass er dort stand. Man mochte ihr vorhalten, was man wollte, aber keinen Mangel an Intuition.

Ein Kreischen vor dem Haus lenkte ihre Aufmerksamkeit auf den Vorgarten, wo sie Reginas Kinder entdeckte. Natürlich waren es auch Ludwigs Kinder, doch wie immer fiel es ihr bedeutend leichter, sie mit ihrer Mutter in Verbindung zu bringen. Ohne einen weiteren Blick nach oben zu werfen, stieß sie energisch die Tür auf und trat auf den Gehsteig.

»Grüß euch Gott«, rief sie ihren Neffen entgegen und verzog das Gesicht, als sie Theo in der Nase bohren sah.

Leo zog sich am Eisengitter hoch und drückte den elektrischen Türöffner.

Er sollte das nicht tun, fand sie. Was, wenn er abrutschte und hinfiel? Oder einem Fremden das Tor öffnete? Doch es waren gottlob nicht ihre Kinder, also behielt sie ihre Meinung für sich. »Wie geht es euch?«

Leo verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Mama ist krank.«

Theo streckte Frieda die Zunge raus, versteckte sich hinter seinem Bruder und kicherte. Sie rang sich ein Lächeln ab und steuerte auf das Haus zu.

»Der Papa hat gesagt, dass keiner die Mama stören darf«, gellte Leo hinter ihr her.

Heute war es auch nicht die Mama, die sie stören musste. Sie packte den vergoldeten Ring und ließ ihn auf den Löwenkopf sausen. Erinnerte sich daran, wie stolz sie als Kind gewesen war, als sie ihn nach einem Wachstumsschub endlich erreichen konnte. Wenige Wochen danach erlebte der um drei Jahre jüngere Ludwig denselben Triumph.

Berta öffnete mit großzügiger Geste, als erwarte sie einen hochrangigen Staatsgast. Sobald sie Frieda erblickte, schob sie die Tür automatisch zur Hälfte wieder zu. Frieda drängte sich an ihr vorbei.

»Fräulein Bernhard –«, legte der Hausdrachen los, wurde jedoch von einem dröhnenden Bass unterbrochen.

»Schon gut, Berta«, rief Ludwig in jovialstem Ton von oben. »Meine Schwester ist uns natürlich immer willkommen!«

Berta hob die Augenbrauen und ließ säuerlich die Mundwinkel hängen. Hatte in Sachen Schwester anscheinend auch schon anderes gehört.

Frieda straffte die Schultern und steuerte Ludwigs Arbeitszimmer an. Für einen Moment genoss sie es, dass sie als Erste eintreten konnte und er hinter ihr hertrappeln musste. Auch wenn dieser kleine Triumph den bevorstehenden Verhandlungen wohl kaum förderlich sein würde.

Ludwig bewies Haltung und präsentierte sich ganz als guter Gastgeber. »Etwas zu trinken, meine Liebe?«

»Nein.«

»Dann setz dich doch wenigstens hin.« Er schloss die Tür, goss sich einen Whiskey ein, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

Frieda blieb stehen, während ihr Bruder seinen Whiskey zelebrierte. Er trank in kleinen Schlucken, die Augen geschlossen, setzte mit einem genießerischen »Ahhhh« einen weltmännischen Schlussakzent.

In Friedas Ohren rauschte das Meer, das kam in letzter Zeit öfter vor. Kein gutes Zeichen.

»Single Malt. Zwölfjährig. Du verpasst etwas, meine Liebe.«

»Ludwig, ich möchte aussteigen.«

Er ließ ein paar Sekunden verstreichen, in denen er das Glas hob und mit den Augen den Bodensatz untersuchte. Gekonnt beiläufig murmelte er schließlich: »Wenn du dir das leisten kannst.«

»Ich kann es mir leisten, wenn du mir Geld borgst.«

Er runzelte die Stirn, als hätte er soeben eine Fliege in seinem Glas entdeckt. »Wie viel denn?«

Frieda spürte, dass er mit ihr spielte, schluckte die Demütigung und sagte: »Fünfzigtausend.«

Er spitzte die Lippen, legte den Kopf schief, stellte das Glas ab. »Was wäre ich wohl für ein Bruder«, die Hände schwer auf die Tischplatte gestützt, stand er auf, »wenn ich dir und deinen … Schülern nicht eine Lektion mit auf den Weg geben würde? Moment mal, habe ich das nicht sogar von dir gelernt? Nichts auf der Welt bekommt man umsonst. Waren das nicht deine Worte?« Er kam um den Tisch herum und lächelte sie an.

In ihren Ohren rotierten Hubschrauber. »Ludwig, diese Sache zerstört uns alle.« Wenn nur ihr Kopf endlich aufhören würde zu zittern. »Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich nicht weiß, wie lange wir mitspielen können. Ich habe die Verantwortung für diese jungen Menschen. Glaub mir, es macht sie kaputt.«

Das Lächeln verschwand. »Frieda, wir haben diese Idee gemeinsam geboren. Du kannst nicht einfach aufhören, nur weil du keine Lust mehr hast. Was, denkst du, passiert dann mit mir? Und mit Alex? Und letztendlich mit dir und deinen kleinen Talenten?«

»Dann gehe ich zu Alexander«, stieß sie hervor. »Er wird vernünftig sein, er ist tausendmal mehr Mensch als du!«