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Nichts ist mehr für die Ewigkeit

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Michael Lederer

Nichts ist mehr
für die
Ewigkeit

Mit Illustrationen von Genia Chef

aus dem Englischen von
Kerstin Krolak

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten
© 1985, 1999, 2013 Michael Lederer
Erste Auflage, Parsifal Ediciones, Barcelona, 1999, ISBN: 84-87265-98-7
Spanische Edition, Parsifal Ediciones, Ya nada dura eternamente, 1999, ISBN: 84-87265-99-5

PalmArtPress, 2013, überarbeitete englische Fassung, ISBN: 978-3-941524-33-0
Erste deutsche Auflage, 2013, Nichts ist mehr für die Ewigkeit, ISBN: 978-3-941524-32-3
Deutsches eBook, 2013, ISBN: 978-3-941524-31-6
Umschlagbild: Genia Chef, Juans World, Öl auf Holz, 1995
Illustrationen: Genia Chef, Feder mit Sepiatinte und Saft spanischer Oliven, 1999
Herausgeberin: Catharine J. Nicely
Übersetzerin: Kerstin Krolack
Hergestellt in Deutschland

© PalmArtPress
Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin
www.palmartpress.com

Für Nicholas

Vorwort

Ich habe dieses Buch in den Jahren 1984-1985 geschrieben, als ich achtundzwanzig Jahre alt war. Damals war Spanien noch ein völlig anderes Land in einer völlig anderen Welt. Kein Internet, keine Mobiltelefone, keine Satellitenschüsseln auf den Dächern. Damals trieb noch ein junger Ziegenhirte seine Herde durch die engen Gassen von La Herradura, dem kleinen Fischerdorf im Süden der Provinz Granada, in dem ich zu der Zeit gelebt habe. Überall entlang des langen Kieselstrands lagen Fischerboote und daneben zusammengerollte Netze. In den Nächten, in denen der Mond nicht schien, war das Sternenlicht so klar, dass es Schatten auf den Boden warf.

Doch mit all diesen Dingen sollte es bald schon vorbei sein. Entlang der Mittelmeerküste schossen gigantische Wohnblocks und Hotels schneller aus dem Boden, als ein Mensch den Mund aufmachen und „Geld her“ schreien kann. Es war nicht allein ein Jahrhundert oder ein Jahrtausend, das da seinem Ende zuging. Dinge, die einst den Eindruck erweckt hatten, für die Ewigkeit geschaffen zu sein – Familie, Glaube, Lebensrhythmus, Horizonte – begannen sich zu verändern.

Als ich Jahre später wieder einmal nach La Herradura fuhr, lagen kaum noch Fischerboote am Strand. Die Fischer besserten keine Netze mehr aus und machten auch kein Feuer mehr. Das Licht aus all den neuen Gebäuden machte es schwerer, die Sterne zu erkennen. Und die Ziegen waren fort. Gut möglich, dass der Ziegenhirte inzwischen als Immobilienmakler arbeitet.

Michael Lederer

Berlin
2013

“Alle Dinge müssen vergehen.”

- George Harrison

GUTE NEUIGKEITEN

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Zumindest begann alles wie an jedem anderen Tag. Die Sonne war noch nicht über den Gipfeln der Sierra Nevada aufgegangen und nur das gleißende Licht des Mondes und der Sterne schien auf das kleine Cortijo. Der Hahn mochte bereits seit gut einer Stunde krähen und die Grillen in den Olivenbäumen zirpten sich gegenseitig etwas vor.

Aurelio hatte die beiden Ziegen fertiggemolken und trug die Milch nun in einem alten Eimer über den schmalen Trampelpfad zum Haus hinunter. Der Rest der Familie schlief noch. Um niemanden zu wecken, stellte der alte Mann den Eimer wie jeden Morgen behutsam auf dem Holztisch in der Küche ab und verließ auf leisen Sohlen wieder das Haus.

Noch war es draußen frisch und deshalb hielt er auf der Türschwelle einen kurzen Moment inne, um sich zu vergewissern, dass sein Pullover auch richtig zugeknöpft war. Dann lief er den kleinen Trampelpfad hinter der Scheune zurück, vorbei am Hühnerstall und an den Käfigen für die Tauben und die Hasen, bis er am Ende einer alten Bruchsteinmauer angelangt war. Diese Mauer hatte vor über hundert Jahren Aurelios Großvater eigenhändig erbaut, und erst seit kurzem begann sie wegzubröckeln. Der alte Mann und sein Sohn Juanma waren sich bewusst, dass ganze Mauerabschnitte einzustürzen drohten, wenn sie nicht bald etwas unternahmen. Sie hatten sich immer wieder gefragt, woher sie die Zeit für die anstehenden Reparaturen nehmen sollten. Doch wie immer war auf dem Cortijo mehr zu tun, als sie und Concha, Juanmas Frau, allein schaffen konnten, und so musste die Sache mit der Mauer vorerst warten.

Aurelio bog vom Trampelpfad ab. Sehr behutsam, um auf keinen Fall auf dem Geröll auszurutschen, bahnte er sich entlang der Mauer seinen Weg bis zu einer Stelle, an der die Mauer noch relativ stabil und die Steine in der obersten Reihe recht glatt wirkten. Er zog ein kleines Stück Pappe aus seiner Hosentasche, faltete es auseinander und legte es auf die glattesten Steine, dann setzte er sich darauf. Der alte Mann liebte es, allmorgendlich von seinem angestammten Platz aus den Sonnenaufgang zu beobachten.

Er rutschte so lange hin und her, bis er die bequemste Haltung gefunden hatte, und verschränkte die Arme vor dem Bauch, um sich vor der kühlen Morgenluft zu schützen. Dann saß er reglos da und wartete auf die Sonne.

Vor ihm erstreckte sich den Hügel abwärts aufs Meer zu der kleine Olivenhain der Familie. Als hieße es, dem Licht des Mondes und der Sterne Paroli zu bieten, warfen die Bäume dunkle, lange, stulpenartige Schatten. Aurelios eigener Schatten fiel hinter ihn auf die andere Seite der Mauer und legte sich wie ein dunkler Saum um den kleinen Weinberg der Familie. Es war der Weinberg, auf dem Aurelio und Juanma die Trauben für ihren Vino del terreno ernteten, einen nicht angereicherten, sherryähnlichen Wein, auf den vor allem der alte Mann mächtig stolz war.

Noch etwas höher, hinter dem Weinberg, standen terrassenartig aufgereihte Avocado-, Zitronen- und Blutorangenbäume, und gleich dahinter befand sich rechter Hand der kleine Mandelwald der Familie. Wenn alle mit anfassten, waren sie durchaus in der Lage, auf ihrem Bauernhof alles zu erzeugen, was sie zum Überleben brauchten. Und was der Hof ihnen nicht gab, das kauften sie eben mit dem Geld, das sie verdienten, indem sie einen kleinen Teil ihrer Oliven und den Großteil der Mandelernte an die Inhaber der kleinen Marktbuden im nahe gelegenen La Herradura verkauften.

Geraume Zeit lang, während Aurelio einfach nur so dasaß und nachdachte, wirkte nahezu alles in seiner Sichtweite wie in seinen jeweils ganz eigenen blauen Farbton eingetaucht, angefangen beim tiefschwarzen Blau der sich in der Ferne abzeichnenden Gipfel der Sierra Nevada bis zum zarten Hellblau der getünchten Wände des Cortijo. Jenseits des Cortijo, am Fuße des Berges, erstreckte sich von der Küste bis zum Horizont das Mittelmeer im tiefsten Dunkelblau, während etwas weiter abseits der Leuchtturm die Bucht von Torrenueva in einem festen Intervall mit seinem Leuchtfeuer erhellte. Auch das Licht eines kleinen Fischerbootes durchdrang ab und zu die Dunkelheit, und wie von einer unsichtbaren Kinderhand geworfen kam es wie ein Stein über das Wasser hüpfend näher.

Ganz allmählich erlosch ein Stern nach dem anderen, der Mond wurde blass und – als hätten sie nur auf ihren Auftritt gewartet – belebten nun die unterschiedlichsten Farben die Morgenidylle. Die Wipfel der Olivenbäume wurden erst in ein silberfarbenes Grau getaucht, das sich dann, nahezu unmerklich, in ein gedämpftes Grün wandelte, während über den Bergen ein schnell breiter werdender Streifen gelben und orangefarbenen Lichts auftauchte. Der Nachthimmel verblasste, und hier und da verfärbte sich eine erste kleine weiße Wolke, die bereits vom Sonnenlicht beschienen wurde, in ein korallenfarbenes Rosa. Bald gelang es Aurelio, die roten Dachziegel des Hauses und der Scheune vom Rot des Bodens unter seinen Füßen zu unterscheiden.

Langsam wurde es wärmer – und auch der Geruch von wildem Thymian, der die Mauer entlang und auf dem terrassenartigen Abhang wuchs, wurde intensiver. Es war ein Geruch, der den alten Mann immer wieder in seine Kindheit zurückversetzte. Als kleiner Junge hatte er seiner Mutter oft dabei geholfen, in den nahe gelegenen Bergen Thymian zu sammeln, und so atmete Aurelio nun tief ein und schloss die Augen, so als könne er die Vergangenheit mit geschlossenen Augen klarer vor sich sehen.

Er sah seine Mutter, jung und schön, wie sie ihre Schürze festhielt und ihm über die Schulter hinweg zulachte, wenn sie mit ihm den kleinen Trampelpfad hoch um die Wette lief – genau zu dem Fleck, wo er jetzt gerade saß. Dort würden sie eine Pause einlegen, beide nach Atem ringend, bevor sie sich wieder aufmachten zur letzten Etappe zurück zum Haus. Ab und zu würde er gewinnen, und erst Jahre später ging ihm auf, dass es dazu nur dann kam, wenn sie ihn gewinnen ließ. So zumindest musste es gewesen sein, bis seine Beine endlich lang genug geworden waren und er stark genug war, um auch ohne Hilfe zu gewinnen, doch da brachte er seine Tage schon nicht mehr damit zu, seiner Mutter beim Kräutersammeln zu helfen. Da war er nämlich so stark geworden, dass er auch anstrengendere Pflichten übernehmen konnte, etwa Steine von den Feldern zu sammeln, seinem Vater mit den Maultieren zu helfen oder die toten Äste aus den Olivenbäumen herauszuschneiden.

Als Aurelios Gedanken in die Gegenwart zurückgekehrt waren, fiel ihm auf, dass die Grillen in den Olivenbäumen nicht mehr zirpten und stattdessen die unterschiedlichsten Vögel ihr Morgenkonzert angestimmt hatten. Der alte Mann lächelte in sich hinein. Für viele, so wurde ihm bewusst, begann der Tag gerade erst. Vom Fuße des Berges aus war wie immer das stete Rauschen der Brandung zu vernehmen, genährt durch die Wellen, die sich beim Aufschlagen auf den Felsen entlang der Küste brachen und dabei ein Felspartikel ums andere abtrugen und zu feinem Sand zermahlten, so als sei das Meer vor allem anderen eine übermächtige Sanduhr.

Plötzlich war wie in einem bösen Traum aus dem Nichts auftauchend und sich in alle Richtungen ausbreitend das gewaltige Getose einer entfernten Explosion zu vernehmen, gefolgt vom widerhallenden Donner einer Maschine. Schlagartig verebbte das Morgenkonzert der Vögel. Aurelio riss instinktiv die Augen auf. Sein Kopf machte eine unmerkliche Bewegung nach rechts, und sein Blick ging über die Gipfel der Olivenbäume hinweg in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dort konnte er in nicht allzu großer Entfernung den bis ins Meer hineinragenden hohen Berg Punta de la Mona erkennen.

Seit er sich entsinnen konnte, hatten die Leute den Berg Punta de la Concepción genannt. Doch vor wenigen Jahren hatte man den Berg aus für Aurelio unerfindlichen Gründen umbenannt. Und so war er plötzlich nicht mehr derselbe.

Natürlich erstreckten sich entlang des Bergkamms noch immer die vertrauten Reihen alter Oliven- und Zypressenbäume, und riesige Steinfelsen, gespickt mit süße Früchte tragenden Feigenkakteen, übersäten nach wie vor die breiten Furchen der Berghänge. Der steinerne Beobachtungsturm, im frühen sechzehnten Jahrhundert von den Spaniern errichtet, stand ebenfalls unverändert an seinem Platz und überragte trotzig wie eh und je die gesamte Kulisse. Doch nunmehr standen gleich unterhalb des Turms die ersten Ausläufer einer großen Neubausiedlung, die sich bis zur Küste und scheinbar bis ins Meer hinein zog.

Ein wuchtiger Kran, höher als der größte Zypressenbaum, stand genau in der Mitte des sich wie Wildwuchs ausbreitenden Neubaugebiets. Alles war mit großen Rohren, Kabelspulen und Baumaschinen übersät.

Die Sonne ging gerade erst über den Bergen auf, doch es krochen bereits Hunderte von Männern in blauen Arbeitsanzügen wie Ameisen auf ihrem Hügel umher. Etwa ein Dutzend von ihnen lief durch die Staubwolke, die sich am Ort der Sprengung gebildet hatte. Nur wenige Meter weiter hatte sich eine weitere Gruppe von Männern rund um eine große gelbe Planierraupe versammelt. Einer der Männer war auf die Planierraupe geklettert, von der das erst stotternde und nun aufheulende Geräusch herrührte, das gleich nach dem Abebben der Druckwelle von der Explosion begonnen hatte.

Aurelio hatte trotz seines Alters noch immer sehr gute Augen, und so konnte er erkennen, dass die erste Gruppe von Männern im Begriff war, eine zweite Ladung Dynamit zu zünden. Bis zum Ende des Tages, das wusste der alte Mann nur zu gut, würde noch manche Sprengung dieser Art folgen.

Die Bauarbeiten hatten erst im vergangenen Jahr begonnen, und seither hatte sich Aurelio täglich aufs Neue über das Tempo gewundert, in dem die Männer vorankamen. Es war so, als ob selbst die Zeit ihnen nicht standhalten könnte, schien es ihm.

Erst hatten ihm die Veränderungen nichts ausgemacht. Er hatte es interessant und bisweilen sogar amüsant gefunden, die Männer bei ihren Sprengarbeiten am Berghang zu beobachten, wie sie im Anschluss den Boden planierten und säuberten, Fundamente aus Zement gossen, die Elektrik, Wasseranschlüsse, Abwasserrohre und anderes mehr verlegten und dadurch, Stein für Stein, Häuser und Wohnungen wie Früchte auf dem Feld aus dem Boden sprießen ließen. Doch dann fiel dem alten Mann eines Tages etwas auf, das ihn sehr traurig stimmte.