Cover

Philippe Delerm
Vorsicht, der Teller ist heiß!

Phrasen für alle Lebenslagen

Aus dem Französischen von Sonja Finck


persona verlag

Über dieses Buch

Delerm sammelt Redensarten wie andere Bierdeckel oder Briefmarken, um sie ebenso kritisch wie liebevoll zu sortieren und zu studieren. Er spielt mit unseren Sprach- und Redegewohnheiten, untersucht Ober- und Untertöne gängiger Phrasen und entlarvt deren unfreiwillige Komik sowie tieferen Sinn. Delerm öffnet die Hintertürchen der Kommunikation, und wir staunen mit dem Autor darüber, was alles bei einer tausendfach verwendeten Floskel mitschwingen kann. »Ich sollte mal wieder Proust lesen«, genau. Und was ist mit der Flasche Wein, die wir etwas zu forsch bestellten? »Wir müssen sie ja nicht austrinken.« »Jetzt mal ganz unter uns«: Das ist »wirklich« eine schöne Textsammlung. Und »wenn man erst mal drin ist, ist es gar nicht so kalt!« Oh, das bezog sich auf etwas anderes … »Mir fehlen die Worte.« Nein, denn: »Das steht alles in meinem Buch!«

»Delerm ruft uns in Erinnerung, welch ein Genuss die Erforschung von Sprache ist. Nebenbei hält er der heutigen Welt und all den Sprücheklopfern, die sie bevölkern, den Spiegel vor: den Wichtigtuern und Phrasendreschern, den Aufschneidern, Ignoranten, Snobs und anderen Nervensägen.« (Livres Hebdo)

Der Autor

Philippe Delerm, 1950 in Auvers-sur-Oise geboren, zählt zu den meistgelesenen französischen Autoren. Nach dem Studium der Philosophie war er Lehrer am Collège Marie Curie in Bernay. Er lebt mit seiner Familie in der Normandie. Gelegentlich arbeitet er als Sportkommentator, so bei den Olympischen Spielen in Athen und Peking. 1997 erhielt er in Frankreich den Preis der Buchhändler. Er hat 45 Bücher publiziert, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Das erfolgreichste war Ein Croissant am Morgen (Goldmann). Beim französischen Verlag Seuil gibt er die Reihe Le goût des mots heraus.

Die Übersetzerin

Sonja Finck lebt als freiberufliche literarische Übersetzerin in Berlin und Montréal und hat u. a. Werke von Leslie Kaplan, Mathias Malzieu und Val McDermid ins Deutsche übertragen.

2012 erschien im persona verlag ihre Übersetzung des Erzählungsbandes Minotaurus 504 von Kamel Daoud (auch als E-Book erhältlich).
www.sonja-finck.de

Inhalt

Das hört sich jetzt vielleicht spießig an, aber …
Sie haben keine neue Nachricht
Das Haus nimmt keine Schecks mehr an
Ich bin’s!
Erst einmal guten Tag!
Ich habe drei Jahre lang in der Rue Commines gewohnt!
Jetzt mal ganz unter uns …
Dem hat er’s aber gegeben!
Wenn man erst mal drin ist, ist es gar nicht so kalt!
Mir fehlen die Worte
Das steht alles in meinem Buch
Wenden Sie sich bitte an einen Mitarbeiter
Das ist Panzerglas!
Das ist schon fast kitschig
Da war ich noch nicht auf der Welt
Looos
Ich bewache meinen Herrn
Das muss man gesehen haben
Ich habe fünf Jahre lang Klavier gespielt
Ein schöner Hut, Madame
Sonst kann ich Sie auch mitnehmen
an bekommt Sie viel zu selten zu Gesicht
Und das, war das keiner?
Mir gefällt Le Havre besser als Rouen
Vielleicht ist es besser so
Aber gut gemacht ist er schon
Ihn bringt nichts aus der Ruhe
Das läuft zu spät
Warten Sie schon lange?
Über den Flügel, verdammt!
Und was ist mit heute Abend?
Vorsicht, der Teller ist heiß!
Sie hatten es doch angesagt
Ich sollte mal wieder Proust lesen
Setz deine Mütze auf!
Wir müssen sie ja nicht austrinken
Ach, Sie mögen keine Akkordeonmusik?
Ich gehe mal kurz bei Mentec vorbei
Aber wirklich nur, weil es sündhaft lecker ist
Ich komme immer nur selbst auf meine Felder!
Lassen wir die Leute erst mal aussteigen
Ich kann nichts mehr damit anfangen

Impressum

Das hört sich jetzt vielleicht spießig an, aber …

Unter den rhetorischen Warnungen nimmt diese eine Sonderstellung ein. Sie hat nicht den hinterhältigen oder hochtrabenden Charakter ihrer Geschwister. Sie will durch ihre Form überraschen, durch ihre unverblümte Direktheit, die gleich von vornherein einen bösen Verdacht aus der Welt räumen soll: dass man ein Reaktionär sei. Das Gegenüber soll allerdings noch nicht protestieren, nicht, bevor man seine Meinung geäußert hat. Man erhofft sich lediglich ein leichtes Zucken der Mundwinkel à la: »Du, ein Spießer?!«

Die Äußerung, die man derart einleitet, kann Erziehungsfragen betreffen, die Etikette des Schenkens, allgemeine Umgangsformen, Tischmanieren oder Höflichkeitsregeln beim Ein- und Aussteigen in der Metro. Eins aber ist sicher: Man nimmt Bezug auf eine goldene Zeit, in der alles besser war. Unterschwellig schwingt dabei immer auch der Verweis auf die eigenen revolutionären Erfahrungen mit: Oh ja, niemand anders als ich sagt das, dabei kennst du mich, ich war im Mai 68 ganz vorne mit dabei. Vielleicht wäre es damals angebracht gewesen, eine verführerisch gestrige Bemerkung in die Diskussion einzuwerfen, einen kleinen Zwischenruf, mit dem man gegen den Strom angeschwommen wäre, Garant der eigenen intellektuellen Redlichkeit.

Denn es ist doch so: Mit fünfundzwanzig oder dreißig, jenem Alter, in dem man mit flatterndem Schal und zerzaustem Haar unwiderstehlich aussieht, kann man der politischen Korrektheit Hörner aufsetzen und so ein Zugeständnis oder gar Zustimmung provozieren. Später im Leben ist das ein gefährliches, wenn nicht gar selbstmörderisches Unterfangen. Allein die Gewohnheit, seiner Meinung eine rhetorische Warnung vorauszuschicken, ist entlarvend. Warum klebt man sich selbst ein Etikett der Gestrigkeit auf die Stirn? Damit entlarvt man sich nämlich tatsächlich als Spießer.

Sie haben keine neue Nachricht

Das Mobiltelefon hat die Art und Weise, wie wir warten und uns sorgen, verändert. Es hat den Bahnhöfen die Poesie genommen und den Bahnsteigen ihren Sinn, denn wir kennen nicht mehr jenes bange Schweifen des Blicks beim Aussteigen der Reisenden, begleitet von dem Gedanken, dass wir es gewiss erfahren hätten, wenn der Mensch, den wir abholen sollen, den Zug verpasst hätte.

Doch der technische Fortschritt kann Gefühle nur umlenken, nicht sie verschwinden lassen. Heutzutage richtet sich unser Bangen auf das stumme Mobiltelefon, auf den Anruf, der nicht kommt, die Nachricht, die wir sehnsüchtig erwarten.

Kein vertrauter Klingelton, kein Symbol auf dem Display. Und weil wir Worte brauchen, um uns unserer Gefühle zu vergewissern, drücken wir fieberhaft die Kurzwahltaste für die Mailbox, woraufhin eine weibliche Stimme aufreizend nüchtern sagt: »Sie haben keine neue Nachricht.«

Ein Schelm, wer dabei Böses denkt und die Formulierung für besonders erbarmungslos hält. Könnte denn eine andere Nachricht als die erhoffte, eine Nachricht, die sich uns ungefragt aufdrängt, überhaupt Balsam für unsere Seele sein?

Jedenfalls sind die Verneinung und vor allem die Abfolge der drei Worte »keine neue Nachricht« der Gipfel der Grausamkeit. Nur oberflächlich betrachtet ist sie die nüchterne Feststellung einer Tatsache. Ihre übertriebene Sachlichkeit ist heimtückisch, sie scheint uns leiden lassen zu wollen. Nehmen wir uns die Worte einmal in umgekehrter Reihenfolge vor.

Zunächst einmal »Nachricht«. Ein bedeutungsvolles Wort. Eine Mitteilung, eine Botschaft, ein geradezu romantischer zwischenmenschlicher Austausch. Ihre Abwesenheit legt den Finger auf die Wunde: Man ist von der Außenwelt abgeschnitten.

Dann »neue«. Ja, danach sehnen wir uns, nach etwas Neuem. Wir versuchen, dem teuflischen Kasten etwas Neues abzunötigen, aber er weigert sich standhaft, ein anderes Hier und Jetzt zu erschaffen, obwohl genau das seine Aufgabe ist. Und dann liegt er uns mit dieser Weigerung auch noch dreist in den Ohren.

Und schließlich »keine«. Keine neue Nachricht. Man ist jeglicher Verständigung unwürdig. Warum sich also weiter abmühen? Gegen die Stummheit kommt man doch nicht an. Aber lassen Sie es sich ruhig noch einmal unter die Nase reiben: Sie haben keine neue Nachricht.

Das Haus nimmt keine Schecks mehr an

Sie haben alles gegeben. Ihre Freigebigkeit grenzte an Selbstaufgabe. In den letzten Jahren waren sie keine Gastwirte mehr, sondern ehrenamtliche Kreditgeber, die selbstverständlich niemals auf Sicherheiten beharrten. Sie waren schließlich keine engstirnigen Buchhalter. Der Kunde ist König, und ihr einziger Lebenszweck war es, ihm unermüdlich zu dienen, ihm Vergnügen zu bereiten, ihn vielleicht sogar glücklich zu machen. Aber irgendwann war das Maß voll. Man hatte ihre Gutgläubigkeit und Zuvorkommenheit schamlos ausgenutzt.

Das Fass war übergelaufen. Kurz vor dem Kollaps schreckten sie hoch. Es war ein schmerzhaftes Erwachen, denn Argwohn und Misstrauen liegen ihnen fern. Erst erwogen sie, ein Schild mit der kategorischen Aufschrift »Das Haus nimmt keine Schecks an« aufzuhängen. Aber das wäre zu grausam gewesen. Statt wie großzügige Gastgeber hätten sie wie kleinliche Knauser dagestanden. Ehrlich, »Das Haus nimmt keine Schecks an«? Das klingt ja nach einer völlig wesensfremden Unnachgiebigkeit. Also besannen sie sich eines Besseren.

Ihnen fiel das rettende Wörtchen »mehr« ein. »Das Haus nimmt keine Schecks mehr an.« Dieser sibyllinische Satz prangt nun an der Wand. Und unten auf jeder Speisekarte. Man kommt nicht an ihm vorbei, er reibt einem unter die Nase, welche Fehltritte sich andere Gäste in der Vergangenheit erlaubt haben, ja welchen Treuebruch sie begangen haben. Der Vorwurf ist nicht direkt an einen selbst gerichtet, aber man kommt nicht umhin, sich mitschuldig zu fühlen. Steht man nicht doch mit einem Fuß auf der falschen Seite, der Seite derjenigen, die arglose Gastwirte in den Ruin treiben wollen?