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Tom Hodgkinson

SCHÖNE ALTE WELT

Ein praktischer Leitfaden
für das Leben auf dem Land

Aus dem Englischen von
Anita Krätzer

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1. Auflage, November 2011

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Internet, auch einzelner Text- und Bildteile.

Lektorat: Evelin Schultheiß, Ahrensburg

Für Alan und Alan,
meine Landbaugurus

Wir müssen zurück zur Freiheit oder
voran in die Sklaverei
.

GILBERT KEITH CHESTERTON

Inhalt

Einführung

Januar: Hacke Holz

Februar: Grabe die Erde um

März: Säe aus

April: Hege das Geflügel

Mai: Backe Brot

Juni: Kümmere dich um die Bienen

Juli: Mähe die Wiese

August: Bringe die Ernte ein

September: Jage und sammle

Oktober: Braue Bier

November: Schlachte das Schwein

Dezember: Feiere

Dramatis Personae

Literaturverzeichnis

Einführung

Labor omnia vicit.

(Harte Arbeit siegt über alles.)

Vergil

So wichtig sie für unseren Alltag sind, so sehr werden sie von uns heute vernachlässigt. Die Rede ist hier schlicht von der Philosophie, der Landwirtschaft und der Heiterkeit. Philosophie ist die Suche nach der Wahrheit und die Erforschung der Möglichkeiten, gut zu leben. Landwirtschaft ist die Kunst, sich und seine Familie zu versorgen. Und Heiterkeit ist die wichtige Fähigkeit, sich gut zu amüsieren und das heißt, zu feiern, zu tanzen, zu scherzen und zu singen.

Diese Aspekte des Lebens wurden in der schönen alten Welt noch aktiv gepflegt. Mit »schöner alter Welt« meine ich die Zeit vom antiken Griechenland bis zum Ende des Mittelalters, die zweitausend Jahre also von ungefähr 500 v. Chr. bis 1500. Die alte Welt endete gegen 1535 mit der Reformation, dem Calvinismus, der Renaissance und der Plünderung und Zerstörung der Klöster. Die Philosophie, die Landwirtschaft und die Heiterkeit sind zwar weiterhin gepflegt und verfeinert worden und werden es von ein paar wackeren Seelen bis heute. Dennoch sind sie mit der industriellen Revolution unwiderruflich auf den zweiten Platz geraten hinter die Arbeit, die seitdem für die meisten Menschen Lohnsklaverei bedeutet, also langweilige Arbeit, die einen anderen reich macht – das Unternehmen und seine Aktionäre – oder dem Wohl des bürokratischen, totalitären Staates dient.

In der alten Welt war die kultivierte Muße der wichtigste Teil des Lebens. In der neuen hat der Beruf den Vorrang. Die Kunst des Denkens ist Stück um Stück aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen worden. Und die Kunst, seine eigenen Lebensmittel zu erzeugen, wurde ersetzt durch den Gang zum Supermarkt, wo alles, was man braucht, zu kaufen ist. Dadurch sind wir ärmer, nicht reicher geworden.

Mein Buch, das Unterhaltung mit praktischer Anleitung zu verbinden sucht, dient der Erkundung der alten Sitten. Dabei wird sich zeigen, dass es oft gute Sitten waren, die, würden wir sie heute übernehmen, unser Leben unendlich verbessern könnten. Dies ist in keiner Weise als Ausdruck einer schrulligen Nostalgie zu verstehen. Natürlich ist es unmöglich, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu unternehmen. Wir stecken im Hier und Jetzt, und es gibt in der Moderne durchaus viel Positives. Aber die Angst, nostalgisch zu wirken, sollte nicht so weit gehen, uns davon abzuhalten, die guten Dinge in der Vergangenheit zu erkennen und wertzuschätzen. Wie Ovid in seinen Fasti im Jahre 8 schrieb:

Laudamus veteres, sed nostris utimur annis:
mos tamen est aeque dignus uterque coli
.

(Wir loben die alte, nutzen aber die neue Zeit:
doch die Sitten beider Zeiten sind es wert, geehrt zu werden.)

So können wir ein Loblied auf die großartigen Beispiele technologischer Neuerungen wie das Buch und die Sense singen und gleichzeitig das iPad oder Skype und all die moderne Technologie genießen, die Huxley als »fast übernatürlich« bezeichnete. (Aber man frage sich einmal, welches von beiden – das iPad oder die Sense – es in tausend Jahren wohl noch geben wird.)

Dieses Buch legt den Schwerpunkt auf die selbstversorgende Landwirtschaft. Damit meine ich, dass man den eigenen Haushalt von einem beliebigen Ort, an dem man nach der Arbeit vor einem riesigen Fernsehschirm sitzt, in eine kreative und produktive Einheit verwandelt. Das im englischen Begriff »husbandry«, Landwirtschaft, steckende Wort »husband« leitet sich vom altenglischen »húsbonda« her und bedeutet ursprünglich »Leiter des Haushalts«. Gleichzeitig deutet das Wort auf einen umsichtigen und sparsamen Manager hin. »Husbandry« bedeutet hegen und pflegen – Tiere, Nutzpflanzen, die eigenen Kinder und sich selbst.

Als Vorbereitung für dieses Buch habe ich alte Texte über Landwirtschaft gelesen – unter anderem von Hesiod, Columella, Varro und Cato. Unübersehbar bildet Vergils großes Lehrgedicht Georgica einen zentralen Bezugspunkt. Im Mittelalter gab es – vor allem in Flandern – die wunderbare Tradition der Land- und Gartenbaukalendarien, auf die ich mich ebenfalls beziehen werde. Es handelt sich dabei um immerwährende Kalender mit einem speziellen Zahlenschlüssel, über den sich der jeweilige Wochentag zu einem bestimmten Datum ermitteln lässt. Diese Kalendarien sind mit wunderschönen kleinen Bildern illustriert, die Männer und Frauen bei ihren Tätigkeiten zeigen. Praktisch jeder Landwirt hatte ein solches Kalendarium an seiner Wand hängen.

Ich habe gelernt, dass die Bücher über den Land- und Gartenbau eine eigenständige literarische Form darstellen: Das Lehrgedicht über den Landbau geht auf Hesiods Werke und Tage aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. zurück und erreichte seinen Höhepunkt wohl mit Vergils Georgica. Ich verstehe mein Buch als einen bescheidenen Beitrag zu diesem Genre. Wie schon die vielen Autoren vor mir zitiere auch ich große Geister, etwa den liebenswerten Thomas Tusser, Autor des Tudor-Bestsellers Five Hundred Points of Good Husbandry. John Evelyns Gartenratgeber Directions for the Gardiner aus dem 17. Jahrhundert und William Cobbetts The English Gardener aus dem 19. Jahrhundert habe ich ebenfalls studiert wie auch die mittelalterliche Übersetzung der vorzüglichen Schriften über den Land- und Gartenbau von Palladius, einem römischen Schriftsteller aus dem 4. Jahrhundert.

Schöne alte Welt versteht sich auf keinen Fall als umfassender Ratgeber zur Selbstversorgung, sondern als Ergänzung zur jeweils eigenen Literatur über Land- und Gartenbau. Obwohl mein Buch eine Menge praktischer Tipps enthält, ist es vielleicht eher ein literarischer als ein praktischer Leitfaden und steht damit ganz in der Tradition der frühen Autoritäten: Auch Vergil hielt es nicht für nötig, selbst Bienen zu halten, um über sie zu schreiben, und stützte sich bei der Abfassung der Georgica auf frühere Experten. Bei William Cobbett war es ebenso: Viel von dem Material seines landwirtschaftlichen Ratgebers Cottage Economy stammte von einer alten Bäuerin. Und eines der großen Werke von John Evelyn über den Gartenbau war eine Übersetzung des französischen Bestsellers Le Jardinier François von Nicolas de Bonnefons. Evelyn, ein enger Freund von Charles II., hat auch ein brillantes Gartenbaukalendarium verfasst, das Kalendarium Hortense, das folgenden, für das 17. Jahrhundert typischen ausschweifenden Untertitel trug: »Oder: Des Gärtners Almanach; eine Anweisung, was er im Laufe des Jahres monatlich tun soll und welche Früchte und Blumen jeweils ausgereift sind«.

Die frühen Gartenbücher boten stets eine Mischung aus Belehrendem und Romantischem, aus Praktischem und Literarischem. Und natürlich muss man als Verfasser eines guten Buches über die Landwirtschaft nicht notgedrungen selbst ein guter Landwirt sein. Tusser, der in Eton und Cambridge studiert hatte, war sogar ein notorisch nicht erfolgreicher Landwirt. Seine persönlichen Versuche, mit der Landwirtschaft Geld zu verdienen, endeten angeblich allesamt in einer Katastrophe. Thomas Fuller, ein Zeitgenosse von Samuel Pepys, dem lebensfrohen Tagebuchschreiber, der vom »großen Tom Fuller« sprach, meinte in The Worthies of England über Tusser:

Dies könnte unser englischer Columella mit den Worten des Dichters sagen:

Monitis sum minor ipse meis.

(Ich werde meinen eigenen Grundsätzen nicht gerecht.)

Ovid

Niemand war in der Landwirtschaft theoretisch besser und praktisch schlechter als Tusser. Seine Fähigkeit lag also in der Kommunikation.

In Schöne alte Welt zitiere ich solche literarischen Größen und verbinde dies mit Geschichten aus meinem Leben auf einem angemieteten Bauernhof in Norddevon. Und ich muss zugeben, dass auch ich nicht besonders gut in praktischer Landwirtschaft bin. Leser meiner Anleitung zum Müßiggang kennen unser Anwesen als chaotischen Kleinbauernhof. Ich bin 2002 mit meiner Familie von London hierher gezogen, und seitdem haben meine Frau Victoria und ich vielerlei Erfahrungen im Land- und Gartenbau gesammelt. Wir haben Gemüse angebaut, Schweine und Hühner gehalten, sie getötet, zubereitet und gegessen. Wir haben ein Pony geerbt, und Victoria hat Bienen gezüchtet und verloren. Wir haben Frettchen in Kaninchenhöhlen geschickt und Kaninchen getötet und gehäutet. Wir haben lausiges Bier gebraut und wunderbaren Holunderblütenlikör hergestellt. Victoria hat Butter und Brot gemacht – die beste Butter und das beste Brot überhaupt. Wir haben Konfitüre, Essiggurken und Marmelade aus Zitrusfrüchten hergestellt. Wir haben Holz gehackt, gestapelt und getrocknet. Wir haben tausend Feuer angezündet und tausend Schnecken umgebracht. Wir haben Pastinakenwein gemacht und Eier verkauft.

Wir haben festgestellt, dass das einfache Leben außerordentlich kompliziert und auch sehr hart ist. Es steckt voller Enttäuschungen, schafft aber auch eine immense Befriedigung. Unterm Strich ergibt sich schlicht: Man spart eine Menge Geld und bereitet viel besseres Essen zu. Dabei verbindet man sich mit der lebendigen Welt, mit der Natur, mit dem Kosmos und auch mit der alten Tradition der Hauswirtschaft, der Haushaltsführung, des Landbaus oder wie immer man es nennen will. Sich auf diese Weise selbst zu versorgen heißt, sich von der Welt der Supermärkte mit ihren extrem niedrigen Preisen und ihrer extrem niedrigen Qualität abzukoppeln. Man fühlt sich gesund und ganz.

Doch es ist weder möglich noch besonders erstrebenswert, komplett zum Selbstversorger zu werden. Autarkie setzt eine willentliche Abschottung von anderen voraus, während es bei der Landwirtschaft darum geht, die Arbeit und das Wissen zu teilen. Ich liebe Bücher, aber der beste Ratschlag kommt immer noch von dem Nachbarn, der das, was du vorhast, bereits hinter sich hat. Du brauchst Menschen, die dir helfen. Und wenn dein Geschäft gedeiht und du Leute als Hilfe einstellen kannst, dann ist das umso besser. Also: Stell Dinge her und verkauf sie.

Man muss seine eigenen Grenzen akzeptieren. Es ist schlicht unmöglich, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und über Nacht ein akzeptabler Gemüsegärtner, Koch, Schlachter, Geflügelhalter, Schweinehirt, Waldarbeiter, Hausbauer, Bäcker, Konfitürenmacher, Heumacher, Imker, Brauer, Senner und Schreiner zu werden. Nicht mal in zehn Jahren ist das zu schaffen. Beginne klein und erwarte wenig.

All die genannten Tätigkeiten sind Künste und müssen als solche Schritt für Schritt und über viele Jahre erlernt werden. Man muss sie sorgfältig studieren, viele Bücher darüber lesen, Kurse besuchen und aus seinen eigenen Erfolgen und Misserfolgen ebenso lernen wie aus denen anderer Leute. Das bedeutet harte Arbeit. Glaub es nicht, wenn dir beispielsweise erzählt wird, es sei einfach, Gemüse anzubauen. Es ist nämlich ungeheuer kompliziert. Ich baue nun seit fünf Jahren Gemüse an. In diesem Jahr habe ich das Prinzip des Nichteingreifens, wonach man die Natur alle Arbeit erledigen lässt, endgültig aufgegeben. Ich habe es ausprobiert, und am Ende hatte ich eine fürchterliche Wildnis. Es war ein entsetzliches Durcheinander, und es war grauenhaft, auch nur daran zu denken – ganz zu schweigen davon, hinauszugehen und etwas dagegen zu unternehmen.

In diesem Jahr bin ich zum traditionellen Anbau zurückgekehrt und habe hart gearbeitet. Ich habe gegraben und gedüngt und Unkraut gejätet. Ich habe die Pflanzen mit Eierschalen und Gittern geschützt. Ich habe sogar biologisches Schneckenkorn eingesetzt, weil ich es zu deprimierend fand zuzusehen, wie meine Salatpflanzen in einer einzigen Nacht der Gier der üblen Schnecken zum Opfer fielen. Ich habe die Wege mit der Spatenkante abgestochen. Ich habe die Hühner ferngehalten. Und jetzt bereitet es mir Freude, in dem kleinen Gemüsegarten zu arbeiten. Es graut mir nicht mehr wie früher davor, meine Runden dort zu machen. Im Gegenteil: Ich freue mich darauf.

Obgleich es mir als Müßiggänger nicht ganz leicht fällt, dies zuzugeben: Gärten benötigen viel Pflege. Dazu Vergil im ersten Band der Georgica:

Labor omnia vicit
improbus, et duris urguens in rebus egestas
.

(Harte Arbeit siegt über alles, unablässig harte Arbeit, und die in schweren Zeiten drückende Not.)

Die gute Nachricht ist, dass diese Plackerei tausendmal angenehmer und befriedigender ist als die tägliche Mühsal der Büroarbeit, die ohne wirkliches Ergebnis bleibt, das einen für seinen psychisch belastenden Einsatz entschädigen könnte. Dabei genügt eine Stunde pro Tag für einen kleinen Garten oder eine Parzelle, und gelegentlich kommen zwei oder drei Stunden fürs Graben oder Düngen hinzu. Wenn ich also von harter Arbeit spreche, meine ich wirklich nur einen geringen, aber regelmäßigen Aufwand und keine aufreibende Schufterei.

Der Titel dieses Buches spielt natürlich auf Huxleys Schöne neue Welt an, und Huxleys Titel wiederum ist ein Zitat aus Der Sturm. Ich will damit zum Ausdruck bringen, dass die alte Welt in der Tat schöner, weil aufrechter und wackerer war als unsere. Im Krieg sind die Ritter und Könige an vorderster Front ihrer Armeen ausgeritten und nicht, wie die heutigen Feiglinge in der Politik, in irgendwelchen Hinterzimmern geblieben, um von dort aus Tausende junger Männer in den Tod zu schicken. Früher kämpften wir, wenn unsere Freiheiten angegriffen wurden, um sie zu verteidigen. Wir ritten auf Pferden, gingen kilometerweit, schlugen Holz, bauten Gemüse an. Wir waren kühn, frei und stark. Heute drängen wir uns als kränkliche, unterwürfige Sklaven in den Arztpraxen, um amerikanische Medikamente und Wundermittel zu bekommen.

Doch was ist mit den Seuchen, den Qualen, den Zahnschmerzen? Nun, dieser Punkt wird von George Orwell in Der Weg nach Wigan Pier untersucht, wo er die »Anbetung der Maschine« als entmenschlichend kritisiert. Heute geht es um die »Anbetung der Technik«. Orwell fand sich auf der Seite der Angegriffenen wieder, als er die schöne alte Welt mit den Worten verteidigte:

In Wirklichkeit geht die Schelte des Mittelalters und der Vergangenheit im Allgemeinen, die von Apologeten der Moderne vorgetragen wird, meistens an der Sache vorbei, weil ihr eigentlicher Trick darin besteht, einen modernen Menschen in seiner Zimperlichkeit und seinem hohen Komfortbedürfnis in ein Zeitalter zu projizieren, in dem all dies völlig unbekannt war. … Trichtern Sie ihm das ein und erklären Sie ihm, dass Sie darauf aus sind, das Leben einfacher und härter statt weicher und komplexer zu machen, und der Sozialist wird gewöhnlich annehmen, dass Sie zu einem »Naturzustand« zurückkehren wollen – womit er irgendeine stinkende paläolithische Höhle meint …

Es wäre jedoch ein Fehler, der schönen alten Welt jeden Komfort abzusprechen. Sie war in Wirklichkeit sinnlicher, und die Menschen liebten prasselndes Feuer, Wein und Musik. Es gab viele Freuden. Vielleicht geht es im Kern darum, dass wir, bevor die Klimaanlagen und Einkaufszentren alles nivellierten, ein Leben der Kontraste führten. Man durchlebte von klirrender Kälte bis zu glühender Hitze alles. Dem Hungern folgte das Schlemmen, bitteren Tränen eine fröhliche Ausgelassenheit. Man lebte ein Leben voller Leidenschaft.

Einen eigenen Garten zu unterhalten heißt, die von Huxley beschriebene schöne neue Welt voll und ganz abzulehnen. In der schönen neuen Welt wird den Menschen beigebracht, zimperlich zu sein und die Natur zu hassen – es sei denn, sie ist etwas, wohin man reist und das man am Wochenende anstarrt. Beispielsweise steigen die Leute der schönen neuen Welt in Hubschrauber, um in irgendeinem Naturschutzgebiet ein Wochenend-Picknick zu veranstalten. Körperliche und seelische Qualen wurden in der schönen neuen Welt praktisch ausgerottet. Wenn einem alles ein wenig viel wird, nimmt man einfach einen Tranquilizer und ist vierzehn Stunden lang selig. Der Drang, Schmerzen auszuschalten, ist sicher ein Merkmal unserer modernen Welt, in der einem jederzeit Ibuprofen gegen körperliche und Antidepressiva gegen seelische Qualen zur Verfügung stehen.

Illegale Drogen wie Ecstasy werden vorwiegend in den westlichen Ländern genommen – von allen Altersgruppen und quer durch alle sozialen Schichten. Zu meiner Überraschung habe ich kürzlich erfahren, dass die Einnahme von Ecstasy beim britischen Landadel und seinen Höflingen – von den Fünfzehn- bis zu den Achtzigjährigen – groß in Mode ist. Für Schmerzmittel wird mit Slogans wie »Pack den Schmerz dort, wo er wehtut« geworben. Es gibt sogar eine amerikanische Bewegung, welche die vollständige Beseitigung des Schmerzes anstrebt. Es ist eine Welt der Behaglichkeit. Meine Mutter, der Archetyp der ehrgeizigen Pennälerin, findet dies alles wunderbar. Sie hat Schöne neue Welt gelesen und nicht gemerkt, dass es sich um eine Satire handelt. Sie hielt es für ein gelungenes Konzept. »Du musst nicht auf deine Kinder aufpassen. Es gibt keine Unordnung. Keine Natur. Welchen Nutzen hat die Natur überhaupt?«, sagte sie zu mir.

In Schöne neue Welt diskutiert der Weltaufsichtsrat für Westeuropa, Mustafa Mannesmann, gegen Ende mit dem Wilden über die neue Philosophie, bei der es um die Beseitigung der Unannehmlichkeiten geht:

»Aber ich liebe die Unannehmlichkeiten.«

»Wir nicht!«, versetzte der Aufsichtsrat. »Uns sind die Bequemlichkeiten lieber.«

»Ich brauche keine Bequemlichkeiten. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde.«

»Kurzum«, sagte Mustafa Mannesmann, »Sie fordern das Recht auf Unglück.«

Wahrheit, Schönheit, Schmerz, Unglücklichsein: Die moderne Welt versucht, diese Dinge, denen wir in der alten Welt Tag für Tag begegnen, abzuschaffen. Ich sehe sie täglich auf meinem Gemüsebeet.

Können wir wirklich glücklich sein? Wollen wir glücklich sein? In der heutigen Welt ist eine ganze Industrie rund um die Vorstellung, dass wir glücklich sein können, erblüht: Da draußen gibt es Bücher und Seminare, die versprechen, die Geheimnisse des Glücks zu offenbaren. Es gibt Konferenzen und Seminare zu diesem Thema. Das englische Internat Wellington College bietet sogar Glücksunterricht an. Dieses Phänomen hat Huxley in seiner Einleitung von 1946 zu Schöne neue Welt – also zehn Jahre nach Erscheinen der Erstauflage – vorhergesagt. Huxley deckt auch die eigentliche Absicht auf, die hinter dem Glücksprojekt steht:

Die wichtigsten »Manhattan-Projekte« der Zukunft werden umfangreiche, von der Regierung geförderte Untersuchungen dessen sein, was die Politiker und die beteiligten Wissenschaftler »das Problem des Glücks« nennen werden – mit anderen Worten, das Problem, wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben.

Huxley sagt, dass wir zur Erreichung dieses Ziels eine ausgefeiltere Methode zur Konditionierung von Kindern benötigen. Die wird tatsächlich schon in den Internaten angewandt, welche auf Kosten der Vermittlung von Grundlagen wie dem Einmaleins oder der Grammatik die beiden Ausbildungsziele Wohlbefinden und IKT (Informationsund Kommunikationstechnologie) ins Zentrum ihres Lehrplans stellen. Den Kindern wird von klein auf eingeprägt, dass sie in einer technologischen Utopie leben und Glück haben, nicht in der schrecklichen Vergangenheit oder auf einem grässlichen, von Hungersnot geplagten Kontinent wie Afrika leben zu müssen. Ihnen wird beigebracht, glücklich und fröhlich zu sein oder, anders ausgedrückt, die Welt, die sie im Begriff sind zu betreten, nicht in Frage zu stellen. Und die Welt der Werbung verstärkt ihrerseits diese Botschaft. McDonald’s und Tesco sind eure Freunde, und sie bieten gut gelaunte Idioten wie Ronald McDonald an, um das zu beweisen, und natürlich ihre ziemlich unklaren Slogans wie: »Jedes bisschen hilft«, »Stets niedrigere Preise« oder »Ich liebe es«. (Wer liebt was?)

Interessant ist auch, dass die Menschen in Schöne neue Welt in »Fühlfilme« gehen, eine weiterentwickelte Version des Kinofilms. In den Fühlfilmen kann man den gezeigten Vorleger aus Bärenfell tatsächlich auch spüren. Nun ist dies nicht allzu weit von der modernen Verwendung des Wortes »Erfahrung« in den Werbetexten entfernt. Anstelle von gutem Essen bieten Restaurants eine »hochwertige Esserfahrung« an. Reiseveranstalter gebrauchen das Wort ebenso wie Themenparks und andere Spaßverkäufer. Ich kann eine Zeit vorhersehen, in der Bücher als »aufregende Leseerfahrung« verkauft werden. Das Leben ist reduziert worden auf lange Phasen der Langeweile im Büro, die unterbrochen werden durch hochgepushte »Erfahrungen«, nur damit diese in der persönlichen Liste der Dinge, die man getan haben möchte, bevor man stirbt, abgehakt werden können. Das ist kein wirkliches Leben. Das ist eine durch gelegentliche Zirkusspiele aufgelockerte Sklaverei.

Auch die Wissenschaft der Positiven Psychologie zielt darauf ab, die Arbeitenden glücklich zu machen. Das tut sie, weil, wie die Anhänger dieses verlogenen Glaubens sagen, glückliche Arbeitende produktiv Arbeitende sind. Glück steigert den Gewinn. Deshalb plädieren Managementtheoretiker dafür, die Angestellten am Arbeitsplatz fröhlich und positiv zu stimmen. Die Kehrseite davon ist allerdings, dass man selbst Schuld hat, wenn etwas schiefgeht. Man wird nicht schlecht behandelt. Man ist nicht unterbezahlt. Man darf nicht streiken oder herumnörgeln. Stattdessen wird man zum unternehmenseigenen Therapeuten oder Betriebsarzt geschickt, der imstande sein sollte, einen wieder in Ordnung zu bringen. Er muntert dich auf und schickt dich, erfüllt von Dankbarkeit, in die Sklavengrube zurück. Und wenn die Therapie nicht greift, gibt es immer noch die Psychopharmaka. Schluck ordentlich was von dem Beruhigungszeug, und du kehrst sanftmütig und glücklich an deinen Arbeitsplatz zurück, weil deine Aufmüpfigkeit chemisch oder mechanisch ausgelöscht wurde. Unterdessen schnellen die Gewinne der Pharmaunternehmen in die Höhe – ganz nach dem Motto in Private Eye: »Für alle einen Dreifachen!«

***

Dies also ist die Situation, aus der ich hoffe ausbrechen zu können, indem ich bestimmte Traditionen der schönen alten Welt zelebriere. In der alten Welt sind wir glücklich, unglücklich zu sein. Wir schlagen der Regierung und den Unternehmen ein Schnippchen. Wir haben keine Angst vor der Wahrheit, der Schönheit und dem Schmerz. Der Weg zur Freiheit ist nicht eben und gerade. Er ist voller Mühen. Aber er lohnt sich.

Ich will dieses Kapitel mit folgendem schönen Gedanken von Gilbert Keith Chesterton abschließen, den er 1916 in seiner Einleitung zu Cobbetts Cottage Economy niedergeschrieben hat:

Wir müssen zurück zur Freiheit oder voran in die Sklaverei. Der freie Mann Englands wird, wo er noch existiert, es zweifellos als ungeheures Unterfangen empfinden, drei Jahrhunderte zurückzuspulen. Er sollte in jedem Fall bedenken, welche Gefahr und Pein und herzergreifende Komplikation mit diesem Zurückdrehen der Spule verbunden sind. Aber er sollte ebenso die Alternative abwägen; und die Alternative besteht darin, erdrosselt zu werden.

Tom Hodgkinson, August 2010, North Devon