image

images

Widmung

Dieses Buch ist meiner Oma und meinen Ahninnen gewidmet, denen wir die Weitergabe dieser Typenlehre verdanken.

images

„Du kannst nicht die Welt verändern, aber du kannst dich verändern. Wenn du aber dich veränderst, veränderst du die Welt!“

„Wir alle sind Teil eines Puzzles. Als Puzzlestück bist du links und rechts bei deinen Lieben eingehängt.

Alle stehen wir in einer Richtung. Wenn du nun die Richtung wechselst und dich zu drehen beginnst, passiert Folgendes: Wer dich liebt und merkt, dass das für dich gut ist, dreht sich mit. Du kannst nicht mehr, aber auch nicht weniger tun: dich drehen. Den Rest macht die Liebe!“

Franziska Alber in Schwemm (1902–1990)

Astrid Schönweger
Ulrich Gutweniger

Die Vintschger
Typenlehre

images

Sich selbst und andere besser verstehen

images

Inhalt

Vorwort von Ulrich Gutweniger

Die Überlieferung der Vintschger Typenlehre von Astrid Schönweger

Einführung in die Vintschger Typenlehre

images Eine Typenlehre aus unseren Breitengraden

images Warum diese vier Typen?

images Der Aufbau des Buches

images Die Typen und das Geschlecht

images Die zwei Seiten der Medaille

images Achtung vor den Schubladen!

images Worum es bei dieser Typenlehre geht …

Die Typen im Vergleich oder was bin ich?

images Der Zusammenhang zwischen den Gestirnen und den Typen

images Die Typen und die Elemente

images Die Typen und die Jahres- und Tageszeiten

images Die Merkmale der Typen

images Abschließend …

Die vier Typen auf einen Blick

Die Sonne

images Die Qualitäten der Sonne

Der erste Eindruck

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Das Element

Die Seelenfarbe

images Der Sonne-Mann

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Die Sonne-Frau

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Das Sonne-Kind

images Wie eine Sonne in ihre Kraft kommt

Das Strahlen

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Die Sonne in ihrem Element stärken

Rund um die Farbpalette der Seelenfarbe

Die Sonnenfinsternis

images Die Qualitäten der Sonnenfinsternis

Der erste Eindruck

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Das Element

Die Seelenfarbe

images Der Sonnenfinsternis-Mann

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Die Sonnenfinsternis-Frau

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Das Sonnenfinsternis-Kind

images Wie eine Sonnenfinsternis in ihre Kraft kommt

Die Unauffälligkeit

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Die Sonnenfinsternis in ihrem Element stärken

Rund um die Farbpalette der Seelenfarbe

Der Vollmond

images Die Qualitäten des Vollmonds

Der erste Eindruck

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Die Seelenfarbe

Das Element

images Die Vollmond-Frau

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Der Vollmond-Mann

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Das Vollmond-Kind

images Wie ein Vollmond in seine Kraft kommt

Die Sanftheit

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Den Vollmond in seinem Element stärken

Rund um die Farbpalette der Seelenfarbe

Der Neumond

images Die Qualitäten des Neumondes

Der erste Eindruck

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Das Element

Die Seelenfarbe

images Die Neumond-Frau

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Der Neumond-Mann

Die Wirkung

Die Liebe

Der Beruf

images Das Neumond-Kind

images Wie ein Neumond in seine Kraft kommt

Die Coolness

Die Stärke

Die Orientierung

Die bevorzugten Gefühle

Die Antriebsenergie

Die Entscheidungsfindung

Der menschliche Umgang

Den Neumond in seinem Element stärken

Rund um die Farbpalette der Seelenfarbe

Die Mischtypen

images Vor- und Nachteile der Mischtypen

images Sonne/Sonnenfinsternis

images Neumond/Vollmond

images Sonne/Neumond

images Sonnenfinsternis/Vollmond

images Wie ein Mischtyp in seine Kraft kommt

Auf einen Blick: Wie kommen die vier Typen in ihre Kraft?

Übungen zur Vintschger Typenlehre

Schlusswörter und Danksagung

images

Vorwort von Dr. Ulrich Gutweniger

KAPITEL 1

Astrid Schönweger lernte ich als Klientin im Jahr 2002 kennen. Sie kam zu mir, um mich nach einer Hilfestellung im Umgang mit ihrem damals pubertären Sohn zu fragen. Hierbei war für mich als Psychologe schon äußerst auffällig, mit welcher Klarheit sie von ihren Themen sprach, wie genau sie wusste, was sie wollte und was sie nicht wollte. images Sie ließ sich im Gespräch nicht wirklich führen, sondern gab das Zepter nie aus der Hand. Sie wusste genau, auf welche Fragestellungen sie eine Antwort von mir wollte und was für sie momentan nicht von Bedeutung war. Deutungen meinerseits, welche über diese Fragen hinausgingen, blockte sie elegant ab. Nachdem sie sich geholt hatte, was sie brauchte, stand sie auf und ging. images Für eine Klientin benahm sie sich „untypisch“. Aus ihren Äußerungen konnte ich herauslesen, dass sie ein sehr großes Hintergrundwissen im zwischenmenschlichen Bereich besaß, sehr strukturiert war und dies, obwohl sie damals „nur“ den Beruf der Museumsdirektorin ausübte.

Obwohl Astrid eine offenkundige Feministin war, ließ sie sich keineswegs irgendeinem feministischen Klischee zuordnen. Trotz schlechter Erfahrungen mit Männern hatte sie keine ablehnende Haltung gegenüber ihnen, sondern entgegnete – von mir darauf angesprochen –, dass auch Frauen Gewalt ausüben könnten und Gut und Böse keine Frage des Geschlechts sei. Mit ihren Äußerungen ließ sie für mich immer wieder eine tiefer liegende Weisheit aufblitzen, welche mich sehr faszinierte, obwohl ich es noch nicht greifen konnte.

Es war für mich spürbar, dass sie ganz gezielt gekommen war, um sich zu nehmen, was sie brauchte. Auch diese selbstverständliche Eigenmacht war eine ihrer herausragenden Eigenschaften, die ich später noch besser kennen lernen sollte. Und weg war sie. images Monate später tauchte sie wieder einmal auf, hatte den Rat nicht nur beherzigt, sondern voll in die Tat umgesetzt und erwartete nun Tipps für die nächsten Schritte mit ihrem Sohn. Damit war das Therapeut-Klientin-Verhältnis mit ihr auch schon beendet.

Überraschend meldete sie sich bald darauf bei mir, um mich zu einer persönlichen Führung bei einer Ausstellung im Frauenmuseum Meran einzuladen. Es war ihr persönliches Dankeschön für die „gute Zusammenarbeit“. Das war ein treffender Ausdruck für diese zwei Treffen und entsprach ganz und gar nicht einem typischen TherapeutInnen-KlientInnen-Verhältnis. images Ich nahm das Angebot freudig und neugierig an, denn es passierte mir nicht alle Tage so ein Dankeschön! images Da es sich bei der Ausstellung um Kunstwerke mit schamanischem Inhalt handelte und ich in diesem Gebiet meine Erfahrungen hatte, kamen wir bald in ein vertiefendes Gespräch zum Thema Heilen auf verschiedenen Ebenen. Hierbei offenbarte sie mir – für sie sehr untypisch, wie sich später herausstellen sollte – ihr anderes Gesicht. Das war der Beginn eines Austausches von verschiedensten Erfahrungen im rituellen und spirituellen Bereich. images Zunehmend holte ich immer mehr die Schätze eines bis dahin geheim gehaltenen alten Wissens ans Tageslicht. Günstige Umstände unterstützten mich darin, dass sie sich mit mir als ersten Menschen – nach ihrer Großmutter – darüber austauschte. Darunter befand sich auch die Vintschger Typenlehre.

Da ich ihre Person und auch ihre Persönlichkeit schon sehr schätzen gelernt hatte, war ich brennend daran interessiert, auch diese Typenlehre kennen zu lernen. Vor allem deshalb, weil die klassische Persönlichkeitspsychologie eher davon ausgeht, dass der Mensch bei der Geburt ein unbeschriebenes Blatt ist. Die einzige Frage, die sich die PsychologInnen immer wieder stellen, ist die, ob die genetischen oder die lernbedingten Einflüsse eine größere Rolle spielen. images Es gibt zwar in der Psychologie auch umstrittene Typologien, wie z.B. die nach der griechischen Säftelehre (Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker), aber auch hierbei geht es darum, welche Ausprägungen Menschen in späteren Jahren aufweisen.

images

Eine Grundidee der Typenlehre, nämlich dass es von Anfang an – schon im Mutterbauch – vier grundlegend verschiedene Typen gibt, welche somit auf die Außenreize – entsprechend ihrer „angeborenen“ Eigenheiten – verschieden reagieren, war für mich bahnbrechend neu.

Mit dem besseren Kennenlernen der einzelnen Typen, aber insbesondere der speziellen Beschreibung meines Typs – nämlich der Sonne –, war ich verblüfft, wie viele Eigenheiten genau auf mich zutrafen, die diese Frau von mir gar nicht wissen konnte. Noch verblüffender war jedoch der Umstand, wie genau die menschlichen Eigenheiten beobachtet und ergründet wurden. images Im gesamten Psychologiestudium und in meiner doch langjährigen Praxis hatte ich noch nie ein System kennen gelernt, das so viele spezifische Eigenheiten der Persönlichkeit berücksichtigt. Das ist ein Raster, bei dem wir auf so vielen unterschiedlichen Ebenen Menschen anschauen, bedenken, erfühlen, erspüren, wahrnehmen können! images Auch ich selbst hatte mich noch nie auf diese Weise unter die Lupe genommen.

Für mich begann dank Astrid und ihren Ahninnen eine spannende Selbsterfahrungsreise. Dieses Wissen unterschiedlicher Erlebenswelten ermöglichte mir meine Mutter, meinen Vater und meinen Bruder als von mir grundsätzlich verschiedene Menschen zu erkennen und ihre Fühl-, Denk- und Handlungsmuster erstmals nachvollziehen zu können, denn es ist normalerweise üblich, von der eigenen Nase auszugehen und von sich auf andere zu schließen. Diese Vorgehensweise hat sich nun jedoch für mich als falsch herausgestellt. Ich kann mir selbst und den anderen Menschen nur gerecht werden, wenn ich sie als den Typ erkenne, der sie sind. images Natürlich ist es ratsam, sich in den anderen einzufühlen und auf diese Weise zu versuchen, seine Bedürfnisse zu erkennen. Das gelingt jedoch erst richtig gut, wenn ich diese Typenlehre berücksichtige.

Damit fiel eine große Last von meinen Schultern, weil die nicht erfüllten Ansprüche meiner Kindheit oder auch in gegenwärtigen Beziehungen zum größten Teil hinfällig wurden. Gewisse Erwartungen waren somit gar nicht berechtigt. Und auch ich konnte die Erwartungen an mich selbst an die sich mir nun neu erschließende Wirklichkeit anpassen, wodurch ich nicht dauernd versuchen musste, etwas anderes zu sein, als ich war. images Mit den einfachen und wirkungsvollen Weisheiten ihrer Oma fiel es bedeutend einfacher, diese Erkenntnisse auch in die Tat umzusetzen.

Ich hatte ein Werkzeug in die Hände bekommen, das mir entsprach! Als wissenschaftlich orientierter Psychologe war ich zwar nicht auf der Suche danach gewesen, aber diese Typenlehre faszinierte mich. Anfänglich hätte ich nie gedacht, wie sehr sie mich beeinflussen und bereichern würde, schon gar nicht, dass ich sie eines Tages auch in den therapeutischen Bereich hereinholen könnte. Da sie jedoch Beziehungsmuster so klar zuordnen ließ und viele Dynamiken im zwischenmenschlichen Umgang zusätzlich mit anderem Wissen, das von Astrids Oma herkam, erklären konnte, wurde sie sehr schnell ein wichtiges Zusatzinstrument in meiner Praxis.

Anfänglich benutzte ich die Typenlehre, indem ich Astrid zu einigen KlientInnen außerhalb der Sitzung befragt bzw. in Gruppenseminaren sie ihre Sicht abgeben ließ. Erst nach einiger Zeit der Selbsterfahrung und des Zuschauens begann ich langsam, eigene Schlüsse zu ziehen. images Auch wenn die Typenlehre sehr einfach erscheint, ist sie dennoch äußerst komplex und sollte daher vorsichtig angewandt werden. Sie unterscheidet zwar vier Typen, was jedoch keinem Schubladendenken entspricht, denn innerhalb der Typen gibt es so viele Unterschiede und so feine Abstimmungen, dass sowieso bei jedem Mensch die verschiedenen Bereiche abgeklärt werden müssen.

Das Faszinierende an der Typenlehre war für mich der Zugang: Der Mensch wird nicht nur vom Denken und Analysieren heraus betrachtet, sondern wahrlich auf allen Wahrnehmungsebenen. Das Gegenüber kann gespürt, gefühlt, angeschaut, beobachtet und analysiert werden. Der Körperbau, die Stimmlage, der Blick, die Ausstrahlung und all die Eigenheiten des Gegenübers, die er im Umgang mit der Welt offenbart, werden berücksichtigt. Damit ist sie nicht nur so genannten „gebildeten“ oder „studierten“ Menschen zugänglich, sondern allen. Da sie zudem aus unserem Alpengebiet zu kommen scheint, ist sie sicherlich für uns alle gemacht, von der Bäuerin bis zum Maurer, vom Briefträger bis zur Ärztin. Jeder, die/der sich angesprochen fühlt, kann diese Typenlehre erlernen und bekommt damit ein brauchbares Werkzeug der Selbstfindung und der Verbesserung des Umgangs mit sich selbst und mit anderen in die Hände.

Das gemeinsame Arbeiten in Gruppenseminaren ermöglichte es mir, unzählige Erfahrungswerte zu sammeln und die Anwendbarkeit dieser Typenlehre zu evaluieren. Die Sichtweise von Astrid unterschied sich grundlegend von meiner. Gerade in mehrtägigen Seminaren erwies sie sich als zuverlässig. Manchmal waren wir damit sogar imstande, sich abzeichnende Dynamiken frühzeitig zu erkennen und den KlientInnen zu ermöglichen, kreativer damit umzugehen.

Die Typenlehre und das, was Astrid sonst noch von ihrer Oma gelernt hat, gehören heute zu meinen Instrumenten in der Therapiearbeit und ist da nicht mehr wegzudenken. Die Vintschger Typenlehre bereichert das psychologische Wissen ungemein und macht mir verständlich, was zwischen Menschen abläuft. Für mich würde ich sogar behaupten, dass dadurch das Mysterium der zwischenmenschlichen Beziehungen zugänglicher wurde. Viele Fragen, die ich seit Jahren in mir trug, konnten damit schlüssig und nachvollziehbar beantwortet werden. Mehr noch: Sie geben mir Werkzeuge in die Hand, das eigene Leben selbstverantwortlich – Astrid würde sagen: „eigenmächtig“ – zu gestalten.

images

Die Überlieferung der
Vintschger Typenlehre

KAPITEL 2

„Die Vintschger Typenlehre, interessant! Was ist das?“ „Noch nie davon gehört: Sonne, Vollmond, Sonnenfinsternis, Neumond?“ „Was bedeutet das? Was nützt mir diese Typenlehre?“ Das waren die anfänglichen Fragen von vielen, die zum ersten Mal in den Seminaren von Uli und mir davon hörten. So manche TeilnehmerInnen wünschten sich alsbald diese Beschreibungen schriftlich und meinten: „Schreib doch ein Buch darüber. Ich würde es sofort kaufen!“

So bin ich jetzt da und schreibe es. Das ging jedoch bei weitem nicht so schnell. Eine große Hemmschwelle war die, dass ich nicht darum herumkomme, meine Geschichte bzw. die meiner Ahninnen zu erzählen, um eine weitere Frage zu beantworten: „Wieso jetzt diese Typenlehre?“ Die Vintschger Typenlehre ist eng mit meiner Lebensgeschichte verwoben und dass ich sie gerade jetzt öffentlich mache, ist auch kein Zufall, aber alles schön von Anfang an …

images

Fernab der „anderen “

Ich habe die Vintschger Typenlehre sozusagen „geerbt“, und zwar von meiner Großmutter, die ich im Folgenden in unserem Dialekt „Oma“ nennen werde. Sie nannte „unseresgleichen“ – wie sie es ausdrückte – „Hirtinnen“, im Sinne von „Hüterinnen des alten Wissens“. Oma fügte hinzu, dass die „anderen“ (gleichbedeutend mit: die Leute, die Menschen) „unseresgleichen“ früher als Salige bezeichneten. Die Saligen sind heute nur mehr als Sagengestalten bekannt, entweder als mythologische Figuren, die nie existiert haben, oder als inzwischen ausgestorbene „seltsame Frauen“, die abseits von allen lebten. Was Oma bestätigte war letzteres: Unsere Ahninnen waren anscheinend wirklich „seltsame Frauen“, die abseits von allen lebten, doch zumindest eine von ihnen hatte ihre Lebensweise verändert, und zwar unsere Ahnin. Sie scheint wohl entschieden zu haben, sich unter die „anderen“, unter die Leute zu mischen.

Ich weiß nicht, von welcher Ahnin in welchem Zeitraum ich da spreche, auch wenn ich neugierig eine Stammbaumforschung in Auftrag gegeben habe, doch diese Ahnin ist natürlich nicht auffindbar. Ich kann somit nur das erzählen, was ich von meiner Oma erfahren habe, mit so genannten „harten Fakten“ kann ich nicht aufwarten.

Auch die Bezeichnung „Vintschger Typenlehre“ stammt von mir. Oma hat mit mir zwar immer über „die Typen“ gesprochen, aber mir fiel erst kürzlich im Gespräch mit einer meiner Tanten auf, dass es eigentlich ein ungewöhnliches Wort für sie war, denn ansonsten war sie in Fremdwörtern nicht bewandert. Ob ich die Typen selbst als Kind irgendwann so benannt habe und Oma zum leichteren Verständnis darauf eingegangen ist oder ob dieser Ausdruck wirklich von ihr stammt, das kann ich heute in meinen Erinnerungen nicht mehr nachvollziehen. Mit mir hat sie jedenfalls stets von „den Typen“ gesprochen und als solche habe ich sie in meinem Inneren aufbewahrt. Erst als ich mich mit den Typen intensiver beschäftigte, und das geschah erst dann, als ich Uli Gutweniger kennen lernte, habe ich dieses Wissen um die Typen „Vintschger Typenlehre“ getauft. Es war mir wichtig, das Tal, aus dem ich dieses Wissen vermittelt bekommen habe, zu benennen und für mich war es im wahrsten Sinne des Wortes eine Lehre. Darum „Vintschger Typenlehre“.

Es war mir wichtig, das Tal, aus dem ich dieses Wissen vermittelt bekommen habe, zu benennen, und für mich war es im wahrsten Sinne des Wortes eine Lehre. Darum „Vintschger Typenlehre“.

Das Wissen meiner Oma, das über Generationen mündlich weitergegeben wurde, wird hiermit erstmals niedergeschrieben. Meine Oma war eine einfache Bäuerin. Sie konnte zwar altgotisch schreiben, aber das Schreiben lag ihr nicht wirklich. So hatte sie auch nie die Notwendigkeit gesehen, die neue Schrift zu erlernen, wenn sie sie auch lesen konnte. Unter ihren – sprich unseren – Vorfahrinnen finden wir wohl eher mehr Analphabetinnen. Außerdem, so Oma, sei es Frauenwissen: „Und Frauenwissen ist von jeher mündlich weitergegeben worden. Das ‚Geschreibe‘ ist die Sache der Männer, da wären wir auch aufgefallen. Eine Frau, die schreibt, und das noch an eine andere Frau weiterreicht, das wäre sogar noch in meiner Jugend verdächtig gewesen! Beim Reden fallen wir nicht weiter auf, für Männer reden wir sowieso nur Belangloses.“ Bei diesem Zitat muss ich wohl noch etwas hinzufügen: Es handelt sich um Geheimwissen. Warum öffne ich also meinen Mund? Hierzu jedoch später …

images

Blick zurück in Althergekommenes

Wie kam es dazu, dass dieses Wissen so geheim gehalten wurde? Das Warum erzählte mir meine Oma immer und immer wieder: „Unsere Ahnin sah unseren Glauben gefährdet.“ Wer oder was genau diesen „Glauben“, den ich heute eher als „altes Wissen“ oder eine „Weltanschauung“ bezeichnen würde, gefährdete, das konnte mir Oma nicht mehr sagen. Und um welche Ahnin es sich da handelt, auch nicht. Ist es die, die beschlossen hatte, sich unter die Leute zu mischen, oder war es eine der Ahninnen danach, keine Ahnung.

Oma scheint diese Geschichte immer so hingenommen zu haben, seit sie sie von ihrer Großmutter erfahren hatte, denn ich habe nie erlebt, dass sie sich diesbezüglich Fragen gestellt oder gar irgendetwas an diesen Überlieferungen hinterfragt hätte. Meine Zweifel, mein Wissensdurst haben sie zwar amüsiert, aber sie waren ihr auch fremd. Das könnte ich zwar damit erklären, dass sie Vollmond ist und ich Neumond bin, aber das wäre zu einfach.

Oma hatte ein Selbstverständnis und auch eine Selbstverständlichkeit, Hirtin zu sein, die mir von Anfang an fehlte und zu der ich vielleicht heute langsam hinkomme. Natürlich war sie schon älter, als ich sie kennen gelernt habe, ich weiß natürlich nicht, wie sie in ihrer Jugend oder als junge Frau und Mutter damit umging, ich erlebte sie nur als jemand, der die Rolle der Hirtin und das Tabu problemlos annahm.

Widersprüche kannte Oma auch nicht. In unseren Breitengraden ist das nichts Ungewöhnliches. Seit jeher wurden in der Volksfrömmigkeit auch vorchristliche Glaubensvorstellungen integriert. Oma sprach von der Quelle oder dem Brunnen, wenn es um die althergebrachte Weltanschauung ging. In ihren Erklärungen über das alte Wissen war ihre Gottheit zwar sehr weiblich und sehr auf diese Erde bezogen, aber sie sprach nie von einer Göttin.

Obwohl sie diese Weltanschauung vertrat, ging sie gleichzeitig auch regelmäßig zur Kirche und fühlte sich als eine gute Christin. Sie betete viel, bot ihrer Familie immer wieder an, für sie zu beten, liebte das Beten des Rosenkranzes und war wirklich eine gläubige Katholikin, auch wenn sie mir davon wenig übermittelte. Im Gegenteil, mir ist die katholische Religion eher fremd geblieben, auch wenn sie und auch meine Eltern – wenn auch viel weniger, da sie in der Stadt und nicht mehr auf dem Dorf lebten – sie praktizierten.

Oma war keine Persönlichkeit, die im Dorfgeschehen irgendwie als exzentrisch oder sonst wie aufgefallen wäre, zumindest nicht mehr zu meiner Zeit.

images

Urquell

Dass Oma eine recht eigenmächtige – und ich würde heute sagen für einen Vollmond auch ungewöhnlich willensstarke – Frau war, das können wir an ihrer Lebensgeschichte ablesen.

Omas Leben

Oma ist am 12.12.1902 in Kortsch geboren und war die älteste von neun Kindern, wobei drei davon schon im ersten Lebensjahr verstorben sind. Sie wurde in einem herrschaftlichen Bauernhaus geboren, das heute bei der Widumgasse (eigentlich Herrengasse) am Hügel oben majestätisch thront, es wird im ganzen Dorf als „Thürnhammerhof“ bezeichnet.

Sie wurde von Seiten ihrer Eltern dazu vorbestimmt – wie in dieser Zeit so üblich –, eine gute Partie zu heiraten, und es war die Aufgabe ihrer Mutter, die Tochter dazu zu erziehen. Oma hat mir nämlich nie von ihrem Vater, sondern nur von ihrer Mutter erzählt. Sie sei diejenige gewesen, die ihr den richtigen Mann – einen reichen Bauern – ausgesucht hätte, alle Kämpfe diesbezüglich hatte sie nur mit ihrer Mutter ausgefochten.

Jedenfalls hatte sich meine Großmutter in den Kopf gesetzt, meinen Großvater zu heiraten. Der ist – so hat sie es mir immer erzählt – ihre große Liebe gewesen. Mein Opa, den ich leider gar nicht mehr kennen gelernt habe, weil er knapp zwei Jahre vor meiner Geburt an einer Rippenfellentzündung gestorben ist, die die Lungen angegriffen hatte, war jedoch kein reicher Bauer, im Gegenteil. Er war wohl nicht reich genug, die genauen Gründe, wieso meine Urgroßeltern ihn nicht akzeptierten, sind nicht mehr herauszufinden.

Meine Oma blieb – wie es sich für einen guten Vollmond gehört – ihren Gefühlen treu und ließ sich von ihrer Liebe zu meinem Großvater durch nichts abbringen. Das allein hätte ihr jedoch nicht viel geholfen, denn ihre Mutter bestand weiterhin darauf, dass sie eine der Familie angemessene Ehe einging. Daraufhin ließ meine Oma „es passieren“: Sie ließ sich von meinem Opa mit 21 Jahren schwängern. Mir hat sie verraten, dass sie das ganz bewusst tat, obwohl eine ledige Mutter damals komplett diskreditiert wurde. Damit war jedoch jegliche Hoffnung, eine gute Partie für so ein Mädchen zu beschaffen, hinfällig.

Wer die Gesellschaftsverhältnisse in Südtirol dieser Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kennt, weiß, wie mutig mit diesem Schritt meine Oma ihrer Liebe folgte. In dieser Zeit war eine Frau, die unverheiratet ein Kind bekam, von der Kirche als schlimme Sünderin gebrandmarkt und im Dorf als Hure verschrien. Das kam fast einer Ächtung gleich. Das Risiko, dass sie bis an ihr Lebensende verachtet an ihr Elternhaus gekettet mehr als Magd denn als Tochter ihr Leben fristen musste, war groß – gar nicht zu reden von ihrer Tochter, die als lediges Kind natürlich überhaupt keinen Wert besaß.

Meine Oma blieb – wie es sich für einen guten Vollmond gehört – ihren Gefühlen treu und ließ sich von ihrer Liebe zu meinem Großvater durch nichts abbringen.

Laut meiner Oma gab es täglich wilde Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter. Sie selbst blieb stur und ging nicht davon ab, dass sie meinen Opa heiraten wollte. Inwieweit sie diese Stärke von ihrer Großmutter erhalten hatte, kann ich im Nachhinein nicht nachvollziehen. Es spricht ebenfalls für die ungewöhnliche Eigenmacht der Hirtin in ihr, dass sie nie davon sprach, was ihre große Liebe tat, um für sie zu kämpfen, sondern sie erzählte nur davon, was sie dafür tat.

Sie sagte zu ihrer Mutter: „Ich werde diesen Mann heiraten, ob du das willst oder nicht. Wenn du mir nicht deinen Segen gibst, dann werde ich warten, bis du stirbst und ihn dann heiraten. Aber derweilen werde ich weiter Kinder mit ihm machen und du wirst damit leben müssen und sie erhalten! Meine Kinder und ich werden dich tagtäglich an diese Schande erinnern!“ Soweit kam es trotz allem nicht, Oma hatte sich durchgesetzt und konnte ihren Mann, als ihr erstes Kind fünf Jahre alt war, heiraten, ihre zweite Tochter kam erst nach der Heirat auf die Welt.

Das Verhältnis zu ihrer Mutter scheint danach ein Auf und Ab gewesen zu sein. Mir gegenüber meinte sie mehrfach, dass sie eine „böse Frau“ gewesen sei. Auch meine Mutter erinnert sich noch, wie manchmal diese Oma sie angefahren habe, nur weil sie und ihre Geschwister auf der Straße spielten, wo sie sie sehen konnte. Meine Tante jedoch erinnert sich auch daran, wie diese Frau ihnen während der Option Lebensmittel und Sonstiges nach Österreich geschickt hatte.

images

Astrid und Uli hoch über dem Dorf Kortsch mit Sicht auch auf Schlanders

Diese willensstarke Seite von Oma kenne ich fast nur von ihren Erzählungen, denn ich habe sie als eine sehr sanfte, auch fügsame Frau kennen gelernt.

Diese willensstarke Seite von Oma kenne ich fast nur von ihren Erzählungen, denn ich habe sie als eine sehr sanfte, auch fügsame Frau kennen gelernt, die sich sehr selten erzürnte und in Konflikten eher ohnmächtig erschien. Nur einmal kam ihre unbeirrbare Entschlossenheit wieder zum Vorschein: Ich selbst wurde mit 21 Jahren schwanger, natürlich unehelich, wie es in unserer Familie scheinbar schon Tradition ist (zwei meiner Tanten haben ebenso uneheliche Kinder auf die Welt gebracht), und zwar von einem Mann, den meine Eltern nicht billigten – womit sie jedoch im Gegensatz zur Situation meiner Oma mehr als Recht hatten.

Ich flüchtete eines Tages schwanger zu ihr nach Kortsch, weil ich es nicht mehr aushielt, mit meiner Mutter darüber zu streiten. Bei meiner Oma fand ich Verständnis, aber sie verblüffte mich komplett, als meine Mutter bald darauf auftauchte und Oma ein Machtwort sprach. Meine Mutter scheint dermaßen geschockt davon gewesen zu sein, dass sie sich heute nicht einmal mehr an diese Szene erinnern kann. Ich kann sie verstehen, denn eine derart heftige Reaktion von einer ansonsten so sanftmütigen Frau hat mich damals genauso erstaunt.

So oder so, ab da hörten die Diskussionen mit meiner Mutter auf und fortan unterstützte sie mich zusammen mit Vater sehr stark in dieser schwierigen Zeit. Beide haben mir sehr geholfen, meinen ersten Sohn aufzuziehen.

Interessantes Detail am Rande ist, dass mir meine Mutter immer erzählt hat, dass ihre Mutter ihr gegenüber bislang nur einmal im Leben ein Machtwort gesprochen hat, und zwar, als sie neugierig in jungen Jahren fragte, ob ihre ältere, unverheiratete, damals 18-jährige Schwester ein Kind erwarte. Oma habe vollkommen unerklärlich heftig für sie reagiert. „So was fragt man nicht!“ Dieses Thema schien bei meiner Oma immer die kämpferische Seite aktiviert zu haben.

Heute würde ich sagen, dass sie sich mit diesen Geschichten als Hirtin verraten hat, während sie ansonsten ganz brav in den Rollen als einfache Bäuerin, die geheiratet und zwölf Kinder auf die Welt gebracht hatte, als brave Großmutter und gläubige, treue Kirchengängerin sowie als unscheinbare, angepasste Dorfbewohnerin aufging. Da passte viel eher ins Bild, dass Oma gegen ihren Willen so viele Kinder bekommen hat.

Sie hat mir immer gesagt, ich solle mir mit dem Kinderkriegen Zeit lassen und ja nicht zu viele, denn das sei nicht gut. Als ich sie fragte, warum sie denn dann so viele auf die Welt gebracht hatte, meinte sie, dass „sei halt so gewesen“ und schließlich einmal, dass der Opa das unbedingt gebraucht hätte. Erst viel später, als ich im Frauenmuseum und in meinem Studium immer mehr die Umstände vergangener Zeiten erfuhr, verstand ich, was sie damit meinte.

Damals stellte ein Mann seine Ehre unter Beweis, indem er viele Kinder zeugte. Damit zeigte er der dörflichen Gesellschaft, dass er „Manns genug“ war. Das war sicherlich für meinen Großvater, der der Familie seiner Frau nicht gut genug war, besonders wichtig.

Heute würde ich sagen, dass sie sich mit diesen Geschichten als Hirtin verraten hat

Da hat meine Oma bestimmt nicht in Selbstliebe gehandelt und es widerspricht der jugendlichen Oma, die ihren Willen gegen ihre Familie durchgesetzt hat. Möglicherweise hat sie in Hingabe zu ihrem Mann gehandelt und wenn das auch im ersten Moment im Widerspruch zum Bild der Hirtinnen zu sein scheint, so passt es zum einen zum Wesen des Vollmondes, aber auch in bestimmter Hinsicht wieder zu einem Aspekt der Bestimmung der Hirtin: Sie hütet ja nicht nur das Wissen, sondern hat es im Blut, auf eine Herde zu schauen.

Mein Opa hat es auf seine Weise auch immer getan. So erzählt mir meine Mutter seit Jahren immer die gleiche Geschichte von ihrem Vater: Als sie nämlich zur Zeit der Option nach Vorarlberg ausgewandert waren, mussten sie alle Hunger leiden. Die tägliche Brotration reichte bei weitem nicht, um alle Mäuler zu stopfen, und obwohl der Vater arbeitete und seine Ration auch dringend gebraucht hätte, teilte er mit dem Kind, das ihm seinen eigenen Brotanteil brachte, stets seine Ration, weil er es nicht ertragen konnte, dass sie so Hunger erleiden mussten. Sie hat ihren Vater auch immer als sehr liebevoll und sanft in Erinnerung, wobei sie zugab, dass er schon sehr streng war und Folgsamkeit von seinen Kindern erwartete. Wer dem nicht Folge leistete, konnte auch schon einmal den Gürtel spüren. Dennoch ist so ein Mann unter den Südtirolern von gestern eine Besonderheit, denn die Gesellschaftsverhältnisse dieser Zeit brachten ganz oft harte Männer hervor. Meine Oma wird nicht umsonst diesen Mann so geliebt haben.

Interessant ist, dass sie mir eigentlich gar nie gesagt hat, was für ein Typ der Opa war. Sie redete überhaupt nicht gerne von ihrem verstorbenen Mann, sondern konzentrierte sich zumeist darauf, mir etwas vom alten Wissen beizubringen. Den Erzählungen meiner Mutter nach tippe ich jedoch darauf, dass er eine Sonnenfinsternis war. Er war laut ihr eher ein stiller und ernster Mann.

Die mündliche Überlieferung der Vintschger Typenlehre

Das Wissen sei nur von Großmutter zu Enkelin weiterzugeben, die es wiederum als Großmutter ihrer Enkelin weiter überliefert usw.

Um diesen „Glauben“ in die Zukunft zu retten, beschloss eine unserer Ahninnen, ihn nur mehr von Frau zu Frau in der Familie weiterzugeben. Die genaueren Umstände dieser Entscheidung kannte meine Oma aber nicht. Ihr machte es nichts aus, dass sie viele meiner Fragen nicht beantworten konnte. Für sie waren die nicht so wichtig, ich sei einfach zu „kopfet“. „Du willst immer alles wissen, als ob es mehr wahr würde, wenn du nur alles weißt. Das sind die ‚Stadtler‘! Derweilen ist auf dem Feld schon alles gewachsen, bevor die wussten, warum und wie genau es gedeiht. Und auch die Kinder sind schon gekommen, bevor man wusste, wie sie zustande kamen.“

Das hatte auch eine Logik und so akzeptierte ich als Kind immer wieder, dass es auf bestimmte Fragen keine Antwort gab.

Heute sehe ich es so, dass sich die Antworten von alleine im Laufe der Zeit einstellen, zum Teil können sie nachgefragt werden, zum Teil beantwortet sie das Leben – zumindest die relevanten Fragen. Aus meiner Sicht ging bei der Weitererzählung dieser Geschichte möglicherweise einiges verloren. Ganz sicher verloren ging der Kontakt zu anderen „Hirtinnen“. Denn Oma wusste nicht, ob es „unseresgleichen“ noch außerhalb unserer Familie gibt und ich demnach auch nicht.

Wie geheim diese Geschichte war, zeigt auch die Regelung dieser Ahnin, die wir bis jetzt befolgten: Es war sogar innerhalb der Familie tabu, darüber zu sprechen, es war nicht einmal ein Familiengeheimnis, sondern noch enger gestrickt. Unsere Ahnin hatte sich dafür ein ausgeklügeltes System ausgedacht, wenn wir einmal davon ausgehen wollen, dass sie es erstens ausgedacht und zweitens alleine erdacht hat, „wissen“ tun wir auch das nicht (mehr). Was wir genau wissen, ist das System der Weitergabe: Das Wissen sei nur von Großmutter zu Enkelin weiterzugeben, die es wiederum als Großmutter ihrer Enkelin weiter überliefert usw. So hatte sie bestimmt, dass nur Frauen und bei den Frauen nur Neumonde und Vollmonde eingeweiht werden durften, und zwar weihte der Neumond den Vollmond ein, der wiederum den Neumond einweihte usw. Ich kann das so weit zurückverfolgen, weil ich weiß, dass meine Oma 1902 geboren wurde und es laut ihren Erzählungen von ihrer Großmutter geerbt hatte, die ihr wiederum berichtet hat, es von ihrer Großmutter vererbt bekommen zu haben – und zwar mit dieser überlieferten Geschichte, die sie mir erzählt hat und den Regeln der Weitergabe von Vollmond zu Neumond, Neumond zu Vollmond, Vollmond zu Neumond etc. Damit bin ich mit meiner mündlichen Überlieferung schon bis ins 18. Jahrhundert gekommen und laut den ersten Ergebnissen der Stammbaumforschung scheint das alles in Kortsch vonstattengegangen zu sein.

Damit bin ich mit meiner mündlichen Überlieferung schon bis ins 18. Jahrhundert gekommen und laut den ersten Ergebnissen der Stammbaumforschung scheint das alles in Kortsch vonstattengegangen zu sein.

Von meiner Oma selbst weiß ich nicht einmal, ob es sich um ihre Oma mütterlicher- oder väterlicherseits gehandelt hat, ich war zu klein, um so etwas nachzufragen und später habe ich mich zu wenig damit beschäftigt. Ich weiß nur, dass sie ein Neumond war und meiner Oma das Wissen als Hirtin weitergab. Oma zitierte sie, wie ich sie heute oft zitiere, daran kann ich mich noch erinnern. Genauso wie daran, dass sie oft schmunzelnd meinte, dass ich sie an ihre Oma erinnere und genauso wie sie ein absolut typischer Neumond wäre.

Was meine Stammbaumforschung erschwert, ist, dass im Grunde nicht ausdrücklich festgelegt wurde, ob das Wissen nur an Enkelinnen, die von Töchtern gezeugt wurden, weitergegeben werden kann oder nicht. Oma hat davon nie gesprochen und somit muss das auch nicht sein, d.h. jedoch, dass ich die Linie der Weitergabe nur ganz schwer zurückverfolgen kann.

Womit die Zweiflerin in mir auch wieder lange zu kämpfen hatte, denn im Alter fragte ich mich natürlich, ob diese Regelung denn immer eingehalten wurde bzw. überhaupt eingehalten werden konnte. Und ob es nicht wichtig gewesen wäre mir das mitzuteilen, damit auch ich mich korrekt an diese Weitergabe halte …

Lebten die Großmütter immer so lange? Waren immer die richtigen Enkelinnen da zum Weitergeben? Gab es immer die glückliche Fügung, dass da ein Vollmond an einen Neumond weitergeben konnte?

Sicherlich haben die kinderreichen Familien solche Problematiken vielleicht gar nicht aufgeworfen und ich sehe im Geiste schon wieder meine Oma, wie sie amüsiert den Kopf über die „Stadtlerin“ in mir schüttelt, doch heutzutage wäre die Befolgung der Regelung meiner Ahnin schon eher ein Problem. Zwar werden wir ziemlich alt – im Gegensatz zu früher –, aber die Kinder- und somit Enkelinnenanzahl ist schon sehr begrenzt. Ich selbst hätte gleich mehrere Probleme: Ich habe nur Söhne, wenn es also darum gehen sollte, dass nur die Enkelinnen meiner Töchter in Frage kommen, wäre es schon unmöglich. Aber wenn dies auch nicht so wichtig ist, dann aber umso mehr, dass ich nur zwei Söhne habe. Und einer von den beiden müsste gefälligst zu meinen Lebzeiten eine Vollmondenkelin produzieren, und zwar nicht irgendeine, sondern eine, der es in die Wiege gelegt ist, eine Hirtin zu werden.

images

Denn ich war weder unter den ersten der EnkelInnen noch die erste Enkelin, nicht einmal die erste Neumond-Enkelin, doch ihre Wahl fiel auf mich. „Eine Hirtin erkennt eine andere Hirtin schon in der Wiege“, war ihre Antwort, als ich sie fragte, wie sie darauf kam, gerade mich unter ihre Fittiche zu nehmen. Ich hingegen werde wohl nicht so viel Auswahl haben, was die Weitergabe des Wissens an eine Enkelin betrifft …

Tja, als „Stadtlerin“, „Kopfete“ und „G’studierte“ diese mündliche Überlieferung zu erhalten, war und ist oft recht schwierig, wie Sie jetzt leicht in meinen Erzählungen mit verfolgen können, nicht wahr? Da ist oft recht schwierig. …

Zweifel hin oder her, bis zu mir ist dieses Wissen auf alle Fälle durchgedrungen (da höre ich in meinem Geiste auch schon Oma applaudieren für diese Haltung meinerseits). Und in den letzten Übergaben hat es scheinbar tadellos geklappt: Meine Oma hatte es von ihrer Neumond-Oma erhalten, die versichert hatte, es ihrerseits von einer Vollmond-Oma bekommen zu haben, sie selbst war ein Vollmond und wählte mich als Neumond aus. Dieses System wurde also rigoros eingehalten.

Interessant ist, dass die erste Neumondenkelin – die sie nicht als Hirtin ausgewählt hatte – von einem ihrer Söhne gezeugt wurde. Das war kein Argument für sie, als ich sie danach fragte, warum sie mich auswählte, doch das heißt gar nichts, denn Oma verließ sich auf ihre Intuition viel mehr als auf ihr Denken, wie es typisch für einen Vollmond ist. Es kann also durchaus sein, dass das sehr wohl ein Argument war, weiter auf die richtige Enkelin zu warten, aber dass sie das nicht parat hatte, als ich ihr diese Frage stellte. Ein weiteres Indiz dafür wäre, was ich dank der Stammbaumforschung kürzlich herausfinden konnte: Meine Großmutter väterlicherseits ist 1884 gestorben, also neun Jahre vor der Geburt meiner Oma, also kann es nur die Großmutter mütterlicherseits gewesen sein …

Tja, als „Stadtlerin“, „Kopfete“ und „G’studierte“ diese mündliche Überlieferung zu erhalten, war und ist oft recht schwierig, wie Sie jetzt leicht in meinen Erzählungen mit verfolgen können, nicht wahr? Da ist eine Geisteshaltung dahinter, die dem Zeitgeist, mit dem ich aufgewachsen bin, so gut wie gar nicht mehr entspricht.

Oma hat darin aber eine Herausforderung gesehen: für sich, mir das trotzdem zu vermitteln, für mich, es gerade als Kind dieser Zeit anzunehmen. Für sie war es bedeutsam, dass gerade ich die Hirtin war, die Enkelin, die in der Stadt lebte und dort zur Schule ging. „Mit dir kommt der Glaube zu den ‚Kopfeten‘, wie zu meiner Zeit der von den ‚Kopfeten‘ zu uns kam. Das ist gut so!“ Für sie war damit der Wille der Ahnin, dass das Wissen überlebt, gewährleistet.

images

Die dunklen Schleier lichten sich

Ob ich zweifelte oder nicht, an das Tabu habe ich mich bis vor ein paar Jahren genauso rigoros gehalten wie sie. Die restlichen Familienmitglieder waren alle nicht informiert, sind es größtenteils bis heute noch nicht, da ich die erste bin, die das Tabu bricht.

Seit ein paar Jahren erwähne ich meiner Mutter gegenüber diesbezüglich manchmal etwas, aber sie weiß nicht so recht, was sie damit anfangen soll. Sie und ihre Schwestern, allesamt Töchter meiner Großmutter, mit denen sie schließlich darüber geredet hat, stehen dem einerseits staunend, andererseits skeptisch gegenüber. Sie haben ihr Bild von ihrer Mutter, das so gar nicht mit meinem zusammenpasst, und mir scheint, es fällt ihnen schwer, mir überhaupt zu glauben. Auch deswegen, weil Oma sie dazu erzogen hat, dass man über das Vergangene nicht reden soll. In diesem Punkt ein absoluter Widerspruch zu dem, wie ich Oma erlebt habe! Abgesehen von dem habe ich natürlich genauso das Bild von Oma vor mir, wie sie sich gegeben hat und wie sie es haben: ziemlich konservativ, einfach und darauf bedacht, kein unnötiges Aufsehen zu erregen.

Meine Mutter lässt meine Geschichte einfach stehen, gleich neben ihrer Wahrheit, nimmt die Widersprüche zwischen ihrem Bild und meinem Bild von ein und derselben Frau mehr oder weniger hin. Sie versucht einfach, meine Wahrheit stehen zu lassen. Spätestens daran ist zu erkennen, dass sie eine wahre Tochter ihrer Mutter, meiner Oma, ist – und ein Vollmond!

Aus den Erzählungen meiner Mutter und natürlich Omas ist auch klar, dass meine Urgroßmutter, die meine Oma zur Heirat zwingen wollte, ein Neumond war. Dass die Großmutter meiner Oma ebenfalls einer war, liegt auf der Hand, denn schließlich musste es ja immer von Neumond zu Vollmond und wieder zu Neumond weitergegeben werden.

Mit den anderen Verwandten habe ich sehr wenig Kontakt – mit Ausnahme meiner Patentochter – und auch darum so gut wie gar nichts darüber gesagt. Es tut mir zwar leid, dass sie nun am ehesten etwas darüber erfahren, indem sie von diesem Buch hören, aber ich habe es mir genauso wenig oder genauso viel ausgesucht wie sie, den Platz in der Familie eingenommen zu haben, auf dem frau das Wissen von Oma auf diese „geheimniskrämerische Art“ erhält.

Aus heutiger Sicht kann ich sagen, dass diese Familienregelung der ganzen Familie an sich nicht sehr gut getan hat. Dieses geheime Wissen hat sich sicherlich nicht harmonieschaffend auf das Familienleben ausgewirkt, weder in meiner Herkunftsfamilie noch in der, die ich selbst geschaffen habe. So war auch mein älterer Sohn, dem ich 15 Jahre nichts davon gesagt habe, nicht sehr glücklich darüber. Das hat er mir sehr deutlich bestätigt. So manches Mal hörte ich schon die trotzige Antwort von ihm: „Ich weiß davon nichts, Mama. Bin ja nicht so erzogen worden wie du, noch dazu als Sohn!“ Der Wink mit dem Zaunpfahl ist angekommen …

Noch dazu muss ich mir von ihm den berechtigten Vorwurf gefallen lassen, dass ich zum Beispiel mein Wissen über die Typenlehre in meiner Erziehung ihm gegenüber so gut wie nicht angewandt habe. Als Neumond habe ich die Sonne in ihm bei weitem nicht gehegt und gepflegt, ihn in seinem Wesen nicht gefördert und ihn auch nicht so genommen, wie er ist. Tja, das kommt davon, wenn frau zwar ihr Wissen anwenden, aber nicht verraten soll. Ich konnte damit nicht besonders gut umgehen … Und so ließ ich es jahrelang eher brach liegen, zu meinem Nachteil und dem meines Sohnes. Doch mein zweiter Sohn, meine Enkelin und meine Ziehsöhne profitieren heute sehr wohl davon.

Ich habe es mir genauso wenig oder genauso viel ausgesucht wie sie, den Platz in der Familie eingenommen zu haben, auf dem frau das Wissen von Oma auf diese „geheimniskrämerische Art“ erhält.

Viele Konflikte mit meiner Mutter deute ich auch heute so, dass ich wahrscheinlich mehr Aufmerksamkeit von Oma bekommen habe als sie und ihre Geschwister gemeinsam von ihrer Mutter. Bei zwölf Kindern ist die Aufmerksamkeit natürlich begrenzt und meine Mutter war mittendrin. Außerdem hatte Oma als Großmutter erstmals ein wenig mehr Zeit, sich mit einem Kind abzugeben.

Ich denke mir, dass meine Mutter zum einen stolz darauf war, dass ihre Tochter eine Lieblingsenkelin war – denn das konnte Oma nicht verbergen –, zum anderen hätte sie diesen Lieblingsstatus wahrscheinlich auch gerne selbst eingenommen. Das kann ich heute sehr gut verstehen. Und wer weiß wie viel die Konflikte zwischen Oma und ihrer Mutter auch mit dieser Geschichte zusammenhängen, noch dazu hatte Oma schließlich auch einen besonderen Draht zu ihrer Großmutter.

Die Frauen der zweiten – „ausgelassenen“ – Generation sind schließlich ebenfalls Nachkommen unserer Ahninnen und die Mütter von Hirtinnen und ich bin fest davon überzeugt, dass sie sehr wohl – wenn auch nicht bewusst – spürten, dass da etwas an ihnen vorbeigeschmuggelt und vorenthalten wurde. Wer weiß, welche Fähigkeiten in ihnen schlummern, die jedoch nicht gefördert wurden? Wenn also die zweite Generation das unbewusst übel nahm, so ist das eigentlich verständlich – ganz zu schweigen von den anderen Familienmitgliedern, die so gar nicht involviert wurden.

Harmonie zu schaffen war jedoch nicht Sinn der Regelung meiner Ahnin, sondern dieses alte Wissen zu schützen und in die Zukunft hinüberzuretten. Eventuelle brodelnde Konflikte in der Familie schien sie entweder nicht vorherzusehen oder auch als notwendiges Übel in Kauf genommen zu haben.

Was mich angeht, so habe ich von den praktischen Fähigkeiten meiner Oma sehr wenig aufnehmen können. Vielmehr scheinen meine eher geistiger Natur zu sein.

Wie schon oben einmal angedeutet, bin ich überzeugt davon, nur Bruchteile dieses Wissens „in der Hand“ zu haben, denn mit diesem System ging von Mal zu Mal wahrscheinlich etwas verloren, wurde individuell gedeutet und interpretiert. Wie viel von diesem „ursprünglichen“ Wissen tatsächlich bei mir angekommen ist, ist ungewiss, und eine Volkskundlerin würde die Hände ringen mit mir! Aber es ist auch im Laufe der Zeit von jeder einzelnen Hirtin etwas dazugekommen, etwas Eigenes, wie heute auch von mir (und Uli). Im Grunde ist das mit der mündlichen Weitergabe doch immer so, oder nicht? Selbst die Schrift ist – von Abschreiben zu Abschreiben – nicht davon gefeit, sogar die Bibel nicht.

Was mich angeht, so habe ich von den praktischen Fähigkeiten meiner Oma sehr wenig aufnehmen können. Vielmehr scheinen meine eher geistiger Natur zu sein. So bin ich weder in Kräutern bewandert, noch weiß ich von alten Heilrezepten, von alten geistigen Heilverfahren hingegen schon viel mehr. Wenn ich mir so die Geschichten der Saligen in den Sagen ansehe, so muss ich ebenfalls passen. Ich kann keine glücksbringende Butter machen, weiß nicht, wann die Zeit der Ernte ist, etc.

Sie selbst übte ebenfalls nichts dergleichen aus. In ihrem Garten wuchsen Karotten und Salat, keine Kräuter, sie teilte den Bauern sicherlich nicht mit, wann die Zeit der Ernte war. Sie selbst war schon jahrzehntelang keine Bäuerin mehr, da sie die Felder verkauft hatten, somit konnte sie dieses Wissen auch über den Garten hinaus sicherlich nicht einmal für sich selbst anwenden.

Während die Thürnhammer-Bäuerin