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Immer wieder, ob wir der Liebe Landschaft auch kennen

und den kleinen Kirchhof mit seinen klagenden Namen

und die furchtbar verschweigende Schlucht, in welcher die anderen

enden: immer wieder gehn wir zu zweien hinaus

unter die alten Bäume, lagern uns immer wieder

zwischen die Blumen, gegenüber dem Himmel.

Rainer Maria Rilke

DIE PERSONEN

ETTORE BENUSSI, Kommissar der Fahndungsabteilung der Triester Polizei

ELETTRA MORIN, Inspektorin der Fahndungsabteilung

VALERIO GARGIULO, Inspektor der Fahndungsabteilung

CARLA BENUSSI, Frau von Ettore Benussi

LIVIA BENUSSI, Tochter von Ettore und Carla Benussi

PATER FLORENCE, Kapuzinermönch, Leiter eines Offenen Hauses in Triest

VIOLETA AMADO, brasilianische Mitarbeiterin von Pater Florence

MARKO MARCOVAZ, Nachbar von Ettore Benussi

LUKA FURLAN, Exilkroatin

IGOR, Enkel von Luka Furlan

MARTIN PANIĆ, slowenischer Schriftsteller und Journalist

IVAN NONIS, Mitschüler von Livia Benussi

MARIO GRION, Inhaber eines Imbisslokals in Servola

DONELA, albanische Kellnerin in Mario Grions Lokal

RATKO und MILKO, Handlanger von Mario Grion

GORAN JOVANOVIĆ, serbischer Bauunternehmer

RADA, Goran Jovanovićs Frau

RADOVAN JOVIĆ, ehemaliger serbischer Milizangehöriger

Sowie:

AURORA und CLAUDIO MORIN, Elettra Morins Adoptiveltern

IRENE CAPPELL, Kollegin von Carla Benussi

ROBERTO DENICH, Kollege von Carla Benussi

PIETRO ZORN, Arbeitsloser, Patient von Carla Benussi

CLARA ZORN, Mutter von Pietro Zorn

ONDINA BRUSAFERRO, jugendliche Patientin von Carla Benussi

ROCCO BRUSAFERRO, Vater von Ondina Brusaferro

RUGGERO PAISAN, obdachloser Familienvater in Trennung

MIRKO PITACCO, Polizeibeamter

DREI ARBEITER aus dem Alten Hafen von Triest

1 Ein Schuss hallte durch die Morgendämmerung und riss Ettore Benussi aus dem Schlaf.

»Dieser verdammte Spinner«, knurrte er und rieb sich die schmerzende Stelle an der Schulter. Wieder einmal hatte er sich beim Hochschrecken an dem Messingzierknopf gestoßen. »Und dieses verdammte Bett«, fluchte er gleich hinterher. Und wenn er es hundertmal von Großvater Bepi geerbt hatte, das Ding war und blieb doch ein Prokrusteslager.

Auf den ersten Schuss folgte ein zweiter und dann noch ein dritter.

»Nein! Jetzt reicht’s!«, brüllte er.

Es war Zeit, der Sache ein Ende zu setzen.

Wütend schob Kommissar Benussi die Beine über den Bettrand und tastete nach der Krücke, die ihm wie üblich unters Bett gerutscht war. Seine erste Regung war, nach seiner Frau Carla zu rufen und sich von ihr helfen zu lassen, aber dann fiel ihm ein, dass sie gar nicht da war.

Er griff nach dem Handy auf dem Nachttisch und wählte die Nummer der Zentrale.

»Wer hat gerade Dienst?«, blaffte er ohne jegliche Vorrede. »Dann her mit ihr … Nicht da, was soll das heißen? Wo zum Henker steckt sie? Dann such sie und sag ihr, dass sie mich anrufen soll, und zwar sofort. Auf der Stelle!«

Damit knallte er den Hörer auf die Gabel.

Diese Morin machte ihn wahnsinnig. Konnte die nie an ihrem Platz sein, wenn man sie brauchte?

Im selben Moment klingelte sein Handy.

»Na endlich! Was war denn, haben Sie gepennt?«

Benussis Gesichtsausdruck nach nahm seine Gesprächspartnerin die Frage nicht gerade huldvoll entgegen.

»Sprechen Sie mit mir nicht in diesem Ton, Ispettore Morin!«, unterbrach Benussi seine Kollegin. »Ich mag zwar noch nicht ganz genesen sein, aber ich bin doch immer noch Ihr Vorgesetzter. Mein Nachbar ballert schon wieder mit diesem verdammten Repetiergewehr herum, der bringt mich noch um den Verstand! Es muss doch irgendein Mittel geben, um den Kerl aufzuhalten! … Ich scheiße drauf, dass das legal ist, und ebenso auf diese angebliche Invasion von Wildschweinen und Rehen im Karst. Mich interessiert einen Dreck, dass die Bewohner nichts dagegen haben, ich will meine Ruhe. Ich bin in dieses Mistkaff gekommen, um mich in Frieden erholen zu können, und was passiert? Mein geistig minderbemittelter Nachbar ballert mit seinem Gewehr herum. Unternehmen Sie gefälligst etwas, bevor ich zum Mörder werde!«

Abrupt brach er das Gespräch ab und humpelte auf die Krücke gestützt ins Bad. Die kleine Szene hatte ihm gutgetan, ihn geradezu beruhigt. Er wusste, dass Inspektorin Morin sich etwas einfallen lassen würde. Sie war jung und brachte ihn manchmal zur Weißglut, aber unfähig konnte man sie wirklich nicht nennen.

In gelassenerer Stimmung setzte er sich auf den Badewannenrand und lenkte seine Gedanken wieder auf das Buch, an dem er gerade schrieb. Er hatte die ersten fünfzig Seiten erfolgreich hinter sich gebracht und platzte schier vor Lust weiterzumachen. Seine Hauptfigur, Kommissar Babic, war hinter einer Bande von Menschenhändlern her. Gewissenloser Abschaum, der im doppelten Boden eines Viehtransporters illegale Einwanderer ins Land schmuggelte. Es würde ein guter Thriller werden, das hatte er im Gefühl. Diesmal würde ihn seine Frau nicht mit seinen literarischen Ambitionen aufziehen können. Er würde sie überraschen, so wie auch seine Freunde und Kollegen. Der Beiname Montalbano, den man ihm in der Stadt gegeben hatte, würde sich als ganz und gar verdient herausstellen.

Während er sich seinen Morgenkaffee kochte, überkam ihn einmal mehr das Bedauern über Carlas Abwesenheit. Sie hatte es vorgezogen, noch am Abend zurück nach Triest zu fahren, wenigstens bis zu den Weihnachtsferien dort zu bleiben. Bis dahin waren es allerdings nur noch wenige Tage. Sie brachte es nicht über sich, Livia allein zu lassen. Das einzige Kind der beiden durchschritt gerade die höllische Lebensphase, die man so harmlos als Jugend bezeichnet, mitsamt der obligatorischen Aufsässigkeit, den pampigen Antworten und der feindseligen Grundhaltung, die damit seit Anbeginn der Zeiten einhergingen.

In Wahrheit hatte sich Livias Haltung seit dem Unfall merklich verändert, wenigstens ihm gegenüber. Sie betrachtete ihn nicht mehr mit der unverhohlenen Verachtung, die sie zuvor an den Tag gelegt hatte. Im Gegenteil, manchmal schien sie geradezu stolz auf ihn zu sein.

Die Tatsache, dass er sein Leben riskiert hatte, um das ihres Freundes zu retten, der versucht hatte, sich vom Rilke-Pfad in die Tiefe zu stürzen, hatte ihm eine Menge Kredit eingebracht. Das änderte freilich nichts daran, dass die Familie Livias plötzlichen Stimmungsschwankungen ausgesetzt blieb. Bei der erstbesten falschen Bemerkung wurden Türen zugeschlagen, und immer wieder verschwand sie unvermittelt, schaltete gleichzeitig das Handy aus, was Benussis Frau – und damit auch ihn selbst – in einen Zustand zwischen heller Aufregung und Wut stürzte. So wurden die Tage schlicht unerträglich.

Also hatte der Kommissar seine Entscheidung getroffen. Ihm war inzwischen der Gips abgenommen worden, er konnte sich wieder fortbewegen, wenn auch mithilfe einer Krücke, und die Schmerzen waren nicht mehr gar so schlimm. Um wieder gesund zu werden – nach dem spektakulären Sturz von der Klippe, bei dem er nur knapp mit dem Leben davongekommen war und der ihm ein Schädel- und Wirbeltrauma sowie diverse weitere Verletzungen eingetragen hatte, darunter Brüche am Kiefer, am Oberarm und am rechten Fuß –, brauchte er nur drei Dinge: Stille, kurze Spaziergänge, die seine Muskulatur wieder geschmeidig machen sollten, und Gemütsruhe. Und da Letztere in der Wohnung an der Salita Promontorio nur eine utopische Vorstellung war wie im Übrigen auch die Spaziergänge – die malerische Triester Straße wies eine schwindelerregende Steigung auf –, hatte er sich als Erholungsort Santa Croce ausgesucht, wo ihm die Großeltern väterlicherseits ein Häuschen hinterlassen hatten.

Das schlichte, grob gemauerte Haus am Waldrand hatte ihm schon immer gefallen, dazu die kleine Obstwiese, um die sich niemand mehr kümmerte. Als Kind hatte er sich auf dem Kiesweg so manches Mal die Knie aufgeschlagen, beim Sturz vom Dreirad und später von den ersten Fahrrädern. Seine Großeltern waren freundliche, stille Leute gewesen, die ihn dafür nie ausgeschimpft hatten. Die Welt, in der sie lebten, bezog ihren Rhythmus aus den immer gleichen Abläufen, und so nahmen sie jeden Sommer den lebhaften Enkel auf, ohne sich zu beklagen. Die Tante, die den kleinen Ettore seit dem tragischen Tod seiner Mutter – ihrer Schwester – aufzog, bekam auf diese Weise eine kleine Atempause.

Kommissar Benussi hatte bei seinem Plan allerdings eines außer Acht gelassen: den zurückgezogen lebenden, störrischen Nachbarn Marko Marcovaz, der im Nebengebäude wohnte. Seit seinem Einzug war dieses Häuschen ein düsterer Ort, an dem sich ausgemusterte Möbel, Fischernetze, Badewannen und Armaturen häuften, die er von illegalen Müllkippen aufsammelte.

Die Tatsache, dass der Nachbar alleine lebte, machte das Ganze nicht leichter. Eine Frau, dachte Ettore arglos, hätte es vermocht, ihn zu beruhigen, ihn sanfter zu stimmen oder wenigstens im Zaum zu halten. Aber welche Frau hätte sich einem solchen Mannsbild nähern wollen, einem nachlässigen, stets ungekämmten Dickwanst in mittleren Jahren, der nie etwas anderes trug als einen ausgeleierten Trainingsanzug von unbestimmter Farbe und abgetragene Armeestiefel, die er wahrscheinlich noch nicht einmal zum Schlafen ablegte?

Marcovaz sah überall Feinde: Der Postbote, der ihm seine spärliche Korrespondenz brachte, wollte in Wirklichkeit nur bei ihm herumschnüffeln; der Nachbar von der Polizei stahl der Allgemeinheit ein Gehalt, das aus seiner – Marcovaz’ – Sicht hinausgeschmissenes Geld war; und selbst Hunden oder Raben, die es wagten, in seinen verwilderten Garten einzudringen, bereitete er denselben Empfang wie Wildschweinen und Rehen.

Die einzige Person, die er offenbar ertragen konnte, war Carla.

Was nicht allzu sehr verwunderte. Benussis Frau hatte die Einstellung der barmherzigen Samariterin: Bei Menschen, die von der Gesellschaft als Außenseiter betrachtet wurden, als hoffnungslose Fälle, vermutete sie nichts als Unbehagen, Leid und verborgene Wunden. Sie konnte den Gedanken nicht akzeptieren, dass manche Menschen von Geburt an zum Bösen neigten. Noch für die schlimmsten Verbrechen hätte sie bereitwillig nach einer Rechtfertigung gesucht, vielleicht ein geheimes Kindheitstrauma des Täters; zumindest behauptete Ettore das in einem scherzhaften Versuch, ihren unheilbaren Idealismus zu untergraben.

Als Carla eines Tages von Marcovaz angepflaumt wurde, der es nicht ausstehen konnte, wenn jemand entlang »seiner« Grundstücksmauer parkte, verlor sie daher nicht die Fassung. Und ebenso wenig erhob sie lautstarke Einwände von wegen öffentlicher Grund und es sei jedermanns Recht, zu parken, wo man wolle, wie Ettore es getan hätte. Sie stellte das Auto einfach ein Stück weiter vorne ab und entschuldigte sich mit einem Lächeln. Hinterher brachte sie ihm sogar noch ein Stück von dem Kuchen, den sie vormittags gebacken hatte.

Die versöhnliche Geste traf den Nachbarn wie ein Donnerschlag, und sooft er sie fortan kommen sah, trat er wie zufällig hinaus in den Garten, um sie mit einem Gruß und einem Lächeln empfangen zu können.

»Pass auf, der verliebt sich noch in dich«, zog Ettore sie auf. Aber sie zuckte nur mit den Schultern und schnaubte: »Wenn jeder auf aggressive Leute freundlich reagieren würde, gäbe es viel weniger Krieg, das kannst du mir glauben. Ein Lächeln ist entwaffnender als eine Bombe.«

Was soll man zu so einer Frau sagen, dachte Ettore, während er sich die letzte Tasse Espresso einschenkte. Er spürte, wie ihn beim Gedanken an den Abend zuvor eine plötzliche Wärme einhüllte.

Carla hatte ihm eine Überraschung bereitet. Eigentlich hatte er nicht vor Freitag mit ihr gerechnet. Aber sie wollte ihm einen Braten und einen Obstsalat bringen, um ihn vor seinen nicht sehr gesunden belegten Broten zu retten, vor Käse und Schinken und Krainer Würstchen, mit denen er sich sonst ausschließlich ernährte, weil es eben bequemer war. Ganz zu schweigen von dem Nusszopf, den er direkt aus der Verpackung aß und sich ein Stück nach dem anderen mit den Fingern abriss. »Wenn du so weitermachst«, sagte sie lachend, »dann bist du in sechs Monaten in dem gleichen Zustand wie früher. Findest du es nicht toll, so schön schlank zu sein? Fühlst du dich nicht viel besser?«

Tatsächlich hatte ihm der Unfall eine zweite Jugend beschert, nachdem Ettores Leben zuvor ein einziger Kampf mit den Kilos gewesen war. Seit der Sekundarschule hatte er nicht mehr so wenig Gewicht auf die Waage gebracht, und das machte ihn geradezu euphorisch. Ohne den körperlichen Ballast fing auch sein Kopf an, besser zu funktionieren, und er sah sich endlich in der Lage, sein erstes Buch zu beginnen – ein kühner Plan, dessen Ausführung er seit Jahren vor sich herschob. Bis jetzt hatte er dafür nie Zeit gefunden, die Ermittlungen oder seine Neigung zu Selbstmitleid und Pessimismus hatten es immer wieder verhindert. Inzwischen ging er scharf auf die sechzig zu und hatte das Gefühl, am Beginn eines neuen Lebensabschnitts zu stehen.

Der Unfall auf der Klippe war ein Umkehrpunkt gewesen. Davor hatte sich ihm das Leben grau, resigniert und melancholisch dargestellt; seither jedoch wurde es von einem so unbekannten wie frappierenden Gefühl beherrscht – von Dankbarkeit und Hoffnung. Dankbarkeit dafür, noch am Leben zu sein, und Hoffnung, die verlorene Zeit zurückzugewinnen, von den Träumen seiner Jugend, die auf wundersame Weise heil geblieben waren und nun wieder aufblühten, bis hin zu seiner Frau. In zwanzig Jahren Ehe waren Müdigkeit und Gereiztheit zu treuen Begleitern ihrer Gemeinsamkeit geworden. Sie lebten wie zwei Schiffbrüchige auf einer Insel, die nicht den Mut aufbrachten, auf ein Floß zu steigen und zu fliehen. Das Alibi, das sie sich gegenseitig erzählten, lautete: »zu Livias Bestem«, doch beide wussten nur zu gut, dass das eine Ausrede war. Es gab überall Teenager, die zwischen getrennten Eltern hin- und herwanderten, und es war durch nichts erwiesen, dass sie glücklicher gelebt hätten, wenn ihre Väter und Mütter noch zusammen gewesen wären.

Doch Carla und Ettore hatten eines nicht verstanden – oder lange nicht einzusehen vermocht: dass sie noch immer etwas Tiefes, Festes und zugleich Geheimnisvolles verband, etwas, das über die gegenseitigen Enttäuschungen hinausreichte. Und dieses Etwas war noch in ihnen lebendig unter einer Kruste von Bitterkeit und Schweigen, verschüttet zwar von Unzufriedenheit und jahrelangen Problemen, aber stets bereit, allen Beschädigungen zum Trotz wieder an die Oberfläche zu kommen und ihre Augen zum Leuchten zu bringen.

Der Unfall war der Auslöser gewesen; er hatte dieses seit Jahren tot und begraben geglaubte Gefühl wieder zum Leben erweckt. Carla war wieder die aufmerksame, fröhliche, strahlende Frau aus der Frühzeit ihrer Beziehung, und Ettore hatte seine selbstironische, spielerisch-überraschende Seite wiederentdeckt. Wenn sie nun zusammen waren, fühlte sich das lebendig und aufregend an. Da sie sich im Bett noch zurückhalten mussten, um dem rekonvaleszenten Kommissar Schmerzen zu ersparen, holten sie ein paar erotische Spiele ihrer Jugend aus der Mottenkiste und lachten sich schief über seine Unbeholfenheit und die extravaganten Vorschläge von ihr. Meist jedoch lagen sie nur Arm in Arm da und redeten. Sie erzählten einander alles, was in den langen Jahren des Schweigens ungesagt geblieben war, oder unterhielten sich über Ettores Ideen für sein Buch, verwarfen die abwegigeren davon und vertieften die originelleren.

Kurzum, sie waren so glücklich wie nie zuvor.

»Ihr seid ja nicht auszuhalten«, platzte Livia eines Tages beim Abendessen heraus, mitten in ihr gerade neu begonnenes Idyll. »Das ist doch lächerlich, in eurem Alter!« Aber statt beleidigt oder gereizt zu reagieren, brachen Carla und Ettore in Gelächter aus.

Ganz unrecht hatte ihre Tochter nicht.

»Nimm das nicht so ernst, Livia. Weißt du, dein Vater war vor dem Unfall so langweilig geworden, so vorhersehbar, und jetzt freue ich mich eben, ihn anders zu erleben. Was soll ich machen?«

Der Ton, in dem Carla das Befremden ihrer Tochter aufnahm, war leicht und amüsiert.

»Wenn du dich recht erinnerst, war auch deine Mutter nicht gerade ein Ausbund an Ausgeglichenheit und Geduld«, versetzte Ettore. »Sie ging doch beim kleinsten Anlass an die Decke. Ist es nicht besser, wenn du sie im Haus singen hörst als herumschreien?«

Anstelle einer Antwort sprang Livia auf und schloss sich in ihrem Zimmer ein, nicht ohne vorher die Tür hinter sich zuzuschlagen.

»Das muss man verstehen«, bemerkte Carla lachend. »Kaum etwas ist so unausstehlich wie ein glückliches Paar.«

Als nun das Telefon klingelte, war Ettore in die Erinnerung an den Vorabend versunken. Carla hatte ihn mit einem kleinen Candlelight-Dinner verwöhnt und anschließend darauf bestanden, die Lieder ihrer Jugend zu hören. Franco Battisti, Lucio Dalla, Francesco De Gregori, Claudio Baglioni, aber auch das eine oder andere Stück von den Pooh und den Cugini di Campagna, um nur ja nichts auszulassen. Für Ettore war es unfassbar, dass seine Frau das alles im Gedächtnis behalten konnte – sobald die erste Note eines Songs erklang, ließ sie sämtliche Strophen vom Stapel, eine nach der anderen, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan. »Wie machst du das bloß? Du bist ja ein richtiges Ass!« Carla lachte gut gelaunt. »Weiß ich selber nicht. Ich glaube, die Musik öffnet vergessene Türen im Gedächtnis. Ganz ehrlich, ich habe diese Lieder seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gesungen …«

Es war wirklich ein besonderer Abend gewesen, und beide hätten sich gewünscht, dass er nie zu Ende ginge. Doch gegen elf hatte sich Carla schließlich aus den Armen ihres Mannes gelöst und war gefahren, ihren mütterlichen Pflichten treu.

»Ist Mama bei dir?« Die Stimme seiner Tochter kam gedämpft durchs Telefon, aber ihr Ärger war unverkennbar. »Ich muss mein Handy aufladen, aber sie hat mir kein Geld dagelassen. Ihr könntet mir wenigstens Bescheid sagen, wenn …«

»Bestimmt ist sie schon aus dem Haus gegangen. Hast du’s auf ihrem Handy versucht?«

»Das ist ausgeschaltet.«

»Oder ist sie vielleicht noch in ihrem Zimmer?«

»Also, ich glaube nicht, dass sie hier geschlafen hat. Ich dachte, sie ist bei dir geblieben.« Die Stimme der jungen Frau begann leicht zu zittern. »Aber wo ist sie dann?«

Ettore stand auf, ohne nach seiner Krücke zu greifen. Er musste jetzt ruhig bleiben, klar denken. Es musste eine Erklärung geben.

»Mach dir keine Sorgen, Livia. Bestimmt ist sie unterwegs, um irgendeinem Junkie zu helfen, und wollte dich halt nicht wecken. Du kennst doch deine Mutter. Geh einfach in die Schule und mach dir keine Gedanken.«

»Okay. Kannst du das Handy für mich aufladen? Ich hasse es, wenn ich nichts von der Welt mitbekomme.«

»In Ordnung, mache ich gleich.«

Der Tag hätte wirklich nicht besser beginnen können.

2Karacici, 7. Mai 1992

Kassim, Liebster, ich glaube, ich werde wahnsinnig. Auch Mutter, die Dich doch immer gern gehabt hat, sagt jetzt auf einmal, es wäre besser, wenn Du Dich zu Hause nicht blicken lässt. Dein Onkel hatte Streit mit meinem Vater, sie haben sich geprügelt. Dabei sind die beiden zusammen aufgewachsen, haben im Garten gespielt und waren als Jungen unzertrennlich.

Und was sollen wir mit dem Kind machen, das ich in mir trage? Ich habe noch keinem davon erzählt, ich wollte auf den passenden Moment warten. Aber ich fürchte, den wird es nicht mehr geben. Im Fernsehen sehe ich schreckliche Szenen und rede mir ein, dass das hier in unserem kleinen Dorf nicht passieren könnte. Seit Jahrzehnten leben wir doch friedlich zusammen. Keiner von uns wird einem Verrückten folgen, der sagt, dass wir unsere Freunde hassen sollen, nur weil sie einer anderen Religion angehören. Wann hat uns das jemals gestört?

Gestern Abend war ich in der Wäscherei, um mit meiner Mutter zu reden. Ich wusste, dass sie es verstehen, dass sie uns helfen würde. Sie hat doch auch mit sechzehn ein Kind bekommen. Aber dann habe ich es nicht geschafft, ihr etwas zu sagen. Als ich hereinkam, saß sie am Bügeltisch und weinte. Sie hat mich ganz fest umarmt und gesagt, dass ich jetzt stark sein muss und dass schlimme Zeiten auf uns zukommen, und wir müssten jetzt vorsichtig sein und dürften keinem vertrauen. Sie hat auch gesagt, seit der Onkel da ist, hätte mein Vater sich verändert. Anscheinend sperren sie sich stundenlang im Keller ein und reden. Und er hat auch wieder angefangen zu trinken. Manchmal, hat sie gesagt, würde er ihr Angst machen, sie würde ihn kaum wiedererkennen. Er hat ihr sogar vorgeworfen, dass sie Kroatin ist.

Als ob das eine Schande wäre.

Auch ich erkenne ihn kaum wieder. Was ist aus meinem fröhlichen, starken Papa geworden, der mich immer hochgeworfen und dann wieder aufgefangen hat? Bestimmt hat er meiner Mutter gesagt, dass wir uns nicht mehr sehen dürfen. Er sagt, dass Du ein balija bist, ein Muslim, und ich eine Serbin, da gäbe es keine Zukunft für uns. Dabei hieß es doch noch bis gestern, dass wir im Sommer heiraten würden, und alle haben sich mit uns gefreut! Ich kann ohne Dich nicht atmen, wie soll ich das aushalten, Dich nicht wiederzusehen? Und was wird aus unserem Kind?

Auf dem Heimweg von der Schule war ich in der Kirche. Ich wusste gar nicht, worum ich Jesus und die Heilige Jungfrau Maria bitten soll. Da waren sie, ihre schönen Ikonen, und haben im Kerzenschein gelächelt, als wenn nichts wäre. Dabei ist gar nichts so wie früher. Ich habe versucht zu beten, aber die Worte wollten nicht kommen.

Nur Tränen.

Mir ist eingefallen, wie Dein Vater und Dein Großvater damals meinem Vater und meinen kroatischen Onkeln geholfen haben, unsere orthodoxe Kirche zu bauen, und wie sie zusammen gesungen haben. Und als der Blitz in Eure Moschee eingeschlagen hat, haben wir alle in der Familie gesammelt, um das Dach zu restaurieren. Und an Heiligabend sind wir Kinder immer in die Kirche gekommen, Christen, Orthodoxe und Muslime, und haben im Dämmerlicht der Kerzen und im Weihrauchduft Pater Vladimirs Litaneien gelauscht, der vor der goldenen Ikone stand.

Waren wir damals nicht Brüder? Waren wir nicht alle Jugoslawen? Was ist mit uns passiert? Und was wird nun aus uns werden, Kassim? Was wird aus unserem Kind? Ich habe solche Angst. Verstecke Deine Antwort dort, wo Du diesen Brief gefunden hast. Wenn wir uns schon nicht sehen können, dann sollen sie uns wenigstens nicht daran hindern, dass wir uns schreiben.

Bitte sei vorsichtig.

Ich liebe Dich so.

Nadja

3 Bei Kommissar Benussis erstem Anruf – als es um die Schüsse seines Nachbarn ging – befand sich Elettra Morin im Offenen Haus von Pater Florence.

Dort hatte es einen Notfall gegeben. Eine etwa fünfzig Jahre alte Ausländerin war verprügelt worden. Von dem Täter fehlte jede Spur. Pater Florences Assistent Drago hatte das Opfer um sieben Uhr morgens ohnmächtig aufgefunden, als er die Eingangstür aufschloss.

Inspektorin Morin hatte Nachtdienst und brauchte nicht lange, um vor Ort zu sein. Auf den ersten Blick wirkte die Betroffene nicht wie eine Obdachlose. Sie trug einen gut geschnittenen Regenmantel und Lederschuhe; langes weißes Haar fiel ihr ins blutüberströmte Gesicht. Ausweispapiere trug sie nicht bei sich, und es war kein Wort aus ihr herauszubekommen. Ein junger Rumäne, der im Offenen Haus zu Gast war, sagte aus, durchs Fenster einen Mann gesehen zu haben, der ins Dunkel floh. Er war aber nicht in der Lage, ihn zu beschreiben. Trotz der Bemühungen von Pater Florence und Morin selbst beantwortete die Frau keine ihrer Fragen. Sie weinte nur immer weiter und stammelte: »Nix Krankenhaus, nix Krankenhaus.«

Sie wirkte dabei weniger erschrocken als traurig.

Eine Traurigkeit, gegen die es kein Heilmittel gab.

In Erwartung der Ermittlungen und in Absprache mit Morin erklärte Pater Florence sich dazu bereit, die Frau aufzunehmen, zumal sich deren Verletzungen als oberflächlich erwiesen. Er vertraute sie der liebevollen Fürsorge von Violeta Amado an, einer energischen Brasilianerin, die sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Neuankömmlinge aufzunehmen und ihnen zuzuhören. Niemand verstand es wie sie, verborgenen seelischen Wunden Linderung zu verschaffen.

Das Offene Haus von Pater Florence war vor allem ein Auffanglager und eine Durchgangsstation. Die Menschen, die hierherkamen, waren überwiegend illegale Einwanderer, Menschen, die am Leben verzweifelten, gesellschaftliche Außenseiter. Hier bekamen sie etwas zu essen, saubere Kleidung und für einen kurzen Zeitraum auch ein Bett. Dann wurden sie an andere Einrichtungen weitergereicht oder mussten sich wieder auf eigene Faust durchschlagen. In Krisenjahren, wie Italien sie zurzeit durchlebte, konnte man niemandem mehr eine Arbeit und eine Zukunft garantieren, zumal in einer an Chancen so armen Stadt wie Triest. Es war schon einiges wert, wenn es wenigstens an diesem Ort – bei Pater Florence – gelang, eine gewisse Menschlichkeit aufrechtzuerhalten. Dahinter stand die Überzeugung, nur weil jemand in Krieg und Armut aufgewachsen sei, mache ihn das noch nicht zum Verbrecher. Und ebenso war es keine Untat, wenn die Menschen versuchten, in fernen Ländern ein besseres Schicksal für sich zu finden.

Als Elettra nun abermals Benussis Namen auf dem Display sah, holte sie tief Luft und verdrehte die Augen.

»Commissario!«, antwortete sie, ohne ihre Gereiztheit zu verbergen. »Es ist gerade mal neun Uhr morgens. Ich kann in der kurzen Zeit keine Wunder vollbringen!«

Aber ihr Vorgesetzter wollte sich nicht wieder über seinen Nachbarn beschweren. Als Elettra gehört hatte, worum es tatsächlich ging, wurde sie blass.

»Wann? Ist das sicher? Ich schicke sofort Ispettore Gargiulo zu Ihnen. Und komme selbst, sobald ich kann.«

Pater Florence warf ihr einen fragenden Blick zu. Er kannte die junge Polizistin mit dem zierlichen, leicht androgynen Äußeren nun schon lange und schätzte sie nicht nur für ihre Kompetenz und für ihren investigativen Scharfsinn, sondern auch für ihre ungewöhnlich große Sensibilität.

»Was ist passiert?«, erkundigte er sich, als er sie blass werden sah.

»Die Frau von Commissario Benussi …«

»Carla?«

Elettra Morin nickte. »Sie ist gestern Abend um elf von Santa Croce abgefahren, aber nicht zu Hause angekommen. Die Tochter hat den Commissario vor wenigen Minuten verständigt.«

Die Nachricht machte auch den Geistlichen betroffen, der Carla Benussi seit Jahren kannte und als persönliche Freundin betrachtete.

»Hat schon jemand in ihrer Gemeinschaftspraxis nachgefragt?«, fragte er teilnahmsvoll. »Vielleicht wurde sie ja kurzfristig zur Familie irgendeines jungen Burschen gerufen …«

»Das wäre eine Möglichkeit. Wir werden das überprüfen. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss los. Aber ich komme gleich noch mal vorbei, um das Opfer des gestrigen Angriffs zu befragen. Wenn Sie inzwischen etwas mehr über diesen Mann herausfinden könnten, der gestern Abend gesehen wurde … Und vielleicht auch über die Staatsangehörigkeit des Opfers, dann könnte ich schon mal einen Dolmetscher bestellen.«

»Ja, fahren Sie nur. Ich sehe, was ich tun kann. Aber halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Mache ich.«

»Wie geht es eigentlich Commissario Benussi?«

»Ich habe ihn seit Tagen nicht gesehen, ich lasse ihn nach Möglichkeit in Ruhe. Aber es geht ihm wohl besser, wenigstens bis heute Morgen …«

»Bestellen Sie ihm schöne Grüße von mir.«

Valerio Gargiulo hatte Kommissar Benussi noch nie so erschüttert gesehen. Der junge Inspektor aus Neapel kannte seinen Vorgesetzten als tatkräftigen, illusionslosen Menschen. Nun sah er bestürzt, wie ihm die Hände zitterten und er ganz blass im Gesicht war.

Auf seine Krücke gestützt, humpelte der Kommissar in der Küche auf und ab und wiederholte zwanghaft: »Ich verstehe das nicht, das ist nicht ihre Art … Das ist nicht ihre Art …«

»Bestimmt gibt es eine Erklärung, Commissario.«

Der schüchterne Versuch, ihn zu beruhigen, machte Benussi nur noch wütender. »Kapieren Sie das denn nicht? Das ist nicht ihre Art. Meine Frau würde so etwas nie machen. Einfach so zu verschwinden, ohne ein Wort. Ihr muss etwas zugestoßen sein! Los, Neapolitaner, verständigen Sie sämtliche Einsatzkräfte. Wir müssen den Wagen finden.«

Neapolitaner. Die Bezeichnung störte den diplomatischen jungen Inspektor nicht sonderlich, er hatte sich längst daran gewöhnt.

»Ich habe das Kennzeichen schon herumgeschickt.«

»Und rufen Sie Morin an. Sie braucht nicht herzukommen, das wäre reine Zeitverschwendung. Sagen Sie ihr, sie soll in die Praxis fahren und herausfinden, ob irgendein Irrer hinter meiner Frau her war.«

Draußen hörte man, wie eine Autotür zugeschlagen wurde, und Benussi hinkte hoffnungsvoll ans Fenster. Doch gleich verdüsterte sich sein Gesicht wieder. Es war nur der Nachbar, Marcovaz, der mit einer Einkaufstasche nach Hause kam.

Der Kommissar riss das Fenster auf. »Entschuldigen Sie!«, rief er, aber der Mann schenkte ihm keinerlei Beachtung und zog die Haustür hinter sich zu.

»So ein Idiot!«, schimpfte Benussi. Die Umgangsformen dieses Burschen gingen ihm immer wieder gewaltig gegen den Strich. »Neapolitaner, holen Sie sich auf der Stelle einen Durchsuchungsbeschluss. Vielleicht hat ja mein Nachbar sie entführt …«

»In Ordnung, Commissario, wie heißt der Mann?«

Benussi hielt ihn zurück: »Nein, warten Sie. Sagen Sie Morin, sie soll das machen. Und Sie bleiben besser hier … so können wir ihn im Auge behalten. Ein komischer Typ ist das, ein richtiger Misanthrop.«

»Ja, und wie heißt er?«

»Marcovaz, den Vornamen weiß ich nicht. Er wohnt erst seit wenigen Monaten hier. Die Einzige, die mit ihm reden kann, ist meine Frau. Vielleicht hat er sie aufgehalten, als sie gestern Abend aus dem Haus ging …«

»Ich gehe mal rüber und stelle ihm ein paar Fragen.«

»Nein, lieber nicht. Dieser Halbverrückte würde Ihnen sowieso nicht aufmachen. Besser, Sie kommen gleich mit einem Durchsuchungsbeschluss.«

»Ich kümmere mich sofort darum«, antwortete der junge Inspektor und wählte die Nummer des Polizeipräsidiums.

»Eigentlich glaube ich doch nicht, dass er hinter der Sache steckt. Der Bursche ist ein armer Teufel, fast schon ein Herumtreiber … Der würde doch in dem Fall nicht hierbleiben, praktisch Wand an Wand mit mir …«

»Einen Beschluss holen wir uns trotzdem«, sagte Gargiulo.

Der Kommissar nickte und hielt sich eine Hand vor die Augen. So konnte er nicht weitermachen, er musste ein wenig zur Ruhe kommen.

Im Moment gab er einen Befehl nach dem anderen, ohne jede Logik.

Als Gargiulo seinen Anruf beendet hatte, warf er seinem Vorgesetzten einen verständnisvollen Blick zu. Wie konnte er ihn etwas aufmuntern? Er schenkte ihm ein Glas Wasser ein und hielt es ihm hin.

»Überlassen Sie die Sache uns, Commissario. Sie sind zu stark persönlich involviert. Wir brauchen einen Arbeitsplan, koordinierte Ermittlungen. Aber trinken Sie erst mal ein Glas Wasser.«

»Behandeln Sie mich nicht wie einen Idioten, Neapolitaner. Ich bin bestens in der Lage, die Ermittlungen zu koordinieren. Und machen Sie mir lieber einen Kaffee.«

Von der Ruppigkeit seines Vorgesetzten keineswegs beirrt, stellte Valerio Gargiulo sich an den Herd. Benussi saß inzwischen an dem Marmortisch, den Kopf zwischen den Händen, und seufzte. Gargiulo hatte nicht ganz unrecht, er musste versuchen, sich zu beruhigen.

In erster Linie für sie, für Carla.

Wenn sie wirklich in Gefahr schwebte, musste er kühles Blut bewahren.

Die Gemeinschaftspraxis Cielo Blu, in der Carla Benussi als Psychologin arbeitete, hatte ihre Räumlichkeiten in einer bescheidenen Wohnung hinter der Piazza Oberdan. Carla war hauptsächlich für Drogenprobleme zuständig und in der Regel tagsüber im Einsatz. Sie betreute Patienten, die sich einem Drogen- oder Alkoholentzug unterzogen. Die Teilhaber – vier an der Zahl, zwei Ärzte, ein Psychiater und sie als Psychologin – boten rund um die Uhr psychologische und klinische Unterstützung. Häufig landeten problematische Fälle zunächst in Pater Florences Einrichtung, wo sie erste unterstützende Maßnahmen erhielten. So hatte Carla den brasilianischen Geistlichen vor Jahren kennengelernt und war mit der Zeit zu einer Freundin und Vertrauten geworden.

Als Elettra Morin klingelte, kam Dr. Roberto Denich an die Tür, ein Arzt im Pensionsalter, der noch immer Seele und Motor der Gemeinschaftspraxis war. Er hatte bereits von Carlas Verschwinden gehört und wirkte ernsthaft besorgt.

»Bitte, kommen Sie herein.«

Elettra ging durch ein Vorzimmer, in dem zwei Mütter mit ihren Teenagern saßen, und betrat das kleine Arbeitszimmer des Arztes, dessen Wände mit Fotos von Patienten aller Altersstufen übersät waren.

»Ich habe schon mit Ettore geredet«, sagte Denich, während er die Tür hinter sich schloss. »Ich sehe es genauso wie er. Es passt nicht zu Carla, einfach so zu verschwinden.«

Elettra Morin versuchte nicht, die Sache kleinzureden: »Wir haben bei allen Krankenhäusern angefragt, ohne Ergebnis. Auch von ihrem Wagen keine Spur. Im Moment versuchen wir es bei ihrem Mobilfunkprovider, aber das wird etwas dauern.«

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der alte Arzt.

»Wir brauchen die Akten der Patienten, mit denen Carla Benussi in letzter Zeit befasst war. Vielleicht ist einer darunter, der sie im Visier hatte, sie bedroht hat …«

Denich schüttelte den Kopf und seufzte.

»Wir haben es hier natürlich mit nicht ganz einfachen Menschen zu tun, aber Carla hatte – Verzeihung, hat – eine überaus empathische, mütterliche Art. Das heißt, bei ihr stellt sich eher das umgekehrte Problem: Die Patienten würden am liebsten mit zu ihr nach Hause gehen, sich quasi von ihr ›adoptieren‹ lassen, als dass sie sie bedrohten. Sie ist sehr beliebt, müssen Sie wissen. Aber mal sehen …«

Dr. Denich schaltete Carlas Computer ein – und stieß auf ein erstes Hindernis: »Das Passwort!«

»Haben Sie kein gemeinsames Archiv?«

»Wir bringen unsere zentrale Datenbank immer zum Monatsende auf den aktuellen Stand. Aber über die tägliche Arbeit führt jeder von uns eigenständig Buch, das ist praktischer so.«

Elettra Morin ließ sich nicht entmutigen. »Ich mache mal einen Versuch.«

Sie zog das Telefon aus der Tasche und rief Benussi an.

»Guten Tag, Commissario. Morin hier. Ich bin in der Praxis … Nein, noch nicht. Ich frage mich, ob Sie zufällig das Passwort zum Computer Ihrer Frau kennen? Nein, das macht gar nichts. Dr. Denich hat so oder so recht aktuelle Daten … Ja, keine Sorge, wir lassen nichts unversucht. Bis später.«

Elettra Morin setzte sich an den Computer und probierte es mit dem Nächstliegenden: dem Namen der Tochter, dem des Mannes, ihren jeweiligen Initialen, mit Carlas Geburtsjahr und dem ihrer Familienangehörigen, aber sämtliche Versuche schlugen fehl. Sie stand auf und schnaubte ungeduldig.

»Nichts zu machen. Ich schicke nachher einen Kollegen aus der IT-Abteilung her. Sehen wir uns schon mal die archivierten Fälle an …«

In diesem Moment betrat eine zierliche Frau den Raum, mit kurzen grauen Haaren und einem Paar blauer Augen, die sich hinter einer runden Harry-Potter-Brille versteckten.

»Roberto … Ich habe von der Sache mit Carla gehört …«

Dr. Denich stellte die beiden vor.

»Dr. Cappell – die Dame ist von der Polizei.«

»Ispettore Morin«, sagte Elettra, während sie ihr die Hand reichte.

»Carla ist nicht nach Hause gekommen«, erklärte Roberto Denich seiner Kollegin. »Sie war gestern Abend zum Abendessen bei Ettore oben in Santa Croce. Dann musste sie zurück nach Triest, zu Livia, aber …«

Dr. Cappells gleichmäßiges, strahlendes Gesicht verfinsterte sich.

»Carla ist zu unvorsichtig. Sie wahrt gegenüber den Patienten nicht genügend Distanz. Ich hatte sie gewarnt, dass sie besser aufpassen sollte …«

Elettra und Dr. Denich richteten alarmierte Blicke auf sie.

»Aufpassen? Weshalb?«, fragte Elettra.

Dr. Cappell seufzte und schüttelte den Kopf.

»Sie hatte in letzter Zeit drei Fälle zu bearbeiten. Schwierige Fälle. Manchmal habe ich gesehen, dass ihr das Angst machte, auch wenn sie alles tat, um sich nichts anmerken zu lassen.«

»Könnten Sie mir die betreffenden Akten zeigen?«

»Sicher, sie sind allerdings nicht auf dem neuesten Stand. Ich habe nur das, was Carla zu unserer letzten monatlichen Teambesprechung mitgebracht hat.«

Irene Cappell setzte sich an ihren Computer und begann, während er hochfuhr, zu erzählen.

»Der problematischste Fall ist Ondina Brusaferro, eine Fünfzehnjährige ohne Mutter und mit einem arbeitslosen Vater, der an Depressionen leidet. Sie selbst trinkt, seit sie zwölf ist. Zu uns geschickt hat sie das Jugendamt, gegen den Willen des Vaters, der sie am liebsten unter seiner Fuchtel behalten würde. Carla hat mir anvertraut, dass der Mann sie bedroht hat, wobei er ihrer Ansicht nach zu tief in der Depression steckte, um wirklich gefährlich zu sein.«

Auf dem Computerbildschirm erschien das Foto eines übergewichtigen Mädchens mit glanzlosen Augen, die Augen hinter einer dunklen Mähne versteckt.

Dr. Cappell klickte auf »Drucken« und ging zum zweiten Fall über.

»Dann haben wir Pietro Zorn, einen vierzigjährigen Mann, ebenfalls arbeitslos und trockener Alkoholiker.« Der Bildschirm füllte sich mit dem pausbäckigen, ungesunden Gesicht eines feisten Mannes mit Vollglatze. »Er lebt mit seiner hochbetagten Mutter zusammen, die ihm ständig vorhält, ein Versager zu sein. Sein schwaches Selbstwertgefühl wird dadurch nicht gerade stabiler. Er neigt zu Unbeherrschtheit und Gewaltausbrüchen. Während der Patientengespräche hat er mehr als einmal das Mobiliar beschädigt. Um weiteren Schaden zu vermeiden, empfängt ihn Carla deshalb in einem Zimmer, das bis auf zwei Metallstühle leer steht.«

Elettra hörte konsterniert zu.

»Ist das nicht gefährlich für Sie alle?«

»Das ist nun einmal unsere Arbeit. Jemand muss sich ja um diese Menschen kümmern … Oder sollten wir es etwa so machen wie die Nazis und alle liquidieren, die den Gesunden im Weg stehen?«

Elettra störte diese Aussage, sie empfand sie als persönlichen Angriff.

»Warum so aggressiv? Falls Ihnen das nicht klar sein sollte – auch meine Arbeit bringt eine gewisse Nähe zu Personen mit sich, die unsere Gesellschaft nicht gerade sicherer machen.«

Ein bitteres Lächeln zog über das schöne, offene Gesicht von Dr. Cappell. »Tut mir leid, Ispettore. Wissen Sie, uns wird häufig von Leuten vorgeworfen, dass wir versuchen würden, das Meer mit einem Löffel auszuschöpfen …«

Beim Anblick des müden, kraftlosen Gesichtsausdrucks der Ärztin verrauchte Elettras Ärger und wich rasch Verständnis und Anteilnahme.

»Nein, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Manchmal rede ich, ohne nachzudenken. Commissario Benussi hat mich dafür auch schon gelegentlich getadelt. Fahren wir fort, wenn es Ihnen recht ist.«

Dr. Cappell musterte sie mit einem Blick voller Sympathie.

»Mir sind Leute, die sich noch aufregen können, lieber als solche, die resigniert haben.«

Als Letztes erschien auf dem Bildschirm ein Jugendlicher mit Bürstenhaarschnitt und Pickeln im Gesicht. Er trug eine dunkle Tropfenbrille.

»Und das hier ist Ivan Nonis. Ein achtzehnjähriger Junge aus guter Familie, der nur äußerst widerwillig zu uns kommt, auf Druck der Mutter. Anscheinend hat ihn der Tod seines Bruders aus der Bahn geworfen. Angefangen hat er mit Haschisch, dann hat er zu Kokain gewechselt.«

In Elettra Morins Tasche klingelte das Handy. »Ja? Wo?«

Dr. Denich und Dr. Cappell sahen sie fragend an.

»Ich fahre sofort hin.«

»Hat man sie gefunden?«, fragte Roberto Denich ungeduldig.

»Leider nein, nur das Auto.«

»Und wo?«, wollte Irene Cappell wissen.

»Wenige Schritte von zu Hause, in der Via Belpoggio.«

»Dann muss dort jemand auf sie gewartet haben«, sagte Dr. Denich betrübt.

»Sieht ganz so aus. Ich muss jetzt los. Ich schicke nachher einen Beamten, um den Computer abzuholen. Danke für Ihre Mithilfe.«

Die beiden Ärzte nickten der Inspektorin zu, die eilig den Raum verließ.

Dann sahen sie einander lange an, mit schwerem Herzen. Hoffentlich war ihrer Kollegin und Freundin nichts Schlimmes passiert.