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Brief, Reise

Der Brief lag zwischen einem Formular und einer Zeitung mitten auf dem Schreibtisch. Es war nach fünf Uhr, als Péter nach Hause kam, die Sonne schien noch. Das Sonnenlicht war böswillig und unbeständig wie immer Anfang April hier in den Bergen, es überzog die Erscheinungen des Frühlings mit einer kalten, theatralischen Beleuchtung: Seit zwei Wochen hatte man ständig das Gefühl, in einem patriotischen Volksstück mitzuspielen. Er ging durch das leere Zimmer, sah sich den Brief von Weitem an, erkannte die Schrift und wusste es, wusste es sofort. Anna benutzte noch immer dieses elfenbeinfarbene Briefpapier und schrieb mit lila Tinte, in bauchigen und zaghaften Buchstaben. Er ging zur Speisezimmertür und rief hinein: »Edit.« Aber Edit war um diese Zeit mit den Hunden unten am See. Er blieb an der Treppe stehen, lauschte und hörte aus dem Obergeschoss die Schreibmaschine der Baronin pochen. Die Baronin schrieb schnell, beinahe so schnell, wie sie sprach. Plötzlich stockte das Geräusch der Maschine, irgendetwas war oben geschehen, in einem Zimmer, in einem Hirn, die Baronin zögerte, vielleicht fiel ihr ein Wort nicht ein, vielleicht erschrak sie vor ihrer verantwortungslosen Handlung, dem Schreiben, und hielt für einen Moment dennoch inne, wie ein Mörder mitten in der blutigen Tat. Dann setzte das feine, traurige Rattern wieder ein – nein, die Baronin war nicht erschrocken, sie schrieb schon weiter. »Sie schreibt nicht einmal schlecht«, dachte Péter Garren. Die Baronin schrieb so, als erinnerte sie sich dunkel an irgendetwas, als suchte sie die Worte, wollte unbedingt etwas erzählen, aber die Worte waren alle nur ähnlich, sie erinnerten nur an etwas – und das, was sie sagen wollte, war irgendwo verschwunden, verloren gegangen im Leben oder in einer allgemeinen, internationalen Unordnung, vielleicht war es auch von einem geografischen Unglück verschluckt worden und ruhte nun tief unter der Erde, unter Granitschichten, in Bernstein eingeschlossen wie eine urzeitliche Mücke. Diese Mücke wollte die Baronin aus der Unordnung, dem Unglück, unter der Erde hervor-, aus dem Granit und dem Bernstein herausausgraben. Sehr schwierig, dachte Péter voller Anteilnahme. Dann dachte er: Vielleicht sind sie die Echten, die Dilettanten. Manchmal ist sie beinahe groß und erhaben. Für sie ist ein Mensch, der in den Roman hineinkommt, eine Figur von Fleisch und Blut, man muss ihn nur gut »einführen« und alles über ihn erzählen, dann lacht oder weint die Romanfigur, wie es ihr gerade in den Sinn kommt. Die Baronin ist unerschrocken. Anders kann es auch gar nicht sein. Sie ist es, die glaubt; an die Erinnerungen, an die Romanfiguren und die Zeitgeschichte. An irgendetwas glaubt sie auf jeden Fall. Außerdem leidet sie auch, die Ärmste. Und wie kühl sie schreibt, wie verschämt! Dann dachte er: Edit ist jetzt nicht hier, und ihr Fehlen empfinde ich als natürlich. Edit war niemals da, wenn ich sie wirklich gebraucht habe. Die beiden Vokale ihres Namens, hellblau und weißgrau, sind wie die angeschmutzten Abzeichen eines Ballspielvereins. Und: Wie feige ich bin. Ich muss den Brief lesen. Er ging zum Tisch, öffnete mit kalten, zitternden Fingern den Umschlag, sah den Brief erst zerstreut und routiniert an, packte dann mit gierigem Blick die Sätze und las.

Der Brief war von Péter Garrens ältester Schwester, Anna, der Lehrerin. Lieber Péter, schrieb sie, ich erfülle eine traurige Pflicht. Und: Vater liegt schon den dritten Monat, die Ärzte haben alle Hoffnung aufgegeben. Immer schrieb sie solche Briefe. Als wolle sie sagen: Ich gestatte mir, dir mit untertäniger Ehrerbietung mitzuteilen, dass unser Vater im Sterben liegt. Péter zischte auf. Den Sachverhalt verstand er noch nicht, aber die billige Formulierung schmerzte. Als schickte einem jemand in braunem Packpapier die abgehackte Hand eines geliebten Menschen. So schrieb sie, alle drei Monate seit zwölf Jahren, am letzten Sonntag jedes dritten Monats auf demselben elfenbeinfarbenen Briefpapier und mit lila Tinte: Sehr erfreut erfahren wir aus Deinem lieben Brief, dass Du bei Deiner Arbeit gut vorankommst. Seit zwölf Jahren erfuhr Anna am letzten Sonntag jedes dritten Monats sehr erfreut, dass Péters Arbeit gut vorankam (oder dass er mit seiner Arbeit gut vorankam; denn manchmal verbündeten sich die Wörter gegen sie, revoltierten und verwirrten spöttisch die mechanischen Verbindungen, die sie aus ihnen schuf). Seit zwölf Jahren freute sich Anna, dass Péter und seine Arbeit in einem unbestimmten, verschämt verflochtenen Verhältnis vorankamen, und seit zwölf Jahren vergaß sie konsequent zu fragen, von welcher Natur denn Péters Arbeit sei, ob er Musik komponiere oder mit Sklaven handle oder vielleicht eine Spedition gegründet habe. Die Einzelheiten interessierten sie nicht. In ihren Briefen vermischten sich die Tatsachen sonderbar mit den in geschäftssprachlichen Wendungen ausgedrückten Traumbildern. Es ist mir eine besondere Freude, schrieb sie, und dann beendete sie den Satz: gestern habe ich einen Vogel gesehen. Oder: Mit tiefem Schmerz gebe ich bekannt – aber am Ende des Satzes hatte sie vergessen, was sie mit tiefem Schmerz bekannt geben wollte, und erwähnte für alle Fälle, dass es am Morgen geregnet habe. Sie verwendete die Wörter in ihren Texten wie Requisiten der Industriekultur, wie einen Überschuh oder einen elektrischen Staubsauger. All das brauchte man zum Leben. Auch die fertigen Wörter brauchte man zum Leben: Irgendwo hinter dem Überschuh und mit schwesterlicher Liebe umarmt Dich lebte sie, Anna, die geträumt und gestern einen Vogel gesehen hatte. Es war, als seufzte sie am Anfang jedes Satzes. Anders ging es nicht, Vereinbarungen verpflichten.

So schrieb sie, dass der Vater im Sterben lag. Die hervorragendsten Ärzte der Stadt stehen ratlos am Krankenbett unseres armen, guten Vaters, schrieb sie. Wir rechnen ganz gewiss damit, dass Du nach Eintreffen meines Briefes in den Zug steigst und an Vaters Krankenbett eilst. Edgár kommt auch. Albert hat telegrafiert, dass er mit dem Postschiff kommt. Du weißt, schon mit dem Dreitausendtonner, mit dem Tamás auf die Inseln gefahren ist. Péter erinnerte sich nicht. Er sah ein Schiff vor sich, Tamás steht an Deck, einen weißen Tropenhelm auf dem Kopf, er lügt noch irgendetwas, dann verschwindet er in der großen weiten Welt; Polizei, Gefühle, Gedanken können ihm nicht mehr folgen, man kann nicht wissen, wo er lebt, was er denkt, was er möchte. Er war mit dem Postschiff abgefahren. Wie einfach. Anna hatte jedenfalls mit ihren Gedanken für einen Augenblick bei dem Postschiff und den Inseln verweilt. Dann, als käme sie wieder zur Besinnung, als könne sie die Tatsachen nicht ertragen, die Wohnung, die Krankheit des Vaters, die Sterne, von denen am Sonntagnachmittag im Radio berichtet wurde, die Nierensteine und dass man manchmal durch das Zimmer gehen musste, in dem die Mutter gestorben war, dann begann sie zu schreien. Komm sofort!, schrieb sie brüllend. Und untertänig beendete sie den Brief, als wolle sie das Schicksal und die Wörter um Verzeihung bitten: Wenn Du ihn noch lebend sehen willst.

Der Brief war aufgeregt, voller Zeichensetzungsfehler, überflüssiger Ausrufe- und falscher Fragezeichen. Péter sah sich den Umschlag an: Der Brief war mit der Luftpost geschickt worden. Aus Annas Sicht musste die Luftpost ein Abenteuer sein wie für andere eine Weltumrundung an Bord des neuen Luftschiffs. Er sah Anna vor sich, wie sie auf die Post eilte, ihre gehäkelte Jacke straff zugeknöpft, um sich ja nicht zu erkälten während des Fluges in der großen Kälte! Irgendetwas von Annas Seele ist endlich einmal geflogen!, dachte er und lächelte traurig. Ein paar Worte, mit lila Tinte festgehalten, etwas von Annas Seele, war einmal im Leben hochgeflogen, über Berge und Länder hin. Er sah Anna vor sich, wie sie im Postamt vor dem Gitter stand, wie sie aufgeregt, mit entschuldigendem Lächeln und zitternden Fingern den Brief hinüberreichte – auf dem Kopf den Hut mit den Dohlenfedern – und plötzlich etwas in der Welt in Gang setzte, das Flugzeug startete mit Annas Brief, in der Tiefe regten sich große Berge und Wälder, als würde die Erde von einem Beben erschüttert, und mit entsetzlichem Brausen und Explodieren flog die Nachricht über die Welt, die Nachricht, die Anna losgeschickt hatte, die entsetzliche Nachricht, die die Welt bewegen sollte, die Nachricht davon, dass der Vater sterben würde. Anna nickte und gab dem Schalterbeamten Geld. Jetzt war sie feierlich, ihr Gesicht gerötet.

Péter ging in den Erker und öffnete einen Fensterflügel. Der See hatte sich mit Nebel gefüllt, als hätte er gekocht und dampfte noch. Der Nebel lag in einer dünnen Schicht über dem Wasser; auf Aufnahmen von Seelenbeschwörern breitet sich so der Nebel im Dunkel aus, der Stoff, den das besessene Medium ausstößt, die fixe Idee, die einige kranke und entschlossene Fantasien materialisieren. Vielleicht bäumte sich gerade ein Selbstmörder in der Tiefe des Sees auf; er bereute es, wollte doch lieber leben, und jetzt gab er Zeichen … Oberhalb des Nebels war die Landschaft klar, scharf konturiert, sanft und frisch wie eine mit Wasserfarben kolorierte Prüfungszeichnung. Die Holzhäuser waren mit grüner Farbe gestrichen, die Fensterrahmen mit rotem Öl. Der Wasserfall durchzog wie ausgebreitete Nervenstränge das braune, festfleischige Gewebe des Berges. Ein alter Priester fuhr auf dem Fahrrad am Fenster vorbei, hinter ihm ein junger Gehilfe, auf dem Rücken die Tasche mit den Andachtsgegenständen; wahrscheinlich kamen sie von einem Sterbenden, hatten ihm die letzte Ölung gegeben, während der Sterbende mit glasigen Augen und sittsamem Grauen den Priester an- und in die Dunkelheit hineingesehen hatte. Aus der Landschaft strömte der Tod, als wäre etwas ausgesprochen worden. Péter wusste nichts über den Tod. Um die Toten gab es nach Aas riechende Blumen, große Ausgaben und Streit. Er verstand den Tod nicht. »Für etwas« sterben, sagte man; Péter schüttelte den Kopf. Man stirbt nicht für etwas. Der Tod schien manchmal ganz von Nahem auf, ausgezehrte Münder, Bärte und Zähne; er war schauderhaft und unwirklich, aber alles in allem so irdisch, so menschlich, etwas kindisch: Man konnte sich vor ihm schützen. Dann war da der andere Tod, vor dem man sich nicht schützen konnte, der Tod, der in uns sitzt, unser Tod; wenn eine Form zu reifen beginnt und nicht mehr hält, wenn eine schreckliche Hilflosigkeit den Takt des Lebens und der Arbeit lähmt und das schlechte Gewissen plötzlich losbrüllt, dass wir der Tod sind, dass wir ihn erfunden haben und verbreiten. Einmal, vor sehr langer Zeit, vielleicht vor zwanzig Jahren, hatte sich ein Junge im gelben Frack erschossen; unten in der Gaststätte spielte Musik, sie hatten an dem Tag ihr Abitur abgelegt, niemand ahnte etwas. Der Junge hieß Géza. Oder Ervin? Ernő? Er erinnerte sich nicht.

Die Nachricht flog durch die Luft, und die Welt füllte sich mit ihr. Die Tiere im Wald witterten und sahen zum Himmel auf. Der Traum ist zu Ende, dachte Péter. Jetzt wird man etwas anderes träumen müssen. Den Vater sah er in diesem Augenblick nicht. Die Krankheit, das Sterben, diese neue, unbekannte Lebensform, verbargen den Vater so tief, als wäre er verreist, als lebte er jetzt in ungewohnter Umgebung, gefiele sich in eigenartigen, neuen Sitten, stünde in weißem Kleid in der Mitte der Plantage, inmitten seiner Sklaven, oder hätte vielleicht Uniform angezogen und kommandierte laut mitten auf einem Kasernenhof. Mit dem Vater war etwas geschehen, das man mit dem Verstand nicht begreifen konnte. Vielleicht hätte man es mit Musik ausdrücken können oder lautlos, wie wenn eine Jahreszeit vergeht und ihre Requisiten der nächsten übergibt. Er fühlte keinerlei Schmerz. An seiner Hand spürte er Las Parfum; vor einigen Minuten, vor schrecklich langer Zeit, hatte er in Las Zimmer auf dem Sofa gelegen, gegenüber dem Fenster, durch die Spalten der locker hinuntergelassenen Jalousie lösten sich das Licht und die auf der Straße vorüberkommenden Gegenstände und Gestalten in die Bestandteile von Zeit und Materie auf, man konnte nur einen sekundenlangen Regenschirm sehen, einen momentlangen Hut, die zwischen zwei geometrischen Punkten vorbeizogen. Im Zimmer war es still, La badete. Diese halben Stunden mochte er, sie waren die reinsten und traurigsten in seinem Leben. Die Bewegungen und Klänge der Liebe lebten und wirkten noch irgendwo im Zimmer, wie Worte oder wie der Duft eines Menschen, aber ihn ging dies nichts mehr an, etwas ließ ihn schwimmen und trug ihn weiter, weg von La, vielleicht zu Edit, zwischen zwei Ufern, mit dieser schwebenden, schwerelosen Verantwortungslosigkeit. Das Erlebnis gab jetzt seine letzte Kraft ab, irgendetwas hatte ihn hergebracht, und etwas trug ihn nun von hier fort, langsam, gleichgültig und gnadenlos. Später hatte La ihn um Geld gebeten.

Er machte sich auf den Weg, um zu ihr zurückzugehen. Gegen sieben konnte er bei ihr sein; La würde sagen »Oh!« und »Mein armes kleines Hündchen!« und »Möchtest du einen Tee?« Oder etwas Ähnliches. La würde genau das sagen, was gesagt werden musste, und im selben Augenblick würde der Inhalt des Briefes konkret werden, Tatsachen würden ihn umgeben, Gepäckstücke, Erinnerungen, Schmerzen, man würde sich um die Fahrkarte kümmern müssen, sich das kranke Gesicht des Vaters vorstellen, eine Arznei gegen die Seekrankheit besorgen, schwarze Handschuhe und eine schwarze Krawatte. La würde sagen: »Reg dich nicht auf, die Ärzte machen heute schon vieles möglich.« Aber gewiss würde sie zum Abschied auch sagen: »Gott weiß, vielleicht ist es ja besser für den Ärmsten.« Er roch an seiner Hand, sog von der Handfläche tief Las billiges und dreistes Parfum ein wie ein Kokainsüchtiger das Rauschgift. Er konnte nicht ohne sie sein. Dann trug ihn die Welle wieder fort von ihr, diese tiefe und gnadenlose Welle, zurück zu Edit, die ihre Hand an die Stirn legen würde, zum Fenster gehen, Péters Schulter mit den Fingerspitzen berühren und ganz leise sagen: »Der Ärmste, der Ärmste.« Mehr würde sie nicht sagen. Sie würde ihm beim Packen helfen. Sollte er jetzt schon einen schwarzen Anzug mitnehmen? War es nicht Mord, wenn man zu einem Menschen in Gefahr heimlich einen schwarzen Anzug mitnahm? So töten wir einander. Vielleicht würde es helfen, wenn er Sommerkleidung mitnähme, einen weißen Smoking, wie man ihn in südlichen Gegenden trägt, einen Schläger und Detektivromane. Jetzt gab man dem Vater Arznei, Anna stand am Kopfende des Bettes und maß sorgsam die Tropfen ab. Er lebte noch, Péter wusste sicher, dass er lebte, er sah seine aderndurchzogenen, sehr weißen Hände, diese weibischen und unbarmherzigen Hände, die der Vater nach dem Mittag und Abendessen zum Kuss reichte wie der Oberpriester einer unverständlichen Religion. Péter hatte einmal geweint und war vor ihm niedergekniet; er hatte die Knie des Vaters umarmt und durch die Tränen zu ihm aufgesehen, aber von hier unten sah er nur die Weste und die Uhrkette, des Vaters Kopf verlor sich in der Höhe, in seiner schauderhaften, materiellen Bedeutsamkeit, in einer Art feinem Nebel. Diese Veränderung lenkte ihn ab und überraschte ihn; trotzig kniete er, aber er vergaß zu weinen. Der Vater ließ zu, dass Péter vor ihm kniete, mit der Hand berührte er zaghaft die Locken des Jungen und murmelte fremde Wörter. Niemals erfuhr er, ob der Vater ihm damals die Absolution erteilt hatte.

Er hatte das Gefühl, er müsse sich beeilen, und sah auf die Uhr. Gleich würde die Baronin herunterkommen, im blutroten Frisiermantel, sie würde mitten auf der Treppe stehen bleiben und sagen: »Mein Teuerster, welch ein Schlag! Wie sehr ich Sie bedauere! Was heißt Traubenzucker auf Englisch?« Er musste sich beeilen, denn er wollte zu La gehen, doch am Abend würden Gäste kommen, Emmánuel und die beiden Musiker. Mit Edit würde er noch etwas besprechen müssen, er musste nach Hause fahren, zum Vater, musste zusehen, wie er starb, den schwarzen Anzug anziehen, den er jeden Morgen im Schrank argwöhnisch betrachtet hatte – einmal werde ich ihn anziehen müssen, zu Vaters Beerdigung, hatte er jeden Morgen gedacht. So beginnt ein Tod. Den schwarzen Anzug hatte er bislang nur zu abendlichen Empfängen getragen, einmal war er in die Botschaft gegangen, einmal ins große Hotel, als ein Verwandter aus Sumatra auf der Durchreise gewesen war. Er hatte den Anzug benutzt wie ein spitzes und scharfes Messer: Man verwendet es, um Brot zu schneiden, aber im Geheimen weiß man, dass man mit ihm auch töten kann. Er musste sich beeilen; plötzlich hatte er das Gefühl, man hätte in der Ferne das Uhrwerk einer Höllenmaschine aufgezogen. Nun würde der Vater beerdigt werden, er würde seine Geschwister treffen und dann hierher zurückkehren, in dieses Zimmer, zwischen den Tiroler Schank und den Bauerntisch, und etwas würde beginnen, das man nicht mehr hinausschieben konnte. Etwas Persönliches würde beginnen. Péter Garren war sechsunddreißig Jahre alt. Der Vater lag im Sterben.

Im Zimmer breitete sich die Dämmerung aus, und Blumen standen auf dem Tisch, in einem Weckglas, gelbe Akazien und Kaiserkronen in Rot und Grün. Vor dem Sofa lagen Edits Pantoffeln, auf dem Sofa die Karten, die sie vor dem Einschlafen immer befragte. Das Zimmer war geräumig und schwebte über dem See, sein einziges, riesiges Fenster blickte dem Berg und dem Wald ins Auge wie ein vornehmer Herr mit Monokel einer Menschenmenge. Das Zimmer hatte etwas Freches und Uneingerichtetes an sich. Immer hatte Péter das Gefühl, gleich würde jemand klingeln und etwas hereinbringen, eine Lampe oder einen Stuhl, und dann wäre die Einrichtung des Zimmers vollkommen, man konnte sich beruhigen, endlich das Gefühl haben, zu Hause zu sein. Aber genau diese Lampe oder dieser Lehnstuhl wurde niemals gebracht. Vielleicht, weil es so ein Möbel auf der Welt nicht gab. Die Karten hatte Edit auf der Messe gekauft und schon zerknickt, die wichtigeren mit Eselsohren gekennzeichnet, der Braut mit rotem Buntstift einen Schnurrbart gemalt. Péter suchte den »Brief«, die »Reise« und den »Tod«. Der Brief sah ganz so aus wie ein offizieller und normaler Brief, mit rotem Siegel, die Reise zeigte einen jungen Mann im grünen Gehrock, wie er traurig einer Postkutsche hinterhersah, und der Tod lag im Sarg, ganz klein, in einem Kindersarg, beladen mit Kreuzen und Lilien. Er warf den Brief auf die Karten und ging zu La.

La und der Schmerz

La war seit anderthalb Jahren Péter Garrens Geliebte. Péter gab ihr an jedem Monatsersten Geld, und auch später, wenn sie darum bat, während des Monats. Ihr Vater war Zimmermann in Würzburg, mit bürgerlichem Namen hieß sie Karola Thinne. Mit sechzehn Jahren war sie mit einem Nürnberger Bauunternehmer durchgebrannt, einem älteren, knausrigen und in weiten Kreisen geehrten Bürger; von ihm bekam sie zum Schluss ein goldenes Kreuz zum Geschenk und dreihundert Franken. Dieses Kreuz hatte sie sich an einer dünnen Goldkette um den Hals schmieden lassen. Wenn sie nackt war, rutschte das Kreuz zwischen ihre vollen Brüste und glänzte dort wie ein glühendes, schmerzhaftes Stigma. Karola war tief und sanft religiös. Manchmal, wenn sie nackt im Bett lag, klammerte sie sich mit beiden Händen an das Kreuz wie eine Ertrinkende. Das Bett, dieses Behältnis der Leidenschaft, explodierte um La, die Sehnsucht riss sie mit sich fort, sie musste sich an etwas festhalten. Dann schlug sie die Arme nach hinten, schloss die Augen und warf sich in die Kissen. In diesen Augenblicken war sie wirklich eine Ertrinkende, die von der Strömung mitgerissen wurde, sie kümmerte sich um nichts mehr, es hätte ihr auch nichts ausgemacht, wenn man sie aufs Rad geflochten oder umgebracht hätte. Ihr grobes und kindliches Gesicht wurde dann schön und ernst.

Jeden Morgen ging sie zur Messe; manchmal direkt aus einem Vergnügungslokal oder zwischen zwei Umarmungen, aus den Armen verkaterter, vor sich hin murmelnder Gelegenheitsliebhaber. Péter wusste, dass man Karola nicht einschränken konnte. Sie hatten sich in der Bibliothek kennengelernt; Karola Thinne suchte Skizzen für das Kostüm, das sie zum Ball des Statthalters tragen wollte. Die Bücher erschreckten sie, und sie sah sich hilfesuchend um. Mit Péter, der ihr zu Hilfe kam, sprach sie in der ersten Stunde mit so demütiger und erschrockener Stimme wie ein ertapptes Stubenmädchen. Als sagte sie in einem fort: »Ja, gnädiger Herr. Nein, gnädiger Herr.« Aber als sie endlich das Kostüm gefunden hatten, begann sie vertraulich und zufrieden zu lachen. Als hätte sie unterdessen etwas über Péter in Erfahrung gebracht und könne im Besitz dieses Wissens nun mit ihm tun, was sie wollte. Zuerst wollte sie Eis essen gehen, und Péter gab sofort nach. Unterwegs kauften sie ihr ein Paar Schuhe. Eine Stunde, nachdem sie sich kennengelernt hatten, stritten sie schon auf einem verkehrsreichen öffentlichen Platz wie Eheleute. Karola ging rasch, schlug vor den Kirchen ein Kreuz, sah Péter von Zeit zu Zeit von der Seite her an und lachte zufrieden. Ihr Silberblick wirkte auf die Männer betörend und kindlich wie eine Hexengabe. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und schielte so unterhaltsam und selbstvergessen, als feixte sie nur aus Langeweile, zur Unterhaltung der Erwachsenen.

Die Erwachsenen waren für Karola die Männer; mit den Frauen stand sie auf Kriegsfuß. Nur die Nonnen mochte sie; den Ursulinen der Stadt brachte sie jeden Sonnabend Geschenke, und die Oberin, die ihr geduldig und besorgt zuhörte, überschwemmte sie mit ihren Bekenntnissen. Die Männer, erzählte Karola der Oberin, könnten einfach nicht ohne sie leben. Sie könne nichts dafür und wolle es auch nicht. Die Männer, jeder Mann, hätten eine persönliche Angelegenheit mit Karola, während der Arbeit, wenn sie einen Turm bauten oder gerade jemanden zum Tode verurteilten, würden sie plötzlich unruhig, weil sie auf der Erde lebe, Karola, gerade sie, gerade hier in ihrer Nähe lebe. Die Oberin mahnte sie zur Bescheidenheit. Karola versicherte, sie sei bescheiden. Sie gebe sich mit Tee und trockenem Brot zufrieden; sie, Karola, würde ganz bescheiden und am liebsten nackt den lieben langen Tag in ihrem Zimmer sitzen und in unanständigen Bildbänden blättern oder mit altmodischen Schmuckstücken spielen. Die Oberin seufzte. Von den Männern sprach Karola, als wären sie eine große Prüfung, die Gott ihr wegen ihrer Sünden auferlegt hatte, als wären sie eine der sieben ägyptischen Plagen, die Heuschrecken oder die Nacht. Die Männer brachen über sie herein wie das Verderben. Manchmal kreischte La und fuchtelte herum, wehrte sich gegen sie. Schielend kreischte sie wie in irrsinniger, schiefer und verzerrter Ekstase.

»Du bist ein gutes und einfaches Mädchen«, sagte die Oberin, »dein Vater war Zimmermann. Warum treibst du Späße? … Der Pflegevater unseres lieben Herrn Jesus war auch Zimmermann. Du bist ein Kind des Volkes, du bist nah an der Krippe geboren. Beruhige dich, liebes Kind. Jeder Mann hat etwas von einem Tier, aber sie haben auch etwas Sanftes und Kindliches. Die Leidenschaft hat Gott den Menschen gegeben. Ertrage sie, denn das ist dein Schicksal.«

Karola weinte, küsste der Oberin die Hand, saß ihr schniefend zu Füßen, gab sich theatralisch kindlich und hilflos. Die Oberin duldete es, weil sie spürte, dass Karola rein war. Selbst wenn man sie eines Tages gefesselt oder mit verstümmeltem Leib tot in einer Spelunke gefunden hätte, wäre sie trotzdem rein, denn nicht die Absicht hatte sie in die Gefahren der Welt gejagt, sondern der Zwang des Dienstes. Karola hatte einen Dienst unter den Menschen.

Auch Péter hatte das Gefühl, dass Karola rein war. Manchmal verschwand sie für einige Tage, dann kam sie durchgeweicht und zerzaust nach Hause zurück, mit schwarzen Schatten unter den Augen und blauen und grünen Flecken am ganzen Körper, aus einem widerwärtigen und primitiven Kampf. Sie legte sich ins Bett wie eine Schwerkranke, drückte Péter die Hand, er musste ihr Kamillentee kochen, ihr Umschläge machen und die Wunden eincremen. Einmal wurde sie ins Wachzimmer gebracht und verprügelt, weil sie sich den Söldnern widersetzt und den Statthalter und den Erzbischof beschimpft hatte. Als hätte sie in einer wilden, einsilbigen, primitiven Sprache gesprochen, die nur einige Forscher verstehen. Sie sprach die Sprache eines vergessenen wilden Stammes. Irgendwo lebten die Frauen wie ein Stamm, die echten Frauen, die wilden. Sie hatten warme, braune Körper, die Brüste schmückten sie mit Blumenkränzen, sie saßen den lieben langen Tag am Meeresstrand und warteten auf die Männer, den Sturm, den Sonnenschein, sie sangen eintönige und klagende, psalmenartige Melodien wie orientalische Priester. In der Sprache dieses Stammes redete Karola. Die Liebe war für sie nicht nur Umarmung und Sehnsucht, nicht nur Traurigkeit und schielende Koketterie, sondern eine ständige, rituelle Bereitschaft, wie für die Frauen in den antiken orientalischen Tempeln, die sich der Göttin geweiht hatten.

Emmánuel verachtete Karola, er nannte sie »Dirne« und gab ihr nicht die Hand. La hatte Mitleid mit Emmánuel und fürchtete sich vor ihm. »Eines Tages wird er kommen«, sagte sie zu Péter, »und betteln. Hier im Zimmer wird er knien, sein Bart wird nass sein von Tränen, von Tränen und Rotz. Aber es kann sein, dass es dann schon zu spät ist und ich ihm nicht mehr helfen kann.« Karola sprach ihre wilde Stammessprache mit bayrischem Dialekt. Die Männer schnalzten, wenn sie sie sahen. Sie war das »gute Kind«, das sinnliche Abenteuer mit dem Silberblick. Aber Péter wusste schon, dass es gefährlich war, das Material dieses »einfachen Abenteuers« mit der Glut der Leidenschaft zu wärmen, weil es dann explodierte. Jetzt, als er zu La zurückging, weil inzwischen »etwas geschehen« war – er hatte einen Brief gelesen, etwas erfahren, und die Nachricht wirkte in diesem Augenblick noch so auf ihn wie ein kindisches, schreckliches Traumbild, als hätte er in der Zeitung gelesen, dass sich in Japan ein Erdbeben ereignet habe und dreihunderttausend Menschen umgekommen seien –, hatte er plötzlich das Gefühl, La sei das einzige Wesen auf der Welt, das diese Nachricht in persönlichen Schmerz verwandeln konnte. Den Tod des Vaters konnte man weder auffassen noch mitempfinden. La war die Einzige, die Péter die Freude und den Schmerz geben konnte, die aus dem gleichgültigen Material des Lebens ein persönliches Konzentrat zusammenrühren konnte; ansonsten war für Péter alles so geschmacklos und unbekannt wie eine Konserve oder wie die Bilder im Kino oder die Nachrichten in den Zeitungen, bei deren Lektüre man die umgekommenen Japaner bemitleidete, dann aber weiterblätterte und um Sahne für den Tee bat. La war das einzige Wesen, in dessen Gesellschaft Péter Worte zu sagen wagte wie »Morgen gehe ich zur Pediküre und lasse mir die Nägel schneiden« oder »Ich mag Debussy nicht, er langweilt mich« oder »Bleib im Unterkleid«. La musterte alles, was zu Péter gehörte: ein Gefühl, ein Wort, eine Sehnsucht oder einen Schmerz, und durch die Wärme ihrer Hände und ihres Atems löste sich alles wunderbar auf, wurde persönlich und wohlschmeckend. Péter kannte den Schmerz nicht. Jetzt ging er zu La, mit der Nachricht vom Sterben des Vaters, wie man eine ceylonesische Blumenzwiebel als Geschenk mitbringt, eine exotische Zwiebel, die man per Post erhalten hat und jetzt in eine schwache Lösung legen muss, damit sich die Blüte öffnet; innerhalb von Augenblicken wächst sie zu voller Höhe, ihre Farbe und ihr Duft entfalten sich. Nur La verstand sich darauf. Auch auf die Freude und auf die Langeweile verstand sich nur La. In ihrer Gesellschaft langweilte sich Péter, wie sich ein schlecht bezahlter Zeichner an einem Wochentagsabend in Gesellschaft seiner Geliebten, einer jungen Friseurin, langweilen mag, wenn sie einander schon geliebt haben, zerzaust auf dem Sofa sitzen und gähnen und das Geld nicht fürs Kino reicht. Auch die Langeweile war bei La wirklich und spürbar. Zu Hause und im Geschäft lebte Péter in einer anderen Art von Langeweile, sie war ätherischer und idealer; diese andere Langeweile hatte keinen Geschmack und keinen Geruch, die Dienstboten putzten sie jeden Morgen und wuschen sie mit Salmiakgeist ab, sie war ganz hell und farblos. In Las Gesellschaft begann die Langeweile zu glühen wie in einem Löwenkäfig.

Zu dieser Stunde war die Straße leer; die Menschen in den Büros, vor den Spiegeln der Waschnischen, feuchteten Kämme an und glätteten sich die Haare, die Frauen rieben sich den Leib mit Duftwassern ein und eilten zum Rendezvous, die Mütter nähten beim Nachmittagskaffee, die Ellbogen auf den wachstuchbedeckten Tisch gestützt, sie wiederholten mit ihren Kindern unverständliche Lateinlektionen und beugten schwierige Verben. Péter eilte die vertraute Straße entlang und brachte den Schmerz zu La, als wäre er ein Text mit unbekannter Schrift, den er gerade entdeckt hatte und für den es nur einen einzigen Sachverständigen in der Stadt gab, der seinen Sinn herausbekommen konnte. Als hätte Anna ihren Brief in Keilschrift oder Hieroglyphen geschrieben. Die Nachricht war von so weit hergekommen wie die Nachricht von einer historischen Entdeckung, von einer besonders blutigen antiken Schlacht, die sich vor Jahrtausenden zugetragen hatte, einer Schlacht voller Verwundeter, Heldentaten, Intrigen und Triumphzüge, in der vielleicht einer unserer Vorfahren gekämpft hat, vor schrecklich langer Zeit, noch vor unserer Kindheit; vielleicht trug er einen Spitzbart und eine blaue Tunika, seine Stirn war mit einem Goldreifen umkränzt, und er marschierte überheblich und mit finsterer Miene im Triumphzug mit. Über diesen Vorfahren war jetzt eine Nachricht angekommen. Inzwischen sind wir erwachsen geworden, Voltaire hat seine Bücher geschrieben, die Menschen haben fliegen gelernt, sie tragen weiche Seidenhemden, Péter hatte Edit kennengelernt, aber die Nachricht war erst jetzt bei ihm angekommen. Nun war er gezwungen, um etwas zu trauern, das schon lange zerstört war, aber auf wundersame Weise erst jetzt zu einem wirklichen und zeitgemäßen Schmerz für ihn wurde. Er ging an dem Palais vorbei, über dessen Tor goldene Buchstaben auf schwarzer Glastafel Emmánuels Namen verkündeten. Der Pförter hob die Hand an den Mützenschirm und salutierte stramm. Dem Pförtner würde ich es vergeblich sagen, dachte Péter. Jetzt, angesichts dieses Bekannten, bemerkte er zum ersten Mal, dass der Inhalt, der wahre Sinn der Nachricht, nicht mitteilbar war. Etwas war geschehen, das man der Welt nur in Traueranzeigen und rituell übergeben konnte; die Menschen würden nicken und Telegramme und Blumensträuße schicken. Niemand würde den Inhalt dieser Nachricht in seine wirkliche Bedeutung übersetzen können, würde es vielleicht auch nicht wagen. Wenn Péter bisher das Wort »Schmerz« ausgesprochen hatte, hatte er immer ein Schlachtfeld vor sich gesehen, Verwundete, die auf dem Bauch lagen und stöhnten und wimmerten, oder ein einsames Tier, das sich in den Straßen einer Großstadt verirrt hatte, oder eine schwarz gekleidete Frau an einem Fenster oder ein Kind, das vergeblich darauf wartete, dass es im dunklen Zimmer zu dämmern beginnt, und nicht zu rufen wagt. Jetzt war es, als hätte er in einem Wörterbuch endlich die wirkliche Bedeutung des fremden Wortes entdeckt, und er sah sich erstaunt um.

Las Zimmer war leer. Auf dem Boden der Badewanne hafteten noch ein paar Wassertropfen und die duftend-schmierige Schicht des Badesalzes. Er schloss die Tür ab, blieb in dem leeren, dunklen Zimmer stehen und horchte. In der Schlafkammer schrillte der Fernsprecher wie eine Alarmglocke. Raubvögel kreischen so, wenn sie in Gefahr sind. Er ging in die Schlafkammer, nahm mit zwei Fingern, angewidert, wie man etwas Unreines berührt, den Hörer ab und hielt ihn sich ans Ohr.

»Hallo«, sagte eine Männerstimme. »La? Bitte! Hallo!« Dann, verzweifelt, mit kindischem Beharren: »Hallo, hallo. Wer ist da? Hallo, bitte!«

Péter hielt den Atem an. Kann man einen Mann am Takt seiner Atmung erkennen? Péter wusste es nicht, aber ihm tat der Fremde leid, der jetzt da drüben aufstampfte, irgendwo am anderen Ende der Welt, in einem Zimmer oder auf der Straße, in einer öffentlichen Telefonzelle voller Bakterien und Reklamezettel, die sauer nach Atem roch. Einen Augenblick überlegte er, ob er mit ihm sprechen sollte. »La ist fortgegangen«, könnte er sagen. »Bitte beruhigen Sie sich. Sie wird wiederkommen. Am besten rufen Sie nachts an, da bin ich nie hier.« Die Stimme des Mannes war fordernd, als glaubte er trotzig, Rechte zu besitzen. Es war eine selbstgefällige und traurige Stimme, die Stimme eines einsamen Menschen, der schrecklich gekränkt ist, wenn die Welt nicht sofort vollkommen bereitwillig auf seinen Anruf reagiert. La kann doch nicht ewig auf ihn warten, dachte Péter entschuldigend. Vorhin war sie noch mit mir zusammen, dann ist sie fortgegangen. Sicher wird sie von anderen gebraucht wie ein hervorragender Arzt. Jeder kommt an die Reihe. Er atmete sehr leise. Der andere hatte jetzt begriffen, dass jemand am Ende des unsichtbaren Drahtes stand, dass die feine Drahtleitung sie beide in diesem Augenblick aneinanderkettete wie Handschellen Gefangene einer Razzia, und sie starrten einander im Dunkel an, spürten den Atem des anderen. Diese körperliche Gemeinschaft mit einem Fremden, der La vielleicht in ebenso einer Gefahr angerufen hatte wie Péter, diese Vertrautheit, die unverhohlene Innerlichkeit der fremden Stimme rührte ihn. Er hätte gern helfen mögen. Im Dunkel und in der Unbekanntheit stand ein Mann und rief La an, so ungeduldig trappelnd und quengelig wie ein krankes Kind seine Mutter. Die Stimme war heiß und verschleiert. Dem Atem entströmte ein milder, orientalischer Tabakgeruch. Eine gepflegte Stimme, dachte Péter traurig, dieser Mensch kann ganz leise sprechen und sieht den Nachbarn nicht an, wenn er etwas Grausames sagt, ein Wort, das ein fremdes Leben tief verwundet. Er konnte ihm nicht sagen, er solle den Hörer auflegen, weil La fortgegangen war, wahrscheinlich zu einem anderen Mann, der sie genauso dringend gerufen hatte, mit allerlei Lügen, als wäre er in äußerster Gefahr. Er konnte ihm nicht sagen, dass La durch die Welt ging wie eine barmherzige Schwester übers Schlachtfeld zwischen den Verwundeten. Er konnte nicht sagen, dass er, Péter, den Telefonhörer in der Hand hielt und den Atem eines Fremden belauschte, das leichte, zerrissene Geräusch und Pfeifen einer fremden Männerlunge witterte wie ein Kranker, der sich versehentlich ins Sprechzimmer des Arztes verirrt hat und vor Langeweile mit den Befunden und dem Hörrohr zu spielen beginnt. Er konnte ihm nicht sagen, dass auch er gerade La suchte, diese gewisse La, die im Telefonbuch die und die Nummer hatte und vorhin noch hier mit ihm im Bett lag. Und er konnte nicht erzählen, dass er gerade einen Brief von Anna bekommen hatte, dass man ihm mit der Luftpost eine Nachricht geschickt hatte, deren Inhalt und Schmerz er jetzt La übergeben wollte, damit sie ihn gemeinsam enträtselten und ins Reine schrieben wie einen Fund aus dem Altertum. Nichts konnte er dem fremden Mann sagen. Deshalb schwieg er.

Der Fremde wusste bereits, dass ein Mann am Ende des Drahtes stand, in Las Zimmer; erschrocken und gekränkt verstummte er. Er wartete mit dem gemeinen, feigen und unentschlossenen Schweigen, mit dem einige Tiere sich im Augenblick der Gefahr zu Boden werfen und sich totstellen, in gespielter Lähmung verharren, bis der Jäger oder das Unglück weitergezogen ist. La betrog oft mit dem Telefon; manchmal bedeckte sie gerade Péters Augen mit kühlen, nach Kamillentee schmeckenden Küssen, wenn das Gerät klingelte. Dann streckte sie nachlässig die Hand nach dem Hörer aus und log beiläufig und mechanisch. »Falsch verbunden!«, sagte sie und legte auf, oder sie begann ein unerwartetes, manchmal unterhaltsames und spannendes Gespräch mit einer nicht existierenden Freundin, redete über Kleider oder alltägliche Begegnungen. Péter wusste, dass am anderen Ende der Leitung nicht eine Freundin stand, sondern ein Mann, der zur Unzeit angerufen hatte. Und manchmal nahm Péter den Hörer ab, ließ seine Stimme hören und wartete auf die Antwort, aber lächerlicherweise antwortete niemand, der kleinlaut gewordene Mann am anderen Ende schwieg, er wartete, bis Péter vom Hallorufen genug hatte und auflegte. Einige Sekunden später klingelte das Gerät fein und spöttisch noch einmal, sehr leise, es gab gerade nur einen Ton von sich zum Zeichen dafür, dass der Aufdringliche dem Fallstrick entkommen war, Péter überschwiegen hatte und nun gleichsam auf Zehenspitzen aus dem Zimmer ging, hinaus aus dem unbeholfenen Abenteuer. In diesen Augenblicken warteten sie zufrieden auf den verräterischen Abschiedston des Geräts, La lachte leise, ging mit gesenktem Kopf im Zimmer umher, zuckte mit den Schultern, wie um zu sagen, sie könne ja nichts dafür, dass man das Telefon erfunden hatte und die Männer. Für all das konnte La nichts. Ratlos lächelnd sah sie sich um. Man musste ihr verzeihen. Den fremden Mann langweilten jetzt das Versteckspiel und das Schweigen, er legte auf und ging zögernd hinaus in die Welt. Péter blieb allein in Las Zimmer und sah sich um.

Der Tatort

Dieses Zimmer war ein Teil seines Lebens. Noch nie war er allein hiergeblieben. Jetzt überraschte ihn die Unordnung. La war fortgegangen, als wolle sie von einem Tatort flüchten. Das Bett hatte sie nicht gemacht, in den Kissen zeichnete sich die Form eines menschlichen Rückens ab, gleichsam in der Sandform, wie bei Gipsabgüssen von verletzten Gliedern, die die Ärzte anfertigen. Diese Vertiefung hatte Las Schulter ins Kissen gedrückt. Mit vorsichtigen Fingern, als fürchtete er, das sensible Gleichgewicht eines sehr zarten Kunstwerks zu zerstören, berührte Péter das Muster. Mit den Fingerspitzen folgte er den Linien von Las Schulter und Rücken. Das Kissen und die Seidendecke lagen in tragischer Unordnung auf dem Bett wie Brocken und Splitter einer zerbrochenen weißen Marmorstatue, mit der schrecklichen Willkür von Gegenständen, und kündeten von dem Kunstwerk, dessen Teile sie einst gewesen waren. Dieses Kunstwerk war infolge eines barbarischen, klirrenden Unglücks in tausend Stücke zersprungen. Er betrachtete die Kissen, die Bettdecke, das feine, spitzenbesetzte Kopfkissen, das La mit einer willkürlichen und selbstvergessenen Bewegung aus dem Bett geschleudert hatte, und fühlte sich für einen Augenblick wie in der afrikanischen Wüste, in einer ausgegrabenen Stadt, wo bei sechzig Grad und cremeschwitzendem Sonnenschein die Stückchen einer heidnischen und unanständigen altertümlichen Statue zusammengesetzt werden. Diese Statue mochte ursprünglich den Titel »Sehnsucht« oder »Aphrodite« oder »Lust« getragen haben. Es war eine erhabene und banale Statue, erschreckend und schamlos. Das Bett war noch voll von dem Duft von Las Körper, mit dem Abdruck ihrer Bewegungen und mit allem, was sie um sich herum weggeworfen hatte, als sie liebte. Péter begriff, dass La von hier geflohen war wie ein Attentäter. Hier konnte man nicht mehr »Ordnung machen«. Nur verkommene Frauen richten nachher das Bett, ziehen die Bettdecke zurecht, lüften und gießen heuchlerisch frisches Wasser in die Blumenvase. Mit diesen Bewegungen kehren sie gleichsam aus dem gräulichen Abenteuer der Liebe in die bürgerliche Ordnung zurück, als käme jemand aus dem Kongo, wo er Nashörner und Menschen getötet hat, am Abend nach Hause in eine europäische Stadt und ginge mit unschuldigem Lächeln sofort ans Großreinemachen oder Einkochen. La war von hier fortgegangen und hatte alles so zurückgelassen, wie es sein musste und sich ergeben hatte, weil sie nicht anders handeln konnte. Péter verstand, dass La Zeit brauchte, bis sie wieder hierher zurückkommen konnte. Vielleicht hatte ein Mann sie gerufen, irgendwo in der Stadt, aber vielleicht saß sie jetzt auch im Kino und ließ sich im Dunkel von der mechanischen Musik umspülen, oder sie ging allein am Ufer des Sees spazieren und genoss, dass Abend und Wind sie wiegten, und wartete darauf, dass in ihr etwas stürbe, die Sehnsucht oder die Erinnerung