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Jakob Arjouni

Hausaufgaben

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe

erschien 2004 im Diogenes Verlag

Umschlagillustration:

Salvador Bru, ›Houses… Dream…‹

Copyright © Salvador Bru/

Bru Associates

 

 

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23504 3 (6. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60369 9

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] 1

Joachim Linde, Deutschlehrer am Reichenheimer Schiller-Gymnasium, sah auf die Uhr.

»…Also dann versucht doch mal in den zwanzig Minuten, die uns noch bleiben – auch ruhig unter dem Eindruck des vorhin gelesenen Walser-Texts –, zu beschreiben, was ihr meint, welchen Einfluß das Dritte Reich heute, fast sechzig Jahre später, auf euer Leben hat.«

Linde verschränkte die Arme, lehnte sich gegen die Tafel und ließ den Blick über die Gesichter des Deutsch-Oberstufenkurses »Deutsche Nachkriegsschriftsteller und ihre Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich« streifen. Zweiundzwanzig Mädchen und Jungen im Alter von siebzehn bis zwanzig, die im Moment, wie Linde glaubte, nur im Kopf hatten, wo sie das verlängerte Wochenende verbringen würden. So wie er. Es war Donnerstag, ein warmer, sonniger Frühlingstag, und in zwei Stunden wollte er in den Zug nach Berlin steigen, um am nächsten Morgen zu einer dreitägigen Wanderung [6] durch die Mark Brandenburg aufzubrechen. Ein von ihm seit langem, quasi seit dem Mauerfall vor vierzehn Jahren gehegter Wunsch: die Wiege Berlins, die Heimat Fontanes und nicht zuletzt die Gegend, aus der Lindes Vater stammte, zu Fuß zu »ersinnen« (so hatte er es oft gesagt und auf Nachfragen geantwortet: »Das Land mit allen Sinnen in mich aufnehmen, ertasten, erriechen, erschmekken.« Linde bildete sich auf außergewöhnliche Formulierungen, Wortschöpfungen sowie Umdeutungen bekannter Wörter etwas ein. Je länger seine Zuhörer brauchten, um dahinterzukommen, was er eigentlich meinte, desto zufriedener war er.). Dreimal hatte er die Zugfahrkarte nach Berlin schon gekauft, doch immer war im letzten Moment etwas dazwischengekommen. Einmal hatte Ingrid, seine Frau, am Abend zuvor einen ihrer Zusammenbrüche gehabt, ein anderes Mal war Pablo, sein neunzehnjähriger Sohn, zum Bezirksgruppenreferent bei Amnesty International gewählt worden und hatte ein Grillfest veranstaltet, und vor einem halben Jahr mußte Martina, seine achtzehnjährige Tochter, mit aufgeschnittenen Pulsadern ins Krankenhaus eingeliefert werden. Doch diesmal schien ihn nichts mehr aufhalten zu können: Ingrid saß in der Klinik, Pablo demonstrierte in Mannheim gegen Israels Siedlungspolitik, und Martina war drei [7] Monate nach ihrem Selbstmordversuch von zu Hause abgehauen und lebte zur Zeit mit einem Fotografen in Mailand. Von der Lehrerkonferenz am Abend hatte sich Linde vom Schulleiter befreien lassen, und das allwöchentliche Treffen des Martin-Luther-Gesprächskreises zur aktuellen Deutung des Neuen Testaments fiel an diesem Samstag wegen des Reichenheimer Weinfests aus.

»Ja, Alex?«

»Also…« Alex nahm den Arm herunter und grinste unsicher. Vor drei Tagen hatte ihm Linde gesagt, wenn er sich mündlich nicht mehr beteilige, könne er den Kurs vergessen.

»Ich weiß nicht, aber…« Alexs Knie schlugen einen langsamen Takt. »Wie Sie schon sagten: Das ist fast sechzig Jahre her. Was geht mich das an?«

»Tja, Alex, genau das war die Frage.«

Teresa und Jennifer in der letzten Bankreihe kicherten. Teresa war Klassenbeste, und Jennifer hatte, wie Linde fand und sich dessen immer wieder versicherte, einen ganz außergewöhnlich runden und strammen Hintern.

Auf das Kichern reagierte er mit einem lächelnden »Na, na!«. Dann wandte er sich zurück zu Alex: »Es wäre schön, wenn du noch ein bißchen mehr beitragen könntest, als einfach nur meine Frage zu wiederholen.«

[8] »Aber wenn’s mich doch nun mal nichts angeht.« Mit dem Kichern hatte sich Alex’ Miene verdüstert. »Sie können mich doch nicht zwingen, daß irgendwas irgendeinen Einfluß auf mich hat.«

»Nein, aber du könntest dich vielleicht mal dazu zwingen, ein bißchen genauer nachzudenken. Wie ist das denn zum Beispiel in den Ferien im Ausland, wenn du den Leuten dort sagst, du seist Deutscher?«

»Was soll da schon sein? Und selbst wenn was wäre: Im Ausland sprechen sie ja wohl ausländisch, also würd ich’s eh nicht verstehen.«

Wieder wurde in der letzten Reihe gekichert.

Linde legte die Stirn in Falten und betrachtete Alex betont verzweifelt. Dabei nahm er aus den Augenwinkeln Teresas und Jennifers Schmunzeln über seinen komödiantischen Ausdruck gerne wahr. Schließlich sagte er seufzend: »Wie wir alle wissen, lernst du seit der fünften Klasse Englisch, und wenn deine Erfolge dabei auch bescheiden sein mögen, so sollte das Gelernte doch ausreichen, um dich im Zugabteil oder auf dem Campingplatz wenigstens simpelsätzlich mit jemandem zu unterhalten.«

»Simpel-was?«

»Simpelsätzlich.« Linde sah in Erwartung eines Lächelns kurz zu Teresa und Jennifer, doch die Mädchen flüsterten miteinander. »Wie [9] ›grundsätzlich‹, nur eben ›simpel‹ wie ›einfach‹. Also: Wie geht’s, wo kommst du her, wie ist das Wetter bei euch…«

Alex nickte und sagte in gedehntem, leicht spöttischem Tonfall: »How do you do.«

»Zum Beispiel. Und dann fragen die Leute doch wohl oft: Woher kommst du?«

»Klar. Und dann sag ich Germany, und dann sagen die: O wow, Bayern München, Mercedes, Linde…« Alex hielt inne.

Linde begriff nicht gleich. »Bitte?«

»Ja, ich hab mich am Anfang auch gewundert, aber inzwischen… Ich schwör’s, jeder zweite, meistens Professoren, Künstler – so Kluge eben – und natürlich die jungen, hübschen Frauen mit den giganto Sitzpolstern…«

Bei ›giganto Sitzpolstern‹ warf Alex Jennifer einen kurzen Blick über die Schulter zu, und Linde entfuhr es wütend: »Alex! Was soll das?!«

Alex hob abwehrend die Arme. »Soll ich nun erzählen, was passiert, wenn ich im Ausland sage, ich sei Deutscher, oder nicht? Die Leute rufen: Germany! Isn’t it the homeland of Joachim Linde, the wonderful wordinventor! Let’s say it simpelsätzlich: the greatest guy…«

»Alex! Hör sofort auf mit dem Quatsch!«

Inzwischen wurde wieder gekichert, doch [10] diesmal in der ganzen Klasse, und Linde besann sich auf seine Position als Notengeber.

»Und jetzt ist Schluß mit den Albernheiten! Wir reden hier über ein äußerst ernstes Thema, und ich möchte euch bitten, euch in der letzten Viertelstunde noch mal zu konzentrieren.«

Die Klasse verstummte. Linde sah reihum in die Gesichter der Schüler, wobei er Alex’, Teresas und Jennifers ausließ. Schließlich meldete sich Oliver.

»Ja, Olli?«

»Also mir ist das früher, als ich noch mit meinen Eltern in die Ferien gefahren bin, ganz oft passiert. Was, du bist aus Deutschland, und sofort: ›Heil Hitler‹, ›Schneller, schneller‹, ›Schnitzel‹, ›Faß, Hasso‹, und der ganze Quatsch, wie in Hollywood-Filmen. Heute versuch ich das Thema meistens zu umgehen. Manchmal sag ich sogar, ich sei Schweizer.«

Nach einer kurzen, beinahe feierlichen Pause, in der sich seine Miene für alle sichtbar aufhellte, sagte Linde: »Womit wir bei einer der prägnantesten Auswirkungen des Dritten Reichs auf unser heutiges Leben wären: der Verleugnung – oder besser: Verneblung oder Verschattung – unserer Herkunft. Wir können immer noch nicht wie ein Franzose oder Engländer stolz und froh erklären, woher wir kommen. Nach wie vor müssen wir aufpassen, [11] was wir äußern, um nicht in den großen Nazitopf geworfen zu werden. Selbst wenn wir deklarierte Humanisten und Internationalisten sind, zum Beispiel Greenpeace oder Amnesty International unterstützen und die Welt als eine einzige begreifen, die es für alle Menschen zu retten und zu bewahren gilt – aus der Sippenhaft, in die uns andere Völker seit nun bald sechzig Jahren stecken, kommen wir nur schwer heraus. Das geht so weit, daß…«

»Warum?« unterbrach jemand aus der zweiten Reihe, und Linde, der diese kleine Rede vorbereitet hatte und noch lange nicht an ihrem Ende war, schaute unwirsch auf. Sonja. Wie immer. Stellte er Fragen und forderte zur mündlichen Beteiligung auf – von Sonja kein Wort. Sprach er aber zur Klasse, erklärte etwas an der Tafel oder ließ vorlesen – fast konnte er darauf wetten, daß Sonja dazwischenreden würde. Und oft völlig wirres Zeug. Was, zum Beispiel, hieß denn bitteschön in diesem Zusammenhang »Warum«?

»Sonja, würdest du dich bitte melden, wenn du etwas beitragen möchtest, und warten, bis du drangenommen wirst.«

»Aber wenn Sie so ewig reden und eins aufs andere aufbauen und ich schon am Anfang nicht glaube, was Sie sagen – ich meine, Deutschland ist doch ’n Land und hat ’ne Geschichte, und wenn [12] ich nun mal hier geboren bin, dann habe ich eben damit zu tun. Darum muß ich doch nichts verleugnen. Ich hab mir meinen Geburtsort ja nun bestimmt nicht ausgesucht.«

»Siehst du…« Linde lächelte triumphierend. Darauf konnte er Sonja problemlos entgegnen. Das war nicht immer so. »Und trotzdem wirst du in Sippenhaft genommen.«

»Werd ich ja gar nicht! Sippenhaft! Weiß gar nicht, was Sie damit meinen. Und wenn ich an Olivers Eltern denke, fällt mir auch sofort Wurst und Heil Hitler ein.«

»Eh, du blöde Hippieschlampe!«

»Olli!«

»Na, sie hat doch angefangen!«

»Immer mit der Ruhe. Also, Sonja, dann erklär mir doch mal den Widerspruch, daß du eben noch gesagt hast, du hättest etwas mit diesem Land zu tun und andererseits behauptest, du wüßtest nicht, was ich meine, wenn ich von Sippenhaft spreche?«

Was fiel ihr denn jetzt ein, ihn anzugucken, als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank?

»Meinen Sie mit Widerspruch Widerspruch im üblichen Sinne, nämlich daß sich was widerspricht, oder ist das wieder so eine witzige Wortspielerei?«

Linde sah in die ihn nun völlig ausdruckslos betrachtenden Augen. Mit beherrschter Stimme sagte [13] er: »Ich meine den Widerspruch, wie er im Duden steht.«

»Tja dann… Mit dem Land, in dem man geboren ist, hat ja nun jeder zu tun, und Deutschland hat eben eine besonders beschissene Geschichte, das kann man ja nicht wegzaubern, und darüber wird geredet, und ich finde, sechzig Jahre sind auch keine Zeit, um über was wegzukommen, was so ungeheuerlich war und soviel zerstört hat. Bei Amerika, zum Beispiel, denkt man ja auch nicht nur an Madonna und unbegrenzte Möglichkeiten, sondern auch an Indianer und Sklaverei, und zu Recht, denn das hat ja bis jetzt Auswirkungen.«

Sonja machte eine Pause, die Oliver nutzte, um für alle deutlich hörbar zu murmeln: »Sonja Kaufmann – unsere Negerseele.«

Linde schwieg.

Ungerührt fuhr Sonja fort: »Trotzdem seh ich, wenn ich einen kennenlerne, in einem weißen Amerikaner ja nicht den Sklaventreiber – außer eben, er führt sich so auf, daß ich denken muß: Genau solche werden es wohl damals gewesen sein. Und je weniger er davon wissen will, desto besser paßt er in die Rolle, denn warum sollte einer, der vor sich selber, was solche Schweinereien betrifft, keine Angst haben muß, über die Schweinereien nicht reden wollen…«

[14] Linde unterbrach: »Bitte, Sonja, Amerika und solche Theorien sind ja sehr interessant, aber würdest du jetzt bitte auf meine Frage zurückkommen.« Linde hatte keine Ahnung, wovon Sonja eigentlich sprach. In zehn Minuten begann das verlängerte Wochenende, und er wollte die Stunde mit einer bestimmten These und einer damit verbundenen Hausaufgabe abschließen.

Sonja verzog entnervt den Mund und verstummte. Linde beugte den Kopf vor und legte erneut auf komödiantische Art die Stirn in Falten. Er benutzte diesen Ausdruck oft. »Sonja?«

»Na gut«, antwortete sie, ohne aufzusehen, »dann ganz einfach: Wenn solche Leute wie Oliver und seine Eltern sich ’ne Deutschlandfahne aufs Auto kleben und jeden, der ihnen mißfällt, anschauen, als wollten sie ihn am liebsten erschießen, und über ihr Land, das sie angeblich so sehr lieben, nur zu sagen wissen, daß es schön und sauber ist, daß gut gearbeitet wird und von mir aus noch Goethe und Schiller – wenn also solche Leute sich in Frankreich oder sonstwo aufführen, als hätte es Auschwitz nicht gegeben, und da ist dann einer, der zum Beispiel seine Großeltern nicht kennenlernen konnte, weil vielleicht Olivers Großeltern sie ermordet haben, dann haben sich Leute wie Oliver und seine Eltern doch von sich aus für eine Sippe [15] entschieden, die ja nun zum allergrößten Glück in Haft genommen wird – selbst wenn Haft doch ein komisches Wort dafür ist, in einem der reichsten Länder der Welt zu leben, alle paar Jahre ein neues Auto zu fahren und so dumm und grausam bleiben zu können wie man will, ohne nämlich tatsächlich eingesperrt zu werden.«

»Weißt du, was du bist?!« Oliver hatte sich über den Tisch in Sonjas Richtung gebeugt, und sein Gesicht war rot angelaufen. »Eine widerliche linke Zecke, und ich bin bestimmt kein Nazi, aber deine Großeltern hätten sie von mir aus gerne mitvergasen können, dann müßten wir uns heute nicht diesen Scheißdreck anhören!«

»Na, aber Olli…!« Linde schaute bestürzt.

»Sie will mich doch ins Gefängnis stecken!«

Linde sah zwischen den beiden hin und her, wußte nicht, wie er reagieren sollte, bis es aus ihm herausplatzte: »Das ist doch völlig unerheblich! In meinem Kurs wird niemandem die Vergasung gewünscht! So eine Ungeheuerlichkeit! So was habe ich noch nicht erlebt!« Und die Hände beschwörend erhoben, wiederholte er: »Ungeheuerlich! Und darum verläßt du jetzt auch sofort den Raum! Wir sprechen später miteinander! Das wird auf jeden Fall Konsequenzen nach sich ziehen!«

Für ein paar Sekunden herrschte Stille. Lindes [16] wütender Blick verharrte auf Oliver, Oliver sah zu Boden, und die meisten Schüler schauten ratlos. Dann stand Oliver auf, und die Klasse verfolgte, wie er mit versteinertem Gesicht Hefte und Bücher in seine Tasche schob, den Reißverschluß seiner Sportjacke zuzog und mit steifen Schritten zur Tür ging. Die Klinke in der Hand, drehte er sich noch mal um.

»Ich finde das ziemlich unfair, Herr Linde. Ich hab das doch nur gesagt, weil sie behauptet hat, meine Großeltern seien Mörder. Sie hat’s doch auf so ’ne Ebene gebracht. Und da hab ich halt auf dieser Ebene reagiert. Aber doch nicht ernst gemeint.«

»Das hoffe ich sehr, Olli. Trotzdem werden wir darüber sehr ernsthaft reden müssen.«

»Klar.«

»Oliver?«

Linde fuhr herum. Sonja! Jetzt bitte keinen Ärger mehr. Doch bevor er etwas sagen konnte, fragte sie: »Was waren deine Großeltern denn?«

Oliver sah Sonja einen Moment lang stumm an. Dann antwortete er: »Mein Opa ist als ganz normaler Soldat in Rußland gefallen, und meine Oma hat alleine vier Kinder durchbringen müssen.« Er machte eine Pause, ehe er in bitterem Ton hinzufügte: »Der jüngste Bruder meines Vaters ist dabei an Hunger gestorben.« Daraufhin stieß er, ohne eine [17] Reaktion abzuwarten, die Tür auf und trat hinaus auf den Flur. Die Tür fiel zu, und die Blicke sämtlicher Schüler, bis auf Sonjas, die vor sich hin starrte, richteten sich auf Linde. Linde spitzte die Lippen, kratzte sich am Kinn, sah zu Boden, ging ein paar Schritte, sah wieder auf, nickte stumm vor sich hin, verschränkte die Arme und wandte sich schließlich an die Klasse: »Damit wir uns da einig sind: Ollis Sätze sind das Schlimmste, was ich je in einem Klassenraum zu hören bekommen habe, und mit nichts zu entschuldigen. Und ich wünsche mir, daß jeder von euch, der mit Olli zu tun hat, ihm deutlich macht, daß so ein Verhalten unter gar keinen Umständen zu tolerieren ist.« Linde seufzte tief und schüttelte den Kopf. »Ich bin wirklich erschüttert.«

Die meisten Schüler nickten. Lucas, ein ausgezeichneter Musiker mit Problemen in sämtlichen anderen Fächern, der um sein Abitur bangen mußte, sagte gerade so leise, daß man glauben konnte, er spräche zu sich selbst: »Und dabei lief’s die ganze Zeit so gut mit der Vergangenheitsbewältigung.«

Linde beachtete ihn nicht. Er blieb noch einen Moment lang stehen, dann ging er hinter seinen Tisch, setzte sich schwerfällig, faltete die Hände über der Platte und beugte sich leicht vor. Sein Blick fiel auf Sonja. Zögernd sagte er: »Trotzdem müssen [18] wir wohl einsehen, daß die Geschichte von Ollis Großeltern zeigt, wie kompliziert das Thema ist.«

»Was ist denn daran kompliziert?« fragte Sonja unwirsch. »Im Krieg sterben Soldaten und wird gehungert. Es geht ja wohl darum, wie es zum Krieg kommt.«

Linde befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen. »Aber ein individuelles Leid kannst du den Leuten doch kaum absprechen?«

»Nö«, Sonja kratzte sich mit einem Kugelschreiber im Ohr. »Aber Nazileid find ich gut.«

Ein Prusten ging durch die Reihen der Schüler, und alle waren froh, daß die betretene Stimmung ein Ende hatte. Teresa, die Klassenbeste, meldete sich mit Fingerschnipsen. Linde nickte ihr zu.

»Weißt du, Sonja, was du nicht begreifen willst: daß wir natürlich alle gegen Nazis sind. Sogar Oliver. Diesen Unsinn hat er doch nur gesagt, um zu provozieren. Trotzdem muß man differenzieren. Du machst es dir einfach: da die Bösen, hier die Guten. Aber so funktioniert das nicht. Wenn wir wirklich was verstehen wollen, dann müssen wir versuchen, alle Seiten zu sehen. Und eine Seite ist nun mal – da kannst du noch so lange behaupten, bei dir sei das anders –, daß die Deutschen und sogar noch unsere Generation, und zwar Leute, die mit Faschismus nun wirklich nichts zu tun haben, [19] damit umgehen müssen, daß ein großer Teil der Welt sie immer noch zuallererst als Vertreter eines Volks sieht, das sechs Millionen Juden umgebracht hat.«

»Und Roma, Homosexuelle und Behinderte«, sagte Jennifer und schüttelte den Kopf wie ein Fußballtrainer, der seine Mannschaft zum x-ten Mal den gleichen Fehler machen sieht.

»Aber…«, setzte Sonja an und betrachtete das Ende ihres Kugelschreibers, »…ich krieg hier seit Beginn des Kurses immer nur mit, wie eine Seite gesehen wird, nämlich die der armen, zu Unrecht verurteilten Deutschen. Abgesehen davon: Wenn ihr alle nicht dauernd sagen würdet, daß ihr bestimmt keine Nazis seid, dann könnt man’s euch vielleicht sogar glauben.«

Linde runzelte die Stirn – was sollte denn das jetzt? – und sah unauffällig auf die Uhr.

Teresa erwiderte: »Du tust ja gerade so, als könnte es so was wie die Nazis noch mal geben. So was Verrücktes.«

Sonja sah sich zu Teresa um. »Weil die Menschen aus Katastrophen lernen und darum immer klüger und besser werden?«

Das ist doch reine Rhetorik, dachte Linde. Und in Anbetracht der noch verbleibenden Unterrichtszeit und im Hinblick auf die Hausaufgabe, die er stellen wollte, sagte er: »Wartet mal.«

[20] Teresa und Sonja schauten auf. Linde lächelte beiden zu. »Das ist sicher eine spannende Diskussion, aber führt doch jetzt leider etwas zu weit. Trotz des Zwischenfalls mit Olli möchte ich euch bitten, euch in den letzten fünf Minuten noch mal auf unser Thema zu besinnen und mit der Frage zu beschäftigen, welche Auswirkungen das Dritte Reich auf euer Leben heute hat.«

Doch nach all der Aufregung und kurz vor Beginn des Wochenendes war die Konzentration der Klasse hin. Keiner der Schüler reagierte. Viele sahen auf die Uhr, begannen, Bücher und Hefte in die Taschen zu stecken, oder schalteten Handys an. Teresa schüttelte den Kopf, während Jennifer ihr etwas zuflüsterte. Sonja kratzte sich wieder mit dem Kugelschreiber im Ohr.

»Nun…«, Linde preßte die Lippen zusammen. Hier war wohl nichts mehr zu machen. Trotzdem wollte er den Unterricht so nicht beenden: irgendwie angeschmiert. Als trage er die Schuld für Olivers Aussetzer. Nachher hieß es noch, das Ganze sei nur passiert, weil er die Klasse nicht im Griff habe. Dabei: Wer hatte denn auf Teufel komm raus provoziert und alles erst ins Rollen gebracht?

»Also gut«, sagte er einlenkend, »ihr brennt darauf, ins Wochenende zu kommen, und, ehrlich gesagt, ich auch. Trotzdem würde ich mich, nachdem [21] es eben so hoch hergangen ist, über ein versöhnliches Schlußwort sehr freuen.« Er sah von einem Schüler zum anderen, bis er sich, als folge er einer plötzlichen Eingebung, unvermittelt an Sonja wandte: »Und da du, Sonja, dich heute so engagiert beteiligt hast, möchte ich das gerne dir überlassen.«

Sonja sah, den Kugelschreiber im Ohr, überrascht auf. Linde lächelte ihr freundlich zu und machte eine auffordernde Geste. »Bitte.«

Ohne Linde aus den Augen zu lassen, nahm Sonja den Kugelschreiber aus dem Ohr und legte ihn auf den Tisch. »Was meinen Sie mit versöhnlich?«

»Wie’s im Duden steht, mein ich’s.« Lindes Lächeln wurde noch um eine Spur freundlicher. Er wollte Sonja nicht vorführen, aber in gewisser Hinsicht war es ihre Stunde gewesen, fand er, und so sollte die Stunde auch im Gedächtnis der Schüler bleiben.

»Aha.« Sonja senkte den Blick, und einen Augenblick lang schien es, als wollte sie einfach verstummen. »Ich weiß, was versöhnlich heißt, aber was Sie jetzt hören wollen, weiß ich nicht. Doch auf Ihre eigentliche Frage, welchen Einfluß die Nazizeit auf unser Leben hat, da kann ich Ihnen, jedenfalls was mich betrifft, schon noch was antworten.«

[22] »Nur zu«, sagte Linde, wobei er sich fragte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, den Unterricht kurz und knapp zu beenden.

»Wie manche von euch wissen, will ich Filmregisseurin werden.«

An mehreren Tischen wurde aufgestöhnt oder gekichert. Einer zischte: »Sonja, allein zu Haus.« Ein anderer: »Manche mögen Scheiß.«