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Markus Baum

Eberhard Arnold

Ein Leben im Geist der Bergpredigt

 

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Zu diesem Buch

Eberhard Arnold (1883–1935) gehört zu den großen Gestalten der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts. Ohne Berührungsängste pflegte der Zeitgenosse und Gesprächspartner von Karl Barth, Martin Buber und Leonhard Ragaz den lebendigen Austausch mit der Jugendbewegung wie mit der christlichen Studentenarbeit, mit der Evangelischen Allianz wie mit dem religiösen Sozialismus. Er hielt evangelistische Vorträge, setzte sich publizierend mit der Gedankenwelt seiner Zeit auseinander und gründete die Bruderhof-Bewegung, die sich bis heute auf ihn beruft. Und er rang leidenschaftlich darum, Jesus kompromisslos zu folgen.

„Seit der Zeit Jesu haben Christen versucht, entsprechend der Ethik der Bergpredigt zu leben. Die Lebensgeschichte eines dieser Menschen liegt hier vor uns. Dieses Buch legt Zeugnis ab von Gottes Treue und Gottes Handeln in der Geschichte.“

Jim Wallis im Vorwort

„Eine sprachlich brillant und spannend geschriebene Biografie über den Gründer der Bruderhofgemeinschaft ... Vor allem aber fordert das Lebenszeugnis Arnolds Christen heraus.“

Peter Zimmerling

„Ein großer Wurf. Sorgfältig recherchiert, flüssig und mit dem notwendigen Quäntchen Herzblut geschrieben.“

Hans Steinacker

„Eine gut lesbare und informative Fleißarbeit über einen der Querdenker der deutschen Erweckungsgeschichte.“

Stephan Holthaus

Über den Autor

Markus Baum, Jahrgang 1963, verheiratet mit Luzia, drei erwachsene Kinder, lebt im mittelhessischen Aßlar. Er ist Journalist und Autor sowie Übersetzer diverser Bücher. Als Rundfunkredakteur ist er in verantwortlicher Position bei ERF Medien tätig. Im Neufeld Verlag erschien auch seine Biografie Jochen Kleppers.

Impressum

Dieses Buch in gedruckter Form:
ISBN 978-3-86256-035-6, Bestell-Nummer 590 035

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar

Lektorat: Lukas Baumann
Umschlaggestaltung: spoon design, Olaf Johannson
Umschlagbild, Bilder im Innenteil: Bruderhof-Gemeinschaften®
Satz: Neufeld Media, Weißenburg in Bayern

© 2013 Neufeld Verlag Schwarzenfeld

Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des Verlages

Bearbeitete Neuauflage – eine frühere Ausgabe dieser Biografie erschien 1996
unter dem Titel Stein des Anstoßes – Eberhard Arnold im Brendow Verlag

www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch

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Inhalt

Zu diesem Buch

Über den Autor

Impressum

Vorwort von Jim Wallis

Einführung

I.

Herkunft

Einfluss der Eltern

Jugendliche Eskapaden

Unbefriedigende Konfirmation

Zerstreuungen

Entscheidende Wochen

Hingabe

Erste Konsequenzen

Entfremdung vom Vater

Missionarischer Eifer

Heilsarmee

Erstmals: die Täufer

Auszeit

II.

Ohne Überzeugung

Die DCSV

Halle

Das Schlesische Konvikt

Wachsende Verantwortung in der DCSV

Bernhard Kühn und das Allianzblatt

Auf den ersten Blick

Harmonie von Anfang an

Werbung und Verlobung

III.

Briefe kreuzen sich

Tauffrage

Innerer Bruch mit der Landeskirche

Irritierte Eltern

Trennung

Prinzipienstreit im DCSV-Vorstand

Anfänge der Pfingstbewegung

CVJM und CVJF

Pläne

Examen verweigert

IV.

Umsatteln

Taufe

Auf eigenen Beinen

Erlangen

Summa cum laude

Beim Wort genommen

Nietzsche

„Deine Sprache verrät dich“

Leipzig

Ein Freund wird fremd

Ruf aus Halle

V.

Reden und Reisen

Emy-Margret

Raum für Kinder

Hermann Kutter und die soziale Frage

Hardy

Zwangspause

Tirol

Im Stammland der Täufer

Heini

Innenland

VI.

Drei Wochen im Feld

Verblendet

Wollte Gott den Krieg?

Gründe, Abgründe

„Furche“ und Furche-Verlag

Kriegsarbeit der DCSV

Hans-Hermann

Wandlung

Monika-Elisabeth

Innenland II

VII.

Jugend in Bewegung

Revolution

Pfingsten in Marburg

Kann ein Christ Polizeipräsident sein?

Barths Botschaft macht sprachlos

Richtungskampf in der DCSV

VIII.

„Das neue Werk“

Ohne Zorn

Weggenossen

Pläne, Pläne

Gustav Landauer

Putsch

IX.

Sonnherz

Bücher und Blätter

Verletzt

Stadt auf dem Berg

Neue Spuren

Jahr der Krisen

Vorwürfe

Die kleinstmögliche Zahl

X.

Neuanfang

Ursachen

Moralischer Sieger?

Blumhardt

Versöhnungsbund

Kindergemeinde

Sonnenlieder

Zuwachs

XI.

Die „Wegwarte“

Gemeinde

Einigungsversuche

Freideutsch

Geisteskampf

Quellen

Bruderhof

Umzug in die Rhön

XII.

Viele Mäuler, wenig Geld

Bruderhof-Erziehung

Hutterische Schriften

Freunde

Gefährten

Freideutsche Bruderschaft

Auf die Spitze getrieben?

XIII.

Auf den Spuren der Vergangenheit

Übers Meer

Dariusleut, Lehrerleut, Schmiedeleut

Manitoba

Alberta

Ordination

Heimkehr

XIV.

Wie hutterisch darf ein Hutterer sein?

Die zweite Generation

Würde und Bürde

Noch einmal: Innenland

Heute die Juden, morgen die Christen

Ein Brief an Hitler

XV.

Eine Gemeinde oder Die Gemeinde?

Wollt ihr auch weggehen?

Klug wie die Schlangen

Kampf um die Kinder

Liechtenstein

Novizen aus England

XVI.

Keiner ist verhungert

Ringen um Einheit

Suche nach einem sicheren Platz

Im Dienst verzehrt

Verstellte Lichter

Letzte Reise

Zu früh gestorben?

XVII.

Eine Vision nimmt Gestalt an

Gott hat keine Enkel

Alltag

Die bleibende Botschaft

Bibliografie:

Veröffentlichungen von Eberhard Arnold

Weitere Veröffentlichungen

Über den Verlag

Vorwort von Jim Wallis

Seit den Lebzeiten Jesu haben kleine Gruppen ernsthafter Christen immer wieder versucht, der Ethik der Bergpredigt entsprechend zu leben. Von Franziskus über die Benediktiner bis zu den Täufern der radikalen Reformation war ein gemeinschaftliches Leben in der Nachfolge Jesu das angestrebte Ideal. Oft haben Christen gemeint, diese Ethik sei nur für ein zukünftiges Zeitalter bestimmt, andere jedoch haben darauf bestanden, dass Jesus von seinen Jüngern wollte, dass sie schon im Hier und Jetzt danach leben. Um einen solchen Christen geht es in diesem Buch.

Das Ziel des Buches ist es nicht, den Menschen Eberhard Arnold zu verherrlichen, ebenso wenig die Bewegung der Bruderhöfe, die er zu gründen half. Es geht vielmehr darum, Gottes Treue zu bezeugen und sein Wirken in der Geschichte. Aber es bleibt eine Tatsache, dass Gott nur durch Menschen in die menschliche Geschichte eingreifen kann. Arnolds Hingabe an Nachfolge, Gemeinschaft und Gewaltlosigkeit und sein Glaube an die unmittelbare Wirklichkeit von Gottes Reich sind noch immer Ermutigung als auch Herausforderung für alle, die Christus nachfolgen wollen. Und es ist ebenfalls eine Tatsache, dass die Bruderhof-Bewegung heute eine lebendige, pulsierende Glaubensgemeinschaft ist, von der wir als Sojourners Community in Laufe der Jahre viele Einsichten und viel Kraft gewonnen haben.

Ich bete dafür, dass der Bruderhof den Weg der Jesusnachfolge sowohl in Gemeinschaft als auch in der Welt weitergehen wird. Und während ich das mehr und mehr aktive Engagement des Bruderhofs beobachte, frage ich mich manchmal, was Eberhard Arnold dabei denken würde. Ich glaube, er würde sich freuen.

Jim Wallis, Sojourners Magazine

Washington, D. C., USA

Einführung

Eberhard Arnold ist eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Zeitgenosse und Gesprächspartner von Karl Barth und Martin Buber, Karl Heim und Paul Humburg, Leonhard Ragaz, Georg von Viebahn und Friedrich Wilhelm Foerster. Rühriger Publizist und Verleger. Innovativer Pädagoge, Entwickler einer erstaunlichen Erziehungsmethode. Chronist und Impulsgeber der Jugendbewegung. Vater einer dynamischen, in jeder Hinsicht merkwürdigen christlichen Lebensgemeinschaft. Wiederentdecker und Interpret einer jahrhundertealten geistlichen Tradition. Ein mittelmäßiger Dichter, aber ein scharfsinniger Denker. Eine buchstäblich herausragende Gestalt. Man erzählt sich, bei einem Besuch in Berlin in der Weimarer Zeit sei Eberhard Arnold wie ein Wundertier begafft worden. Ein moderner Franziskus – gleich mehrere seiner Zeitgenossen haben unabhängig voneinander diesen Vergleich gewählt. Wo und wann immer etwas von seiner Persönlichkeit aufleuchtet, ahnt man kraftsprühendes Leben.

Seltsam nur: dieser interessante Mann scheint sich zu verstecken. Seine Konturen verschwimmen hinter all den Schriften und Büchern, hinter den Tausenden von Briefen, die er geschrieben hat. Sein Bild löst sich völlig auf in der Bewegung, die sich heute noch auf ihn beruft. Er bleibt im Schatten hinter der blendenden Wahrheit, für die er eintrat. Er geht auf in der überwältigenden Wirklichkeit, zu der er sich ein Leben lang mit aller Konsequenz bekannt hat.

Wer war Eberhard Arnold? Wie wurde er, was er war? Wie war er? Denn zweifellos war auch er ein Mensch und kein glattgeschliffener Monolith. Was hat ihn gefreut, gequält, herausgefordert? Wo sind Brüche, Weichenstellungen in seinem Leben gewesen? Was ist die Summe seines Lebens? Was geht es uns heute an? Das sind die Fragen, die zur Entstehung dieses Buchs geführt haben. Die Antworten finden sich teils in, teils zwischen den Zeilen.

Man kann die Lebensgeschichte Eberhard Arnolds wie einen Roman lesen und wird eine äußerst spannende Dramaturgie darin entdecken, die auf den Dramaturgen und Regisseur dieses Lebens verweist. Man kann die Lebensspanne Eberhard Arnolds aber auch als einen Ausschnitt der Zeitgeschichte, der Kirchengeschichte, der Kulturgeschichte betrachten. Es war nicht gerade die langweiligste Periode des 20. Jahrhunderts.

Ich hatte das Vorrecht – so empfinde ich es bis heute –, dass ich in den späten 80er und frühen 90er Jahren die Bekanntschaft einiger beeindruckender Menschen machen konnte – Weggefährten Eberhard Arnolds aus den 20er und 30er Jahren, schon damals allesamt hochbetagt. All diese Zeitzeugen sind mittlerweile verstorben. Ich denke mit großer Hochachtung und Dankbarkeit an sie. Namentlich an Marianne Zimmermann und Edna Jory, Arnold Mason und Kathleen Hasenberg, Walter Hüssy, Irmgard Keiderling, Sophie Löber und Rudi Hildel – und an EmyMargret Arnold-Zumpe, Eberhard Arnolds älteste Tochter.

Die Familie Arnold hat mir Einblick in viele persönliche Dokumente gewährt. Die Bruderhöfe in England und den USA haben mir alle erdenkliche Hilfe geleistet. Vor allem, indem sie mir die über Jahrzehnte hinweg hervorragend dokumentierten Schriften Eberhard Arnolds zugänglich gemacht haben. Insofern ist dieses Buch auch eine Würdigung der Männer und Frauen, die durch alle Wirren der Zeit hindurch auf drei Kontinenten das Bruderhof-Archiv gepflegt und damit einen unermesslichen Schatz an geschichtlichen Zeugnissen gehütet haben.

Markus Baum

I.

Die Zukunft ist offen. Für einen Menschen von Anfang 20 jedenfalls. Eberhard Arnold war 22, als er sich am 11. November 1905 an der Königlichen Martin-Luther-Universität in Halle an der Saale einschrieb – ein Student unter annähernd 2.000, theologische Fakultät, zweites Semester. Ein großgewachsener junger Mann mit ernstem Gesicht. Braune Augen, Kneifer, dunkle Haare, Scheitel rechts, Oberlippenbart. Ein Mensch mit Grundsätzen und Disziplin. Man wird es ihm bei der Immatrikulation kaum angemerkt haben, dass er eigentlich gegen seine innere Überzeugung Theologie studierte (er hatte sich dem Willen des Vaters gefügt) und sich über seinen weiteren Weg ganz und gar nicht gewiss war. Jedenfalls nicht im Herbst 1905. Er war sich auch seiner selbst nicht ganz sicher: Ehre im Sinn von Ehrsucht und Stolz und das Leiden daran sind wiederkehrende Motive in den persönlichen Gedichten der frühen Studentenzeit.

Gewiss war sich stud. theol. Eberhard Arnold allerdings seines Glaubens, einer persönlichen, fast kindlichen Beziehung zu Jesus Christus. Von ihm erwartete er eine klare Berufung. Die Berufung erfolgte dann auch. Sie kam nicht über Nacht. Sie kam nicht als blendende Vision. Sie kam schrittweise. Aber das reicht ja schon.

Herkunft

Eberhard Arnold wurde am 26. Juli 1883 auf den Hufen bei Königsberg geboren. Sein voller Name lautet Eberhard Arthur Julius Arnold. Die Mutter Elisabeth Arnold geborene Voigt hatte vor ihm bereits zwei Kinder zur Welt gebracht. Sie kam aus einer Gelehrtendynastie; ihr Vater war Professor für Kirchengeschichte und Dogmatik an der Königsberger Universität, Großvater und Großonkel mütterlicherseits waren ebenfalls Theologieprofessoren und einflussreiche Männer in der Preußischen Union der evangelischen Kirche gewesen.

Nicht weniger spannend liest sich der Stammbaum des Vaters. Carl Franklin Arnold war Doktor der Theologie und Philosophie und arbeitete zur Zeit der Geburt von Eberhard als Gymnasiallehrer in Königsberg. Er selbst war der Sohn eines amerikanisch-deutschen Missionarsehepaars und war als Pflegekind in der Bremer Patrizierfamilie Gildemeister aufgewachsen. Eberhard Arnolds Großvater väterlicherseits Franklin Luther Arnold war in den USA Pastor einer evangelischreformierten Kirche. Seine Frau hatte er in Afrika bei einem Missionseinsatz kennengelernt: Maria Arnold geborene Ramsauer. In ihrer ursprünglich Schweizer Familie lassen sich über mehrere Generationen Erzieher, Juristen und Theologen nachweisen, und Eberhard Arnolds Urgroßvater Johannes Ramsauer war engster Mitarbeiter des Schweizer Pädagogen Heinrich Pestalozzi. Kurzum: Eberhard Arnold wurde in eine stolze, bürgerliche, traditionsbewusste, buchstäblich geistreiche Familie hineingeboren. Sein Bruder Hermann war drei Jahre älter als er; mehr verband ihn mit seiner Schwester Clara, die 17 Monate älter war. Zwei weitere Geschwister gesellten sich in den folgenden Jahren dazu: Elisabeth („Betty“; * 1885) und Hannah (* 1888).

1888 wurde Carl Franklin Arnold als Professor für Kirchengeschichte an die Universität Breslau berufen. Und damit verschob sich der Lebenskreis Eberhard Arnolds von Ostpreußen nach Schlesien. Er war ein fröhliches Kind („sonnig und harmonisch“, schreibt seine Schwester Clara), in der Schule träumerisch und nicht besonders aufmerksam, mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und einer Antenne für die Ausstrahlung, oder soll man sagen das Wesen der Menschen, auch bei nur flüchtiger Begegnung. Solche Beobachtungen teilte er lieber mit den Schwestern als mit seinen gleichaltrigen Kameraden.

Einfluss der Eltern

Wer von den Eltern größeren Einfluss auf den Jungen hatte, ist schwer zu entscheiden – jedenfalls war die Qualität der Beziehung sehr unterschiedlich. Der Vater lebte in erster Linie seiner Wissenschaft. Das war zu dieser Zeit vor allem die Geschichte der gallischen Kirche unter Caesarius von Arelate und später dann die Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Vertreibung unter Erzbischof Firmian im 18. Jahrhundert. Carl Franklin Arnold pflegte sich in sein Studierzimmer zurückzuziehen und verließ es meist nur zu den Mahlzeiten. Wenn er Gesellschaft hatte, dann vor allem mit anderen Dozenten oder älteren Studenten, mit denen er leidenschaftlich disputieren konnte. Morgens las er der versammelten Familie die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine vor. Abends beglückte er die Kinder, die zum Teil noch nicht einmal zur Schule gingen, mit dem „Zauberlehrling“ und anderen Versdichtungen des von ihm hochgeschätzten Geheimrats von Goethe. Selbst mit dem „Götz von Berlichingen“. Weder die Losungen noch Goethe scheinen auf die Kinderschar einen besonders nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben – die Kleinen waren vermutlich schlicht überfordert. Erst recht mutete der Vater später den Heranwachsenden hochgeistige Diskussionen zu – über die Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts, über den deutschen Idealismus Fichtes, Schellings und Schleiermachers, über die geistige Größe Carlyles und Macauleys. Carl Franklin Arnolds Begeisterung für die deutschen Nationalphilosophen entsprach sein scharfes Urteil über die Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts: „Unsere Zeit ist im Sinne einer höheren Geistigkeit überaus langweilig, unsere Politik seit Bismarcks Abgang überaus töricht, ja grundverkehrt.“ Höchst selten, dass sich der Vater einmal gelöst und fröhlich gab (er konnte durchaus fröhlich sein, erlaubte es sich aber meist nur bei Familienfesten. Erstaunlicherweise ließ er den Kindern die Beschäftigung mit den wildromantischen Abenteuerromanen von Karl May unbeanstandet durchgehen (Eberhard Arnold brachte es zu einer gewissen Meisterschaft darin, Karl-May-Bände in den Sonntagsgottesdienst zu schmuggeln). Für unbekümmertes, kindliches Herumalbern hatte er kein Verständnis. „Interesselosigkeit“ attestierte er seinen Sprösslingen, wenn er sie einmal bei nichtigem Gerede erwischte.

Die Mutter war praktischer veranlagt. Sie hatte hohe Achtung vor der Bildung ihres Mannes, stellte aber gelegentlich die Nützlichkeit der endlosen Forscherei in Frage oder hätte jedenfalls gerne mehr von ihrem Gatten gehabt („Du hättest Mönch werden sollen“). Elisabeth Arnold geb. Voigt war umtriebig und ständig aktiv (ihr zweiter Sohn eiferte ihr darin nach), außerdem gesellig und gastfrei. Carl Franklin Arnold gewährte ihr – nicht ganz freiwillig – das uneingeschränkte Regiment über den Haushalt. Das erforderte einiges an Organisation – bei insgesamt neun Personen: den Eltern, fünf Kindern und zwei Dienstmädchen. Sie hielt ihre Kinder zu Gründlichkeit und Sorgfalt an. Entspannung gönnte sie sich allenfalls spätabends bei der Lektüre von Zeitungen und Journalen, die damals natürlich noch nicht mit Fotos, sondern mit Stichen und Gravuren illustriert waren. Im Umgang mit Menschen war sie sehr direkt, konnte manchmal sogar hart wirken, war aber im Gegenteil herzlich und zugänglich. Offensichtlich hatte sie auch eine ironische Ader (ganz im Gegensatz zu ihrem Mann). Sie war hochgewachsen, blond und blauäugig. Eberhard Arnold hat ihren eigentümlich zwingenden Blick beschrieben, vermutlich ohne zu ahnen, dass viele Menschen an ihm etwas ganz ähnliches bemerkten. Elisabeth Arnold war bei aller Strenge stets mit ihren Kindern solidarisch und ließ es nie auf einen Bruch ankommen. Carl Franklin Arnold dagegen suchte schon früh die intellektuelle Auseinandersetzung und war bereit, sie um seiner Auffassung von der Wahrheit willen recht weit zu treiben. Jedenfalls durchliefen Eberhard Arnold und seine Geschwister eine anstrengende, aber unterm Strich erfolgreiche Persönlichkeitsschule.

Eine Frage wurde im Haushalt der Arnolds nicht offiziell behandelt, und das war die Sache mit den Standesunterschieden. Bis zu seinem zwölften Lebensjahr hatte Eberhard Arnold recht wenig Berührung mit Leuten aus der „einfachen Bevölkerung“. In der Schule begegnete er fast ausschließlich Jungen aus ebenfalls standesbewussten bürgerlichen Familien. Erstaunt und erregt entdeckte er daher, dass manche Leute viel unkomplizierter und einfacher lebten als er und trotzdem fröhlich und herzlich und echt sein konnten. Er schleppte einen jugendlichen Landstreicher ins vornehme Patrizierhaus seiner Eltern. Er tauschte bei einem Urlaubsaufenthalt in den Bergen seinen Hut gegen die schmuddelige Mütze eines alternden Weltenbummlers und fing sich damit außer den Vorwürfen seiner Eltern auch noch Läuse ein. Er war mit den ausweichenden Auskünften der Eltern nicht immer zufrieden und widersprach gelegentlich: warum sollte jemand, der arm ist, deshalb auch zwangsweise schlecht oder lasterhaft sein? Umgekehrt musste er am Breslauer Johannesgymnasium feststellen, dass Reichtum und ein geachtetes Elternhaus noch lange keine Garantie für Anstand und ein vorbildliches Leben sind. Ein stehlender Fabrikantensohn, flegelnde und boshafte Offiziers- und Beamtenkinder: Im Weltbild des Heranwachsenden kam einiges ins Wanken.

Jugendliche Eskapaden

Die Mitgliedschaft in einer (verbotenen) Schülerverbindung namens „Suevia“ blieb eine kurze Episode. Die Tapferkeitsrituale, die Stockgefechte (den Mensuren der schlagenden Studentenverbindungen nachempfunden), das Gerede von ritterlichem Geist, die Biertrinkerei konnten ihn nur anfangs begeistern. Vom Vater in betrunkenem Zustand erwischt und deshalb schwer beschämt, mit einer drastischen Schulstrafe belegt, setzte er sich zusammen mit einem Freund entschlossen von dieser Art von Vergnügen ab.

Unbefriedigende Konfirmation

Den Konfirmandenunterricht haben Eberhard Arnold und seine Schwester Clara mit großen Erwartungen verknüpft und waren dann eher enttäuscht, dass die kirchliche Unterweisung ähnlich langweilig und bemüht fromm ausfiel wie der Religionsunterricht im Gymnasium. Die Konfirmation selbst war auch keine Offenbarung. Carl Franklin Arnold hatte seiner Familie eine vergleichsweise bescheidene Feier verordnet. Eine Patentante aus Berlin kam zu Besuch; den kurzen Weg von der Kirche nach Hause legte man ausnahmsweise per Droschke zurück. Nachmittags stießen ein paar Freunde der beiden Geschwister zur Gesellschaft. Es gab harmlose Spiele im Salon und zum Ausklang mehrstimmige Volkslieder. Nachdem alles vorbei war, muss Eberhard noch einmal das Gespräch mit seinem Vater gesucht haben. Sinngemäß fragte er ihn, ob und wie die Konfirmation, die Vergewisserung des Glaubens, persönlich erfahrbar werden könne. Carl Franklin Arnold musste ihm eine befriedigende Antwort schuldig bleiben. Er hatte zwar im Haushalt der Gildemeisters in Bremen eine innige und fröhliche Frömmigkeit erlebt; die Pflegeeltern und ihre Verwandten standen in der Tradition des Biblizisten Samuel Collenbusch und des pietistischen Bremer Pastors Gottfried Menken. Den Respekt vor diesen Vorbildern hatte er übernommen; z. B. mutete er Frau und Kindern endlose Lesungen aus alten Predigten von Menken zu; aber ihre selbstverständliche und unbeschwerte Art zu glauben war ihm fremd geblieben. Er empfand stets eine tiefe Ehrfurcht vor dem heiligen Gott und seinen Geboten und fühlte sich verpflichtet, mit dem größten Ernst um persönliche Heiligung und sittliche Besserung zu kämpfen. Stundenlang konnte er über Psalmtexte meditieren oder im Gebet mit Gott um die tiefsten Menschheitsfragen ringen. Dazu schloss er sich in seinem Arbeitszimmer ein. Wenn er nach Stunden die Studierstube verließ, erlebten ihn die Kinder oft zerknirscht und bedrückt. Kraft oder gar Freude fand er im Gebet offenbar nicht. Seinem Sohn konnte er auch nichts anderes sagen: er versprach sich Gewissheit der Vergebung oder gar des ewigen Heils nur durch diesen harten und mühsamen Weg, durch ständiges Ringen und Beten.

Schärfer als jemals vorher ist Eberhard Arnold anlässlich seiner Konfirmation die soziale Kluft zwischen den gebildeten, wohlhabenden Ständen und den einfachen Leuten aus der Arbeiterschicht bewusst geworden. Auslöser war die Kleiderordnung. So wie sie zur Kirche gezogen waren – er im neuen schwarzen Anzug, Clara im weißen Kleid –, konnten sich das buchstäblich nur gut betuchte Familien leisten. Ärmere Kinder hatten keine extra Gesellschaftsgarderobe. Er fand das ungerecht und zog für sich daraus die Konsequenz, dass er sich mit Standesunterschieden nicht abfinden wollte. Der Entschluss blieb vorerst ohne praktische Folgen, außer für die Dienstmädchen im elterlichen Haushalt: Er behandelte sie von da an freundlicher und nahm ihnen die eine oder andere Handreichung ab.

Zerstreuungen

Für die Schule tat er weiterhin wenig (er glaubte, es werde ihm – wie im materiellen Bereich ja auch – alles zufallen). Seine Interessen richtete er nun auf den Sport: Fußball, Turnen, Rudern auf der – und Schwimmen in der Oder. In der Freizeit bummelte er ganz gerne über die Schweidnitzer Straße, Breslaus Einkaufs- und Flaniermeile. Außerdem hatte er eine Dauerkarte fürs Pferderennen (die Begeisterung für rassige und schnelle Pferde bewahrte er sich sein Leben lang).

Entscheidende Wochen

Eberhard Arnolds älterer Bruder Hermann hatte inzwischen sein Studium angetreten. Clara war mittlerweile 17, Eberhards 16. Geburtstag stand bevor. Die Ferien sollten die beiden nicht mehr, wie bisher stets, mit der Familie verbringen. Das hätte sich schlecht mit der Schule vereinbaren lassen, denn die Sommerferien dauerten bis zum 7. August, die vorlesungsfreie Zeit an der Universität begann aber erst Anfang August. Stattdessen arrangierte die Mutter einen Ferienaufenthalt bei ihrer Cousine Lisbeth und deren Mann. Ernst Ferdinand Klein war Pfarrer in Lichtenrade bei Berlin. Er hatte früher ein Pfarramt in einem schlesischen Weberdorf innegehabt, hatte sich dort weit über das übliche Maß hinaus für die Interessen der Heimarbeiter stark gemacht und hatte ihre Ausbeutung durch die Tuchfabrikanten öffentlich angeprangert. Das Konsistorium der schlesischen evangelischen Kirche hatte ihn daraufhin in eine andere Kirchenprovinz versetzt. Dem streitbaren Pfarrer war die Bewunderung des 16-jährigen Eberhard sicher.

 

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Eberhard Arnold als 19jähriger im Familienkreis (stehend
von links: Clara, Carl Franklin Arnold, Betty, sitzend von
links: Hermann, Elisabeth Arnold, Hannah, Eberhard)

Just im Sommer 1899 hatte sich Ernst-Ferdinand Klein mit seiner kompromisslosen Wahrheitshebe auch an der neuen Wirkungsstätte Feinde geschaffen. Er hatte durchgesetzt, dass der Kantor wegen unsittlicher Handlungen an einigen Mädchen der Dorfschule entlassen wurde. Der Kantor war nun zwar weg, aber dafür boykottierte ein großer Teil der Dorfbevölkerung die Gottesdienste. Eberhard und Clara Arnold fanden einen festungsmäßig verrammelten Pfarrhof vor. Gelegentlich gingen Scheiben zu Bruch; Drohbotschaften flogen durchs Fenster.

Durch die Umstände stieg der Onkel noch in Eberhard Arnolds Achtung. Der hatte sich von einem Erwachsenen noch nie so gut verstanden gefühlt. Und noch etwas beeindruckte ihn. Er schreibt später, an seinem Onkel habe er zum ersten Mal ein lebensfrohes und mutiges Christentum gesehen, eine Liebe zu Jesus und zu den Armen, wie sie ihm vorher noch nicht begegnet sei.

Eine Episode verfolgte der Gymnasiast nur als stummer und staunender Zeuge: Ein Heilsarmeesoldat war zum Essen eingeladen. Ernst-Ferdinand Klein begrüßte ihn herzlich, nannte ihn „Bruder“ und hörte sich sehr aufmerksam und bewusst den Bericht über die „Seelenrettungsarbeit“ in den dunklen Winkeln Berlins an. Eberhard Arnold war nach eigener Aussage tiefbeeindruckt – einerseits vom Respekt des Onkels vor dem einfachen Salutisten, noch mehr aber von der Hingabe und Selbstverleugnung, die er diesem Mann abspürte.

Ebenfalls im Lauf dieser vier Wochen entdeckte er das Neue Testament. Die Evangelien vor allem. Es war ihm peinlich, wenn hereinplatzende Verwandte ihn beim Bibellesen überraschten. Noch nicht einmal mit dem Onkel wollte und konnte er über die aufgebrochenen Fragen reden. Erst beim Abschied rückte er heraus mit seiner Befürchtung, zuhause gebe es niemanden, der ihm Jesus besser erklären könnte. Ernst-Ferdinand Klein versuchte diese Sorge zu zerstreuen.

Anfang August zurück in Breslau, wurden die Geschwister getrennt bei befreundeten Familien einquartiert. Die Eltern waren mit den jüngsten Töchtern, Betty und Hannah, an die Nordsee gereist. Eberhard kam in der Familie eines älteren Professors unter. Auch dieser war bekennender Christ, allerdings sehr nüchtern, musterhaft und unbeweglich und damit nicht der ersehnte Gesprächspartner. Dafür entdeckte der Gymnasiast im Schreibtisch seines Stübchens das Buch „Nachfolge Christi“ von Thomas von Kempen. Das Werk war damals schon rund 500 Jahre alt. Eberhard Arnold erkannte darin einen Schlüssel zu den Evangelien und einen Leitfaden für ein Leben in den Spuren Jesu: „ ‚Wer mir nachfolgt, wandelt nicht in Finsternis‘, spricht der Herr. Mit diesen Worten ermahnt uns Christus, seinem Leben und seinen Sitten zu folgen, wenn wir wahrhaft erleuchtet und von aller Blindheit des Herzens befreit werden wollen. Darum muss dies unsre höchste Sorge sein, uns in das Leben Jesu Christi zu versenken …“1

Hingabe

Eberhard Arnold hat in den folgenden Wochen fast jede freie Minute zum Lesen und Nachdenken genutzt. Er berichtet später, Jesu Bild sei ihm in blendender Reinheit erschienen. Ihm nachzufolgen sei dringendste Forderung geworden – ein innerer Ruf, der alles andere übertönt habe. Die Eltern, Anfang September zurückgekehrt, bekamen zunächst kaum etwas mit von dem Drama, das sich da im Innern ihres Sohnes abspielte. Er war in sich gekehrt, auffällig war allenfalls, dass er die Jugendstunden eines jungen Pastors besuchte.

Äußerlich änderte sich an seiner Haltung kaum etwas – bis zum 2. Oktober 1899. Da fasste er beim Spazierengehen auf der Hauptstraße unvermittelt einen Entschluss, bog auf die Promenade ab und steuerte die Dienstwohnung des Pastors an. Der war anscheinend nicht überrascht und hörte sich einen Schwall von Fragen und Einwänden an. Unter anderem diese: „Warum höre ich bei Ihnen so wenig vom Heiligen Geist? Ich verlange nach der Wirkung des Geistes Christi.“ – Worauf der Pastor gelassen erwiderte, das sei ja einzig und allein die Wirkung des Heiligen Geistes, dass der „junge Freund“ auf einmal zu ihm gekommen sei. Das leuchtete ein. Mit ein paar behutsamen Ratschlägen wurde Eberhard Arnold entlassen. Er ging rasch nach Hause, schloss sich in den Salon ein, schlug in seiner Taschenbibel das dritte Kapitel des Johannesevangeliums auf und las es laut. Das heißt: Er buchstabierte für sich persönlich die Bedeutung des Begriffs „wiedergeboren“ (Joh 3,3ff), bekannte seinen Glauben an Jesus, den Sohn Gottes (Joh 3,16), und er fasste mit den Worten von Joh 3,21 den Entschluss, mit allen bösen Werken zu brechen und künftig „die Wahrheit zu tun“. Außerdem erwog er bis in die Einzelheiten seiner Lebensführung hinein den Preis und die Veränderungen, die sein Schritt von ihm fordern würde.

Eine weitreichende Entscheidung, zumal für einen 16-Jährigen. Sie wurde belohnt: Als unsagbare Freude habe der Strom der Liebe Gottes sein Herz überflutet, schreibt er mehr als 30 Jahre später. – Als er schließlich den Salon verließ, bis ins Innerste erschüttert von seiner Erfahrung, fand er die Familie zum Abendbrot im Esszimmer versammelt. Mit belegter Stimme wandte er sich an seine Eltern und erzählte ihnen, was geschehen war und was das für ihn bedeute. Der Vater sagte gar nichts, verhielt sich zweifelnd-abwartend. Die Mutter fand einen begütigenden Satz, konnte die Erklärung ihres Sohnes aber nicht so recht einordnen. Die Geschwister schwiegen. Nach einer Pause – peinlich nur für die anderen, nicht für ihn – ging man zur Tagesordnung über.

Erste Konsequenzen

Zunächst einmal gab Eberhard Arnold die letzten Reste von herrschaftlich-großbürgerlichem Gehabe auf. Pferderennen und zielloses Herumschlendern waren passé. Sein schickes Elfenbeinstöckchen kam ihm nun albern vor. Der pubertären Prahlerei seiner Kameraden entzog er sich. Er verabschiedete sich in aller Form von den wohlgeformten marmornen Venusskulpturen im Stadtmuseum, mit deren Hilfe die Schüler gelegentlich ihre Phantasie angeheizt hatten. Mit mehr Mühe verkniff er sich all die kleinen Kniffe und Winkelzüge, mit denen er sich bisher durch den Schulalltag gemogelt hatte. In den letzten Herbstwochen besuchte er reihum seine Lehrer, erzählte ihnen von seinem inneren Schritt und bat sie um Verzeihung für seinen Übermut und sein bisweilen respektloses Verhalten in der Vergangenheit. Die meisten nahmen seine Erklärung skeptisch auf. Ihre Anerkennung wuchs erst in den folgenden Monaten, als der bis dahin sehr mäßige Schüler mit unvermutetem Fleiß seine Leistungen verbesserte. – Den Klassenkameraden war Eberhard Arnolds Bekenntnis zum Teil gleichgültig, zum Teil ärgerlich, sofern sie ihn bisher eher als Anstifter zu Späßen oder Abenteuern bewundert hatten. Mit den Klassenbesten wurde er auch dann nicht warm, als er kurzzeitig zu ihnen aufschloss. Leistung um der Leistung willen war nicht seine Sache; auf Anerkennung gab er wenig.

Entfremdung vom Vater

Die üblichen Feste und Gesellschaften begann er zu meiden; Einladungen zu Geselligkeiten bei befreundeten Professorenfamilien lehnte er ab, weil sie ihm neuerdings hohl und wertlos erschienen. Darüber kam es zu ernsten Auseinandersetzungen mit seinen Eltern, insbesondere mit dem Vater („Unbescheidenheit eines unreifen Jungen!“). In seinem Eifer stellte der 16-Jährige Bedingungen: ja, er würde hingehen, wenn er die Gesellschaft in offener Rede auf den Irrtum ihres Lebens aufmerksam machen könne.

Selbst am Silvesterabend, als die Familie mit einigen Studenten beim Punsch zusammensaß und auf das Jahr 1900 anstieß, teilte Eberhard von seiner Begegnung mit Jesus mit und forderte Verwandte und Gäste auf, die Stunde wahrzunehmen und ebenfalls solche Erfahrungen zu suchen. Sein Vater überspielte die einsetzende Betroffenheit, indem er wie alle Jahre den 103. Psalm rezitierte und überleitete zum Choral „Nun lasst uns gehn und treten mit Singen und mit Beten zum Herrn, der unserm Leben bis hierher Kraft gegeben“.

 

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In der elterlichen Wohnung in Breslau, 1902

Die Entfremdung zwischen Vater und Sohn nahm noch zu, als Eberhard Arnold die halbjährlichen Empfänge seiner Eltern in Frage stellte. Er kritisierte den ungeheuren Aufwand („200 Reichsmark für Essen und Trinken!“) und wies daraufhin, dass die geladenen Gäste alle selber wohlhabend und satt seien. Er erinnerte seinen Vater an die Arbeiterfamilien in den östlichen Stadtvierteln Breslaus und an das Jesuswort „Wenn du ein Gastmahl machen willst, (...) so geh auf die Straße und lade die Allerärmsten ein, die dich niemals laden können“ (Lk 14,12ff). Carl Franklin Arnold belegte ihn für diese, wie er meinte, Anmaßung mit Stubenarrest. Die Serie der Missverständnisse setzte sich fort, und beide litten darunter.

Missionarischer Eifer

Anschluss an andere junge Christen fand Eberhard Arnold mittelbar durch den Pastor, der ihm die entscheidenden Schritte gewiesen hatte. Dieser richtete einen Bibelgesprächskreis für Schüler der oberen Klassen ein. Anfangs waren es außer Eberhard nur zwei Primaner von einem anderen Gymnasium. Man studierte gemeinsam das Markusevangelium. Der Pastor ermutigte die Jungs, auch ihre Kameraden einzuladen. Eberhard Arnold konnte zunächst zwei Freunde aus den „Suevia“-Tagen interessieren. Nach einiger Zeit waren mehr als zehn der Klassenkameraden angesteckt von seiner glühenden Begeisterung für Jesus. Sie sammelten sich in den Pausen unter den Walnussbäumen, oder sie besuchten ihn alleine oder in Grüppchen zuhause und hörten sich an, was er über bedingungslose Nachfolge Jesu erzählte oder über die Freude und die Kraft, die Jesus verleihen kann. Clara Arnold berichtet, sie und die anderen Geschwister hätten Eberhard zuweilen im Salon angetroffen, im tiefernsten Gespräch mit einem oder mehreren anderen Jungen. Offenbar hat er einigen von ihnen zu einem ähnlichen Durchbruch verhelfen können, wie er ihn selbst erlebt hatte.

Parallel dazu wuchs der Bibelkreis zeitweilig auf ca. 50 Teilnehmer an. Als der Jugendpastor nach Stettin versetzt wurde, ging die Leitung des Kreises an Eberhard Arnold über. Der missionarische Eifer und das starke Verantwortungsgefühl den suchenden Kameraden gegenüber kostete ihn viel Zeit und Energie, und das hat, wen wundert es, seine Leistungskurve am Gymnasium wieder gedrückt.

Heilsarmee

Seit der Begegnung mit einem Heilsarmeesoldaten in Ernst-Ferdinand Kleins Lichtenrader Pfarrhaus hat sich Eberhard Arnold von der Arbeit der Heilsarmee angezogen gefühlt. Die Verbindung von Leib- und Seelsorge („Suppe, Seife, Seeelenheil“), die Tatsache, dass die Salutisten unerschrocken auch in die elendesten Wohnquartiere und die verrufensten Spelunken gingen, das entsprach gleichermaßen seinem sozialen Gewissen und seiner Begeisterung für Jesus. Abgesehen vom Schülerbibelkreis besuchte er immer wieder das Versammlungslokal der Heilsarmee, ein Kellerzimmer in einem baufälligen Haus in der Stockgasse – nicht gerade die feinste Adresse in Breslau. Die sogenannten Soldaten (und Soldatinnen) kamen zumeist selbst aus einfachen Verhältnissen, waren in der Regel schlecht ernährt und blass und beherrschten ein erstaunliches Repertoire marschmäßig angelegter Heilslieder. Eberhard Arnold fühlte sich in dieser Gesellschaft wohl. Mit achtzehn begann er, gelegentlich in der Stockgasse zu predigen. Mit 20 konnte man ihn mit dem „Kriegsruf“ (einer Heilsarmee-Zeitschrift) in der Hand erleben, wie er wildfremde Leute auf der Straße, in Betrieben und Geschäften ansprach und sie aufforderte, ihr Leben Jesus hinzugeben.

Einem Breslauer Heilsarmeekapitän verdankte er eine wichtige Lektion. Er traf ihn im Gespräch mit einem verkommenen Menschen an und konnte sich hinterher nicht die Bemerkung verkneifen: „Welch furchtbares Gesicht!“ Der Kapitän entgegnete ihm scharf: „Wie würden Sie aussehen, wenn Sie das alles durchgemacht hätten, was dieser Unglückliche hat erleiden müssen!“ Einmal mehr wurde ihm durch diese Episode klar, dass er unverdient und ohne eigenes Zutun zu einer bevorzugten Schicht gehörte, und dass andererseits Elend nicht unbedingt selbstverschuldet ist. Folglich wurde er mit seinem Urteil über Menschen vorsichtiger. Er versuchte, armen oder belasteten Menschen vorbehaltlos und mit noch mehr Liebe zu begegnen. Manchmal mit Erfolg: Einmal half er eine Prügelei schlichten und brachte einen der betrunkenen Kampfhähne nach Hause. Erschüttert von dem Elend, das er dort sah, redete er dem Mann ins Gewissen und fragte, ob er nicht glaube, dass Jesus ihm helfen könne. Der hielt dagegen: erst einmal solle der junge Herr ihm helfen. Also stand der Schüler täglich eine Stunde früher auf als sonst und begleitete den Mann an den verlockenden Kneipen vorbei zur Arbeitsstelle und abends wieder zurück. Solange, bis der Mann sich in einer Heilsarmeeversammlung zur Nachfolge Jesu bekannte und wieder im Leben Tritt fasste.

In den letzten beiden Schuljahren fühlte sich Eberhard Arnold zeitweise so sehr eins mit den Zielen und der Arbeit der Heilsarmee, dass er am liebsten seine Schulausbildung abgebrochen und selbst die Uniform angezogen hätte. Seine Eltern verstanden das zu verhindern. Ihre Haltung zu seinem Engagement war zwiespältig: sie hinderten ihn nicht, die Versammlungen zu besuchen, und nahmen seine Verpflichtungen im Bibelkreis hin. Sie schritten ein, als sie auf Plakaten an Litfaßsäulen lasen, dass ein „Missionar Eberhard Arnold“ auf Einladung der Heilsarmee zu einer großen Versammlung sprechen werde. Es war weder üblich noch erlaubt, dass Schüler öffentlich auftreten und sprechen konnten. Carl Franklin Arnold war anfangs so entsetzt, dass er glaubte, seine Professur wegen des missratenen Sohnes niederlegen zu müssen.

Erstmals: die Täufer

Der Breslauer Bibelkreis geriet um das Jahr 1901 unter den Einfluss eines jungen ostpreußischen Adligen. Eberhard Arnold nennt ihn in seinen Jugenderinnerungen „von Gürten“2. Er war für unbedingte und klare Nachfolge Jesu, zwängte sich selbst und andere aber in ein enges Korsett von Gesetzen. Sein Auftreten war leidenschaftlich, aber auch bedrohlich und gebietend. An anderen Christen ließ er kein gutes Haar. Anfangs bewunderten die Teilnehmer des Bibelkreises den Mann fast vorbehaltlos und empfanden nur unklar, dass seine Haltung ihre eben erst gewonnene Freiheit im Glauben einzuengen drohte. Erst mit der Zeit entzogen sie sich seinem Einfluss. Bei aller Zwiespältigkeit – viele verdankten ihm durchaus wichtige und richtige Impulse. Eberhard Arnold zum Beispiel vertiefte sich auf seine Anregung hin in die Geschichte der frühen Kirche, außerdem sprach er seinen Vater auf die Täuferbewegung3 des 16. Jahrhunderts an.

Das war endlich mal ein Feld, auf dem er mit der Unterstützung seines Vaters rechnen konnte. Carl Franklin Arnold war etwas beunruhigt, dass sein Sohn sich ausgerechnet für eine in seinen Augen erfolglose Seitenlinie der Reformation interessierte. Trotzdem, er machte ihm seine wissenschaftliche Bibliothek zugänglich und stellte sich langen Gesprächen über die Täuferbewegung und Vergleichen mit dem Weg, den die Kirche Martin Luthers genommen hatte.

Durch seinen Vater ist Eberhard Arnold auf einen anerkannten Gelehrten aufmerksam gemacht worden, der über die Geschichte der mährischen Täuferbewegung Jakob Hutters geforscht hatte: den Grazer Geschichtsprofessor Johann Loserth. Eberhard Arnold hat Loserths zweiteiliges Buch über den „Anabaptismus in Tirol“ in der Bibliothek des Vaters vorgefunden. Er erwähnt eine Diskussion mit dem Vater über Loserths Anerkennung der mährischen Wiedertäufer als „gute treue Menschen reiner Sitte und strenger Jesusliebe“. Das Wissen und die Eindrücke, die Eberhard Arnold bei diesen Gesprächen und der entsprechenden Lektüre gewonnen hat, haben mit längeren Unterbrechungen, im Abstand von jeweils sechs bis sieben Jahren, entscheidend weitergewirkt (drei Jahrzehnte später hat er selbst wissenschaftlichen Austausch mit Prof. Loserth gepflegt). Im Augenblick sorgte die Entdeckung der täuferischen Geschichte lediglich dafür, dass dem jungen Mann Zweifel an der preußischen Staatskirche kamen, die seinem Vater so unendlich viel bedeutete. Damit wird ein paradoxer Zug an der Beziehung zwischen Eberhard und Carl Franklin Arnold erkennbar: Sie fanden und verstanden sich im gemeinsamen glühenden Interesse an der Geschichte der Christenheit, zugleich setzten sie sich in der Bewertung dieser Geschichte immer weiter voneinander ab.

Auszeit

Missionseifer, seelsorgliche Arbeit an den Kameraden und Altersgenossen, Redetalent, Heilsarmee hier und Bibelkreis da – das ging auf die Dauer spürbar auf Kosten der Schule. Clara Arnold schreibt, ihr Bruder habe der Schule Gleichgültigkeit und sogar passiven Widerstand entgegengebracht. Rein rechnerisch ergibt sich jedenfalls aus den bekannten Lebensdaten, dass Eberhard Arnold in den Jahren nach dem 16. Geburtstag ziemlich gebummelt hat. Die Eltern überzeugten ihn, dass er sich endlich auf das Abitur konzentrieren müsse (gleichwohl stand er auch später stets zu seinem missionarischen Engagement in den Jahren von 1900 bis 1904: „Ich kann nie bereuen, für Jesus an Seelen gearbeitet zu haben, und muss es festhalten, dass es Sein Auftrag war und Sein Geist, der mich dazu trieb …“). Die vertraute Umgebung, die vielen Verpflichtungen und Kontakte in Breslau konnten da nur hinderlich sein. Eberhard Arnold wurde im niederschlesischen Städtchen Jauer in Pension gegeben und erwarb dort am königlichen Gymnasium in den ersten Wochen des Jahres 1905 das Reifezeugnis. Er war nun 21 Jahre alt.

1 Thomas a Kempis, „Von der Nachfolge Christi“, Erstes Buch.

2 Möglicherweise steht „v. Gürten“ für Ludwig von Gerdtell, und Eberhard Arnold hat den Namen bewusst verfremdet. Dann müsste die Episode ins Jahr 1902 datiert werden, und von Gerdtell hätte Eberhard Arnold den ersten Impuls zur Beschäftigung mit den Wiedertäufern gegeben. Die Beschreibung „von Gürtens“ trifft jedenfalls in wesentlichen Zügen auf L. v. G. zu: strikter Anabaptismus, Geringschätzung der Reformatoren, Berufung auf das Urchristentum. – Viele Jahre später schrieb Arnold in einem Brief: „Mir ist deutlich geworden, dass unsere erste Breslauer Zeit viel Gewaltsames und Vergewaltigendes, Unfreies und menschlich ichbetontes Gerede in ihren Ausdrücken enthielt. Gerdtell hat das nicht erkannt.“

3 Anders als Luther, Calvin und Zwingli haben einige Reformatoren die Kindertaufe als unbiblische und irreführende Praxis verworfen und stattdessen die „Glaubenstaufe“ Erwachsener gefordert. Da bis dahin praktisch jedes Kind getauft worden war, mussten Menschen, die die Glaubenstaufe an sich vollziehen ließen, mit dem Vorwurf leben, zweimal oder „wieder“ getauft zu sein. Die „Wiedertäufer“ wurden sowohl von der katholischen als auch von den neugegründeten lutherischen und reformierten Kirchen radikal verfolgt. Dennoch konnten sich Täufergemeinden vor allem in den Niederlanden (Mennoniten), in der Schweiz und in Mähren halten.

II.

Ohne Überzeugung

Wenn es nach Eberhard Arnolds Wunsch gegangen wäre – er hätte gerne Medizin studiert, träumte von einem selbstlosen Beruf im Dienst der Barmherzigkeit. Leib- und Seelsorge Hand in Hand: seit ein paar Jahren hatte er insgeheim solche Vorstellungen entwickelt und gepflegt. Den Eltern hatte er diese Gedanken nie offenbart; sie stellten inzwischen eigene Überlegungen an, und die gingen in eine andere Richtung.

So fiel der frisch dekorierte Abiturient aus allen Wolken, als ihm der Vater am Abend nach der Prüfung im versammelten Familienkreis eröffnete, er freue sich darauf, den eigenen Sohn an der theologischen Fakultät unter seinen Zuhörern zu sehen. Der suchte mühsam nach Argumenten, wandte ein, er fühle sich nicht zum Theologen berufen, er wisse es schon jetzt, dass er nie Pastor werden könne, aber als Mediziner werde er Tüchtiges leisten.

Carl Franklin Arnold wischte die Wünsche und Bedenken seines Sohnes vom Tisch. Er wollte wenigstens einen seiner Söhne an der Theologischen Fakultät sehen, nachdem Hermann, der Erstgeborene, bereits Jurist geworden war. Er verwies auf den großen Einfluss, den ihm der Dienst auf der Kanzel sichern werde, und auf die lange Kette von Theologen und Pastoren unter den Vorfahren. Und schließlich das vernichtende Argument: das Medizinstudium dauere lang und sei kostspielig, Eberhard habe bereits unnötig viel Zeit an der Schule verbummelt. Fazit: „Du studierst Theologie!“ – Ende der Debatte.

Die DCSV

So fand sich Eberhard Arnold im Sommersemester 1905 als Theologiestudent an der Universität Breslau wieder. Glücklich war er nicht, dabei traf er unter den Kommilitonen genügend andere, die mit ihm die Liebe zu Jesus und den Willen zur bedingungslosen Nachfolge teilten. Sammelpunkt für die jungen bekennenden Christen an der Universität war die Breslauer Sektion der Deutschen Christlichen Studenten-Vereinigung, abgekürzt DCSV4. Dort trafen sich Studenten verschiedener Fakultäten mehrmals wöchentlich zu Bibelstunden, besprachen alltägliche Erlebnisse, teilten Freuden und Sorgen. Eberhard Arnold fühlte sich wohl in diesem Kreis, brachte aber nicht das Feuer und Engagement auf wie zuletzt im Bibelkreis und in der Heilsarmee. Er war mit sich unzufrieden, fühlte sich innerlich leer, ärgerte sich über unnütze Debatten und Nichtigkeiten und verzweifelte fast an der Ungeduld, mit der es ihn zu den Armen und Verlorenen hinzog.

Bestätigt fühlte sich Eberhard Arnold durch einen Brief des greisen Heilsarmeegründers und -generals William Booth5