Weitere Schriften von W.F. Haug bei Argument

Einführung in marxistisches Philosophieren

Die Abschiedsvorlesung. 2006

Philosophieren mit Brecht und Gramsci

1996, um zwei Kapitel erweiterte Neuausgabe 2006

Neue Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«

2006

Vorlesungen zur Einführung ins »Kapital«

Neufassung 2005

Dreizehn Versuche marxistisches Denken zu erneuern

gefolgt von

Sondierungen zu Marx / Lenin / Luxemburg. 2005

High-Tech-Kapitalismus

Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie
Argument-Sonderband AS 294. 2003, 22005

Politisch richtig oder Richtig politisch

Linke Politik im transnationalen High-Tech-Kapitalismus. 1999

Elemente einer Theorie des Ideologischen

Argument-Sonderband AS 203. 1993

Jean-Paul Sartre und die Konstruktion des Absurden

1966, 21974. Veränderte Neuausgabe 1991

Das Perestrojka-Journal

Versuch, beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen
neuen Grund zu gewinnen. 1990

Gorbatschow

Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken. 1989, 21990

Pluraler Marxismus

Beiträge zur politischen Kultur. Zwei Bände. 1985/ 87

Vom hilflosen Antifaschismus zur Gnade der späten Geburt

1987, 2., erw. Auflage 1993

Die Faschisierung des bürgerlichen Subjekts

Argument-Sonderband AS 80. 1986, 21987

»Werbung« und »Konsum«

Warenästhetik und kapitalistische Massenkultur. 1980

In Vorbereitung

High-Tech-Kapitalismus in der Krise

Winter 2011/12

Gemeinsam mit anderen

Unterhaltungen über den Sozialismus
nach seinem Verschwinden

2002

Deutsche Philosophen 1933

Argument-Sonderband AS 165. 1989

Die Camera obscura der Ideologie

Argument-Sonderband AS 70. 1984

Faschismus und Ideologie

Argument-Sonderband AS 60 und AS 62. 1980
Neuauflage in einem Band 2007

Theorien über Ideologie

Argument-Sonderband AS 40. 1979, 31986

Als Herausgeber

Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus

in fünfzehn Bänden. 1994ff

Antonio Gramsci

Gefängnishefte

Kritische Ausgabe in 10 Bänden. 1991-2001

Bei anderen Verlagen

Kritik der Warenästhetik

gefolgt von
Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus
edition suhrkamp, 2009

Wolfgang Fritz Haug

Die kulturelle Unterscheidung

Elemente einer
Philosophie des Kulturellen

Argument

Berliner Beiträge zur kritischen Theorie

Band 12

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© InkriT 2011; © für diese Ausgabe Argument Verlag 2011

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Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

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Lektorat: Jan Loheit

Umschlag und Satz: Martin Grundmann

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

ISBN 9783867549400

Feldbesichtigung vorweg

I.

Auf Schritt und Tritt gibt es
zwei historische Notwendigkeiten,
die zueinander in Widerstreit geraten.
Rosa Luxemburg

Es könnte kaum widersprüchlicher zugehen: Kultur gleicht einem Betriebssystem, auf dem alle widerstreitenden Programme der Gesellschaft laufen; zugleich ist dieses Grundlegende dem Kommerz, der es voraussetzt, um den Preis abgemietet, diesem als etwas gefügig zu sein, das abwechselnd Vergnügen zu bereiten oder Würde vorzutäuschen hat. Bei alledem verkörpert ›Kultur‹ einen Anspruch auf Sinn und Erfüllung, der dem Kapital die Herrschaft streitig machen kann. Alle sozialen Emanzipations- oder Befreiungsbewegungen waren und sind zugleich Kulturbewegungen. So zuletzt die weltweite Bewegung, die unter den Losungen »Die Welt ist keine Ware« und »Eine andere Welt ist möglich« aufgetreten ist. Die Achtundsechziger und die neue Frauenbewegung haben regelrecht kulturrevolutionär gewirkt.

Kultur in diesem dritten Sinn existiert nur, solange sie widersteht. Freilich ist damit die Widerspruchsgeschichte, die wir Dialektik nennen, noch nicht zu Ende. Widerstand als solcher ist weder gegen den Umschlag ins Rückwärtsgewandte oder sogar Reaktionäre gefeit noch dagegen, hinterrücks vereinnahmt zu werden, wie es »kaum ein Produkt gibt, das nicht mit Guevaras Konterfei vermarktet« werden konnte (KdW, 348).

Dass solche Widersprüchlichkeit nicht von heute datiert, zeigt eine Bemerkung Johann Gottfried Herders, der als Vater des »modernen Kulturbegriffs« gilt (Perpeet 1976, 1309), in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von 1784. In der Vorrede spricht er distanziert von dem, »was wir Kultur nennen und oft nur verfeinte Schwachheit nennen sollten […]. Nichts ist unbestimmter als dieses Wort, und nichts ist trüglicher als die Anwendung desselben auf ganze Völker und Zeiten. Wie wenige sind in einem kultivierten Volk kultiviert?« Damit ist das Stichwort der »Kultivierung« gefallen, in der sich gut bürgerlich aller Fortschritt zur »Humanität« zusammenzieht. Herder sieht die Triebkraft auf diesem Weg, nicht jedoch den in ihr wohnenden Widerspruch1. Die »Schlussanmerkung« zum 20. Buch beginnt mit der Frage: »Wie kam also Europa zu seiner Kultur und zu dem Range, der ihm damit vor andern Völkern gebühret?« Sie mündet in die Antwort, dass »die neue Kultur Europas […] nur eine Kultur der Menschen wie sie waren und sein wollten« sein konnte, »eine Kultur durch Betriebsamkeit, Wissenschaft und Künste«. – Inzwischen hat die kapitalistische »Betriebsweise« (Marx) der Kultur das bürgerliche Projekt längst ihren Marketingabteilungen zugeordnet. Wenn zur Zeit der Französischen Revolution noch das Kapital als Allegorie der Kultur diente, so dient heute die Kultur dem Kapital als allegorisches Material.

Dieser Umschlag der Kräfteverhältnisse widerfuhr dem bürgerlichen Kulturprojekt nicht von ungefähr. Die Kraft, die die Kultur sich unterworfen hat, ist keine andere als diejenige, die sie zur obersten Kategorie des bürgerlichen Selbstverständnisses erhoben hatte. Die bürgerliche Gesellschaft ist die erste in der Geschichte, die ihr Wesen als ›Kultur‹ ausgesprochen hat. Wie alle anderen frühen Hochkulturen verfügte die klassische Antike weder über einen Begriff von ›Kultur‹ noch einen von ›Kunst‹, obwohl sie doch – in unseren Augen! – beides auf eine Weise geschaffen hat, die der bürgerlichen Gesellschaft seit der Renaissance und vollends der Aufklärung als kanonisches, eben klassisches Vorbild diente. Doch wie das feudale Mittelalter nicht von der Religion leben konnte, so die bürgerlich-kapitalistische Moderne nicht von der Kultur. Gerade weil sie aus ihrem Kerngeschäft das Kulturelle als Autonomes verbannt, wies sie ihm eine eigene Sphäre zu, in der sie ihre Ideale hegte und sich geschichtlich legitimierte. Das macht verständlich, wieso diese illusionäre Form, in welcher der Kommerz sein idealisches Gegenteil unter dem Namen Kultur als sein Wesen vorschiebt, dessen kritischen Anspruch nicht völlig ersticken könnte, ohne es um seine Wirkung zu bringen. Es wirkt nur, solange der Anspruch aufrechterhalten bleibt, dass es um seiner selbst willen an die höchste Stelle gerückt und ein Kult darum betrieben werde.

Angesichts des Ersten Weltkriegs, der bürgerlichen Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, schrieb Rosa Luxemburg: »Nicht wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« (GW 4, 53) Das ist wahr und doch nur einer der Pole der Wahrheit. Bereits Marx hat allzu pauschal den ›verschönerten Schein‹ der bürgerlichen Verhältnisse verworfen. Auch fürs Sein der bürgerlichen Gesellschaft gilt Hegels Satz, dass ihm »das Scheinen wesentlich« ist. Ernst Bloch hat den Blick darauf gerichtet, wie hier Entwürfe einer anderen Welt zum Vorschein kommen. In ›Kultur‹ und ›Kunst‹ dachten die klassischen Bürger hinein, was über ihre gesellschaftliche Existenzgrundlage hinauswies. Hier deponierten sie ihre Träume. Die Kultur hatte für sie die Nachfolge der Religion angetreten. So wurde die Kultursphäre zum Behältnis künstlerischer und philosophischer Entwürfe, die von der kapitalistischen Grundlage zur bloß illusionären Existenz verdammt sind. Ihr Moment ist nie und immer, ihr Reich nirgends und überall. Dem Geld und der Gewalt gehört jeder Augenblick, »Was bleibet aber, stiften die Dichter.«2 Zugleich weist dieses real und doch nur imaginär, als Bildungsgut Bleibende beharrlich über jene Grundlage hinaus.

Was diese Gesellschaft der Privategoismen an der ›Kultur‹ festhält, ist gerade deren dumpf vorgestellter Gegensatz zu ihr, das Gefühl, Kommerz und Konsum könnten doch ›nicht alles gewesen sein‹. Wenn sie ihr Wesen imaginär in die ›Kultur‹ setzt, so ist dies unwahr, bloßer Schein, doch kann der bloße Schein von Wahrheit mehr von dieser enthalten als das Sein. Wenn nach Luxemburgs Einsicht die »geistige Kultur« immer »eine Schöpfung der herrschenden Klasse« ist und es im Kapitalismus »keine andre Kultur geben [kann] als bürgerliche«, so erklärte sie es aufgrund des Doppelcharakters der bürgerlichen Kultur gleichwohl zur Aufgabe der sozialistischen Arbeiterbewegung, »die Kultur der Bourgeoisie vor dem Vandalismus der bürgerlichen Reaktion [zu] schützen und die gesellschaftlichen Bedingungen der freien Kulturentwicklung [zu] schaffen« (GW 1/2, 367).3

Die bürgerliche Gesellschaft bringt es nicht zu dem Gedanken, dass sie selbst das Problem ist, sondern stellt sich Kultur vor als »Gegensatz zu all dem, was der Reproduktion des materiellen Lebens, überhaupt der buchstäblichen Selbsterhaltung der Menschen dient, der Erhaltung ihres bloßen Daseins«. Adorno, von dem diese noch in der Negation des Bürgerlichen von eben diesem geprägte überallgemeine Formel stammt (Kultur und Verwaltung, 123), kommt daher zu dem Schluss, Kultur sei »überhaupt misslungen« (141). Doch das meint ›Kultur‹ als von den nicht-kulturellen Mächten kolonisierte Illusion. Im Untergrund bleiben Widerstand und Genuss, Kritik und Utopie ihre komplementären Seelen.

Von der Illusion zur Utopie und von dieser über den praktisch-geschichtlichen Entwurf zum Verwirklichungsversuch mag es je ein großer Schritt sein, aber eben doch nur ein Schritt. Dann ist die Illusion, in der eine herrschende Klasse sich über sich selbst täuscht, mit Wahrheit und möglicher Wirklichkeit geladen. Das macht das wie immer verschwommen unter ›Kultur‹ Intendierte zu etwas unabschließbar Umkämpften.

II.

Wer das Andere will, muss
von der Immanenz der Kultur ausgehen,
um sie zu durchschlagen.
Theodor W. Adorno4

Die schlichte Frage, was das ist, was Kultur genannt wird, ist im Zuge der Verabschiedung der Metaphysik und ihres unhistorischen Wesensdenkens in Verruf gekommen. Man hat sie durch die Frage ersetzt: »Was meinen wir, wenn wir ›Kultur‹ sagen?« Doch wenn der Gedanke nicht vom Meinen zu den tatsächlichen Verhältnissen und zum konkreten Verhalten in diesen vordringt, liefert er sich den Mächten aus, die das kulturelle Feld kolonisiert haben, und bietet der Welt das Schauspiel einer Kulturwissenschaft ohne Kulturbegriff.

Wer sich mit dem bloßen Wort ›Kultur‹ zufrieden gibt, macht es sich in der Gedankenlosigkeit bequem. Damit ein Wort zum Begriff wird, muss es unter seinem Namen eine theoretische Erklärung zusammenfassen. Dieses Begriffsverständnis ist in dem Maße ›entsorgt‹ worden, in dem man sich mit den Verhältnissen auf Kosten der theoretischen Grundlagen5 abgefunden hat. Dabei ist die Begründung, warum sich die Kulturwissenschaftler für ein »nicht widerstands-fixiertes Fachverständnis« (Fluck 2004, 20) entscheiden sollen, immer schon mitwirkender Teil der Wirklichkeit, über die sie objektiv zu sprechen glaubt: »Wenn man fragt, wogegen eigentlich Widerstand geleistet werden soll, dann gibt es keine konkreten Adressaten mehr wie ehemals den Kapitalismus oder die Bourgeoisie, sondern nur noch eine zunehmend diffuse Form von Herrschaft, die von einer radikalisierten Herrschafts- und Kulturkritik als distinktes Merkmal moderner Gesellschaften beschrieben wird.« (19) Abgesehen davon, dass drei Jahre nach dieser Äußerung die Krise den Kapitalismus als Adressaten des Widerstands in Erinnerung gerufen hat, enthält Kultur, strengt man ihren Begriff an, »allem Bestehenden, allen Institutionen gegenüber unabdingbar ein kritisches Moment«,6 dem nur Widerständigkeit gerecht wird.

Wie sich das Verständnis dieses kritischen Moments auffrischen lässt, damit es in den verwandelten Verhältnissen erneut Fuß fassen kann – darum geht es in den folgenden Versuchen. Sie dienen dem Anspruch einer philosophisch reflektierten, dabei von der »sinnlich menschlichen Tätigkeit, Praxis« (Marx, ThF 3/5) und den gesellschaftlichen Verhältnissen und Rahmenbedingungen derselben ausgehenden begrifflichen Annäherung ans Kulturelle. Von der Praxis auszugehen verlangt die Aufsprengung des Kulturbegriffs nach dem Vorbild von Spinozas Unterscheidung der je fertig vorfindlichen Natur von der momentan sich bildenden (Ethik I, LS XIX, Anm.). Daher werden wir bereits im Frageansatz zwischen dem praktischen Quellmoment der Kultur und ihren etablierten Formen unterscheiden, in denen sie von gesellschaftlichen Kräften kontrovers beansprucht und von politisch-ökonomischen Mächten und ihren Ideologien umfangen und partiell durchdrungen ist. Was Freud von geschichtlichen Gestalten sagt, gilt allemal für die resultierende Kultur, wie sie empirisch begegnet, und zwar sowohl in ihrem herrschenden Hauptstrom als auch in den subkulturellen Neben- und Gegenströmungen: Alles »scheint […] überdeterminiert zu sein, stellt sich als die Wirkung mehrerer konvergierender Ursachen heraus« (S 9, 554). Nicht anders hat Stuart Hall das Paradigma der frühen Kulturforschung bestimmt.7 Das Methodenarsenal ist seither reichhaltiger geworden, doch hinter das Paradigma der Überdeterminierung fallen Kulturforschung und Kulturpolitik, wie sich im theoretischen Handgemenge erweisen wird, nur um den Preis zurück, Akteure der Ideologie und Anhängsel der Ökonomie zu werden.

Wenn nun aber die ›Kultur‹ ein Feld der Interferenz und des Ringens heterogener Mächte ist, dann zieht sich das »Interesse der Freiheit« (Hegel) in die Frage zusammen, was denn nun das originär Kulturelle an der Kultur ist. Unser Standpunkt kann mithin nicht der »Standpunkt der fertigen Phänomene« (Marx) sein. Das bringt uns in Konflikt mit Positionen, die ihre Kategorien unkritisch den herrschenden Verhältnissen entnehmen und das Überdeterminierte en bloc für die kulturelle Sache selbst halten.

Es bleibt nicht bei diesem Zusammenstoß. Indem wir uns anschicken, an dem, was man ›Kultur‹ nennt, das Kulturelle vom Nichtkulturellen zu unterscheiden, stoßen wir ferner mit der von der Kulturpolitik bestärkten Alltagsvorstellung zusammen, Kultur sei ein gesellschaftlicher Bereich, abgegrenzt von anderen Bereichen, die mithin als Nichtkultur aufzufassen wären. Nun stimmen aber im Gegensatz zu dieser Bereichsvorstellung von Kultur die meisten, die sich kulturwissenschaftlich betätigen, ungeachtet ihrer sonstigen Meinungsunterschiede darin überein, dass sie unter Kultur einen Aspekt oder eine Dimension verstehen, die all jenen abgegrenzten Bereichen als etwas alle Abgrenzungen Durchquerendes zueigen ist, sei es auch in unterschiedlicher Weise und Gewichtung. In der Tat beschränkt sich das Kulturelle nicht auf den ›Kulturbereich‹, und noch weniger erschöpft sich der ›Kulturbereich‹ im Kulturellen.

Nach dem Kulturellen an der Kultur zu fragen öffnet den Blick dafür, dass in dieser andere Mächte mitwirken: Die Kultur ist auch ideologisch und vor allem kommerziell durchdrungen, während das Kulturelle nicht nur im ›Kulturbereich‹, sondern auch in der Ökonomie und der Ideologie, also in der ›Nichtkultur‹ am Werke ist, sei es auch als untergeordnetes Moment. Zumal der Markt – mit der Warenästhetik und den Ästhetikwaren der Kulturindustrie – und auf andere Weise der in Ideologie eingehüllte Staat mit seiner Kulturpolitik wirken als je nach Kräfteverhältnissen mehr oder weniger dominante Mächte auf dem Feld der ›Kultur‹ mit.

III.

Sich allein kann kein Mensch leben,
wenn er auch wollte.
Herder8

Der produktiven Bildungsmacht des Kulturellen, die wie ein utopischer Funke am Grunde der menschlichen Realität wirkt, stellen alle gesellschaftlichen Mächte nach. Indem sie immer wieder erstarrt und sich an ›die Kultur‹ verliert, wird sie von den herrschenden Mächten assimiliert. Letzteres hat keiner so klar gesehen wie Walter Benjamin. Die sogenannten »Kulturgüter« begriff er als die Beute, die, »wie das immer so üblich war«, in dem Triumphzug mitgeführt wird, der, als »Erben aller, die je gesiegt haben […], die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen« (Geschichtsphil. Thesen, VII).

Was zunächst wie ein Befreiungsheld erschien, muss also selbst erst befreit werden. Doch es ist nicht so, als würde es bloß darauf warten. Es ist kompromittiert durch seine absolute Plastizität im Dienste eines Selbst, das sich als Zweck setzt.

Im Folgenden geht es unter immer anderen Aspekten um Versuche, das originär kulturelle Moment freizulegen und der Umarmung durch Ideologie und Unterhaltungsgeschäft zu entwinden. Die falsche Positivität der ›Kultur‹ soll aufgesprengt werden. In dem Maße, in dem es gelingt, der in jedem Individuum und potenziert in den Sozialen Bewegungen lebendigen Lust auf kulturelle Autonomie Begriffswerkzeuge zur Verfügung zu stellen und zugleich dazu beizutragen, das Ringen um kulturelle Hegemonie nicht zur Hegemonisierung des Kulturellen durch die Politik werden zu lassen, wird diese Schrift ihren Zweck erfüllt haben.

Nach der Theorie des Ideologischen und der Kritik der Warenästhetik schließt der Autor mit dem vorliegenden Buch, das nach der Interferenz dieser Mächte mit dem Kulturellen in der Spannung von Unterwerfung und Widerstand fragt, seine Trilogie zur zeitgenössischen Kultur ab. Einige der Kapitel entstammen der Zeit der Krise des Fordismus und muten die ›Übersetzung‹ in zeitgenössische Materialien und Frontstellungen zu. Im Ringen mit dem sowjetisch geprägten Marxismus-Leninismus ging es damals unter anderem darum, eine neu an Marx, Brecht und die »Linie Luxemburg-Gramsci« (Peter Weiss) anknüpfende geschichtsmaterialistische Kulturauffassung und emanzipatorische Politik des Kulturellen auszubilden. Andere Kapitel tragen die Spuren der Periode des Übergangs zu dem, was inzwischen als transnationaler Hightech-Kapitalismus unseren Alltag bestimmt. Diese älteren Texte sind überarbeitet und in Teilen umgeschrieben. Dass die Wurzeln der vorliegenden Schrift und zumal ihres Leitbegriffs mehr als dreißig Jahre zurückreichen, situiert sie am Gegenpol zu jener beschleunigten Zirkulations- und Veraltungszeit von Kulturthemen, in der eine »regelkreisähnliche Schließung« von Medienkultur und Wissenschaftskultur zum Ausdruck kommt (Lindner 2000, 98). Kein ›Heute neu!‹ bestimmt den Tenor, sondern der Versuch, der emanzipatorischen Seite im Ringen um kulturelle Hegemonie und ihrer Politik des Kulturellen und politischen Kultur zuzuarbeiten. Die aus zwei Jahrzehnten stammenden Texte zur Konzeption der Volksuni zeigen diese als Praxisfeld und spiegeln zugleich den epochalen Übergang jener Jahre.

Danksagung

Eine große Hilfe waren mir die Einwendungen und Anregungen von Thomas Barfuss, Frigga Haug, Peter Jehle und Bernd Jürgen Warneken. Jan Loheit, der das ganze Buch lektoriert und die Register erstellt hat, Ingo Lauggas und Kamil Uludag unterstützten mich darüber hinaus bei der Materialbeschaffung. Daniela Hammer-Tugendhat und Ivo Hammer haben mir mit Ratschlägen zum Holbein-Exkurs geholfen. Martin Grundmann hat mit Geduld und Sorgfalt den Umschlag und die Typographie gestaltet. Ihnen allen gilt mein Dank.

1 Der Widerspruch kommt nur metaphorisch verkannt vor: In Herders »Briefen zur Beförderung der Humanität« werden Fähigkeiten und Kräfte eines Menschen allegorisch als sein »Kapital« bezeichnet und die Früchte ihres Gebrauchs als dessen »Zinsen«, die nach seinem Tode der Gattung zuwachsen, in der immer aufs Neue »junge, rüstige Menschen […] mit diesen Gütern forthandeln« (Brief 25.8-9).

2 Hölderlin, »Andenken«, SW 1, 475.

3 Darin klingt das Dilemma der frühen Sozialdemokratie an, den kulturellen Rückstand kompensieren und zugleich eine den bürgerlichen Einfluss »neutralisierende proletarische Subkultur« entwickeln zu müssen; das Übergewicht des ersten Aspekts führte dazu, dass die »ideologiekritischen Intentionen« auf der Strecke blieben (Fülberth 1972, 8).

4 Jargon der Eigentlichkeit, GS 6, 479.

5 »The vocabulary of cultural studies is contested, with no agreement on the basic terms used to describe its field […] the key concepts are unstable, constantly being challenged and revised« (Kellner 1995, 34).

6 Theodor W. Adorno, der diese Einsicht festgehalten hat, bestimmt dieses kritische Moment als den »perennierenden Einspruch des Besonderen gegen die Allgemeinheit, solange diese unversöhnt ist mit dem Besonderen« (Kultur und Verwaltung, GS 8, 131, 128).

7 Unter den Bedingungen des transnationalen Hightech-Kapitalismus bekräftigt Hall dieses Frageraster: »How is the global capitalism inscribed in the culture? How is the culture depending on sophisticated technologised economy? In the articulation of these three moments neither one is reduced to the other and if you don‘t reduce one to the other you have to think of over-determination. The result, the outcome of all these moments is over-determination. That is the paradigm of early Cultural Studies.« (Hall 2008b)

8 Briefe zur Beförderung der Humanität, 25.6.