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Über die Liebe zum Leben
Rundfunksendungen

Erich Fromm
1983a

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk

Erstveröffentlichung unter dem Titel Über die Liebe zum Leben. Rundfunksendungen, hg. von Hans Jürgen Schultz 1983 bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart. Erste Taschenbuchausgabe 1986 beim Deutschen Taschenbuch Verlag in München; Neuausgabe 2011. Die Neuausgabe enthält die verbesserten Textfassungen von Rainer Funk, die 1999 Eingang in die Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) gefunden haben.

Die E-Book-Ausgabe orientiert sich an der von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassung der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © 1983 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © als E-Book 2015 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2015 by Rainer Funk.

Inhalt

Überfluss und Überdruss in unserer Gesellschaft

(1983b [1971])[1]

1. Der passive Mensch

Wenn ich über das Thema „Überfluss und Überdruss“ sprechen soll, dann ist zunächst eine Bemerkung über den Sinn dieser beiden Worte angebracht.[2] Das ist nicht nur in diesem Fall, sondern überhaupt so. Wenn man die Bedeutung, den eigentlichen Sinn eines Wortes versteht, dann versteht man häufig schon gewisse Probleme besser, die mit diesem Wort beim Namen genannt werden – eben aus dem Wortsinn und seiner Geschichte heraus.

Sehen wir uns die beiden Worte an. Das eine hat eine doppelte Bedeutung. Eine positive – dann bezeichnet „Überfluss“ das, was über das unbedingt Notwendige hinausgeht: das Über-Fließende. Sie denken vielleicht an die biblische Vorstellung von dem „Land, darin Milch und Honig fließt“. Oder Sie denken daran, wenn Sie ein schönes Zusammensein beschreiben wollen, ein Fest, bei dem es Wein und was Sie sonst mögen im Überfluss gab. Sie meinen dann etwas sehr Erfreuliches, nämlich keine Kargheit, keinen Mangel, kein Vorsichtigsein, dass man ja nicht etwas zuviel nimmt. Das ist der angenehme Überfluss, also das Über-Fließende.

Aber „Überfluss“ kann auch eine negative Bedeutung haben, und die drückt sich aus in dem Wort „überflüssig“, im Sinn von zwecklos und verschwendet. Wenn Sie einem Menschen sagen: „Du bist hier ganz überflüssig“, dann meinen Sie: „Du verschwindest besser“, Sie meinen nicht: „Wie schön, dass du hier bist“ – wie Sie es etwa meinen, wenn sie vom Wein im Überfluss reden. Also Überfluss kann überfließend und Überfluss kann überflüssig sein, und man muss sich fragen, in welchem Sinn hier von Überfluss die Rede ist.

Nun ein Wort zum „Überdruss“ bzw. „Verdruss“. „Verdruss“ kommt von „verdrießen“ und heißt im Mittelhochdeutschen: „Langeweile erregen“, im Gotischen zum Beispiel heißt es sogar: „Ekel erregen“. Verdruss ist also das, was Langeweile, Ekel und Ärger erzeugt. Im Französischen haben Sie noch eine andere Bedeutung von Langeweile: Das Wort ennui stammt vom lateinischen innodiare und bedeutet „Im-Hass-Sein, Hass erregen“.

Wir können uns schon jetzt fragen, ob hier nicht bereits die Sprache andeutet, dass der überflüssige Überfluss zur Langeweile führt, zum Ekel und zum Hass. Dann hätten wir zu prüfen: Leben wir im Überfluss? Wir – damit meine ich die moderne [XI-308] Industriegesellschaft, wie sie sich in den Vereinigten Staaten, in Kanada, in Westeuropa entwickelt hat. Leben wir im Überfluss? Wer lebt im Überfluss in unserer Gesellschaft, und was ist das für ein Überfluss: überflüssiger Überfluss oder überfließender Überfluss – sagen wir’s ganz einfach, guter Überfluss oder schlechter Überfluss? Führt unser Überfluss zum Überdruss? Muss Überfluss zum Überdruss führen? Und wie sieht denn der gute, überfließende, überschäumende Überfluss aus, der nicht zum Überdruss führt? Diese Frage zu erörtern, ist das Interesse dieser Vorträge.

Lassen Sie mich zunächst eine Vorbemerkung machen, die psychologischer Natur ist. Ich will, da ich Psychoanalytiker bin, in diesen Ausführungen immer wieder von psychologischen Fragen sprechen, und da möchte ich Sie darauf vorbereiten, dass ich von einem bestimmten Gesichtspunkt aus spreche, nämlich von dem der Tiefenpsychologie oder der analytischen Psychologie – was ungefähr dasselbe meint. Ich möchte kurz erwähnen, was vielen von Ihnen bekannt ist: Es gibt zwei Wege, zwei Möglichkeiten, das Problem des Menschen psychologisch zu studieren. Die akademische Psychologie studiert den Menschen zur Zeit meistens vom Standpunkt der Verhaltensforschung oder – wie man das auch nennt – des Behaviorismus aus. Das heißt, man studiert nur das, was man unmittelbar sehen und beobachten kann, was direkt sichtbar, also auch messbar und wiegbar ist. Denn was man nicht unmittelbar sehen und beobachten kann, das kann man natürlich auch nicht messen und nicht wiegen, jedenfalls nicht exakt genug.

Die tiefenpsychologische, psychoanalytische Methode geht anders vor. Sie hat ein anderes Ziel. Sie untersucht eine Handlung, ein Verhalten nicht einfach von dem Standpunkt her, was man sehen kann. Sie fragt vielmehr nach der Qualität dieses Verhaltens, nach der dem Verhalten zugrunde liegenden Motivation. Lassen Sie mich ein paar kleine Beispiele geben. Sie können beschreiben: Ein Mensch lächelt. Das ist eine Verhaltensweise, die man fotografieren, die man muskulär beschreiben kann usw. Aber Sie wissen doch, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Lächeln einer Verkäuferin im Laden, dem Lächeln eines Menschen, der Ihr Feind ist, der jedoch seine Feindseligkeit verbergen will, oder dem Lächeln eines Freundes, der sich freut, Sie anzusehen. Sie kennen den Unterschied von vielen hundert Arten von Lächeln, die aus verschiedenen seelischen Motiven kommen: Das ist zwar alles Lächeln, was es aber ausdrückt, kann etwas ganz Entgegengesetztes sein, das kein Apparat messen oder auch nur wahrnehmen kann, denn das kann nur einer, der kein Apparat ist, und das sind Sie selbst. Sie beobachten nicht nur mit dem Gehirn, sondern ebenso – wenn ich das so altmodisch ausdrücken darf – mit dem Herzen. Ihre ganze Person erfasst das, was da vorgeht, und hat ein Gespür dafür, was für ein Lächeln das ist. Und wenn Sie kein Gespür dafür haben, dann erleben Sie natürlich viele Enttäuschungen in Ihrem Leben.

Oder nehmen Sie eine ganz andere Beschreibung eines Verhaltens: Ein Mensch isst. Ja klar, er isst. Aber wie isst er? Einer schlingt. Ein anderer isst so, dass man erkennen kann, dass er sehr pedantisch ist und Wert darauf legt, dass alles ganz ordentlich zugeht und der Teller leer gegessen wird. Der nächste isst, ohne zu schlingen, ohne gierig zu sein; es schmeckt ihm; er isst einfach nur, und es tut ihm gut.

Oder nehmen Sie ein weiteres Beispiel: Ein Mensch schreit und bekommt einen roten [XI-309] Kopf. Da sagen Sie: Er ist wütend. Sicher ist er wütend. Dann sehen Sie ihn sich etwas genauer an und fragen sich, was in diesem Menschen (vielleicht kennen Sie ihn) vorgeht, und plötzlich merken Sie: Er ist ja ängstlich, er ist erschreckt und fürchtet sich, und die Wut ist nur eine Reaktion auf seine Angst. Und dann schauen Sie vielleicht noch etwas tiefer und stellen fest: Das ist ein Mensch, der sich eigentlich hilflos und impotent vorkommt, der vor allem, vor dem ganzen Leben, Angst hat. Nun haben Sie drei Beobachtungen gemacht: dass er wütend ist, dass er Angst hat und dass er ein tiefes Gefühl der Hilflosigkeit verspürt. Alle drei Beobachtungen sind richtig. Aber sie beziehen sich auf verschiedene Schichten seiner Struktur. Die Beobachtung, die sich auf das Gefühl der Ohnmacht bezieht, ist diejenige, die am tiefsten beschreibt, was in dem Menschen vorgeht, und diejenige, die nur die Wut registriert, ist die oberflächlichste. Das heißt, wenn Sie nun auch wütend werden und in Ihrem Gegenüber nichts anderes als einen wütenden Menschen sehen, dann treffen Sie vorbei. Wenn Sie aber hinter der Fassade des wütenden den ängstlichen Menschen sehen, den sich ohnmächtig fühlenden, dann werden Sie sich ihm anders nähern, und es kann passieren, dass seine Wut sich legt, weil er sich nicht mehr bedroht fühlt.

Vom Standpunkt der Psychoanalyse aus sind wir in alledem, was wir hier besprechen, nicht in erster Linie und schon gar nicht ausschließlich daran interessiert zu erfahren, wie sich ein Mensch, ganz von außen betrachtet, verhält, sondern welche Motive, welche Intentionen er hat, ob sie nun unbewusst sind oder bewusst. Wir fragen nach der Qualität seines Verhaltens. Ein Kollege von mir – Theodor Reik – hat einmal das Wort geprägt: „Der Analytiker hört mit dem dritten Ohr.“ Das ist ganz richtig. Man kann auch sagen – und das ist eine ältere Redewendung: Er liest zwischen den Zeilen. Er sieht nicht nur das, was ihm direkt dargeboten wird, sondern er sieht in dem Dargebotenen und Beobachtbaren etwas mehr, nämlich etwas vom Kern der Persönlichkeit, die da handelt und von der jede Handlung nur ein Ausdruck ist, eine Manifestation, die jedoch stets eingefärbt wird von der gesamten Persönlichkeit. Es gibt keinen Akt des Verhaltens, der nicht eine Geste des ganz spezifischen Menschen wäre, und deshalb gibt es auch letztlich nie zwei Verhaltensakte, die identisch sind, sowenig es zwei Menschen gibt, die identisch sind. Sie mögen sich ähnlich, sie mögen einander verwandt sein – dieselben sind sie nie. Es gibt keine zwei Menschen, die die Hand in genau derselben Weise heben, die in derselben Weise gehen, die in derselben Weise ihren Kopf neigen. Aus diesem Grunde können Sie manchmal einen Menschen schon an seinem Gang erkennen, obwohl Sie sein Gesicht nicht sehen. Der Gang ist für einen Menschen so charakteristisch wie sein Gesicht, gelegentlich sogar mehr: denn das Gesicht kann er verstellen, den Gang viel schwerer. Mit dem Gesicht kann man lügen, das ist die Eigenart des Menschen, die er dem Tier voraus hat. Mit dem Gang zu lügen ist schon schwieriger, obwohl man auch dies lernen kann.

Nach diesen einleitenden Bemerkungen möchte ich mich nun dem Konsumieren als einem psychologischen oder richtiger, einem psychopathologischen Problem zuwenden. Sie werden fragen: Was soll das? Konsumieren – das muss doch jeder. Jeder Mensch muss essen und trinken, er hat Kleider, eine Wohnung, kurz, er braucht und verbraucht vieles, und das nennt man „konsumieren“. Was gibt es da also für ein psychologisches Problem? Das ist einfach die Natur – um zu leben, muss man konsumieren. [XI-310] Aber hier bin ich schon beim springenden Punkt: Konsumieren und konsumieren ist nicht dasselbe. Es gibt ein Konsumieren, das zwanghaft ist und auf Gier zurückgeht. Es ist ein Drang, immer mehr zu essen, immer mehr zu kaufen, immer mehr zu besitzen, immer mehr zu benutzen.

Nun werden Sie vielleicht sagen: Ist das nicht normal? Schließlich wollen wir das, was wir haben, alle gern erweitern und vermehren. Das Problem ist höchstens, dass man nicht genug Geld hat, aber nicht, dass an dem Wunsch nach Erweiterung und Vermehrung etwas falsch sei. (...) Ich verstehe sehr wohl, dass viele von Ihnen so denken. Doch ich möchte Ihnen mit einem Beispiel zeigen, dass die Sache nicht so einfach ist. Ich meine ein Beispiel, von dem Sie gewiss schon gehört haben, und ich hoffe, nur wenige sind davon selbst betroffen. Nehmen Sie einen Menschen, der an Fettsucht leidet, der ganz einfach zu viel wiegt. Das kann endokrine Gründe haben – davon wollen wir hier nicht reden. Oft hat es aber nur den einen Grund, dass jemand einfach zuviel isst. Er nascht mal hier, mal da, am liebsten Süßigkeiten, immerzu wendet er sich etwas zu. Und wenn Sie aufmerksamer hinschauen, dann stellen Sie fest, dass er nicht einfach nur ununterbrochen isst, sondern dass eine Gier ihn dazu treibt. Er muss essen, er kann’s nicht lassen, so wie viele Leute es nicht lassen können zu rauchen. Und Sie wissen ja, dass Menschen, die zu rauchen aufhören, plötzlich anfangen, mehr zu essen. Sie entschuldigen sich dann mit der Erklärung, dass man eben dicker wird, wenn man das Rauchen einstellt. Und das ist eine der schönen Rationalisierungen, um das Rauchen nicht aufgeben zu müssen. Warum? Weil dieselbe Gier, etwas in den Mund zu nehmen, etwas zu verschlingen, im Essen oder im Rauchen oder im Trinken oder auch im Kaufen zum Ausdruck kommt.

Folgt ein Mensch, der gierig und zwanghaft isst, trinkt und raucht, der Warnung seines Arztes, nicht so weiterzumachen, weil er sonst an einem Herzschlag sterben wird, so kann man immer wieder beobachten, dass ein solcher Mensch plötzlich ängstlich wird, unsicher, nervös, deprimiert. Hier zeigt sich dann ein merkwürdiger Zusammenhang: Das Nichtessen, das Nichttrinken, das Nichtrauchen kann Angst machen. Es gibt Menschen, die essen oder kaufen, nicht um zu essen oder zu kaufen, sondern um ihre ängstliche oder deprimierte Stimmung zu unterdrücken. Sie konsumieren gesteigert, um aus ihrer Verstimmung herauszufinden. Der Konsum verspricht ihnen Heilung, und tatsächlich lässt die depressive oder ängstliche Grundgestimmtheit ein wenig nach, wenn die Gier befriedigt worden ist. Die meisten von uns werden bestätigen können, dass sie, wenn sie sich ängstlich oder deprimiert fühlen, leichter an den Eisschrank gehen, auch ohne sonderlichen Appetit etwas essen oder trinken und sich damit scheinbar beschwichtigen. Mit anderen Worten: Essen und Trinken kann in Wirklichkeit häufig die Funktion einer Droge übernehmen, einer Beruhigungspille. Diese ist sogar angenehmer, denn sie schmeckt auch noch gut.

Der deprimierte Mensch fühlt in sich so etwas wie eine Leere, als ob er gelähmt sei, als ob ihm etwas fehle zur Aktivität, als ob er sich nicht recht bewegen könne in Ermangelung von etwas, das ihn bewegen würde. Wenn er dann etwas in sich aufnimmt, so mag das Gefühl der Leere, der Lähmung, der Schwächung für eine Weile von ihm weichen, und er spürt: Ich bin doch wer, ich habe ja etwas, ich bin nicht nichts. Man füllt sich mit Dingen, um innere Leere zu verdrängen. Das ist der passive Mensch, der ahnt, [XI-311] dass er wenig ist und der diese Ahnung vergessen macht, indem er konsumiert und zum homo consumens wird.

Jetzt habe ich den Begriff „passiver Mensch“ gebraucht, und Sie werden mich fragen, was ich darunter verstehe. Was ist denn Passivität, was Aktivität? Da muss ich zunächst einmal auf das moderne Verständnis von Passivität und Aktivität eingehen, das Ihnen ja allen recht gut bekannt ist. Die populäre Auffassung nimmt an, dass Aktivität jedes auf einen Zweck gerichtete, Energie erfordernde Tun ist, also sowohl körperliche als auch geistige Arbeit oder zum Beispiel Sport, der ja meistens auch so verstanden wird, dass er entweder der Gesundheit dient oder dem Ansehen des Vaterlandes zugutekommt oder einen berühmt macht und Geld einbringt. Es ist gewöhnlich nicht die Freude an der Übung selbst, sondern ein bestimmter Effekt, um dessentwillen man Sport treibt. Aktiv ist einer, der sich anstrengt. In Amerika sagt man dann, er ist busy. Und busy und business sind dasselbe Wort.

Und wann ist man nach dieser Auffassung passiv? Nun, wenn der sichtbare Nutzen ausbleibt, wenn keine Leistung zu entdecken ist. Lassen Sie mich ein absichtlich einfaches Beispiel geben: Da ist ein Mensch, der sieht in die Landschaft, nur so, fünf Minuten, eine halbe Stunde oder gar eine Stunde, er tut nichts, er schaut bloß. Da er nicht einmal fotografiert, sondern sich still versenkt in das, was seine Augen wahrnehmen, wird man ihn vielleicht für merkwürdig halten und jedenfalls seine „Beschaulichkeit“ nicht gerade als Aktivität bezeichnen. Oder nehmen Sie (obwohl es diesen Anblick in unserer westlichen Kultur nicht oft gibt) einen Menschen, der meditiert, der versucht, sich seiner selbst bewusst zu werden, seiner eigenen Gefühle, seiner Stimmungen, seiner inneren Verfassung. Wenn er systematisch meditiert, so kann das Stunden dauern. Die Umgebung, die davon nichts versteht, wird ihn für einen passiven Menschen halten. Er tut nichts. Vielleicht vertreibt er nur alle Gedanken aus seinem Kopf, konzentriert sich darauf, an nichts zu denken, sondern nur zu sein. Das klingt Ihnen vielleicht seltsam. Probieren Sie’s mal, zwei Minuten nur, und Sie werden merken, wie schwer das ist, wie Ihnen ständig etwas durch den Kopf geht, wie Sie an alles mögliche denken, meistens unwichtige Sachen, derer Sie sich aber nicht erwehren können, weil es kaum auszuhalten ist, nur dazusitzen und das Denken zu unterlassen.

Für große Kulturen in Indien und China ist diese Art der Meditation lebenswichtig. Bei uns ist das leider nicht so, weil wir ehrgeizig glauben, immer etwas tun zu müssen, was einen Zweck hat, womit man etwas erreicht, wobei etwas herauskommt. Aber lassen Sie einmal den Zweck außer acht, versuchen Sie sich zu konzentrieren und haben Sie Geduld mit dieser Übung, so werden Sie womöglich feststellen, dass dieses Nichtstun Sie sehr erfrischt.

Nun also, ich wollte nur andeuten, dass wir in unserem modernen Sprachgebrauch unter Aktivität ein Tun mit sichtbarem Effekt verstehen, während Passivität zwecklos erscheint; sie ist eine Haltung, der man keinen Energieverbrauch anmerkt. Dass wir Aktivität und Passivität so einschätzen, hängt mit der Frage des Konsumierens zusammen: Wenn wir „schlechten Überfluss“ konsumieren, so ist unsere scheinbare Aktivität letztlich Passivität. Welche Form von schöpferischer Aktivität, von „gutem Überfluss“, von Fülle, von Widerstand wäre denkbar, um uns mehr als nur bloße Konsumenten sein zu lassen?

2. Die moderne Langeweile

Lassen Sie uns jetzt ein wenig über die klassische Auffassung von Aktivität und Passivität nachdenken, wie wir sie bei Aristoteles, bei Spinoza, bei Goethe, bei Marx oder bei vielen anderen Denkern in der westlichen Welt der letzten zweitausend Jahre finden. Da wird Aktivität als etwas verstanden, was die dem Menschen innewohnenden Kräfte zum Ausdruck bringt, was Leben gibt, was zur Geburt verhilft – sowohl den körperlichen wie den affektiven, den intellektuellen wie den künstlerischen Fähigkeiten. Wenn ich von den dem Menschen innewohnenden Kräften spreche, dann werden das vielleicht manche von Ihnen nicht ganz verstehen. Denn für gewöhnlich nehmen wir an, dass Kräfte, Energien in Maschinen vorhanden sind, nicht dagegen im Menschen. Und sofern der Mensch über Kräfte verfügt, so haben sie vornehmlich den Zweck, Maschinen zu erfinden und zu bedienen. Unsere Bewunderung der Kräfte in der Maschine nimmt zu; aber die Einsicht in die wunderbaren Kräfte im Menschen nimmt ab. Der Satz des griechischen Dichters in der Antigone: „Es gibt viel Wunderbares in der Welt, aber nichts ist wunderbarer als der Mensch“, hat für uns keine rechte Bedeutung mehr. Die Mondrakete erscheint uns oft weit wunderbarer als der kleine Mensch. Und in gewisser Weise glauben wir, dass wir mit unseren modernen Erfindungen viel wunderbarere Dinge erschaffen haben als Gott, als er den Menschen schuf.

Wir müssen umdenken, wenn wir unser Interesse dem Bewusstsein und der Entfaltung jener mannigfachen Kräfte, die als Potenz im Menschen sind, zuwenden. Nicht nur die Kraft, zu sprechen und zu denken, sondern eine immer größere Einsicht zu erhalten, eine immer größere Reife zu entwickeln, die Kraft der Liebe oder des künstlerischen Ausdrucks – alles das ist im Menschen gegeben und wartet darauf, verwirklicht zu werden. Aktivität, Tätigsein im Sinn der Autoren, die ich genannt habe, ist genau dies, die Ausgestaltung, die Manifestation dieser dem Menschen eigenen, aber zumeist verborgenen oder unterdrückten Kräfte.

Lassen Sie mich hier ein Zitat von Karl Marx vorlesen. Allerdings werden Sie sehr rasch merken, das ist ein Marx, der ganz anders ist als der, den man Ihnen an der Universität oder in der Presse oder in der Propaganda, von links und von rechts, darstellt. Ich zitiere aus den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem Jahre 1844 (MEGA I,3, S. 149 = MEW Erg. I, S. 567): [XI-313]

Setze den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus, so kannst du Liebe nur gegen Liebe austauschen, Vertrauen nur gegen Vertrauen etc. (...) Wenn du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst du ein wirklich anregend und fördernd auf andre Menschen wirkender Mensch sein. Jedes deiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand deines Willens entsprechende Äußerung deines wirklichen individuellen Lebens sein. Wenn du liebst, ohne Gegenliebe hervorzurufen, das heißt, wenn dein Lieben als Lieben nicht die Gegenliebe produziert, wenn du durch deine Lebensäußerung als liebender Mensch dich nicht zum geliebten Menschen machst, so ist deine Liebe ohnmächtig, ein Unglück.

Sie sehen hier, dass Marx vom Lieben als von einer Aktivität spricht. Der moderne Mensch denkt eigentlich nicht daran, dass er mit Liebe etwas schafft. Er ist meistens und fast ausschließlich darum bekümmert, geliebt zu werden, nicht darum, selber lieben zu können, also mit Liebe Gegenliebe zu erzeugen und damit etwas Neues, Nichtdagewesenes in die Welt zu setzen. Deswegen meint er auch, dass Geliebtwerden entweder ein großer Zufall ist oder dass man es dadurch erwirkt, dass man sich alles Mögliche kauft, was angeblich dazu führt, geliebt zu werden – vom richtigen Mundwasser bis zum eleganten Anzug oder zum teuersten Auto. Nun, wie das mit dem Mundwasser und dem Anzug ist, das weiß ich nicht so genau. Doch es ist leider eine Tatsache, dass viele Männer ihres schneidigen Automobils wegen geliebt werden. Man muss allerdings hinzufügen, dass sich viele Männer auch mehr für den Wagen als für die Frau interessieren. Und dann ist ja scheinbar alles wieder in Ordnung – außer dass sich die beiden nach kurzer Zeit langweilen und vielleicht sogar hassen werden, weil sie sich gegenseitig betrogen haben oder betrogen fühlen. Sie glaubten, geliebt zu werden, während sie in Wirklichkeit etwas vorgetäuscht, aber keine aktive Liebe praktiziert haben.

Gleichermaßen versteht man im klassischen Sinne unter Passivität nicht, dass jemand dasitzt, nachdenkt, meditiert oder sich die Natur anschaut, sondern man meint damit das bloße Reagieren oder das bloße Getriebenwerden.

Das bloße Reagieren: Wir wollen nicht vergessen, dass wir meistens in der Weise aktiv sind, dass wir auf Stimuli, auf Reize, auf Situationen reagieren, die, weil wir es gewöhnt sind, von uns erfordern, dass wir etwas tun, wenn ein entsprechendes Signal einsetzt. Der Pawlowsche Hund reagiert mit Appetit, sobald er die Glocke hört, die er einmal mit dem Futter assoziiert hat. Wenn er dann zum Futternapf saust, ist er natürlich sehr „aktiv“. Diese Aktivität ist jedoch nichts anderes als eine Reaktion auf einen Reiz. Er funktioniert wie eine Maschine. Unsere heutige Verhaltenspsychologie beschäftigt sich mit genau diesem Vorgang: Der Mensch ist ein reagierendes Wesen, man produziert einen Reiz, und prompt erfolgt eine Reaktion. Das kann man mit Ratten machen, mit Mäusen, mit Affen, mit Menschen, sogar mit Katzen, obwohl es da etwas schwieriger wird. Mit Menschen geht es leider am einfachsten. Man glaubt, dass alles menschliche Verhalten im Großen und Ganzen auf dem Prinzip von Lohn und Strafe beruht. Belohnung und Strafe sind die zwei großen Anreize, und es wird erwartet, dass sich der Mensch dazu verhält wie jedes Tier, indem er sich darauf einstellt, das zu tun, wofür er belohnt wird, und das zu unterlassen, wofür ihm eine Strafe angedroht wird. [XI-314] Er muss nicht einmal tatsächlich bestraft werden, die Drohung allein genügt schon. Allerdings ist es nötig, dass hier und da ein paar Menschen exemplarisch bestraft werden, damit die Drohung nicht zu einer leeren Drohung wird.

Und nun das Getriebensein: Sehen Sie sich einmal einen Betrunkenen an. Er ist oft sehr „aktiv“, er schreit und gestikuliert. Oder denken Sie an einen Menschen in jenem psychotischen Zustand, den man Manie nennt. Ein solcher Mensch ist überaktiv, er traut sich zu, der Welt zu helfen, er redet, er telegraphiert, er sorgt für Umtrieb. Er bietet das Bild einer ungeheuren Aktivität. Aber wir wissen, der Motor solcher Aktivität ist beim einen der Alkohol und beim manisch Kranken irgendeine elektrochemische Unordnung in seinem Gehirn. Ihre Äußerungen jedoch sind die einer extremen Aktivität.

„Aktivität“ als bloße Reaktion auf einen Reiz oder als Getriebensein in der Form einer Leidenschaft ist im Grunde eine Passivität, auch wenn sie noch soviel Aufhebens von sich macht. Das Wort Leidenschaft hängt ja zusammen mit Leiden. Wenn man von einem sehr leidenschaftlichen Menschen spricht, dann verwendet man einen recht zwiespältigen Ausdruck. Schleiermacher hat einmal gesagt: „Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.“ Das gilt nicht nur für die Eifersucht, sondern für jede Leidenschaft, in der der Mensch getrieben wird: die Ehrsucht, die Geldsucht, die Machtsucht, die Esssucht. Alle Süchte sind Leidenschaften, die Leiden schaffen. Sie sind Passivitäten. Das lateinische Wort passio ist ja identisch mit unserem Wort Leiden. Unser heutiger Sprachgebrauch ist an dieser Stelle etwas verwirrt, weil man unter Leidenschaft ganz Verschiedenes versteht. Darauf aber will ich jetzt nicht eingehen.

Wenn Sie sich nun einmal die Aktivität des bloß reagierenden oder des getriebenen Menschen anschauen, also eben des passiven Menschen im klassischen Sinn, so merken Sie, dass seine Reaktion nie etwas Neues bewirkt. Sie ist Routine. Die Reaktion vollzieht immer wieder dasselbe: Auf denselben Reiz folgt dieselbe Reaktion. Sie wissen genau, was passieren wird. Alles ist berechenbar. Hier ist keine Individualität, Kräfte entfalten sich nicht, alles erscheint programmiert: derselbe Reiz, derselbe Effekt. Es findet das statt, was man bei Ratten im Tierlaboratorium beobachtet. Genauso gilt in der Verhaltenspsychologie, die den Menschen primär für einen Mechanismus hält, dass er mit bestimmten Reaktionen auf bestimmte Reize reagiert. Diesen Vorgang zu erfassen, ihn zu erforschen und aus ihm Rezepte abzuleiten – das nennt man dann Wissenschaft. Vielleicht ist das Wissenschaft. Aber menschlich ist es nicht! Denn der lebendige Mensch reagiert eigentlich niemals in immer derselben Weise. Er ist in jedem Augenblick ein anderer Mensch. Wenn er auch niemals total anders ist, so ist er jedenfalls niemals derselbe. Heraklit hat das so ausgedrückt: „Es ist unmöglich, zweimal in denselben Fluss zu steigen.“ Denn es gilt: „Alles fließt.“ Ich würde sagen: Die Verhaltenspsychologie mag eine Wissenschaft sein, aber sie ist keine Wissenschaft vom Menschen, sondern eine vom entfremdeten Menschen mit entfremdeten Methoden, unternommen von entfremdeten Forschern. Sie ist zwar imstande, gewisse Aspekte des Menschen hervorzuheben. Doch gerade an das Lebendige, an das spezifisch Menschliche rührt sie nicht.

Ich möchte den Unterschied zwischen Aktivität und Passivität mit einem Beispiel [XI-315] verdeutlichen, das in der amerikanischen Industrie-Psychologie eine große Rolle gespielt hat. Professor Elton Mayo hat folgendes Experiment angestellt, als er von der Western Electric Company beauftragt wurde, zu prüfen, wie man die Produktivität von ungelernten Arbeiterinnen in den Hawthorne-Werken in Chicago steigern könne. Man war damals der Meinung, vielleicht arbeiten sie besser, wenn man ihnen am Morgen zehn Minuten frei gibt und vielleicht zehn weitere Minuten als Kaffeepause etc. Diese ungelernten Arbeiterinnen mussten etwas tun, was sehr monoton ist, nämlich Spulen aufwickeln. Dazu gehört keine Kunst, keine Anstrengung, es ist das Passivste und Eintönigste, was man sich vorstellen kann. Da hat Elton Mayo ihnen sein Experiment erklärt und zunächst einmal die Kaffeepause am Nachmittag eingeschaltet. Sofort stellte sich heraus, dass die Produktivität stieg. Dann hat er zusätzlich die Pause am Vormittag installiert, und wieder stieg die Produktivität. Weitere Vergünstigungen hatten weitere Produktivität zur Folge, so dass die Rechnung voll aufging.

Ein gewöhnlicher Professor hätte an dieser Stelle das Experiment beendet und den Direktoren der Western Electric Company empfohlen, durch einen Zeitverlust von zwanzig Minuten eine höhere Produktivität zu erzielen. Anders Elton Mayo, der ein einfallsreicher Mann war. Er hat sich nämlich gefragt, was geschehen würde, wenn er die Vorteile wieder streichen würde. So hat er zunächst die Kaffeepause rückgängig gemacht – und die Produktionssteigerung ging weiter. Dann hat er die Vormittagspause rückgängig gemacht und die Produktionssteigerung ging weiter. Und so fort. Womöglich hätten an dieser Stelle einige Professoren achselzuckend festgestellt: Naja, man sieht eben, das Experiment ist nicht aussagekräftig. (...) Aber in unserem Falle tauchte plötzlich der Gedanke auf: Womöglich haben die ungelernten Arbeiterinnen zum ersten Mal in ihrem Leben Interesse gewonnen an dem, was sie in der Fabrik taten. Das Spulenaufrollen blieb langweilig und eintönig wie eh und je; aber man hatte sie in das Experiment eingeweiht, und so fühlten sie, dass sie in einem Zusammenhang wirkten, dass sie etwas beitrugen, das nicht nur für den Profit des anonymen Unternehmers, sondern für die ganze Belegschaft von Bedeutung war. Mayo konnte nachweisen, dass es dieses unerwartete Interesse, dieses Dabeiseinkönnen war, das die Produktivität der Arbeit gesteigert hatte, und nicht etwa die Pausen am Vor- oder Nachmittag. Das war Anlass und Anstoß zu einer neuen Denkweise: dass das Motiv für die Produktivität mehr im Interesse an der Arbeit selbst, als in Pausen, Gehaltserhöhungen und weiteren Bequemlichkeiten zu suchen ist. – Ich wollte hier nur den entscheidenden Unterschied zwischen Aktivität und Passivität aufzeigen. Solange die Arbeiterinnen kein Interesse hatten, waren sie passiv. In dem Augenblick, als ihnen Anteil an dem Experiment gegeben wurde, erwachte in ihnen ein Gefühl für Mitarbeit, sie wurden aktiv und änderten ihre Haltung grundlegend.

Nehmen wir nun einen anderen, viel einfacheren Fall. Denken Sie an einen Touristen, der – natürlich mit einer Kamera in der Hand – irgendwohin kommt und vor sich einen Berg, einen See, ein Schloss, eine Ausstellung sieht. Doch er sieht es eigentlich nicht direkt, sondern von vornherein im Blick auf das zu knipsende Bild. Die für ihn relevante Wirklichkeit ist die festgehaltene und die in Besitz genommene, nicht die vor ihm liegende Wirklichkeit. Der zweite Schritt, das Bild, kommt vor dem ersten, dem Sehen selbst. Hat er das Bild in der Tasche, kann er es seinen Freunden zeigen, als [XI-316] habe er dieses aufgenommene Stück Welt selber erschaffen, oder er kann sich zehn Jahre später erinnern, wo er damals war. Wie auch immer – es ist das Foto, die künstliche Wahrnehmung, an die Stelle der ursprünglichen getreten. Viele Touristen gucken gar nicht erst; sie greifen sofort zum Apparat, während der gute Fotograf zunächst in sich aufnimmt, was er dann mit der Kamera aufnimmt, also sich erst in Beziehung setzt zu dem, was er dann fotografiert. Dieses vorausgehende Sehen ist etwas Aktives. Experimentell messen kann man diesen Unterschied nicht. Sie sehen ihn aber vielleicht am Gesichtsausdruck: Da freut sich einer, etwas Schönes gesehen zu haben. Dann mag er es fotografieren oder auch nicht. Es gibt auch (freilich wenige) Menschen, die von Fotos absehen, weil das Bild die Erinnerung verdirbt. Mit Hilfe des Bildes sehen Sie nichts als eine Erinnerung. Versuchen Sie aber, sich ohne ein Bild an die Landschaft zu erinnern, dann wird diese wiedergeboren in Ihnen. Die Landschaft kommt wieder, bis Sie sie so lebendig vor sich haben, wie sie ist. Es ist nicht einfach eine Erinnerung, die wieder zurückkommt, wie man sich an Worte erinnert. Sie selbst erschaffen die Landschaft neu, Sie selbst produzieren diesen Eindruck. Diese Art von Aktivität erfrischt, erheitert und verstärkt die Lebensenergie, während alle Passivität lustlos und deprimiert macht, ja manchmal sogar hasserfüllt.

Denken Sie an eine Gesellschaft, zu der Sie eingeladen worden sind. Sie wissen schon genau, was dieser oder jener sagen wird, was Sie sagen werden und was dann wieder er sagt. Es ist wie in der Maschinenwelt, klar und geregelt, was jeder sagt. Jeder hat seine Meinung, seine Ansicht. Nichts passiert – und wenn Sie dann heimgehen, sind Sie – tief drinnen – todmüde. Dabei wirkten Sie, während Sie dabei waren, wahrscheinlich ganz munter und aktiv: Sie haben ebenso geredet wie Ihr Gegenüber, vielleicht haben Sie sich sogar aufgeregt; aber es war trotzdem eine Unterhaltung voller Passivität, indem beide immer wieder nur sich selber vorgetragen haben, wie Reiz und Reaktion, dieselbe abgespielte, abgelegte Platte; nichts Neues ist dabei herausgekommen, pure Langeweile.

Nun ist es eine merkwürdige Tatsache in unserer Kultur, dass sich die Menschen nicht genügend bewusst sind, was für ein Leiden die Langeweile ist. Wenn jemand in Einzelhaft sitzt, aber auch schon, wenn irgendeiner aus was weiß ich für einem Grunde nichts mit sich anzufangen weiß, dann spürt er, falls er in sich nicht die Quellen hat, etwas Lebendiges zu tun, etwas zu produzieren oder sich zur Besinnung zu rufen – dann spürt er die Langeweile als eine Last, als eine Belastung, als eine Lähmung, die er aus sich allein nicht zu erklären vermag. Langeweile ist eine der schlimmsten Foltern. Sie ist sehr modern und greift um sich. Der Mensch, der der Langeweile ausgeliefert ist, ohne sich gegen sie wehren zu können, fühlt sich wie ein schwer deprimierter Mensch. Warum merken die meisten Menschen nicht, was für ein Übel die Langeweile ist, was für ein Schmerz? Ich glaube, die Antwort auf diese Frage ist einfach: Wir produzieren heute viele Dinge, die man einnehmen kann und mit deren Hilfe man über die Langeweile hinwegkommt. Entweder nimmt man Beruhigungspillen oder man trinkt oder man geht von einer Cocktailparty zur anderen oder man streitet sich mit seiner Frau oder man lässt sich durch die Medien ablenken oder man gibt sich sexuellen Aktivitäten hin, um die Langeweile zu verbergen. Viele unserer Aktivitäten sind Versuche, die Langeweile nicht zum Bewusstsein kommen zu lassen. Aber vergessen Sie nicht das [XI-317] schlechte Gefühl, das Sie häufig haben, wenn Sie einen blöden Film gesehen oder sonstwie Ihre Langeweile verdrängt haben; vergessen Sie nicht den Katzenjammer, den Sie an sich feststellen, wenn Sie merken, es war eigentlich todlangweilig, und Sie haben Ihre Zeit nicht genutzt, sondern totgeschlagen. Es ist merkwürdig in unserer Kultur: Wir tun alles, um Zeit zu retten, zu sparen, und haben wir sie gerettet oder gespart, schlagen wir sie tot, weil wir nicht wissen, was mit ihr anzufangen ist.

3. Die produzierten Bedürfnisse

Es ist eine weitverbreitete Meinung – nicht nur bei Laien, sondern auch unter vielen Wissenschaftlern –, dass der Mensch eine Maschine sei, die nach bestimmten physiologischen Erfordernissen funktioniere. Da gibt es Hunger und Durst, die Notwendigkeit zu schlafen, Sexualität und manches andere. Die physiologischen oder biologischen Bedürfnisse müssen befriedigt werden. Werden sie nicht befriedigt, wird der Mensch entweder neurotisch oder er stirbt gar, wie zum Beispiel beim Hunger. Werden sie aber befriedigt, dann ist scheinbar alles in Ordnung. Nun zeigt sich jedoch, dass dies nicht stimmt. Es kann sein, dass alle physiologischen und biologischen Bedürfnisse befriedigt werden und dass der Mensch trotzdem nicht befriedigt ist, also nicht im Frieden lebt mit sich selbst, sondern unter Umständen innerlich schwer krank ist, obgleich er scheinbar alles hat, was er braucht. Ihm fehlt die Anregung, mit der seine Aktivität angeregt wird.

Ich will ganz kurz einige Beispiele dafür erwähnen. Es gibt in den letzten Jahren einige interessante Experimente über den völligen Entzug von Reizen. Man bringt etwa einen Menschen in eine Isolierzelle, er hat gleichbleibende Temperatur, Licht, bekommt sein Essen hineingeschoben usw. – nur: Es gibt keinerlei Reiz, es herrscht ein Milieu wie etwa beim Fötus im Mutterleib. Und schon nach einigen Tagen dieses Experiments stellen sich bei diesen Menschen gravierende krankhafte, häufig schizophrene Züge heraus. Obwohl sie physiologisch befriedigt waren, ist der Zustand solcher Passivität psychologisch Krankheit erzeugend, er hat sogar Irrsinn zur Folge. Dieselbe Situation, die beim Fötus noch normal ist (obwohl selbst da gar kein so vollkommener Reizentzug vorliegt wie in diesem Experiment), wird beim erwachsenen Menschen zu einer pathogenen Situation.[3]

Oder man hat aufschlussreiche Versuche unternommen, in denen Menschen gehindert wurden zu träumen. Ihn am Träumen zu hindern, ist möglich auf Grund der Beobachtung, dass sich die Augen sehr schnell bewegen, wenn der Mensch träumt. Weckt man ihn dann, so kann man ihn am Träumen hindern. Es ergaben sich bei diesen Menschen erhebliche Krankheitssymptome. Das bedeutet, dass das Träumen eine Notwendigkeit ist. Der Mensch bleibt auch im Schlaf seelisch und geistig aktiv. Und wenn man diese Aktivität unterbindet, wird er krank. [XI-319]

Der Tierpsychologe Harlow hat mit Affen experimentiert. Ihm fiel auf, dass die Affen zehn Stunden lang in einem komplizierten Versuch tätig waren, sie hatten mit Beharrlichkeit eine bestimmte Konstruktion zu entflechten und blieben geduldig bei der Sache, ohne jede Belohnung oder Bestrafung, ohne jedes Element der Reizreaktionskette, einfach aus Interesse an der Arbeit selbst. Denn auch Tiere – speziell die Primaten – können höchst interessiert sein und sind nicht allein dadurch motiviert, dass sie Futter bekommen oder dass sie Angst haben, bestraft zu werden.

Der Mensch hat schon vor 30°000 Jahren Kunst entwickelt. Man sagt gerne, das diente doch bloß magischen Zwecken. Denken Sie etwa an die Höhlengemälde mit den wunderschönen Tierbildern voll der graziösesten Bewegungen. Sie sind entstanden, weil die Menschen glaubten, sich durch solche Zeichnungen mehr Erfolg bei der Jagd zu sichern. Das mag ja so sein. Aber ist damit die Schönheit wirklich erklärt? Für magische Zwecke bedurfte es nicht einer so kunstvollen Bemalung und Ausschmückung der Höhlen oder von Vasen. Vielmehr war die Schönheit, die wir heute noch wahrnehmen und genießen können, eine Zugabe. Das heißt, der Mensch hat über das Interesse am Praktischen, am Zweckmäßigen, am Gebrauchsgegenstand hinaus ein Interesse, aktiv zu sein im Sinne des Schöpferischen, des Gestaltens, der Entwicklung von Kräften, die in ihm sind.

Der deutsche Psychologe Karl Bühler hat ein sehr schönes Wort geprägt, nämlich das Wort von der „Funktionsfreude“. Es soll besagen, dass Tätigsein eine Freude mit sich bringen kann, die darin liegt, dass der Mensch sein Funktionieren genießt, und zwar nicht, weil er dieses oder jenes braucht, sondern weil der Akt des Erschaffens, das Ausdrücken der eigenen Fähigkeiten, selbst Freude schafft. Das hat natürlich Konsequenzen für die Erziehung. Eine geniale Italienerin, Maria Montessori, hat erkannt, dass man mit dem alten Prinzip von Belohnung und Bestrafung zwar die Kinder dressiert, aber nicht erzieht. Inzwischen bestätigen zahlreiche Untersuchungen, dass in der Tat der Mensch besser lernt, wenn die Tätigkeit selbst eine immanente Befriedigung schafft. Ich glaube, der Mensch ist nur er selbst, wenn er sich äußert, wenn er die ihm innewohnenden eigenen Kräfte ausdrückt. Wenn das nicht geschieht, wenn er nur „hat“ und benützt, statt zu „sein“, dann verfällt er, dann wird er zum Ding, dann wird sein Leben sinnlos. Es wird zum Leiden. Die echte Freude liegt in der echten Aktivität, und echte Aktivität ist der Ausdruck, ist das Wachstum der menschlichen Kräfte. Vergessen Sie nicht, auch rein gehirnphysiologisch kann man feststellen, dass die Anstrengung des Kopfes zum Wachstum der Gehirnzellen führt. Diese Erweiterung kann man sogar wiegen. Das ist gar nicht so verschieden von den Muskeln, die man beansprucht. Bei bloß routinemäßiger Tätigkeit beweisen sie nur, was sie ohnedies schon sind, aber nicht, was sie sein könnten.

[XI-320]homo sapiens sapiens