Alexandre Dumas der Jüngere
Die Kameliendame
Roman
Aus dem Französischen von Otto Flake
Fischer e-books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Abbildung: Szenenfoto aus dem gleichnamigen Film ©M.G.M / Album / akg-images
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401880-5
Hier ist wohl zu ergänzen: oder sie verlieren, und dann hat man erst recht das Nachsehen (d. Übersetzer).
Ich bin der Meinung, daß man Gestalten nur schaffen kann, wenn man die Menschen lange ergründet hat, ebenso wie man eine Sprache nur unter der Bedingung beherrscht, daß man sie ernsthaft erlernte.
Da ich noch nicht in dem Alter stehe, in dem man erfindet, begnüge ich mich damit, einfach zu erzählen. Ich bitte also den Leser, von der Wirklichkeit dieser Geschichte überzeugt zu sein: alle ihre Personen, mit Ausnahme der Heldin selbst, sind noch am Leben.
Außerdem gibt es in Paris Gewährsleute für die Mehrzahl der Vorkommnisse, die ich hier zusammenstelle: sollte meine eigene Aussage nicht genügen, so könnten sie alles bestätigen. Ein besonderer Umstand hat bewirkt, daß ich allein die Tatsachen niederschreiben konnte, denn ich allein war Zeuge der letzten Einzelheiten, ohne die es unmöglich gewesen wäre, einen vollgültigen Bericht zu geben.
Ich will nun erzählen, wie diese Einzelheiten zu meiner Kenntnis gelangt sind. Am 12. März 1847 las ich in der Rue Lafitte ein großes, gelbes Plakat, das eine Versteigerung von Möbeln und zahlreichen Luxusgegenständen ankündigte. Es war eine sogenannte Versteigerung infolge Todesfalls. Das Plakat erwähnte nicht den verstorbenen Eigentümer, wohl aber, daß der Verkauf in Nr. 9 der Rue d’Antin am 16. von zwölf bis fünf Uhr stattfinden werde. Außerdem wurde die Angabe gemacht, daß man am 13. und 14. Wohnung und Möbel besichtigen konnte.
Ich bin immer ein Liebhaber dieser reizvollen Dinge gewesen. Ich nahm mir vor, die Gelegenheit nicht zu versäumen und, wenn ich auch nichts kaufen sollte, doch wenigstens alles anzusehn.
Am nächsten Tag begab ich mich in die Rue d’Antin Nr. 9.
Es war noch früh, gleichwohl bewegten sich schon einige Besucher durch die Wohnung – auch Besucherinnen, welch letztere, obwohl sie in Samt gekleidet waren, Kaschmirschals trugen und vor der Tür von ihren eleganten Kupees erwartet wurden, doch voll Staunen, ja sogar voll Bewunderung den Luxus betrachteten, der sich vor ihren Augen ausbreitete.
Ich verstand bald Bewunderung und Erstaunen, denn sobald ich selbst mit der Prüfung begonnen hatte, erkannte ich ohne weiteres, daß ich mich in der Wohnung einer ausgehaltenen Frau befand, und wenn es etwas gibt, das die Damen von Welt zu sehen wünschen, und es waren Damen der Welt da, so ist es das Interieur solcher Mädchen, deren Kutschen täglich ihre eignen streifen und bespritzen, die wie sie selbst und Seite an Seite mit ihnen ihre Loge in der Großen und in der Italienischen Oper haben und, in Paris wenigstens, durch ihre Schönheit, ihre Diamanten und ihre Skandale die Aufmerksamkeit aller herausfordern.
Die Frau, bei der ich mich befand, war tot: nichts hinderte darum selbst die tugendhaftesten Damen, bis in ihr Schlafzimmer vorzudringen. Der Tod hatte die Luft eines Raumes gereinigt, der vielleicht nur eine glänzende Kloake gewesen war, und im übrigen konnten die Damen sich im Notfall immer damit entschuldigen, daß sie zu einer Versteigerung kamen, ohne zu wissen, bei wem sie sich eigentlich aufhielten. Sie hatten Plakate gelesen, sie konnten einfach das besichtigen, was diese Plakate versprachen, und ihre Wahl im voraus treffen wollen – nichts war einfacher. Das hielt sie nicht ab, inmitten so vieler Kostbarkeiten den Spuren eines Kurtisanenlebens nachzugehen, von dem man ihnen ohne Zweifel die merkwürdigsten Dinge erzählt hatte.
Leider waren die Geheimnisse mit der Nymphe gestorben, und trotz allen guten Willens kamen die Damen nicht auf ihre Kosten: sie sahen nur das, was nach dem Todesfall zum Verkauf bestimmt, aber nichts von dem, was zu Lebzeiten der Besitzerin käuflich gewesen war.
Im übrigen gab es noch immer genug, was zum Kauf verlocken konnte. Das Mobiliar war prachtvoll. Möbel aus Rosenholz und von Boulle, Sèvres- und Chinavasen, Statuetten aus sächsischem Porzellan, Seide, Samt und Spitzen, nichts fehlte.
Ich schlenderte durch die Zimmer und folgte den vornehmen und so neugierigen Besucherinnen, die schon vor mir den Rundgang begonnen hatten. Sie traten in ein Schlafzimmer, das mit persischen Stoffen bespannt war, und ich schickte mich ebenfalls an, hineinzugehen, da verließen sie es beinahe im selben Augenblick schon wieder, lachend und so, als ob sie vor der Befriedigung dieser letzten Neugierde zurückscheuten. Mein Wunsch, gerade dieses Zimmer zu betreten, wuchs nur dadurch. Es war das Toilettenzimmer und enthielt noch vollständig bis in alle Einzelheiten die Einrichtung, die ein Beweis für die äußerste Verschwendungssucht der Toten war.
Auf einem großen an der Wand stehenden Tisch, der drei Fuß breit und sechs lang war, glänzten alle Wunderwerke von Aucoc und Odiot. Es war die großartigste Sammlung, die man sich denken kann; jeder der tausend Gegenstände, die bei der Toilette einer Frau, wie der, bei der wir uns befanden, notwendig waren, bestand aus Gold oder Silber. Eine solche Sammlung hatte nur nach und nach angelegt werden können, und es war mehr als ein Liebhaber nötig gewesen, um sie zu solcher Vollständigkeit zu bringen.
Ich, der beim Anblick des Toilettenzimmers einer ausgehaltenen Frau nicht in Erregung geriet, vergnügte mich damit, jede Einzelheit, welcher Art sie auch sein mochte, ins Auge zu fassen, und ich machte die Beobachtung, daß alle die prachtvoll ziselierten Gegenstände ungleiche Initialen und verschiedene Kronen trugen.
Mein Blick verweilte bei Dingen, deren jedes eine neue Prostitution des armen Geschöpfes darstellte, und ich sagte mir, daß Gott mild zu ihr gewesen war, da er nicht erlaubt hatte, daß sie den Weg bis zu seinem bittren Ende ging, sondern sie im vollen Luxus und inmitten ihrer Schönheit hatte sterben lassen, bevor das Alter kam, dieser erste Tod der Kurtisanen.
Ist etwas trauriger anzusehn, als das Altern des Lasters, zumal bei einer Frau? Es versagt ihr jede Würde und flößt nicht die geringste Anteilnahme ein. Die ewige Reue, die sie empfindet – weniger über den schlechten Lebenswandel, den sie einschlug, als über falsche Berechnungen und schlecht angewandtes Geld – ist eines der niederziehendsten Schauspiele, die man erleben kann. Ich kannte eine solche altgewordene galante Frau: von ihrer Vergangenheit blieb ihr nichts als eine Tochter, die beinahe ebenso schön war wie ehemals, nach Aussagen ihrer Zeitgenossen, die Mutter. Das arme Kind, dem seine Mutter nie aus einem anderen Grunde gesagt hatte: »Du bist meine Tochter«, als um zu verlangen, daß es für ihre alten Tage auf dieselbe Weise aufkam, wie sie für seine Kindheit aufgekommen war – dieses arme Geschöpf hieß Louise und überließ sich den Männern, wie die Mutter es befahl, ohne Willen, ohne Leidenschaft, ohne Vergnügen, genau so wie sie irgendeinen Beruf ausgeübt haben würde, wenn man daran gedacht hätte, sie einen Beruf lernen zu lassen.
Der fortwährende Anblick des Lasters, eines vorzeitigen und durch den andauernd krankhaften Zustand des Mädchens genährten Lasters, hatten in ihr die Erkenntnis des Bösen und des Guten erstickt: Gott hatte ihr diese Erkenntnis vielleicht gegeben, aber es war niemand eingefallen, sie zur Entwicklung zu bringen.
Immer werde ich mich an dieses junge Mädchen erinnern, das beinahe täglich, zur gleichen Stunde, über die Boulevards ging, von seiner Mutter mit derselben Ausdauer begleitet, mit der eine wirkliche Mutter ihre wirkliche Tochter begleitet hätte. Ich war damals sehr jung und vollständig bereit, für meine Person die leichte Moral meines Jahrhunderts anzunehmen; und doch weiß ich noch heute, wie viel Verachtung und Ekel mir der Anblick einer so schimpflichen Überwachung verursachte.
Dabei muß man bedenken, daß kein jungfräuliches Gesicht eine stärkere Empfindung von Unschuld und Leid hätte vermitteln können. Sie war wie das Sinnbild der duldenden Unterordnung selbst.
Eines Tages trat auf das Gesicht des Mädchens Helle. Inmitten der Ausschweifungen, deren Leitung in den Händen der Mutter lag, schien es der armen Sünderin, daß Gott ihr ein Glück erlaubte. Und in der Tat, warum hätte Gott, der sie ohne Widerstandskraft geschaffen hatte, sie unter der schmerzlichen Bürde eines Lebens ohne Trost erliegen lassen sollen? An jenem Tag bemerkte sie, daß sie schwanger ging, und alles, was an ihr noch keusch geblieben war, bebte vor Freude. Die Seele hat seltsame Schlupfwinkel. Louise stürzte zu ihrer Mutter, um ihr eine Nachricht anzukündigen, die sie mit Freude erfüllte. Wir erzählen hier nicht zur Unterhaltung vom Laster, wir erzählen eine wahre Tatsache, die wir vielleicht verschwiegen hätten, wenn wir nicht glaubten, daß es von Zeit zu Zeit gut ist, den Lebensweg von Geschöpfen zu enthüllen, die man verdammt, ohne sie anzuhören, und verachtet, ohne ihnen ein unparteiischer Richter gewesen zu sein. Es ist beschämend, sagen zu müssen, daß die Mutter dem Kind antwortete, sie hätten schon nicht zuviel für zwei und nicht genug für drei, solche Kinder seien unnötig, und eine Schwangerschaft bedeute nur verlorene Zeit.
Am nächsten Tag besuchte eine Hebamme, die wir nur als Freundin der Mutter einführen wollen, Louise. Louise blieb ein paar Tage im Bett und war, als sie aufstand, blasser und schwächer als zuvor.
Drei Monate später wurde ein Mann von Mitleid zu dem Mädchen erfaßt und übernahm seine seelische und körperliche Heilung; aber die letzte Erschütterung war zu heftig gewesen, und Louise starb an den Folgen der Fehlgeburt. Die Mutter lebt noch – wie, das mag Gott wissen.
Diese Geschichte war mir in den Sinn gekommen, während ich die silbernen Toilettegegenstände betrachtete, und während meiner Überlegungen konnte wohl einige Zeit verflossen sein, denn in der Wohnung waren nur noch ich und ein Wärter, der von der Tür aus aufmerksam darüber wachte, daß ich nichts entwendete.
Ich trat auf den guten Mann zu, dem ich so schwere Bedenken einflößte.
– Mein Lieber, sprach ich, könnten Sie mir sagen, wer hier gewohnt hat?
– Fräulein Marguerite Gautier.
Ich kannte das Mädchen dem Namen nach und vom Sehen.
– Wie, rief ich aus, Marguerite Gautier ist tot?
– Ja, mein Herr.
– Wann starb sie?
– Es mögen wohl drei Wochen her sein.
– Und wie kommt es, daß die Wohnung zur Besichtigung frei steht?
– Weil die Gläubiger meinen, daß das der Versteigerung zugute kommt. Die Leute können im voraus sehen, wie die Stoffe und Möbel sich ausnehmen, das ermutigt natürlich zum Kaufen.
– Sie hatte also Schulden?
– Ja, in großer Menge.
– Aber die Versteigerung wird sie decken?
– Das, und noch mehr.
– Wem kommt dann der Überschuß zu?
– Ihrer Familie.
– Sie hatte Angehörige?
– Wie es scheint.
– Besten Dank.
Der Wächter war über meine guten Absichten beruhigt: und grüßte, ich ging.
Armes Mädchen, sagte ich mir auf dem Heimweg, ihr Tod ist wohl traurig genug gewesen, denn in ihrer Welt hat man nur Freunde, wenn es einem gut geht. Und wider meinen Willen überließ ich mich dem Mitleid über das Schicksal Marguerite Gautiers.
Vielen wird es lächerlich erscheinen, aber ich habe eine unerschöpfliche Nachsicht für diejenigen, die man Freudenmädchen nennt, und gebe mir nicht einmal die Mühe, solche Nachsicht zu rechtfertigen.
Einmal, als ich zur Präfektur ging, um mir einen Paß zu holen, sah ich in einer der anliegenden Straßen, daß eine dieser Frauen von zwei Gendarmen fortgeführt wurde.
Ich weiß nicht, was sie getan hatte; alles was ich sagen kann, ist, daß sie heiße Tränen weinte, während sie ein Kind von wenigen Monaten umarmte, von dem sie sich trennen mußte. Seit diesem Tage bekam ich es nicht mehr über mich, eine Frau auf den ersten Blick zu mißachten.
Die Versteigerung war auf den 16. angesetzt.
Zwischen den Besichtigungstagen und der Versteigerung hatte man einen Tag eingeschoben, um den Handwerkern Zeit zu lassen, die Bespannungen, Vorhänge usw. abzunehmen.
Ich war damals gerade von einer Reise zurückgekehrt. Es ließ sich verstehen, daß der Tod Marguerites nicht unter den Ereignissen erwähnt worden war, die man immer erfährt, wenn man in die Hauptstadt der Neuigkeiten zurückkehrt. Marguerite war hübsch; aber so viel Aufsehen das Leben dieser vielbeachteten Damen erregt, ihr Tod erregt fast gar keines. Sie erinnern an jene Tage, an denen die Sonne untergeht, wie sie sich erhoben hat – glanzlos. Sterben sie jung, so erfahren alle Liebhaber auf einmal ihren Tod, denn in Paris stehen fast alle Liebhaber einer Frau in ständiger Verbindung. Man tauscht ein paar Erinnerungen an sie aus, dann nimmt das Leben der einen wie der andern seinen Fortgang, und man läßt sich so wenig stören, daß man ihr nicht einmal eine Träne weiht.
Heutzutage sind Tränen bei einem fünfundzwanzigjährigen Menschen etwas so seltenes, daß man sie nicht für die erste Beste bereit hat. Es ist schon viel, wenn man Verwandte beweint, die einen Preis dafür zahlen, daß es geschieht.
Was mich betrifft, so befand sich zwar mein Namenszug auf keinem der Gegenstände, die Marguerite gehört hatten, aber die gefühlsmäßige Nachsicht und das natürliche Mitleid, das ich vorhin eingestand, bewirkten, daß ich an ihren Tod länger dachte, als sie vielleicht verdient hatte.
Ich erinnerte mich, Marguerite sehr oft in den Champs-Elysées getroffen zu haben, in denen sie sich gewohnheitsmäßig, täglich, in einem kleinen, blau ausgeschlagenen, von zwei prachtvollen Braunen bespannten Kupee gezeigt hatte. Und immer war mir an ihr eine Vornehmheit der Erscheinung aufgefallen, die bei Frauen ihresgleichen sehr ungewöhnlich war – eine Vornehmheit, die noch durch eine Schönheit ungewöhnlichster Art erhöht wurde.
Diese unglücklichen Geschöpfe werden beim Ausgang immer begleitet, nur weiß man nicht von wem.
Da kein Mann bereit ist, vor der Öffentlichkeit die nächtlichen Beziehungen, die er mit ihnen unterhält, auszubreiten, und da sie selbst ein Grauen vor der Einsamkeit haben, so wählen sie sich Gefährtinnen, die entweder weniger glücklich als sie sind und keinen Wagen besitzen, oder zu jenen übereleganten Alten gehören, deren Eleganz durch nichts gerechtfertigt wird und an die man sich ohne Bedenken wenden kann, wenn man irgendeine Auskunft über ihren Schützling erhalten will.
Bei Marguerite war es anders. Sie kam immer allein in die Champs-Elysées und blieb im Wagen so unauffällig wie möglich: im Winter in einen großen Kaschmirschal eingehüllt, im Sommer in einem einfachen Kleid; und obwohl sie auf ihrem Lieblingsweg viele Bekannte traf, lächelte sie ihnen, wenn sie es überhaupt tat, so zu, daß der Gruß für andere nicht bemerkbar war: eine Herzogin hätte so lächeln können.
Sie erging sich nicht vom Rond-Point bis zum Eingang der Champs-Elysées, wie es alle ihre Gefährtinnen tun und taten. Ihre beiden Pferde führten sie im Flug nach dem Bois. Dort verließ sie den Wagen, ging eine Stunde zu Fuß, stieg wieder ein und fuhr in raschem Trab nach Hause.
Alle diese Umstände, die ich hier und da selbst beobachtet hatte, zogen noch einmal vor meinem geistigen Auge vorüber, und ich bedauerte den Tod dieser Frau, wie man die unwiderrufliche Zerstörung eines Werkes bedauert, das vollkommen gewesen war.
Es war in der Tat unmöglich, sich eine reizvollere Schönheit als die Marguerites vorzustellen.
Groß und beinah übertrieben schlank, besaß sie im äußersten Maß die Kunst, einen Fehler der Natur verschwinden zu lassen – durch die bloße Anordnung dessen, was sie trug.
Ihr Kaschmir, dessen Spitzen bis zur Erde gingen, gab auf beiden Seiten den breiten Volants ihres Seidenkleides Raum, und die dichten Ärmel, die ihre Hände verbargen und die sie an ihre Brust legte, erzeugten so geschickt geraffte Falten, daß das anspruchsvollste Auge an der Abrundung der Linien nichts auszusetzen hatte.
Der Kopf, ein auserlesenes Kunstwerk, war Gegenstand einer besonders koketten Sorgfalt. Er war ganz klein, und mit Musset hätte ihre Mutter sagen können, sie habe ihn so gemacht, um ihn gut zu machen.
In einem Oval von einer unbeschreiblichen Anmut denke man sich schwarze Augen, über die sich Bogen spannten, die so rein gezeichnet waren, daß man glauben konnte, sie seien mit dem Pinsel gezogen. Über diesen Augen die Schleier großer Wimpern: senkten sie sich, so fiel ein Schatten über den rosigen Hauch der Wangen. Die Nase war fein, gerade, voll geistiger Beweglichkeit, die Nüstern öffneten sich leicht in sinnlicher Erregbarkeit. Dazu ein regelmäßiger Mund, dessen Lippen sich voll Zartheit über Zähnen öffneten, die wie Milch schimmerten, und ein Samtton der Haut, der dem von Pfirsichen gleichkam, die noch von keiner Hand berührt worden sind: das alles vereint, gibt die Gesamtheit ihres liebenswerten Kopfes.
Die Haare waren schwarz wie Jet und wellten sich, sei es von Natur oder durch Kunst, in zwei breiten Bändern über die Stirn geschmiegt und derart nach hinten gezogen, daß sie nur das Ende der Ohren sehen ließen, worin zwei Diamanten glänzten, deren jeder einen Wert von 4 bis 5000 Franken hatte.
Wie war es nur möglich, daß eine so verzehrende Lebensführung dem Gesicht Marguerites den jungfräulichen, ja kindlichen Ausdruck ließ, der ihre Besonderheit ausmachte? Man war gezwungen, ihn festzustellen, ohne ihn verstehn zu können.
Marguerite besaß ein wundervolles Porträt von sich, das Vidal gezeichnet hatte – der einzige Künstler, dessen Stift sie wiederzugeben vermochte. Ich habe nach ihrem Tod dieses Porträt ein paar Tage zu meiner Verfügung gehabt, und es war von einer so erstaunlichen Ähnlichkeit, daß es mir erlaubt hat, die Einzelheiten ihrer Züge zu beschreiben; mein Gedächtnis allein hätte nicht ausgereicht.
Von den Angaben, die ich in diesem Kapitel gemacht habe, sind mir einige erst später zugeflossen, aber ich gebe sie sofort, um nicht auf sie zurückkommen zu müssen, wenn die an Ereignissen so reiche Geschichte Marguerites beginnt.
Marguerite wohnte allen Aufführungen bei und verbrachte alle ihre Abende im Schauspiel oder auf dem Ball. So oft ein neues Stück gespielt wurde, war man sicher, sie zu sehen – mit drei Gegenständen, die sie niemals verließen und stets auf der Brüstung ihrer Loge im Parkett lagen: der Lorgnette, dem Beutelchen mit Süßigkeiten und einem Strauß Kamelien.
An fünfundzwanzig Tagen des Monats waren die Kamelien weiß und an fünf waren sie rot; nie hat man den Grund dieses Wechsels erfahren; ich teilte ihn mit, ohne ihn erklären zu können; er ist nicht mir allein aufgefallen, sondern jedem ständigen Besucher der Theater, in denen sie am häufigsten zu sehen war, und ihren Freunden.
Man hat auch nie an Marguerite andere Blumen als Kamelien bemerkt: darum hatte Madame Barjon, die ihr die Blumen lieferte, sie schließlich die Kameliendame genannt, und dieser Name war ihr geblieben.
Ich wußte außerdem, wie alle, die in Paris in einer bestimmten Welt leben, daß Marguerite die Mätresse der elegantesten jungen Leute gewesen war, da sie es laut zu sagen pflegte und jene sich dessen rühmten – was bewies, daß Liebhaber und Mätresse miteinander zufrieden waren.
Seit drei Jahren jedoch, seit einer Reise nach Bagnères, hieß es, sie lebe nur noch mit einem alten ausländischen Herzog, der ungeheuer reich war und den Versuch gemacht hatte, sie nach Kräften von ihrem früheren Leben loszulösen: sie habe nicht allzu großen Widerstand geleistet oder doch wenigstens sich den Anschein gegeben.
Es sollen nun einige Einzelheiten folgen, die ich darüber erfahren habe.
Im Frühling des Jahres 1842 war Marguerite so schwach und so verändert, daß die Ärzte ihr eine Badekur verordneten und sie nach Bagnères schickten.
Dort befand sich unter den Kranken die Tochter des Herzogs, die nicht nur dieselbe Krankheit, sondern auch dasselbe Gesicht hatte wie Marguerite, derart, daß man sie für zwei Schwestern hätte halten können. Der einzige Unterschied bestand darin, daß die junge Herzogin im dritten Grade der Schwindsucht stand: wenige Tage nach der Ankunft Marguerites erlag sie dem Leiden.
Eines Morgens bemerkte der Herzog, der in Bagnères geblieben war, wie man da zu bleiben pflegt, wo ein Teil unsres Herzens begraben liegt, Marguerite in der Wendung einer Allee.
Es war ihm, als habe er den Schatten seines eignen Kindes erblickt; er schritt auf sie zu, ergriff ihre Hand, umarmte sie schluchzend und flehte sie, ohne zu fragen, wer sie war, um die Erlaubnis an, das lebende Abbild seiner toten Tochter sehen und lieben zu dürfen.
Marguerite, die mit ihrer Kammerfrau allein in Bagnères war und im übrigen keine Rücksicht zu nehmen hatte, bewilligte die Bitte des Herzogs.
Es fehlte in Bagnères nicht an Leuten, die sich beeilten, den Herzog über die wahre Stellung Fräulein Gautiers aufzuklären. Das war ein Schlag für den Greis, denn er sah, daß die Ähnlichkeit mit seiner Tochter eine Grenze hatte, aber es war zu spät. Die junge Frau war seinem Herzen unentbehrlich geworden, und er fand keinen andern Grund und keine andre Entschuldigung mehr, daß er noch überhaupt am Leben blieb.
Er machte ihr keinen Vorwurf, er hatte kein Recht dazu, sondern fragte sie, ob sie die Kraft in sich fühle, ihr Leben vollständig zu ändern, und bot ihr als Entgelt für dieses Opfer alles an, was sie wünschen konnte. Sie versprach es.
Ich muß bemerken, daß damals Marguerite, deren enthusiastische Natur nicht übersehen werden darf, krank war. Es schien ihr, als trüge die Vergangenheit die Hauptschuld an ihrer Erkrankung, und in einer Art Aberglauben hoffte sie, daß Gott ihr Schönheit und Gesundheit ließ, wenn sie bereute und sich bekehrte.
Und in der Tat bewirkte der Gebrauch der Bäder, die Spaziergänge, die natürliche Ermüdung und der Schlaf, daß sie nahezu wiederhergestellt war, als das Ende des Sommers kam.
Der Herzog begleitete Marguerite nach Paris und suchte sie hier weiter auf, wie er in Bagnères getan hatte.
Diese Beziehung, deren wirklichen Ursprung man so wenig kannte, wie ihre wirklichen Motive, erregte hier großes Aufsehen, denn der Herzog, dem schon ein großes Vermögen nachgesagt wurde, kam nun in den Ruf eines Verschwenders.
Man schrieb die Annäherung des alten Herzogs an die junge Frau der Ausschweifung zu, die ja bei reichen Greisen häufig genug ist. Man vermutete alles, nur nicht die Wahrheit.
Dabei hatte das Gefühl des armen Vaters für Marguerite einen so reinen Ursprung, daß er jede andere Beziehung außer der des Herzens als eine Blutschande empfunden hätte, und niemals sagte er ihr ein Wort, das nicht seine Tochter hätte hören dürfen.
Uns liegt der Gedanke fern, aus unsrer Heldin etwas anderes zu machen, als was sie war. Wir wollen also sagen, daß es ihr zwar, solange sie in Bagnères blieb, nicht schwer fiel, das Versprechen, das sie dem Herzog gegeben hatte, zu halten, und daß sie es hielt; sobald sie aber erst nach Paris zurückgekehrt war, schien es ihr, die an ein Leben voll Zerstreuung, an Bälle und selbst an Orgien gewöhnt war, sie müsse in dieser Zurückgezogenheit, die nur von Zeit zu Zeit durch die Besuche des Herzogs unterbrochen wurde, vor Langeweile sterben, und es war nicht zu vermeiden, daß der heiße Atem ihres früheren Lebens ihr zugleich Herz und Verstand betörte.
Dazu kam, daß Marguerite von jener Reise schöner als je zurückgekommen war, daß sie zwanzig Jahre zählte und daß die Krankheit zwar schlummerte, aber noch nicht gebrochen war, sondern fortfuhr, dieselbe fieberhafte Begierde zu erzeugen, die fast immer Lungenkranken eigentümlich ist.
Der Herzog war daher an dem Tage einem großen Schmerz ausgesetzt, an dem seine Freunde, die unaufhörlich auf der Lauer lagen, um die junge Frau, mit der er sich bloßstellte, auf einer Treulosigkeit zu überraschen, ihm sagten und nachwiesen, daß sie immer dann, wenn sie vor seiner Ankunft sicher war, Besuche empfing und diese Besuche oft bis zum nächsten Morgen dauerten.
Zur Rede gestellt, gestand Marguerite dem Herzog alles. Sie riet ihm ohne Hintergedanken, er möge sich nicht weiter mit ihr abgeben, denn sie fühle nicht die Kraft, die Verpflichtung, die sie unternommen hatte, einzuhalten, und wolle nicht länger Wohltaten von einem Mann empfangen, den sie betrog.
Der Herzog hielt sich acht Tage fern, und das war alles, was er zu tun vermochte; am achten Tag erschien er wieder und flehte Marguerite an, sie möge auch in Zukunft seine Besuche dulden; er versprach ihr, sie zu nehmen wie sie war, wenn sie ihn nur empfing, und er schwor, er würde ihr niemals einen Vorwurf machen, auch dann nicht, wenn er daran sterben sollte.
So lagen die Dinge drei Monate nach der Rückkehr Marguerites, d. h. im November oder Dezember 1842.
Am 16. um drei Uhr begab ich mich in die Rue d’Antin. Vom Torweg hörte man die Rufe der Versteigerungsbeamten.
Die Wohnung war mit Neugierigen gefüllt.
Es waren alle Berühmtheiten des eleganten Lasters da, heimlich und gründlich von den paar großen Damen gemustert, die noch einmal den Vorwand der Versteigerung benutzt hatten, um aus nächster Nähe Frauen zu betrachten, mit denen sie nie bei einer anderen Gelegenheit hätten zusammenkommen können, und die sie vielleicht im stillen um ihre leichten Abenteuer beneideten.
Die Frau Herzogin von F. stand Ellenbogen an Ellenbogen mit Fräulein A., die eine der traurigsten Vertreterinnen unserer modernen Kurtisanen ist; die Frau Marquise von T. zögerte, ein Möbel zu kaufen, auf das Frau D. höher bot, die eleganteste und bekannteste Ehebrecherin unsrer Zeit; der Herzog von Y., von dem es in Madrid hieß, er ruiniere sich in Paris, und in Paris, er tue es in Madrid, während er doch alles in allem nicht einmal seine Einkünfte verzehrte, unterhielt sich nicht nur mit Frau M., einer unsrer geistreichsten Erzählerinnen, die von Zeit zu Zeit die Gnade hat, niederzuschreiben, was sie plaudert, und mit ihrem Namen zu zeichnen, was sie schreibt, sondern wechselte auch vertrauliche Blicke mit Frau von M., der schönen Spaziergängerin der Champs-Elysées, die fast immer in rosa oder blau gekleidet ist und vor ihren Wagen zwei große Rappen gespannt hat, die Tony um 10 000 Franken an sie verkaufte und – bezahlt bekam. Auch Fräulein R. war trotz der Kälte gekommen, um ein paar Käufe zu machen: sie verdient sich mit ihrem einzigen Talent doppelt so viel, wie die Frauen der Welt mit ihrer Mitgift, und dreimal so viel, wie die andern mit ihrer Liebe; sie wurde nicht am wenigsten beachtet.
Ich könnte noch fortfahren in der Angabe der Anfangsbuchstaben einer Menge von Leuten, die im Salon versammelt waren und mit Erstaunen feststellten, in welch gemischter Gesellschaft sie sich bewegten; aber es könnte den Leser ermüden.
Sagen wir deshalb nur, daß allgemein eine unsinnige Lustigkeit herrschte und daß unter den anwesenden Damen gar manche die Tote gekannt hatte, es sich aber nicht im geringsten merken ließ.
Man lachte laut, die Versteigerungsbeamten schrien aus vollen Lungen, die Händler, die die Bänke vor dem Versteigerungstisch besetzt hatten, suchten vergeblich Stillschweigen zu erzwingen, um ihre Geschäfte ruhig erledigen zu können.
Die Versammlung war so zusammengewürfelt und lärmend, wie man es sich nur denken kann.
Ich meinerseits mied es, mich inmitten des Tumultes, der niederziehend genug war, vorzudrängen, denn ich mußte denken, daß ein paar Schritt davon im Schlafzimmer das arme Geschöpf, dessen Möbel man zur Deckung der Schulden versteigerte, verschieden war. Ich war mehr gekommen, um zu beobachten, als um zu kaufen, und betrachtete die Gesichter der Lieferanten, auf deren Betreiben die Versteigerung stattfand: die Mienen erstrahlten, so oft ein Gegenstand einen Preis erreichte, den sie nicht erhofft hatten. Von allen diesen Dingen sagte mir nichts zu und ich wartete.
Plötzlich hörte ich ausrufen:
– Ein Buch mit ausgezeichnetem Einband und Goldschnitt, betitelt Manon Lescaut. Auf der ersten Seite ist etwas geschrieben. Zehn Franken.
– Zwölf, rief nach einer ziemlich langen Pause eine Stimme.
– Fünfzehn, sagte ich.
Warum? ich wußte es selbst nicht.
Ohne Zweifel wegen des »etwas«, das auf der ersten Seite geschrieben stand.
– Fünfzehn, wiederholte der Ausrufer.
– Dreißig, steigerte jener, der zuerst geboten hatte, mit einem Ton, als zweifle er, daß noch jemand höher gehen werde.
Es war ein Kampf.
– Fünfunddreißig, rief ich ebenso entschieden.
– Vierzig.
– Fünfzig.
– Sechzig.
– Hundert.
Wenn ich es darauf angelegt hätte, Aufsehen zu erregen, wäre es mir vollständig gelungen, denn während unseres Überbietens trat ein großes Stillschweigen ein, und man suchte mich mit den Blicken, um den Herrn zu sehen, der so entschlossen schien, diesen Band in seinen Besitz zu bringen.
Der Nachdruck, den ich meinem letzten Angebot gab, mußte wohl meinen Widerpart überzeugt haben: er zog vor, einen Kampf aufzugeben, der nur dazu gedient hätte, mich den Wert des Bandes zehnfach überzahlen zu lassen; er verbeugte sich und sagte sehr höflich, wenn auch ein wenig spät:
– Ich trete es Ihnen ab.
Und das Buch wurde mir zugeschlagen.
Da ich fürchtete, mich in ein neues Gebot zu verbeißen, das ich aus Eigenliebe durchgehalten hätte, ohne ihm in Anbetracht des Zustandes meiner Geldbörse gewachsen zu sein, ließ ich meinen Namen aufschreiben und den Band zur Seite legen; dann ging ich die Treppe hinunter. Den Leuten, die Zeugen der kleinen Szene gewesen waren, mußte ich viel zu denken geben: sie fragten sich ohne Zweifel, in welcher Absicht ich gekommen war und ein Buch mit hundert Franken bezahlt hatte, das ich überall für höchstens zehn oder fünfzehn Franken kaufen konnte. Eine Stunde später hatte ich meinen Einkauf bereits abholen lassen.
Auf der ersten Seite stand mit Tinte und in einer eleganten Schrift die Widmung dessen, der das Buch geschenkt hatte. Sie enthielt nur die Worte: Manon an Marguerite, in Demut. Die Unterschrift lautete: Armand Duval.
Was bedeuteten die Worte: in Demut? Sollte Manon nach der Meinung dieses Herrn Duval Marguerite eine Überlegenheit der Ausschweifung oder des Herzens zugestehen? Die zweite Auslegung war die wahrscheinlichste, denn die erste wäre nur ein offen eingestandener Zynismus gewesen, den Marguerite bei aller Selbsteinschätzung nicht angenommen hätte.
Ich ging nochmals aus und beschäftigte mich erst am Abend wieder, als ich schlafen ging, mit dem Buch.
Die rührende Erzählung der Manon Lescaut ist mir bis in die kleinsten Einzelheiten bekannt, und doch zieht mich, so oft ich den Band in meiner Hand sehe, die Sympathie für sie von neuem an: ich öffne ihn und zum hundertstenmal lebe ich mit der Heldin des Abbé Prévost ihr ganzes Leben durch. Sie ist mit einer solchen Wahrheit gezeichnet, daß ich immer glaube, ich hätte sie gekannt. Aber unter den jetzigen Umständen enthielt in meinen Augen der zwischen ihr und Marguerite gezogene Vergleich einen unerwarteten Reiz, und meine Nachsicht vertiefte sich zu Mitleid, ja fast zu Liebe zu dem armen Mädchen, aus dessen Nachlaß ich diesen Band erworben hatte. Manon war in einer Wüste gestorben, aber doch in den Armen des Mannes, der sie mit allen Fasern seiner Seele liebte: als sie tot war, grub er ihr ein Grab, benetzte es mit seinen Tränen und bettete sein eignes Herz hinein. Marguerite, Sünderin wie Manon und vielleicht wie sie zuletzt bekehrt, war allerdings, wenn der Augenschein nicht trügt, inmitten des prunkvollen Luxus und in dem Bett ihrer Vergangenheit gestorben, aber doch auch in einer Wüste des Herzens, die vertrockneter, grenzenloser und unerbittlicher war, als die, worin man Manon verscharrt hatte.
Es war in der Tat so; wie ich von ein paar Freunden, die über die letzten Umstände ihres Lebens unterrichtet waren, erfuhr, hatte sie während der beiden Monate eines langsamen und schmerzlichen Todeskampfes niemals einen wirklichen Trost an ihrem Leidenslager empfangen. Von Manon und Marguerite trugen mich meine Gedanken zu denen zurück, die ich kannte und die mit Singen und Lachen einen Weg zurücklegten, an dessen Ende fast immer derselbe schlimme Tod stand.
Arme Geschöpfe! Es mag ein Unrecht sein, sie zu lieben, aber dann gewiß ein geringeres, sie zu bedauern. Menschen, ihr beklagt den Blinden, der nie die Strahlen des Lichts gesehen hat, den Tauben, der nie die harmonischen Laute der Natur vernahm, den Stummen, der nie imstande war, seine Seele Stimme werden zu lassen – aber unter einem Vorwand falscher Scham lehnt ihr es ab, die Blindheit des Herzens, die Taubheit der Seele und das Stummsein des Gewissens zu bedauern, die in einer armen Kranken die Vernunft töten und sie wider ihr besseres Wissen abhalten, das Gute zu sehen, den Herrn zu vernehmen und die reine Sprache von Liebe und Glauben zu reden.
Hugo hat Marion de Lorme geschrieben, Musset Bernerette, Alexandre Dumas Fernande; die Denker und Dichter aller Zeiten haben der Kurtisane das Weihgeschenk ihres Erbarmens dargebracht, und bisweilen hat ein großer Mann sie kraft seiner Liebe und sogar des Namens, den er ihr bot, der Gesellschaft zurückgegeben. Ich verweile so lange bei diesem Punkt, weil unter denen, die mich lesen, viele vielleicht schon bereit sind, ein Buch im Stich zu lassen, von dem sie annehmen, es könnte eine Verherrlichung des Lasters und der Prostitution enthalten – auch das Alter des Verfassers trägt ohne Zweifel zu dieser Furcht bei. Wie sehr täuscht sich, wer so denkt: wenn nur diese Furcht ihn zurückhält, mag er ruhig weiter lesen.
Ich glaube fest an eine Grundtatsache, daß Gott der Frau, die nicht in Kenntnis des Guten erzogen worden ist, fast immer zwei Pfade öffnet, die zu ihm hinführen; diese Pfade sind Schmerz und Liebe. Sie sind schwierig zu begehen; wer sie beschreitet, wird wund an Füßen und Händen, aber in den Dornen des Weges bleibt der Putz des Lasters hängen: wenn er am Ziel ankommt, hat er nur seine Blöße, und ihrer braucht man sich vor dem Herrn nicht zu schämen.
Wir aber, die unterwegs die kühnen Pilgerinnen treffen, haben die Pflicht sie zu stützen und es allen zu sagen, daß wir sie getroffen haben, denn wer die Stimme erhebt, weist den Weg.
Es handelt sich nicht darum, ganz einfach am Eingang des Lebens Wegweiser aufzustellen, von denen der eine die Inschrift Weg des Guten und der andre Weg des Bösen trägt, und dann den Menschen zuzurufen: Wählt – sondern man muß, wie Christus tat, Pfade zeigen, die von dem zweiten Weg zum ersten alle die zurückführen können, die sich anfangs hatten verführen lassen. Vor allem darf der Anfang des Wegs weder zu schmerzhaft sein, noch undurchdringlich erscheinen.
Das Christentum bietet sich mit seiner wundervollen Parabel vom verlorenen Sohn dar, um Nachsicht und Verzeihung zu predigen. Jesus war voll Liebe zu allen Seelen, denen die Leidenschaften der Menschen weh getan hatten und linderte die Wunde, indem er aus der Wunde selbst den Balsam schöpfte. So sagte er zu Magdalena: Dir wird vergeben werden, weil Du viel geliebt hast. Hinreißende Güte, die einen hinreißenden Glauben erzeugen mußte.
Warum sollten wir strenger als Christus sein? Warum hartnäckiger an der Meinung der Welt hängen? Die Welt verhärtet sich, damit man sie für stark hält. Warum mit ihr mitleidlos sein gegen Seelen, deren Wunden vielleicht dazu dienen, den Krankheitsstoff der Vergangenheit wie schlechtes Blut auszuscheiden; sie warten ja nur auf eine Freundeshand, die sie verbindet und ihnen die Genesung des Herzens bringt.
An meine Generation wende ich mich, für die die Theorien des Herrn von Voltaire zum Glück nicht mehr gültig sind, und die gleich mir versteht, daß die Menschheit seit fünfzehn Jahren von einem unvergleichlichen Aufschwung der Seele getragen wird. Die Erkenntnis des Guten und des Schlechten ist wieder für immer in unserm Besitz; der Glaube wiederhergestellt, die Achtung vor den heiligen Dingen uns zurückgegeben, und wenn die Welt noch nicht ganz gut geworden ist, so wird sie doch wenigstens besser. Die Anstrengungen aller Menschen von Einsicht richten sich auf dasselbe Ziel, und alle Willensstärke stellt sich in den Dienst des einen Gedankens: gut, jung und wahr zu sein. Das Schlechte ist eine Einbildung, laßt uns den Mut zum Guten haben und in erster Linie nicht verzweifeln. Mißachten wir vor allem nicht die Frau, die nicht Mutter, nicht Schwester, nicht Gattin ist. Beschränken wir nicht unsre Achtung auf die Familie, noch unsre Nachsicht auf die Interessen des Egoismus. Da im Himmel mehr Freude ist über die Reue eines Sünders als über hundert Gerechte, die niemals gesündigt haben, wollen wir versuchen, dem Gebot des Himmels nachzukommen, er kann es uns mit Wucherzinsen vergelten. Gewähren wir auf unsrem Weg das Almosen der Verzeihung denen, die durch irdische Begierden ins Verderben gestürzt worden sind und vielleicht durch eine göttliche Hoffnung gerettet werden. Wie sagen doch die guten, alten Frauen, wenn sie ein Heilmittel ihrer Erfindung anpreisen: wenn es nichts nützt, so schadet es auch nichts.
Gewiß, es mag recht kühn von mir erscheinen, aus dem kleinen Gegenstand, den ich behandle, soviel Moral zu ziehen; aber ich gehöre zu denen, die glauben, daß in Wenig Alles enthalten sein kann. Das Kind ist klein und schließt den Mann in sich; das Hirn ist eng und birgt den Gedanken; das Auge ist nur ein Punkt und umfaßt Meilen.
Zwei Tage später war die Versteigerung beendet. Sie hatte 150 000 Franken ergeben.
Zwei Drittel teilten sich die Gläubiger, den Rest erbte die Familie, die aus einer Schwester und einem Neffen bestand. Die Schwester hatte große Augen gemacht, als sie die Mitteilung des Geschäftsführers erhielt, daß sie 50 000 Franken erbte.
Später hörte ich, daß sie aufs Land zurückkehrte, tief betrübt über den Tod ihrer Schwester und gleichwohl getröstet durch die Aussicht, das Geld zu 4½ % anlegen zu können.
Alle diese Umstände gingen in Paris, der Mutterstadt des Skandals, ein paar Tage von Mund zu Mund, dann schrumpften sie ein, und ich selbst vergaß nach und nach meinen Anteil an den Ereignissen; da trat ein neuer Umstand ein, der mir die Kenntnis des ganzen Lebens, das Marguerite geführt hatte, vermittelte und mir Einblick in so rührende Umstände gewährte, daß mich das Verlangen ergriff, ihre Geschichte niederzuschreiben und daß ich sie niederschrieb.
Eines Morgens – seit drei oder vier Tagen stand die Wohnung, nachdem alle Möbel verkauft oder abgeholt waren, leer – schellte es bei mir.
Mein Diener, oder vielmehr mein Portier, der die Stelle des Dieners bei mir versah, öffnete und brachte mir dann eine Karte, wobei er sagte, der Herr, der sie ihm gegeben hatte, wünsche mich zu sprechen.
Ich warf einen Blick darauf und las die beiden Worte: Armand Duval.
Ich suchte in meinem Gedächtnis, wo ich diesen Namen schon gesehen hatte und erinnerte mich an das erste Blatt des Buches von Manon Lescaut.
Was konnte mir der sagen, der den Band Marguerite gegeben hatte? Ich befahl, ihn sofort eintreten zu lassen. Ich erblickte einen jungen Mann, der blond, groß und blaß war. Er trug einen Reiseanzug, den er allem Anschein nach seit ein paar Tagen nicht gewechselt hatte; auch hatte er sich wohl nicht einmal die Mühe gegeben, ihn bei seiner Ankunft in Paris zu bürsten, denn er war mit Staub bedeckt.
Herr Duval befand sich in großer Aufregung und gab sich keine Mühe, sie zu verbergen; mit Tränen in den Augen und einem Zittern in der Stimme sagte er:
– Ich bitte Sie, mit meinem Besuch und mit meinem Kostüm Nachsicht zu haben; aber abgesehen davon, daß sich junge Leute untereinander nicht zu genieren brauchen, war mein Wunsch, Sie heute noch zu sehen, so stark, daß ich mir nicht die Zeit nahm, in dem Hotel abzusteigen, in das ich meine Sachen geschickt habe, und ich bin zu Ihnen geeilt, weil ich fürchtete, ich könnte Sie trotz der frühen Stunde nicht mehr treffen.
Ich bat Herrn Duval, am Kamin Platz zu nehmen; er tat es und zog ein Taschentuch hervor, mit dem er einen Augenblick das Gesicht bedeckte.
– Es muß Ihnen unverständlich sein, begann er nochmals tief aufseufzend, was ein unbekannter Besucher von Ihnen wünscht, der so früh erscheint und sich so vor Ihnen gehen läßt. Ich komme ganz einfach, weil ich Sie um einen großen Dienst bitten will.
– Sprechen Sie bitte, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.
– Sie wohnten der Versteigerung der Hinterlassenschaft von Marguerite Gautier bei?
Bei diesen Worten übermannte den jungen Menschen die Bewegung, über die er einen Augenblick Herr geworden war, und er verbarg die Augen mit den Händen.
– Ich muß Ihnen recht lächerlich erscheinen, sagte er noch einmal, und Sie auch dafür um Verzeihung bitten; seien Sie überzeugt, daß ich nie die Geduld vergessen will, mit der Sie mich anzuhören bereit sind.
Sein Schmerz war sympathisch und ich empfand, ohne mein Zutun, den Wunsch, ihm beizustehn.
Er begann:
– Sie haben auf der Versteigerung etwas von Marguerite gekauft?
– Ja, ein Buch.
– Manon Lescaut?
– Ja.
– Darf ich fragen, ob Sie dieses Buch noch haben?
– Es liegt in meinem Schlafzimmer.