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Für Ottilie Gritzmann und Wilma Scheck:
den Frauen, die den Geschmack
von IHR und IHM geprägt haben

ISBN 978-3-8270-78353
Oktober 2015
Deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2012
Covergestaltung: Rothfos und Gabler, Hamburg
Covermotiv: © Getty Images
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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BIS AUF WEITERES

Das Messer blitzt, die Schweine schrein,

Man muß sie halt benutzen,

Denn Jeder denkt: Wozu das Schwein,

Wenn wir es nicht verputzen?

Und Jeder schmunzelt, Jeder nagt

Nach Art des Kannibalen,

Bis man dereinst Pfui Teufel! sagt

Zum Schinken aus Westfalen.

Wilhelm Busch[1]

Inhalt

1. Kapitel: »Frauen sollen sich dünne machen«

Ein albernes Spiel, Holzfällersteaks, der Geschmack der Geschlechter, Damenkarten, Vorgangsnummer: I-2010/08-10129, Günter Grass erfindet Slow Food und das sexistische Theater des Essens

2. Kapitel: »Einst wart ihr Affen …«

Von Schöpfergöttern, Gnadenröckln, Spätstartern, von Wärme und Süße, Atheisten und Speisekarten, vom Rohen und vom Gekochten, über Affen und die Menschwerdung durchs Kochen: kein schönes Bild

3. Kapitel: »Gefühle, Stimmungen, Gerüche, Geräusche«

Steinzeitmenschen, Marcel Proust, der NATO-Doppelbeschluss, Donna Leon und warum niemand je in genau dieselbe Wurst beißt: die Geschichte unseres Geschmacks

4. Kapitel: »Isst du kein Fleisch …«

Von der Fleischeslust, dem vermeintlichen Bärenhunger der Deutschen aufs Pferd, Ekel und Pizza, der freundlichsten Frau und dem freundlichsten Mann der Welt, sowie endlich: Butter bei die Fische!

5. Kapitel: »Dem Essen die Ehre erweisen«

Das elftbestbesuchte Museum der Welt, Schärfe und Fremde, ein unverhofftes Wiedersehen, Má und Là, kulinarisches Heimweh, Superschmecker, Gender Food, Neuromarketing, funktionelle Magnetresonanztomographien und die elektronische Nase, die Kannibalen unter uns, Löffel hin, Löffel her

6. Kapitel: »Töpfchen steh!«

Homaro Cantu, Nerds und Geeks, der süße Brei, Jeffrey Eugenides, Miraculin, Ferran Adrià und warum es keine Molekularküche gibt, ein Märchen vom Koch und seiner Frau

7. Kapitel: »Vom lieben Gott mit einer gewissen Zärtlichkeit angesehen werden«

Herzblut und Hirnschmalz, Wild und Wahn, Vincent Klink und Bill Buford, Dosenwurst und Katzenfutter, ein hässliches Wort für eine hässliche Sache, fünfhundertsechsundsiebzig Milliarden Jahre Hunger, SIE und ER gehen einkaufen und: die Wurzel allen Übels

8. Kapitel: »Hier geht keiner ohne Riesling raus«

Currle & Kurrle, das Kind, das alles isst, The Man Who Killed Bambi, Aromenbibliotheken und Geruchslandkarten, Tomatensaftmysterien und warum Schweinebraten im Gebirge besser schmeckt, die Verbirnung der Figur, Travestiekochen

Quellen- und Bildnachweis

1. Kapitel: »Frauen sollen sich dünne machen«

Ein albernes Spiel, Holzfällersteaks, der Geschmack der Geschlechter, Damenkarten, Vorgangsnummer: I-2010/08-10129, Günter Grass erfindet Slow Food und das sexistische Theater des Essens.

Der Mensch ist die einzige Uhr auf der Welt, die darüber nachdenkt, warum sie tickt. Weder SIE noch ER wissen, wann genau das alberne Spiel eigentlich entstanden ist. Sicher ist, es stammt nicht aus diesem Jahrtausend. Eines Tages war es mitsamt seinen schlichten Regeln einfach da.

Das Spiel geht so: Wann immer SIE und ER in einem Café oder in der Kneipe, in einem Restaurant, einer Mensa oder in der Kantine, an der Imbissbude, im Sternetempel oder an sonst einem Tresen, Counter oder Pass irgendeiner Futterstelle dieser Welt ein Gericht oder ein Getränk auftauchen sehen, wetten wir auf das Geschlecht des Empfängers.

Salat mit Putenstreifen? Eine Frau. Kristallweizen? Ein Mann. Lauchflammkuchen? Frau. Zwiebelrostbraten? Mann. Insalata caprese? Frau. Kohlrouladen. Mann. Spanferkel? Mann. Weißweinschorle? Frau. Tafelspitz? Mann. Island-Skrei auf Chilipolenta? Mann. Spaghetti alla napoletana? Frau. Flambierter Sambucca? Frau. Artischocke mit zwei Dips? Frau. Halbe Ente mit Klößen und Rotkraut? Mann.

SIE schneidet bei diesem Spiel meist besser ab als ER – so wie in fast jedem Spiel. Auch billige Triumphe befriedigen. Andererseits: Es gehört wirklich nicht schrecklich viel Intuition oder Lebenserfahrung dazu, in einem westeuropäischen Restaurant angesichts eines Tellergerichts oder eines Getränks zu erraten, ob es an eine Frau oder einen Mann gehen wird. Oder wann haben Sie das letzte Mal eine Frau ein Holzfällersteak zersäbeln, ein Guinness trinken oder den gegrillten Schweinebauch verputzen sehen? Oder einen Mann ein Möhren-Ingwer-Süpplein löffeln, einen Rucolasalat mit gratiniertem Ziegenkäse mümmeln oder eine Fenchel-Paprika-Pizza knabbern?

Schwieriger, aber wie immer auch an- und aufregender wird es außerhalb des eigenen Kulturkreises. Ist der Mealie-Pap Namibias (ein Brei aus Maismehl, Kuh- oder Ziegenmilch) eher ein Männer- oder Frauenessen? Findet das iranische Masto Khiar (Joghurt mit Gemüse und Gurken) wirklich viele männliche Abnehmer? Welches Geschlecht legen peruanische Yuca à la Huancaína (Maniokfritten mit Aji-Amarilla-Frischkäsesoße) nahe – und essen mehr Männer oder mehr Frauen dazu das in Peru so beliebte gegrillte Cuy, das dem hiesigen Hausmeerschweinchen bis aufs possierliche Schnurrbarthaar einfach zu ähnlich ist, als dass es für die meisten europäischen Mägen so ohne weiteres goutierbar wäre. Warum ist Gebeiztes, Gebratenes, Mariniertes, Frittiertes und Gegrilltes eher Männersache, während Gekochtes, Pochiertes, Gedünstetes, Geschmortes und alles rund ums Backen an Frauen am Herd denken lässt?

Beim Hochleistungssport und in der Mode, im Krankenhaus und im Gefängnis erscheint uns die Trennung der Welt nach Geschlechtern als selbstverständlich und naturgegeben. Teilweise auch in der Schule, beim Arzt oder beim Friseur, in der Kirche, Synagoge oder Moschee, ganz gewiss im Bordell und gelegentlich sogar noch in der Sauna. Nur in Küche und Keller wollen wir nichts davon wissen.

Die Gastrokritikerin der New York Times, Ruth Reichl, hat im April 2007 während einer Konferenz über »Frauen, Männer und Essen« an der Harvard Universität davon erzählt, dass sie und ihr Mann sich ein ähnliches Spiel ausgedacht haben. Allerdings gehen Mrs und Mr Reichl noch einen Schritt weiter als SIE und ER. Ruth Reichl bestellt in einem neuen Lokal stets ein Steak und ein Glas Rotwein, ihr Mann Michael hingegen einen Salat und ein Glas Weißwein. »In 99 Prozent aller Fälle landen Salat und Weißwein bei mir, Steak und Rotwein dagegen bei meinem Mann«, fasst Ruth Reichl ihre frustrierenden Erfahrungen zusammen. Ihre Verwunderung und zunehmende Erbitterung über solche blinden Annahmen und Zuschreibungen hat die amerikanische Restauranttesterin dazu geführt, vom »sexistischen Theater des Essengehens« zu sprechen.

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Während SIE deutlich erkennbar ein Hähnchen-Mozzarella-Sandwich isst, hat ER sich natürlich wieder für das Roastbeef entschieden. Und gehört der Apfel wirklich zu IHM? [Quelle: NASA] [2]

Das sexistische Theater des Essens gastiert weltweit und keineswegs nur außerhalb der eigenen vier Wände. Seine Pforten stehen an jedem beliebigen Ort zu jeder beliebigen Zeit offen – perverserweise sogar und gerade in jenen Regionen der Erde, wo es so gut wie nichts zu essen gibt. Seine Akteure gehen wie sein Publikum in die Milliarden. An kaum einem öffentlichen Ort lassen sich gesellschaftliche Geschlechterrollen schärfer beobachten, klarer studieren und präziser dingfest machen als beim Essen und Trinken im Restaurant. Und auch zu Hause geht täglich der Lappen hoch – ob bei Tisch, auf der Decke, an der Feuerstelle, in einer Kuhle oder wo immer Menschen sonst Mahlzeiten zu sich nehmen. Selbst im Weltall an Bord der Internationalen Raumstation ISS.

Das sexistische Theater des Essengehens beginnt beim Türaufhalten. Setzt sich fort mit dem Abnehmen die Garderobe, der Begrüßung durch die Gastgeberin oder den Patron, der Frage, welchen Tisch man auswählt oder zugewiesen bekommt. Dem Kellner, der IHR den Stuhl heranrückt, den Wein aber ungefragt IHM zum Verkosten präsentiert. Der Kellnerin, die das Mäppchen mit der Rechnung diskret vor IHM platziert.

Doch beginnt die Aufführung wirklich erst da?

Seinen wahren Anfang nimmt das Stück schon lange vorher. Bei den Vorbereitungen auf den Abend: der Auswahl des Restaurants, des Stadtteils, der Küche, der Uhrzeit, der Wahl einer bestimmten Garderobe in bestimmten Farben, dem Ankleiden, dem Schminken, der Auswahl von Parfum oder Eau de Toilette, vom Reservieren des Tischs, der Art, wie wir dabei sprechen, welche Gestik und Mimik unsere Worte dabei begleiten, bis hin zu den tausend Entscheidungen dessen, was der Forschungsansatz der Genderstudies mit der schön aktivischen Formulierung des doing gender benennt – der meist unbewussten Herstellung der sexuellen Ungleichheit in der Gesellschaft, also der Erzeugung jener nicht biologischen, sondern sozialen Geschlechterdifferenz. Und glaube keiner, SIE oder ER entginge diesem sexistischen Theater des Essengehens, indem sie statt zum Franzosen, Italiener, Griechen oder Spanier einfach mal schnell in die Dönerbude, den Currywurststand oder sonst einem Schnellimbiss nebenan huschten. Da wird das Stück nur ein klein wenig schneller und derber gespielt, die Inszenierung dort hat zwar mehr Drive, verfügt aber über weniger Raffinesse.

Je länger SIE und ER Zuschauer und Darsteller im sexistischen Theater des Essens sind, umso gespannter und neugieriger sind wir auf den Autor des Stücks geworden. Von der Suche nach ihm – oder nach ihr? – handelt dieses Buch.

Schon das berühmteste Werk der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, James Joyces 1922 erschienener Großroman Ulysses, beginnt die Einführung einer seiner beiden Hauptfiguren mit einer raffinierten Beschreibung von Geschmacksunterschieden zwischen Mann und Frau. In diesem Fall der Schilderung der Frühstücksgewohnheiten von Leopold und Molly Bloom, deren morgendliche Speisevorlieben stark voneinander abweichen: Während Molly sich mit Tee und gebuttertem Toast begnügt, lässt Joyce seinen Leopold Bloom auch am frühen Morgen schon den Sinn nach wesentlich fleischlicheren Genüssen stehen. Oder in den Worten Joyces bzw. seines deutschen Übersetzers Hans Wollschläger: »Mr. Leopold Bloom aß mit Vorliebe die inneren Organe von Vieh und Geflügel. Er liebte dicke Gänsekleinsuppen, leckere Muskelmägen, gespicktes Bratherz, panierte kroß geröstete Leberschnitten, gerösteten Dorschrogen. Am allerliebsten hatte er gegrillte Hammelnieren, die seinem Gaumen einen feinen Beigeschmack schwachduftigen Urins vermittelten.« Doch an diesem Donnerstagmorgen des 16. Juni 1904, dem berühmtesten Tag der Literaturgeschichte, eben dem Bloomsday, entscheidet sich Leopold Bloom gegen Hammelnieren, auch gegen Eier mit Speck, und optiert mit der pragmatischen Vernunft des regional erfahrenen Gourmets (»Donnerstag: auch für Hammelnieren kein guter Tag«) für eine Schweineniere vom Dubliner Metzgermeister Dlugacz. Unzählige Seminararbeiten sind darüber verfasst worden, wie Joyce durch diese kulinarische Entscheidung Blooms ein Schlaglicht auf dessen Einstellung zu seinem Judentum wirft. IHM und IHR ist jenseits von Blooms laxer Observanz alttestamentarischer Speisegebote in diesem Kapitel des Ulysses zweierlei immer genau so wichtig erschienen: dass Molly morgens eben kein Fleisch isst, sondern nur Tee und Toast zu sich nimmt. Und dass Joyce Leopold Bloom am Herd versagen lässt. Als Bloom in der Schlachterei Dlugacz die Schweineniere kauft, entzünden sich seine erotischen Morgenfantasien an einem »Mädchen aus dem Nachbarhaus«, dessen »kräftigen Hüften« und »strammen Armen« er zu Hause noch so lange hinterhersinnt, bis seine Schweineniere in der Pfanne fast verkokelt. Überaus männertypisch, lässt ER sich von IHR erklären: immer zu viel Testosteron, immer zu hohe Temperaturen.

Zu unserer bis heute anhaltenden Verblüffung hat uns die Frage nach Geschmack und Ernährungsvorlieben der Geschlechter an das Fundament der menschlichen Gesellschaft, an die Urform der Paarbildung, ja an den Beginn der Menschwerdung selbst geführt. Der Vorhang im sexistischen Theater des Essens hebt sich genau genommen zum ersten Mal in den frühen Tagen des Stücks mit dem Titel »Homo sapiens«. Im Grunde ist jeder Restaurantbesuch ein abgeschossener Pfeil, dessen Flugbahn zurückführt in die frühesten Prägungen unserer Kindheit, gar zu den Kindertagen unserer Kultur und Zivilisation insgesamt.

»Bauknecht weiß, was Frauen wünschen.« Die Schorndorfer Haushaltsgerätefirma Bauknecht gehört inzwischen dem amerikanischen Whirlpool-Konzern, hat ihren Stammsitz nach Stuttgart verlegt und bewirbt ihren chromblitzenden »neuen Power Clean™ Max Geschirrspüler« politisch überkorrekt mit dem Foto eines jungen Vaters in Freizeitklamotten und dessen Strahlemann-Sohn, die bei der Zubereitung eines Erdbeershakes gezeigt werden, dessen Milch garantiert nicht mehr als 0,2 Prozent Fett enthält. Gender-Mainstreaming made in Schwaben. Nützt aber gar nichts. Denn an dem Markennamen haftet auch heute immer noch ein »Gschmäckle« – der Hautgout jenes einstmals, in den 1950er und 1960er Jahren, so eingängigen Werbeslogans »Bauknecht weiß, was Frauen wünschen«. Dieser Claim, an dem Bauknecht bis 2004 festhielt, wurde zum Inbegriff des paternalistischen Aromas der Adenauer-Zeit in der Bundesrepublik. Inzwischen veranstaltet Bauknecht Waschkurse für Männer.

Doch weder damals noch heute wissen Küchengerätehersteller um die Unterschiede zwischen dem, was Frauen und was Männer zu sich nehmen. Über dieses Wissen verfügen eher Köchinnen und Köche, Kellnerinnen und Kellner, die Ernährungswissenschaft, Marketingfachleute, der Lebensmittelhandel – und die internationale Nahrungsmittelindustrie. Allerdings mag Letztere dieses Wissen nicht unbedingt teilen – schon gar nicht mit neugierigen Sachbuchautoren. Gefragt nach Material, das Aufschluss über das Geschlecht und die Vorlieben ihrer Kunden gibt, erteilte etwa Mandy Grünig von der McDonald’s Deutschland Inc. in München unter dem Betreff »Vorgangsnummer: I-2010/08-10129« folgende Auskunft beziehungsweise Abfuhr: »Wir haben uns sehr über Ihre Zeilen gefreut – und danken für Ihr Interesse an McDonald’s. Da wir laufend eine Vielzahl von spezifischen Anfragen erhalten – können wir leider nicht individuell auf Ihr Thema eingehen.«

Aber die Fragen bleiben, auch wenn der kulinarisch-industrielle Komplex die Antwort verweigert. Ist der Geschmack der Geschlechter wirklich verschieden? Und sollte dem so sein: Ist der Unterschied naturgegeben oder erlernt und eingeübt? Gilt er weltweit oder ist er von Land zu Land, von Region zu Region unterschiedlich? Hat er sich im Lauf der Zeit verändert, und wenn ja: mit welcher Geschwindigkeit? Unterliegt er dem Zeitmaß der menschlichen Geschichte oder dem unserer Evolution? Bestellen Männer und Frauen in der Öffentlichkeit, was ihnen wirklich schmeckt? Oder nicht vielmehr das, was Tradition und Religion, Milieu, peer pressure und der Erwartungsdruck der Gesellschaft allgemein von ihnen zu bestellen verlangt? Oder, noch komplizierter: Bestellen Männer und Frauen vielleicht nur, was sie von sich selbst zu bestellen erwarten? Nämlich das, was sie für gesund und bekömmlich, ihrem Image zuträglich, ihrer Attraktivität förderlich oder ihrem Status entsprechend halten? Muss man, um hinter die wahren Ernährungsgewohnheiten von Mann und Frau zu kommen, statt das Essen an öffentlichen Orten wie Restaurants oder Kantinen zu studieren, nicht vielmehr darauf achten, was sie für sich einkaufen und in der Privatheit ihrer heimischen vier Wände zu sich nehmen?

Wenn Frauen anders essen als Männer, warum gibt es im Restaurant dann keine Damen- und Herrenkarten? Kein Frauen- und Männer-Stammessen in der Mensa? Oder ist die Frage danach so absurd wie die Forderung, Gerichte nach astrologischen Sternzeichen anzubieten und für Jungfrauen und Waagen anders zu kochen als für Schützen und Wassermänner? Oder für hellpigmentierte Blonde anders als für dunkelpigmentierte Brünette?

Von all diesen Fragen handelt unser Buch. Eine Warnung vorweg: Diese Fragen werden hier zwar gestellt, die wenigsten davon werden Sie hier aber klar, eindeutig und befriedigend beantwortet finden. Und dies nicht, weil SIE und ER Ihnen dieses Wissen vorenthalten wollten, sondern weil dieses Wissen entweder noch nicht existiert oder uns nicht zur Verfügung stand. Mitunter erwiesen sich vermeintliche Umwege zu unserem Thema als aufschlussreicher als die Beschränkung auf die Statistik und die Erkenntnisse der Hirnforschung. So zeigten sich etwa nicht wenige Literaten überraschend fasziniert von unserer Fragestellung – vielleicht, weil Schriftsteller, in den Worten des amerikanischen Autors Jeffrey Eugenides, schon von Berufs wegen Hermaphroditen sind und besonders viel über Unterschiede zwischen Mann und Frau nachdenken. Und Literaturnobelpreisträger Günter Grass, selbst ein sehr respektabler Koch, aus dessen literarischem Œuvre sich spielend mehr als ein Kochbuch zusammenstellen ließe, empfahl uns beim Steinpilzesuchen in Dänemark eine Stelle aus seinem Roman Der Butt von 1977. Volle neun Jahre vor Carlo Petrini, dem italienischen Slow-Food-Begründer, rechnet Günter Grass darin mit der neuen Schnellküche ab und hebt so eine veritable deutsche Slow-Food-Bewegung aus der Taufe:

Zur Hölle mit den Fertiggerichten!

Auf einer Tagung der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten, die kürzlich in Köln stattfand, sprach die Delegierte Lena Stubbe zu Kantinenköchen und Köchen der Gaststättenbetriebe »Wienerwald«, zu den Konservenköchen und sonstigen Köchen. Natürlich saßen auch Kellner, Serviererinnen, Schlachthofmetzger, Fabrikbäcker usw. im Saal. Zu Beginn ihres Kurzreferates »Die Küche der unterdrückten Klasse« sagte Lena eher launig als provozierend: »Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was heißt hier Schnellküche! Zur Hölle mit den Fertiggerichten! Auch wenn sie Zeit sparen, frag ich euch: Zeit wofür und für wen?

Sie bekam nur kleckernden Beifall. Und auch ihr Angriff auf die Konservenindustrie, gepfeffert mit Beispielen schlechter Qualität, wurde nur von wenigen Köchen und solchen zudem unterstützt, die als elitär verschrien waren, weil sie in Hotelküchen erster Ordnung (Rheinischer Hof, Hilton, Steigenberger) sogenannten internationalen Ansprüchen genügen mußten: Fasanenbrüstchen auf Ananaskraut. Das Fertiggericht als Konserve – »So kann sich doch auch der einfache Mann mal Rinderzunge in Madeirasauce leisten!« – wurde von der Mehrheit demonstrativ bestätigt und in einem Zwischenruf »Fortschritt im Sinne gewerkschaftlicher Solidarität« genannt.

»Dann solltet ihr auch die Erbswurst feiern«, rief Lena Stubbe. »Schließlich hat ein Berliner Koch und Kollege, kurz vor Ausbruch des siebzig-einundsiebziger Krieges, die proletarische Erbswurst erfunden und so die preußische Armee gestärkt.« (Beifall, Gelächter.) »Oder ihr solltet den Grafen Rumford zum Ehrenmitglied ernennen, weil diesem Herrn gleich zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Antwort auf die soziale Frage, ein nach ihm benannter Magenkleister eingefallen ist: die Rumfordsche Armensuppe, aus Wasser, Kartoffeln, Graupen, Erbsen, Rindertalg, Altbrot, Salz und abgestandenem Bier solange gekocht, bis sie pappig nicht aus dem Löffel fallen konnte.« (Abermals Beifall und Gelächter der Delegierten.)

Doch als die ehemalige Köchin der Volksküche Wallgasse und Danzig-Ohra aus ihrer frühsozialistischen Erfahrung schöpfte und in ihrem Kurzreferat immer wieder historisch wurde, als sie das damals schon fehlende proletarische Kochbuch auch für die Jetztzeit forderte, als Lena Stubbe nachzuweisen begann, daß sich die Arbeiterfrauen zur Zeit des Frühkapitalismus, in Ermangelung klassenbewußter Kochbücher, an bürgerliche Schwarten – Henriette Davidis und Schlimmeres – gehalten hätten und so der eigenen Klasse entfremdet und mit kleinbürgerlichen Sehnsüchten – »Eure Rinderzunge in Madeirasauce!« – traktiert worden seien, als Lena behauptete, daß die Arbeiterbewegung und in ihr die Gewerkschaften damals und heute versäumt hätten, den jungen Fabrikarbeiterinnen das klassenbewußte Kochen beizubringen – »Da wird doch nur noch blindlings nach der Konserve gegriffen!« –, protestierten die Tagungsteilnehmer mehrheitlich. »Schließlich gibt es Qualitätskonserven!« und »Hier soll wohl der längst überwundene Klassenkampf wieder aufgewärmt werden!« Jemand rief: »Typisch linke Spinnereien sind das!«

Dennoch behielt die Köchin aus dem 19. Jahrhundert das letzte Wort: »Kollegen!« rief sie den Köchen zu. »Ihr kocht ohne geschichtliches Bewußtsein. Weil ihr nicht wahrhaben wollt, daß der männliche Koch während Jahrhunderten ein Produkt der Klöster und Fürstenhöfe, der jeweils herrschenden Klasse gewesen ist. Während wir Köchinnen immer dem Volk gedient haben. Damals blieben wir anonym. Wir hatten keine Zeit für die Verfeinerung von Saucen. Kein Fürst Pückler, kein Brillat-Savarin, kein Maître de Cuisine ist unter uns. Wir haben in Hungerzeiten das Mehl mit Eicheln gestreckt. Uns mußte zum täglichen Haferbrei Neues einfallen. Eine entfernte Verwandte von mir, die Gesindeköchin Amanda Woyke, und nicht etwa der Olle Fritz hat die Kartoffel in Preußen eingeführt. Ihr aber habt euch immer nur Extravagantes einfallen lassen: Rebhuhn entbeint auf Diplomatenart, mit getrüffelter Wildfarce gefüllt, garniert mit Gänseleberklößchen. Nein, Kollegen! Ich bin für Spitzbeine zu Schwarzbrot und Salzgurken. Ich bin für billige Schweinenierchen in Mostrichtunke. Wer nicht historisch Hirse und Schwadengrütze nachschmecken kann, der soll hier nicht großspurig vom Grillieren und Sautieren reden!«

Verärgert riefen die Köche: »Zur Sache! Zur Sache!« – Dann ging es nur noch um die nächste Tarifrunde in Nordrhein-Westfalen.[3]

Je länger SIE und ER sich mit dem Thema Geschmacksunterschiede zwischen den Geschlechtern beschäftigten, desto verunsicherter hinsichtlich unserer eigenen Annahmen und sicher geglaubten Erkenntnisse wurden wir. Vor allem diese Unsicherheit möchten wir mit Ihnen teilen. Andererseits: SIE ahnt natürlich ganz genau, was ER von einer beliebigen Karte bestellen wird; ER hingegen hat auch nach dreißig Jahren immer noch keinen blassen Schimmer, wonach IHR heute der Sinn stehen könnte.

Unser einziger Trost ist, dass wir uns damit offenbar in guter Gesellschaft befinden. Zu unserer Verblüffung haben wir während der Arbeit an diesem Buch Anfragen aus der Lebensmittelindustrie erhalten, wie weit unsere »Forschungen« denn gediehen seien und ob man die »Ergebnisse unserer Studie« vorweg erwerben könne. Weder sind wir Forscher noch haben wir eine Studie verfasst: SIE und ER sind eine Ärztin und ein Literaturkritiker Mitte vierzig, die etwas über Geschmacksunterschiede zwischen Mann und Frau in Erfahrung bringen wollen und sich dabei auf die eigenen Zungen, Gaumen, Nasen und Hirne verlassen, Lektürefrüchte sammeln und mit einer Reihe renommierter Fachleute wie Köchinnen und Hirnforschern, Metzgermeisterinnen, Lebensmittelhändlern und Winzern sprechen und diesen einige neugierige und gewiss manche nervige Frage stellen.

Auf der Suche nach den Gründen für den unterschiedlichen Geschmack der Geschlechter sind wir, wie es so schön bei Erika Fuchs heißt, ausgeschwärmt. Einesteils in die zufälligen geografischen Räume von Geschäfts- und Urlaubsreisen, anderenteils in die Erinnerungsräume unserer Biografien. Viel zu selten sind wir mutig dahin gegangen, wohin noch kein Mensch den Fuß gesetzt hat. Viel zu oft aber haben wir feige gekniffen oder alsbald hasenfüßig den Rückzug angetreten, weil weder ER noch SIE es eine Sekunde länger ausgehalten hätten: nicht bei den Akkordschlachtungen in Industrieschlachthöfen, nicht in den höllischen Mastanlagen der Hähnchenzüchter. Wir haben den großen Wissensspeicher namens Weltliteratur nach dem Unterschied zwischen männlichem und weiblichem Geschmack durchstöbert, und vor allem haben wir mit vielen klugen und sachkundigen Menschen gesprochen.

Wir haben recherchiert, so gut es unserer Intelligenz möglich war und so weit es unser Geldbeutel und unser Zeitbudget zuließen. Weder haben wir in China Affenhirn gelöffelt, noch in Afrika geröstete Grillen verzehrt. Gut, wir haben gemeinsam ein Murmeltier vom Nacken bis zur Schwanzspitze mit Appetit verspeist, aber es war wirklich nur ein sehr kleines Murmeltier, und bestellt hatten es weder SIE noch ER – nein, freiwillig kann man unser Murmeltiermahl wirklich nicht nennen.

Eines steht fest: Weder SIE noch ER hat die Weisheit mit Löffeln gefressen – auch wenn wir uns gar nicht genug darüber wundern können, wie diese Redewendung im Deutschen entstanden ist. Dieses Buch will daher keine Theorie ausbreiten oder eine These setzen, sondern versucht schlicht, eine Frage zu formulieren und in einigen Anläufen mögliche Antworten einzukreisen: Woran liegt es, dass SIE immer einen anderen Picknickkorb zusammenstellen will als ER?

SIE und ER haben Alice Schwarzer nach dem kleinen Unterschied beim Essen und Trinken gefragt. Kennengelernt haben wir die streitbare Emma-Blattmacherin und verdienstvolle Symbolfigur des deutschen Feminismus in einer Kölner Südstadt-Pizzeria, dem »Grande Fratello« in der Alteburger Straße, das der Emma-Redaktion als zweites Büro dient. Bis SIE und ER dem bodenständigen Charme dieses kölschen Italieners erlagen, hat es eine Weile gedauert, dann aber sind sie ihm regelrecht verfallen. Zunächst verschlug uns der Jeff-Koons-Hyperrealismus im »Grande Fratello« einfach die Sprache: Alles schien eine Spur zu groß, zu laut, zu derb, einfach zu authentisch, um wirklich wahr zu sein: angefangen bei den Wachstuchdecken auf den Tischen, dem stechenden Geruch nach Reinigungsmittel in der Luft, den der Duft des im Steinofen brennenden Buchenholzes zum Glück rasch vertrieb, bis hin zum dröhnend-herzlichen Willkommen, ja schon dem Namen des bulligen, wie ein junger Mario Adorf aussehenden Wirts Giuseppe Castro – legen sich jetzt schon Pizzabäcker wohlklingende Pseudonyme zu? Giuseppe Castro spricht urkölschen Dialekt, sein rappeldürrer, immer gut gelaunter Kellner hingegen jenes Sei-keine-dumme-Salat-Idiom, das der bärbeißige italienische Schwiegervater Antonio Marcipane in Jan Weilers Romanen pflegt. In ihrem Theater des Essens bilden Kellner und Wirt des »Grande Fratello« ein unwiderstehliches Commedia-dell’Arte-Duo, und als die beiden dann gegen 22 Uhr auch noch zur Klampfe greifen und inbrünstig canzoni siciliane singen, beginnen SIE und ER sich immer häufiger unauffällig umzusehen, wo denn hier die Kameras und Mikrofone stehen. Doch im »Grande Fratello« läuft keine Inszenierung für die Medien, alles ist so echt, wie es im Theater des Essens nur sein kann – zum Glück auch die Herzlichkeit der beiden. Alice Schwarzer mag im »Grande Fratello« übrigens am liebsten die Pizza Belvedere – Büffelmozzarella, Parmaschinken, Rucola und Parmesan. Er selbst aber, Giuseppe Castro, bevorzugt genau wie SIE und ER das simple Aroma einer Margharita mit Büffelmozzarella, Tomate und Basilikum – die bei ihm aber aus unerfindlichen Gründen »Pizza Filippo« heißt.

Alice Schwarzer: »Ich bin auch nur eine Frau«

SIE & ER: Kochen Sie gern …?

Alice Schwarzer: Ja, ich koche sehr gerne. Aber da gehört natürlich das Einkaufen dazu. Was in unserer Region nicht so einfach ist: viel zu wenige Märkte und eine zu unkritische Kundschaft.

… oder lassen Sie sich lieber bekochen? Von wem am liebsten?

Mich bekochen lassen: auch nett. Am liebsten von Menschen, die kochen können. Denn wenig ist quälender, als ein schlechtes oder mittelmäßiges Essen mit vielen Komplimenten (»Schmeckt ganz toll!«) runterzuwürgen.

Wie, wo und warum haben Sie kochen gelernt?

In Frankreich, von einem Mann, meinem Freund. Und der wiederum hat es bei seiner Mutter beobachtet. Genauer: in Paris. Das heißt etwas, denn die Küche in Paris muss schnell gehen, aber effektvoll sein. In Paris hat ja kein Mensch Zeit, und schon gar nicht die Frauen.

Kochen Frauen anders als Männer?

In der Regel ja. Männer machen ein größeres Brimborium drum rum. Aber das gilt auch für nicht so arg weiblich identifizierte Frauen, die sich dann demonstrativ ans Kochen machen. Anstrengend.

Die Hamburger Sterneköchin Anna Sgroi meint, dass Männer in der Küche mehr Wert auf technische Perfektion, Frauen mehr Wert auf Geschmack legen.

So wird es sein. Diese ganzen teuren japanischen Messer, mit denen der deutsche Mann dann dramatisch eine Zwiebel hackt oder einen Braten schneidet … Aber das ist überhaupt eine Unart: Die vielen Küchengeräte, für deren Säuberung man länger braucht, wie wenn man alles mit einem einzigen Küchenmesser gemacht hätte.

Bestellen Frauen im Restaurant anders als Männer?

Ja, die meisten Frauen achten beim Bestellen auf die Kalorien. Das nervt.

Hat sich der Geschmack von Alice Schwarzer im Laufe der Jahre geändert?

Mein Geschmack hat sich erweitert, als ich mit einundzwanzig als Sprachstudentin zum ersten Mal nach Paris kam. Trotz wenig Geld (drei Francs, eine Mark am Tag).

Kochen Sie sich in Ihre Kindheit zurück?

Selten. Bei uns zu Hause wurde ziemlich schlecht gekocht. Meine Großmutter las lieber oder diskutierte über Politik. Aber: Möhren-Durcheinander oder Rübstiel – köstlich! Das koche ich allerdings besser, als meine Großmutter es je getan hat.

Wird Kochen und Essen heutzutage nicht heillos überbewertet? Was würden Sie einer Dreizehnjährigen erwidern, die angesichts des Hungers auf der Welt diese Fixierung aufs Essen schlicht pervers nennt?

Ja. Vor allem diese Feinkostabteilungen in edlen Kaufhäusern sind manchmal grotesk. Zehn verschiedene Salze etc. Da würde ich einer kritischen Dreizehnjährigen uneingeschränkt recht geben: Diese Fixierung auf (teure) Qualität ist pervers angesichts des Hungers in der Welt.

Hat der explosionsartige Anstieg von Magersucht, Anorexie und Bulimie etwas mit dieser Entfremdung zu tun?

Die Gründe für Essstörungen sind komplex. Der zentrale Grund aber scheint mir das Diktat androgyner beziehungsweise adoleszenter Körper für Frauen zu sein. Das ist eine Negierung von Weiblichkeit – wir Frauen sollen uns dünne machen.

Hatten Sie selbst je Probleme mit dem Essen?

Nein, noch nie.

Weshalb muss man kochen können? Warum das in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht getrost Experten überlassen?

In fremden Ländern gehe ich zuerst auf die Märkte und auf die Friedhöfe. Einkaufen und Kochen ist für mich ein elementarer Teil unserer Alltagskultur. Und vor allem: Es ist so kommunikativ, macht so viel Spaß, zu zweit zu kochen.

Was löst Ekel in Ihnen aus?

Es gibt fast nichts, wovor ich mich ekle. In fremden Ländern probiere ich grundsätzlich immer die Spezialitäten aus – und bin da nur einmal in China an meine Ekelgrenze gestoßen. Ausgerechnet da. Da kochen sie nämlich eigentlich wahnsinnig gut.

Haben Sie Erfahrungen mit Diäten?

Leider ja. Ich bin auch nur eine Frau. Politisch habe ich ein ganz kritisches Verhältnis zu Diäten – persönlich aber will ich immer wieder mal fünf oder zehn Kilo abnehmen. Mit beschränktem Erfolg.

Haben Sie schon mal mit dem Gedanken gespielt, ein Restaurant zu eröffnen? Was käme da auf den Tisch?

Man hat ja ab und an so Exil-Fantasien. Und mein Programm steht: Drei Gerichte. Davon ein Standardgericht, das es immer gibt. Und zwei unterschiedliche Saisongerichte. Alles einfach und lecker. Dazu Hauswein.

Was ist die wichtigste Zutat Ihrer Küche?

Knoblauch.

Erstes Geschmacksexperiment

Wer in Zweifel gestürzt wird, sucht Zuflucht beim Sichergeglaubten des Selbsterlebten und -erfahrenen. SIE und ER bilden da keine Ausnahme. Deshalb haben wir uns für jedes Kapitel dieses Buchs ein kleines Geschmacksexperiment ausgedacht, Versuche, die das Abstrakte in den Raum des sinnlich Erfahrbaren rücken. Das allererste Geschmacksexperiment ist allerdings rein virtuell. Es hat mit unserem kulinarischen Gedächtnis zu tun und besteht aus einer schlichten Frage:

Was ist Ihre früheste kulinarische Erinnerung?

Für SIE ist diese Urszene ihrer Geschmacksbildung eine Erinnerung, die SIE eigentlich gar nicht haben dürfte: Höchstens drei Jahre alt kann SIE damals gewesen sein, als SIE IHRE Mutter zu Hause in der Küche in Freiburg die Haut von einem Kalbshirn abziehen sah, präzise und methodisch geschickt, mit den geschulten Bewegungen einer zugleich als Köchin und Kinderärztin erfahrenen Frau. Noch heute kann SIE keine Walnuss ansehen, ohne den fettigen Geschmack von in Butter gebratenem Kalbshirn im Mund zu haben, Aufbaukost, wie das damals hieß, ein Proteinhammer. SIE hat das bis heute nie wieder gegessen. Und doch meint SIE den Geschmack von damals noch vierzig Jahre danach auf der Zunge zu spüren.

Für IHN ist es der Geschmack von Pfefferminztee. Aber nicht irgendein Pfefferminztee, sondern Pfefferminztee, wie er schmeckt, wenn man ihn aus einem nigelnagelneuen weißen Plastiktrinkgeschirr mit roter Kappe trinkt, mit dem ER als Vierjähriger in den katholischen Kindergarten in Waiblingen-Hegnach ging. Merkwürdig soldatisch müssen diese Kindergartenkinder damals ausgesehen haben, in ordentlich ausgerichteter Zweierreihe auf dem Hof postiert, alle mit dem Riemen ihrer Trinkgeschirre quer über der Brust, eine Erinnerung daran, wie uniformiert unsere bundesrepublikanische Gesellschaft 1968 immer noch war.

Die wohl radikalste und ehrlichste Form einer kulinarischen Autobiografie stammt von dem französischen Schriftsteller Georges Perec, einem der großen Spaßvögel der Weltliteratur. Georges Perec hat wunderbare Satiren geschrieben, etwa »Über Tomaten unter besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Sangeskunst«, in der er sich auf Englisch über die Wissenschaftspublizistik der Zeit lustig macht und allen Ernstes verschiedene Versuchsanordnungen durchkonjugiert, mit Hilfe welcher Wurftechniken vollreife Tomaten die größte Wirkung auf Sopranistinnen erzielen. Berühmt wurde Perec in den 1970er Jahren mit seinem Roman Das Leben Gebrauchsanweisung. Unter der Überschrift »Versuch einer Bestandsaufnahme« hat Georges Perec einen Text geschrieben, in dem er minutiös auflistet, welche festen und flüssigen Nahrungs- und Genussmittel er im Lauf des Jahres 1947 zu sich genommen hat. Die achtseitige engbedruckte Liste umfasst »dreimal Schnecken«, »einmal Seeigel«, »sechsundfünfzig Armagnac«, »acht Calvados«, »sechsunddreißig Wodka« – und sage und schreibe nur »einen Obstteller, zweimal Erdbeeren, einmal Johannisbeeren« und »eine Orange«. Eine typisch männliche Ernährungsweise? Georges Perec starb 1982, wenige Tage vor seinem 46. Geburtstag.

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Pizza Grande Fratello
Alteburger Straße 3
50678 Köln
Tel. 0221 3109774

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SIE: Jean Anthelme Brillat-Savarin: Physiologie des Geschmacks. Deutsch von Carl Vogt, Koehler & Amelang Verlag.

ER: René Goscinny und Albert Uderzo: Asterix und Kleopatra, Deutsch von Gudrun Penndorf, Ehapa Verlag; darin jene Urszene der Geschmacksunterschiede zwischen Mann und Frau:

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Ang Lee (Regie): Eat Drink Man Woman